ADB:Wickram, Jörg
Geiler verwandten Patricierfamilie an; doch nur als Seitensprößling, ein unehelicher Sohn des „Obristenmeisters“, d. h. des Rathsvorsitzenden Konrad W., dessen im März 1545 aufgesetztes Testament zwei natürliche Kinder, Hans in Dudisfeld und Georg in Colmar bedenkt, diesen reichlicher: denn ihm sollen hundert Gulden und das von ihm bewohnte Haus zufallen. Das Datum seiner Geburt ist unbekannt, aber mindestens im ersten Zehend des 16. Jahrhunderts zu suchen, da wir höchst wahrscheinlich W. 1531 die „Zehn Alter“ bearbeiten und insceniren sehen und die erste Aufführung seines „Treuen Eckart“, früheren Annahmen entgegen, schon 1532 stattfand. Er empfing keinen gelehrten Unterricht, gehört aber zu den nicht seltenen kleinbürgerlichen Männern jener Epoche, an ihrer Spitze Hans Sachs, die mit offenem Sinn und behendem Fleiß soviel nur möglich an Bildungsschätzen, antiken und modernen, geistlichen und weltlichen, hörend und lesend sich zueigneten, verarbeiteten, popularisirten und auch den [329] neuen Segen der Reformation schlicht aufnahmen und weitergaben. Daß unser W. mit seinem Vetter, dem akademisch gebildeten Gerichtsschreiber Gregor, dem Obsopöus-Dolmetsch, näher verkehrte, ist wol so wenig zu glauben als unmittelbare Anregung des in Colmar wirkenden ausgezeichneten Uebersetzers Hieronymus Boner. Wann er sein Weib Anna heimführte, steht dahin. 1546 ward er Bürger der Stadt, der er in subalterner Stellung als Weibel diente; doch zeugt es von Vertrauen, daß man ihn 1542 nach Speier und Frankfurt sandte, um Boner’s im Selbstverlag des Raths erschienenen deutschen Plutarch abzusetzen, und 1543 ist er – deshalb? – selbst als Buchhändler erwähnt. Dieser Reise und eines Ueberfalls durch Schnapphähne gedenkt er 1555 im „Bilger“, 1551 erklärend, die weiteste Fahrt habe ihn neulich nach Horb in Wirtemberg gebracht. Er war ein seßhafter „Tichter vnd Burger“. Auch einen „selbgewachsenen Moler“ nennt er sich und gehörte vielleicht als solcher zur Schmiedezunft; „Jerg Wickramm der maler“ heißt er kurzweg in einem Urbar (Jahrbuch des Vogesen-Clubs 11, 6), „die weil du ein wenig mit dem Bensel kanst“ bezeugt ihm Freund Hanschelo 1554, wogegen es bloßes Geschwätz ist, wenn ihn endlich Messerschmid („Des Esels Adel und der Sau Triumph“ 1617) unter den berühmten Künstlern aufführt. Seine Illustrationen zu den „Metamorphosen“ sind arg dilettantisch. Wie viel ihm etwa selbst von den z. Th. höchst naiv aus fremden Werken passend oder unpassend entlehnten Bildern in seinen Romanen gehört, ist unbekannt. Die Gedanken über Malerei und das Lob des deutschen Apelles „Albrecht Teurer“ im „Irreitend Bilger“ zeigen keinerlei Vertrautheit mit der Kunst. Immerhin finden wir auch auf diesem Gebiet seinen vielseitigen Eifer. Wie er seit dem Anfang der dreißiger Jahre die bürgerlichen Schauspiele leitete und auch adelige Gönner zu Beiträgen für die Ausrüstung warb (Widmung des Tobias 1551 an Friedrich v. Hattstadt, dem 1537 Gregor’s deutscher Obsopöus zugeeignet ward), so war er der rechte Mann, dem Meistergesang unter den ehrsamen Bürgern und Handwerkern Colmars eine Stätte zu bereiten. Am Thomastag 1546 kaufte er in Schlettstadt die jetzt in München befindliche Liederhandschrift (die Texte hsg. von Bartsch 1862, die Sangweisen 1896 von Paul Runge): „hab demnoch vff volgenden weinacht tag sampt einer geselschafft die erste schuol gehalten“, und ein Liederbuch des Hans Sachs copirte er ausdrücklich als „Tichter vnd anfenger dieser schuolen“, deren Satzungen der Rath 1549 guthieß (Moßmann, Alsatia 1875). Meistersingerische Art zeigen seine Reime, besonders die Beschreibungen, sowie künstlichere Lieder im „Goldfaden“ (vgl. Alemannia 22, 47 f.) und im „Knabenspiegel“. Daß er Protestant war, und zwar mit ganzer Seele bekennend, auch ohne Fanatismus kämpfend, lehren viele Blätter; nur die „Zehen Alter“ mit ihrer Anerkennung der Werkgerechtigkeit gehören noch dem Katholicismus an.
