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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland



8. Durch Dunkelheit zum Licht.




Unter allen Tagen im Winter keiner wie der Christ­abend! Man wird mir’s darum zu gute halten, wenn ich in diesen meinen Kindheitserinnerungen auch unter anderem auf meinen sechsten Weihnachtsabend komme. „Aber warum gerade den sechsten?“ fragt der geneigte Leser. Den ersten verbrachte ich neun Monate alt, wenn ich nicht irre, mit Zahnen beschäftigt und daher übelgelaunt, in meiner Wiege. Was aus den folgenden vier geworden ist, vermag ich nicht anzugeben. Dagewesen sind sie, aber wie sie waren und wo sie blieben, ist mir nie klar geworden. Gewiß ist das eine unverzeihliche Unwissenheit und Undankbarkeit von mir, da ich doch ohne allen Zweifel an den Lichtern und den grünen Bäumen mich mitgefreut und von den Weihnachtssüßigkeiten mitgenossen habe, — aber ich weiß nichts davon. So muß ich denn wohl oder übel mit dem sechsten an­fangen. Von diesem weiß ich, daß wir Kinder alle, natür­lich unter entsprechender Aufsicht, am Nachmittag in Tante Lotten’s[1] Zimmer eingesperrt wurden, und daß sich, — wie schon am Vormittag ein Pfefferkuchenduft das Haus durchzog, — jetzt ein schöner Tannengeruch verbreitete, der

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/162&oldid=- (Version vom 20.9.2022)
  1. Mutters Schwester; in unsrer Sprache hieß sie übrigens, weniger korrekt, „Lotttante,“ wie auch Tante Anna, Binchen’s Tochter, „Anntante.“