Wickram: Jörg W., Dichter, gehört einer weitverzweigten, schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Colmar angesehenen, mitSpätestens zu Neujahr 1555 trat W. in Burgheim bei Altbreisach das damals nicht selten von bürgerlichen Dichtern, wie den Elsässern Frey und Montanus, bekleidete Amt eines Stadtschreibers an (Lindener’s „kurtzweyligesten Statschreyber zu Obern Berckheym im Elsaß“ kann ich nicht wie Wendeler, Zs. für deutsches Alterthum 23, 451, in W. erblicken). Die Verpflanzung scheint dem allgemach Alternden übel bekommen zu sein. Im Sommer erkrankte er, um gegen Ende des Jahres neuem Siechthum zu verfallen, und die lebensmüde Moralisation der nächsten Schrift wie ihre wenig „scharpffen“ Reime zeigen, daß er „sehr blöd“ war. Nach 1556 (der im folgenden Jahr erschienene „Goldfaden“ war ja schon 1544 „in Truck verfertigt“) hat er kein ganz neues Werk mehr auf die Bahn gebracht: weder das einem Bubenhofer Waller geltende, im „Bilger“ versprochene „sunder büchlin von untrewen knechten“ noch die vor den „Siben Hauptlastern“ erwähnte Bearbeitung des [330] „Ritters vom Turn“ oder wol eines männlichen Pendants zu dieser von Marquard vom Stein dem Französischen entlehnten Exempelsammlung für Töchter (vgl. Goedeke 1, 352; Archiv 8, 322). Tag und Jahr seines Todes sind unbekannt. Das Vorwort des Straßburger Tobias-Druckes redet 1562 von ihm als einem Verstorbenen.
Lang vergessen, obwol etwa der „Goldfaden“ noch 1670 wiederholt und später von Jan Rebhu unter den landläufigen Volksbüchern erwähnt wird, dankt auch Wickram der jungen Romantik seine litterarische Auferstehung. Aus dem „Rollwagenbüchlein“ wurde der muntere Sänger Grünenwald von den Heidelberger Liederbrüdern als Geleitsmann für „Des Knaben Wunderhorn“ hervorgerufen. Am 1. Januar 1808 schrieb J. Grimm an Benecke: „Ich überzeuge mich immer mehr, daß dieser Wickram, über den man in Litteraturbüchern vergebens nachschlägt, einer der vorzüglichsten und fruchtbarsten Schriftsteller des 16. Jahrhunderts ist, mit ungewöhnlichem Sprachreichthum, und dem unschuldigsten Stil“. Brentano’s leicht modernisirten Neudruck des „Goldfadens“ von 1809 zeigte W. Grimm, solchen Erneuerungen holder als Jacob, rühmend an und gab seinerseits ein Stück aus dem „Irreitend Bilger“ zum besten. Seither nennt man W. wol den Vater des deutschen Romans; aber eine Ausgabe seiner Werke bleibt noch ein frommer Wunsch, nachdem unsere „Elsässischen Litteraturdenkmäler“ an der Parzivalbearbeitung von Wisse und Colin entschlafen sind. Es wäre ein schöner Gegenstand für den Stuttgarter Litterarischen Verein!
Wie das elsässische Drama mit dem der Schweiz in naher Verwandtschaft und regem Austausch steht, so gab W. seiner „ersamen burgerschafft vff der herren faßnacht“ Stücke, deren erstes – anonymes, aber ihm einleuchtend von Goedeke zugewiesenes – nur eine erweiterte Bearbeitung der „Zehen Alter“ des Baseler Pamphilus Gengenbach ist: 1531 in Colmar „von newem gespielt, gemert vnd gebessert“, 1534 in Straßburg bei Wickram’s Verleger Frölich gedruckt und bis 1635 öfters aufgelegt. Neu ist unter anderm das Antonius-Motiv, daß der Teufel den Waldbruder in Weiberkleidern versucht; viel breiter gibt sich der Schluß mit langen Reden des Todes und des Waldbruders. Frischer schritt dann der Landsmann der Brant und Murner auf der Bahn schematischer Narrenmusterungen fort: „Der trew Eckart“ („heyß ich, Jörg Wickram von Colmar macht mich“), 1532 gespielt, 1538 gedruckt (Unicum in Paris, Gottsched 2, 199; Auszüge in Stöber’s Büchlein, 1866, S. 16 ff.). Langathmige biblische Exempla des Herolds liefern den Gegensatz zu einer Revue wie im „Hofgesind Veneris“, „darinn alle stend der welt begriffen werden“ und die lebhafter als in den „Zehen Altern“ entwickelt wird, indem die Angerufenen den sagenhaften Mahner trotzig schweigen heißen. Es mischen sich die Lebensalter (Greis, Vater, Kind), die Stände (Pfaff, Edelmann, Rathsherr, Handwerker, Landsknecht, Bauer), die Charaktertypen (Ehebrecher, Spieler, Trinker, Gotteslästerer), deren jeder sich seiner Fehler mit dreistem Behagen rühmt. Derlei kehrt wieder in dem gleichfalls schablonenmäßig angelegten, aber mit Hanssachsischer Laune und Beobachtung ausgeführten „Narrengießen“, 1537 gespielt, 1538 erschienen mit Wickram’s Namen am Schluß. Ist dies Stück, dem man wol mit Unrecht schweizerische Reime nachsagt, ganz originell? Abgesehen von Anklängen an das „Narrenschiff“ (vgl. Zarncke S. CXXVI) und an Murner, auf dessen „Großen lutherischen Narren“ der Eingang deutet und dessen „Narrenbeschwörung“ 1556 und 1558 (Kloster IV) im neuen Gewande Wickram’s ausgegangen ist. Ein alter Narr meint, es gebe keine jungen mehr, doch ein Meister von Narrdeyß mit seinem Knecht gießt ihm unter komisch-feierlichen Formeln wie „Hilff lieber Herr sant Grobian“ ihrer drei, die nun auf die Narrensuche gehn, während die Nähterin die Kappen rüstet, aber der Ueberfülle wegen den Clerus [331] weglassen sollen. Sie bringen einen nach dem andern: der Buhler vertheidigt sich, ihn schilt der Trinker, dem sagt der Spieler derb die Wahrheit, und so geht es – nur beim Gotteslästerer und beim Alchymisten mit einer Störung des Schemas – fort durch Stände und Typen. Vortrefflich ist z. B. die Verhöhnung des Schützen und all der kostspieligen Feste dieser Brüder. So hat denn der Alte sein Geld umsonst verthan, da kein Orden den Narrenorden an Zahl erreicht. Am Schlusse steht die übliche Bitte um geneigte Nachsicht und die Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen: „Gott wölt wir kemen wider zemmen Von yetzt zu Faßnacht vber ein jar“. Aber damit hatte es, dem Anschein nach, gute Weile. 1540 zeigt der „Verlorne Sun“ den Dichter auf anderer Bahn, und nicht in raschem Ausschreiten. „Ein new Faßnacht Spil, darinn angezogen werden etliche fürneme menner, so durch list der weiber betrogen worden seind“ von 1543 – Goedeke verzeichnet ein Zwickauer Exemplar – ist mir unbekannt.
1539 erschien unter langem Titel das „Loosbuch“ mit gröberen Reimen, als sonst Wickram’s Art ist; auch dies vielfach im Charakter Murnerischer Narrensatire, grobianisch des „Schweynhardus vnd sant überwust“ gedenkend, ein Drehspiel mit Sprüchen und Bildern (vgl. Goedeke 2, 461 und A. Hofmeister’s Einleitung zu der photolithographischen Wiedergabe „Eyn loßbuch auß der karten“, Rostock 1890). – Das Stocken seiner Production in den vierziger Jahren läßt sich vielleicht für die zweite Hälfte aus der Thätigkeit in der Singschule erklären. Ohne selbständigen Werth ist 1545 eine, als ob es noch keinen philologischen Humanismus gebe, handwerksmäßige rohe Erneuerung „P. Ouidij Nasonis deß allersinnreichsten Poeten Metamorphosis“, wie sie Albrecht von Halberstadt einst mittelhochdeutsch wiedergegeben hatte (vgl. J. Grimm, Kl. Schriften 7, 303 und nach Haupt’s kritischer Behandlung des von W. probeweis mitgetheilten mhd. Prologs Bartschens rückübersetzende Herstellung der verlorenen Reimpaare aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, 1861). Des Lateinischen unmächtig (vgl. Sieben Hauptlaster B 2 „So hab ich auch wenig Latein Gstudirt), wurde W. natürlich auch des Altdeutschen nicht Herr, so daß ein gar wundersamer Ovidius zu Tage kam; überdies verbrämt mit Moralisationen und Allegorisationen Gerhard Lorichs von Hadamar, von W. selbst „mit schlechter Kunst .. mit figuren gekleidet“. Aber die Holzschnitte des Virgil Solis zur 2. Auflage von 1551 halfen das Machwerk bis 1641 lebendig erhalten; und die Feyerabend’sche Ausgabe besserte 1581 ein wenig, was W. aus dem von ihm selbst zugegebenen „mißverstandt der lateinischen sprach“ verfehlt habe.
Die größeren Dramen eröffnet 1540 „Ein schönes vnd Euangelisches Spil von dem verlornen Sun“, mit discreter Benutzung des Binder’schen Acolastus, auch für das Nachspiel und in der Anwendung von Halbversen, und des Ackermann’schen, nicht aber des Salat’schen Dramas (wie Spengler gegen Scherer zeigt). W. modernisirt und multiplicirt: sein Absalon wird von drei „Ruffianern“ nach Italien gelockt; das Stück wirthschaftet, weil ja möglichst viele Rollen für die Bürger geboten werden mußten, mit 32 Personen und ruft statt einer Lais gleich vier Dirnen herbei; doch W. verfährt da nicht minder behutsam, als Hans Sachs 1556 in seiner gleichfalls modernisirten Komödie das Frauenhaus darstellt. Am 7. und 8. April 1550 wurde der „Tobias“ gespielt (gedruckt 1551; 1562 in Straßburg auf einen Tag zusammengezogen; 1578 von Heidelberger Bürgern aufgeführt nach einem auch für jene in dramatischen Anleihen so naive Zeit frechen Plagiat des Steinmetz Thomas Schmidt aus Meißen; 1580 in St. Gallen; 1605 durch Pfarrer Yetzeler in Schaffhausen; im gleichen Jahr für Berthold’s von Gadenstedt deutsche Bearbeitung des Schonäus’schen Tobäus verwerthet). Der Stoff war beliebt, weil er Ehe und kindliche Liebe [332] verklärte. W. commandirt aber sehr ungeschickt sein großes Personal von Syrern und Juden, auf die in stetem, langweiligem Scenenwechsel der Salvator und Raphael herabschauen; der Teufel darf nicht fehlen, ja gleich anfangs schimpft er auf die frommen Colmarer Spiele. Soldaten, ein Narr, eine böse Magd sollen Komik erzeugen. Die Handlung ist heillos verworren und durch viele Wiederholungen lahm gelegt, und obwol – nach üblem Schweizer Vorbild? – ein „Argumentator“ mehrere Theile der Action nur episch zusammenfaßt, muß der Herold mitten in der Reise des jungen Tobias mit Asaria-Raphael die Vertagung auf den nächsten Morgen um 9 Uhr aussprechen, wo nun von neuem angehoben und auch mit geistlichen Liedern gearbeitet wird. Nach der Heilung der Blindheit vollzieht der Argumentator einen Sprung über 42 Jahre zum Lebensende des Alten. Wenn schon im Verlaufe des Stückes hübsche kleinbürgerliche Familienscenen uns von den Begräbnissen und den Reisen ausruhen ließen, so ist dem Dichter hier eine allerliebste Kinderscene der nach Propheten benamseten Enkel gelungen; der kleine Jesaias sagt:
O liebs drauts güldins müterlin,
Soll mein groß vatter nimmer leben,
Wer will mir dann mehr weiß brodt geben?
„Der Junge Knaben Spiegell“ endlich, wol von 1554, ist nur eine verdienstlose Dramatisirung des Romans (s. u.); technisch noch naiver als etwa Hans Sachsens „Griseldis“: in der ersten Scene wünscht sich das Ehepaar einen Sohn, in der zweiten bringt ihn die Hebamme, in der dritten ist er ein Jüngling.
Wickram’s Hauptbedeutung liegt im Roman, zu dessen ersten, wirklich originellen Pflegern in Deutschland er zählt, auch hier „selbgewachsen“, obgleich er, wie schon manche Personennamen, aber bedeutsamer die Technik und viele Motive zeigen, die aus Frankreich importirten sogenannten Volksbücher, besonders „Pontus und Sidonia“, die deutsche auf Eilhart’s Epos beruhende Erzählung von „Tristrant und Isalde“, des Aeneas Sylvius „Euriolus und Lucrecia“ (Niclas von Wyle), das Paar „Florio und Bianceffiora“ (mittelbar aus Boccaccio’s Filocopo), die Liebenden „Gwiscard und Sigismunda“ sowol aus Wyle’s Translatzen als geraden Wegs aus dem Straßburger Decameron, dem er mehr zu danken hat, kennt, auch durch monologische und andere Hinweise auf litterarische Verwandtschaften selbst der Forschung zu Hülfe kommt. Er wirkte weiter; am greifbarsten auf Motive und Stil in V. Schumann’s größerer Erzählung von Christoffel und Veronica (Nachtbüchlein 1, 22; vgl. Bolte’s Bemerkungen).
Daß ihm der 1539 bei seinem Straßburger Verleger erschienene „Ritter Galmy vß Schottland“ gehört, der den Auflagen und Erwähnungen nach großen Beifall fand, von Hans Sachs u. a. dramatisirt, endlich von Fouqué aufgefrischt wurde, habe ich darzuthun versucht: Archiv 8, 346 ff. Goedeke’s frühere Vermuthung einer französischen Quelle bestätigt Lüdtke, The Erl of Tolous 1881, S. 133, 198. Syntaktische Verschiedenheiten zwischen diesem Erstling und den Romanen der fünfziger Jahre lassen sich unschwer aus einer Fortbildung in der langen Pause erklären. Die innere und äußere Verwandtschaft drängt sich auf. Wir haben auch hier die züchtige, elegische Liebe eines Ritters zu einer hohen Frau, einer Vorläuferin Genovefa’s, die Turniere, die Träume, die Verdachtsgründe, die Intriguen und wirren Anschläge, den treuen Freund, die Reisen, auch hier die uneinheitliche Composition und dieselben Lieblingsmanieren der Erzählung und Schilderung. Wenn das Höfische herrscht, so ist diese Welt ja auch im „Gabriotto“ durchaus der Vordergrund. – Bolte, Alemannia 22, 46.
Dem folgen nach geraumer Zeit vier Romane: 1551 „Ein Schöne vnd doch klägliche History, von dem sorglichen anfang vnd erschrocklichen außgang [333] der brinnenden liebe“ (Gabriotto und Reinhart; im „Buch der Liebe“ und noch 1607 wiederholt; niederdeutsch 1601; von Hans Sachs obenhin dramatisirt, 1602 auch von Martin Haß; und nach Bolte Quelle der allegorisirenden „Engelschen Tragedie“ des Holländers Hendrik Moor, Amsterdam 1631). – 1554 begonnen, 1557 erschienen und bis 1670 aufgelegt „Der Goldtfaden“. – 1554 „Der Jungen Knaben Spiegel“. – 1556, offenbar durch geringeren Beifall ausgezeichnet, „Von Guten und Bösen Nachbaurn“. Die beiden ersten sind romantischer und vornehmer, die beiden letzten bürgerlicher gehalten. „Gabriotto“ mit den ungeschickten, handlungsreichen Parallelerzählungen von den ritterlichen Busenfreunden und ihren englischen Geliebten, der Prinzeß Philomena und der Gräfin Rosamunde, zeigt, nur sparsamer als „Galmy“, den Anfänger, der seine Intriguen, Spannungen, Episoden ohne jede strenge Begründung und Oekonomie führt, ja beim Tod Rosamundens zwei Fassungen vermengt, zwar durch kleine naive Züge erfreut, aber in einförmigen Monologen über das wandelbare Glück und in wehrloser Liebessentimentalität der Phrase verfällt. Der „Goldfaden“ theilt manche dieser Gebrechen und hat abenteuerliche Voraussetzungen. Hier aber wagt die demokratische Erzählung die Ueberwindung der im „Gabriotto“ alle vier Personen tragisch hinwegraffenden Standesunterschiede: nach allerlei Nöthen heirathet der Hirtensohn Lewfried seine Angliana und wird vom Küchenjungen, Pagen und Waldbruder aus regierender Graf. Bietet der „Gabriotto“ Beschreibungen ritterlicher Spiele, Tänze, Turniere, doch ohne Kenntniß und ohne rechte Sympathie, so tritt dies Element der vornehmeren Romane im „Goldfaden“ noch mehr zurück, wo die Kriegsgeschichte kurz abgemacht und lieber kunstvolle Handarbeit oder poetisch-musikalische Begabung geschildert wird: Gräfin Angliana stickt wie Arachne und dichtet wie Sappho. In diesem Roman, einer ganzen Lebensgeschichte von der Geburt und der an David oder Cyrus erinnernden Kindheit bis zum seligen Ende, deuten Nebentriebe wie das spätere Meierleben des Hirten oder die Landsknechtserfahrungen des Einsiedels auf Wickram’s fruchtbareres Feld, das nicht im romantischen Reich der Tapferkeit und Minne und nicht in idealer Ferne liegt.
Ein pädagogischer Schriftsteller, wie in den lehrhaften Reimversen, schrieb er mit ausdrücklicher Tendenz den „Knabenspiegel“ und bearbeitete ihn alsbald zu sinnfälliger Wirkung schlecht und recht in jenem Drama, das Schertweg von Olten 1579 mit neuen Namen versah; dagegen fußen Pondo-Pfund’s 1596 gedrucktes Drama „Speculum puerorum. Eine neue Comoedia, Dem verlornen Sohne fast gleich“ und Ayrer’s mit großen Schulscenen nach des Macropedius Rebelles ausgestattetes Stück (1598) auf dem Roman (dänisch 1571 bis 1754). Das Buch ist eine sehr lange bürgerliche Antithese: der Bauernsohn Fridbertus, der arme Schüler und Hauslehrer Felix kommen stetig empor, während der von einer thörichten Mutter gehätschelte Rittersohn Wilibaldus in Schande und Noth sinkt, dem verlorenen Sohne gleich als Schweinehirt sein elendes Leben fristet, dann als Sänger mit der Sackpfeife herumbettelt und nach schwerer Prüfung zu Glück und Ehren kommt. Die Schilderung seines Unheils hat starke Accente und heftige symptomatische Züge. Als böser Geist erscheint der Metzgerssohn Lottarius, ein rechter „Lotter“, wie schon sein Name sagt, und dem Galgen verfallen. So modernisirte W. nochmals die dem 16. Jahrhundert vor andern liebe neutestamentliche Parabel und zog aus eigener Beobachtung eines verkommenen Colmarer Jünglings Theobald Nutzen, wie der hübsche kleine Dialog „Ein Warhafftige History von einem ungerathenen Sohn“ zwischen W. und seinem Freund, dem Goldschmied Kaspar Hanschelo beweist. Die braven Leute sind freilich gar zu musterhafte Philister geworden und die pädagogischen Zwischenreden nehmen kein Ende. – Ganz bürgerlich gibt sich [334] der mit bedächtiger Schnelle durch drei Generationen wandelnde Roman „Von guten und bösen Nachbaurn“, herzlich jenem Hanschelo gewidmet, dessen Handwerk darin eine große Rolle spielt. Die bösen Nachbarn, ein scheelsüchtiger Tuchscheerer und sein Bube, thun nur in der Exposition mit; der geplagte Robertus zieht von Antorf (Antwerpen) nach Portugal, und ein neues Leben beginnt. Den Alten weiß W. dann nicht recht unterzubringen; auch zeigt sich sein gewöhnliches Ungeschick der Composition in der Art, wie er erst die Liebesgeschichte der Eltern, dann die der Kinder darstellt, mit übertriebenen Effecten aus alten Romanen und neueren Novellen: Lasarus I. soll auf einem Sklavenschiff fortgeschleppt, der Musterlehrling Lasarus II. in Venedig ermordet werden, aber der Wirth tödtet aus Versehen den eigenen Sohn. Das Ganze, breit, confus, spießbürgerlich, wird endlich übers Knie gebrochen. Es hat mehr culturgeschichtlichen als künstlerischen Werth. Ein wackeres Lebensideal thut sich darin auf: daß zwei brave Familien in Freundschaft und Verwandtschaft miteinander hausen, Christi Obmann den Frieden bei sich wohnen haben, tüchtig arbeiten, ihre Kinder gut erziehen und daß auch das Gesinde an diesem Segen theilnimmt, der ungefähr umfaßt, was Luther’s Katechismus unter „unserm täglichen Brote“ versteht. Wickram’s Romanstil will sich über die ganz natürliche Sprechart seiner Anekdotensammlung erheben, wie auch die Spuren des elsässischen Dialekts gedämpft sind und statt der kürzeren Sätze oder bequemen Anakoluthien längere, steifere Perioden gebaut werden. Doch schlägt das Volksthümliche durch, eine reine Naivetät läßt oft das Ungeschick vergessen, leise Ironie kleidet ihn gut. Er wird leicht schwülstig bei den obligaten Sonnenaufgängen und der Beschreibung weiblicher Schönheit. Die Behandlung des Erotischen ist überaus zurückhaltend, denn die „brinnende“ Liebe weiß nichts von Küssen, sondern nur von schnörkelhaften Briefen und Reden. W. kann seinen Stoff nicht gliedern und verdichten, noch das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden und die Sache am gehörigen Ort einmal abthun. Vordeutend zerstört er jede Spannung. Wo er zwei Linien zieht, schließt er hergebrachter Weise immer mit einem „das bleib also“ ab, um mit einem „nu wend wir hören“ fortzufahren. Wo er kurz sein will, sagt er das erst weitläufig. Er beschreibt jede Mahlzeit, manchmal freilich in sittenschildernder oder warnender Absicht, die Spaziergänge zur „Dewung“, das Zubettegehen, das gewiß ihm selbst liebe Schachspiel. Seine Personen sind sehr redselig und oft bloße Sprachrohre; auch zeigen die Monologe und Briefe einen genauen Schematismus. Ueberhaupt ist W. nicht sehr erfindungsreich, und genauere Forschung kann viele, doch nicht unerlaubte Nachahmungen und starkes Arbeiten mittelst der Analogie nachweisen. Solche Kinderkrankheiten mußten die junge Gattung treffen, der W. als ein einfacher tüchtiger Mann die Bahn hat brechen helfen.
Nur der Unterhaltung, soweit nicht ein Nebenrädchen der Polemik gegen die Mönche oder der derben Mahnung mitläuft, dient seine Schwanksammlung „Das Rollwagenbüchlin“ vom Jahre 1555; seither oft aufgelegt, schon 1556 um zwölf neue Nummern (Exemplar der Straßburger Universitäts- und Landesbibliothek, vgl. vor der Hand das Centralblatt für Bibliothekswesen XI) und 1557 wiederum erweitert, schwerlich von W. selbst, für andere Facetienbücher (auch Hollands) benutzt, mehrfach von Hans Sachs verwerthet, in Frankfurt 1597 mit Frey’s „Gartengesellschaft“ als „anderm theil deß Rollwagens“ (so schon 1565) und mit des Montanus „Wegkürtzer“ als drittem zu einem Corpus ungleicher elsässischer Geschichtchen vereinigt, 1865 von Heinrich Kurz herausgegeben, eingeleitet und erläutert. Wenn Kirchhof 1562 im Vorwort zum „Wendunmuth“ eifert gegen „etliche, ietzund new außgegangene büchlein, die nicht ein wenig vnzucht, geilheit vnd frechheit .. erwecken“, so saßen solche [335] „leichtfertige vnd grobe seuwleute“ allerdings im Elsaß, wo einst Brant den „neuen Heiligen“ Grobianus gescholten hatte, nun aber Frey’s Kleinepik im Sexuellen viel weiter ging als der nur ein Jahr früher ausgefahrene „Rollwagen“; doch wurden er und Montanus von Lindener und Schumann überboten. Was ein Poggio, ein Bebel elegant sagte, ward im Deutschen leicht gemeine Zote, schmutziger Kneipenwitz. W. selbst berichtet, daß nach der fünften Kanne St. Grobianus mit seinem Saitenspiel zum Schweinetrog laufe: „bald hebt man die Sewglocken zu leüten; dann kan niemants nit meer verderben: ye gröber, ye hüpscher, ye wüster, ye holtseliger“. Obwohl nun die Anekdote, in deren Eingang das steht, übel riecht und auch sonst hie und da nach dem andern Geschmack und Anstandsgefühl der Zeit gewisse Naturalia erlaubt sind, ist Wickram’s Sammlung eine der saubersten. Er hat sie einem befreundeten Wirth gewidmet, der immer einen Rollwagen (Stellwagen, Omnibus) zur Straßburger Messe laufen ließ, so daß dies Buch ungefähr das geben will, was man heute „Eisenbahnlectüre“ nennt; und wie die Unterhaltung der Handlungsreisenden unterwegs oder am Gasttisch nicht immer gewählt ist, so war das Rollwagengespräch übel berufen. „Schampere vndt schandtliche wort“, sagt W., verwies man „auff den Rollwagen oder ins Schiff“; er aber will auch mitfahrenden ehrbaren Weibern und züchtigen Jungfrauen Rechnung tragen, also nur erzählen und als Erzählstoff, nicht bloß „allen Kauffleüten so die Messen hin und wider brauchen“, darbieten, was „menigklich Jungen vnd Alten sunder allen anstoß zu lesen vnd zu hören“ sei. Das „ohrenzart Frauenzimmer“ ließ sich, laut Fischart, „wol ettliche zotten“ gefallen – und wie diskret hat doch W. die Posse vom Mönch, der dem Bauernmädchen einen Dorn auszieht, vorgetragen. Er erzählt manche wohlbekannte Anekdote, so von dem Advocaten, den sein Client schließlich auch mit einem „Blee“ bezahlt, von dem alten Weib, das durch des Mönchs Stentorstimme so traurig an ihren gestorbenen Esel erinnert wird; er hat es gern mit dummen oder lüsternen Pfaffen und mit einfältigen Weibern zu thun, mischt aber auch eine grause Historia unter das Fatzwerk; er hält seine Ernten besonders im Elsaß, im Breisgau und in Schwaben, bringt manches Selbstgehörte und nennt nur einmal eine litterarische Quelle, nämlich des Erasmus Colloquia.
Von diesem frisch und frank zusammengelesenen Büchlein, „allein von guter kurtzweil wegen an tag geben, niemants zu vnderweysung noch leer“, heben sich ernst die erbaulichen Reimwerke ab. Am 8. Januar 1551 beendete er eilfertig den ,Dialogus .. das mechtig hauptlaster der trunckenheit“, von seiner Winterreise durch den Schwarzwald anhebend, dann meistersingerisch in einen langen Traum oder „Poesey“ überleitend, ein Gespräch zwischen dem „Irrgenger“ und einem frommen „Bruder“. Dieser geht mit einer schweren Menge biblischer und antiker Beispiele ins Zeug, jener gefällt uns besser, wenn er die Weinländer und den Träubelsaft preist. Hübsch ist die freundschaftliche Widmung, sehr fromm der Schluß mit dem üblichen Siegel „Darzu helff Gott, sein heilger Nam Wünschet von Hertzen Jörg Wickram“. Dasselbe Thema (über dessen reiche Bearbeitung im 16. Jahrhundert Hauffen’s Aufsatz, Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte II, 481 ff. zu vergleichen ist), unserm Dichter durch eigne Erfahrung, aber auch z. B. von L. Schertlin’s „Künstlich Trincken“ (1538, das er nun ausschreibt) her geläufig, erscheint in größerem Zusammenhang 1556 wieder: „Die siben Hauptlaster, sampt jren schönen früchten vnd eygenschafften ... durch schöne alte Exempel vnd Historien angezeigt“, für jedes Alter und beide Geschlechter, sonderlich für die Jugend; dem Colmarer Stättmeister Ruprecht Kriegelstein statt des gewünschten, aber unzugänglich gebliebenen „Ritters vom Turn“ gewidmet und sehr bescheiden eingeleitet: auch ein morscher [336] Bildstock an der Straße diene als Wegweiser. Es ist rasch zusammengestoppelte langweilige Arbeit; von alten Schriftstellern sind besonders Plutarch und Josephus benutzt, von neuen Petrarca, Belege aus der Gegenwart selten. Viel höher steht das unmittelbar vorausgegangene, noch auf Scheit und Holtzwart wirkende Gedicht „Der Irr Reittend Bilger“, ein Spiegel für uns „armen madensäck vnd misthauffen“, wie der kranke Verfasser drastisch sagt. Etwas Rundes, Geschlossenes zu geben war ihm versagt, aber gleich der Eingang folgt ergreifend der herrlichen Prosa des „Ackermanns von Böhmen“. Dies Gespräch zwischen dem klagenden Wittwer und dem Tod, nach dem „Frau Stund“ erscheint, wird leider von der Unterredung mit einem Freund abgelöst, der dem Pilger ohne jeden Anlaß lang und breit den Sündenfall und dergleichen mehr erzählt. Vorn und hinten giebt es wortreiche Beschreibungen von Gärten, Lusthäusern, Kunstwerken. Interessant ist die theils an den verlorenen Sohn, theils an den „Meier Helmbrecht“ erinnernde novellistischere Geschichte eines Jünglings in der Fremde, dies unsern Dichter ja auch in den „Nachbaurn“ so fesselnde Motiv. Aber der Hauptton liegt auf des alten Arnold Absicht, eine Pilgerfahrt zu thun; der lange Abschnitt, in dem ihn ein aufgeklärter Abt davon abbringt, ist das Streitbarste aus Wickram’s Feder, denn höchst antipapistisch wird nach Art der Trias Romana Hutten’s hergezählt was man in Rom finde, gegen den Reliquiencult die Gnadenlehre aufgepflanzt, die Völlerei auf der „Kirchweih-Kirchscheuh“ kräftig gestriegelt, vorzüglich aber, nur nach Wickram’s Art oder Unart allzu wortreich, eine Idylle eingeschoben. Arnold findet bei guten frommen Meiersleuten das Muster einer evangelischen Familie: die Bibel wird gemeinsam gelesen, die artigen Kinder beten und sagen den Katechismus auf, das Bäuerlein hat sich eine Bibliothek angeschafft und redet mit seinem Gast gar verständig über Fragen des Glaubens und der Kinderzucht. Diese Gegenstände lagen dem Verfasser wirklich am Herzen. Wenn wir endlich nach den schlechten Bildchen der Romane hier die lieben Leute so traulich auf einem reizenden Holzschnitt erblicken und bedenken, wie sehr vom 15. Jahrhundert an die Charakterisirungsfähigkeit in Illustrationen zunimmt und wie weit es darin die Stiche und Schnitte des 16. bringen, dann wird auch verwandten Vorgängen auf dichterischem Gebiete mehr als bisher nachzufragen sein. In einer solchen Geschichte des deutschen Sittenbildes darf Jörg Wickram von Colmar nicht fehlen.
- Goedeke II, 458 ff. (vgl. zur Bibliographie Bolte, Alemannia XXII, S. 45 ff.). – Nach dem Büchlein Stöber’s eröffnete die kritische Forschung, abgesehen von H. Kurzens oben erwähntem Neudruck, W. Scherer im 21. Hefte der „Quellen und Forschungen“, 1877. – E. Schmidt, Archiv für Litteraturgeschichte VIII, 317 ff. – Wichtige Aufschlüsse über Wickram’s Leben gab E. Waldner, Zeitschr. für Geschichte des Oberrheins, N. F., VII, 320 ff. – Eine Monographie plant der Unterzeichnete.