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Artikel „Benecke, Georg Friedrich“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 322–324, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Benecke,_Georg_Friedrich&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:43 Uhr UTC)
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Band 2 (1875), S. 322–324 (Quelle).
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Benecke: George Friedrich B., altdeutscher Philolog. Geb. 10. Juni 1762 zu Mönchsroth im Fürstenthum Oettingen, wohin sein Großvater aus Braunschweig gezogen war, erhielt seine Schulbildung zu Nördlingen und Augsburg, wo er durch juristische Bücher, Lexika u. dergl. eines gelehrten Oheims zuerst auf die frühere Gestalt der deutschen Sprache aufmerksam wurde. [323] Studirte seit 1780 in Göttingen, Schüler Heyne’s; seit 1789 an der Göttinger Bibliothek, seit 1805 auch an der Universität angestellt, † 21. Aug. 1844 unverheirathet als Oberbibliothekar und o. Professor. Er las über Englisch und Altdeutsch. Zu ersterem lud Göttingen besonders ein, er kannte es genau und galt für einen Anglomanen. Das letztere hat wol Er in den Kreis des akademischen Unterrichtes eingeführt. Seine Ausgaben altdeutscher Dichtungen („Beiträge zur Kenntniß der altdeutschen Sprache und Litteratur“ I, 1810, „Bonerius“, 1816, „Wigalois“, 1819, dazu später „Beiträge“ II, 1832; mit Lachmann: „Iwein“, 1827) waren die ersten wissenschaftlichen überhaupt. Von vornherein tritt er als gereifter Mann mit sicherem Können auf. Er ist spät productiv geworden, aber seine Arbeiten zeigen stetigen Fortschritt. Mit Bewußtsein sucht er die Methode der classischen Philologie auf die altdeutschen Dichter zu übertragen. Schon 1810 fordert er kritische Berichtigung des Textes. Schon im Bonerius sucht er das Echte aus allen erreichbaren guten Handschriften herzustellen. Er beschreibt die Quellen, aus denen er schöpft, genau, untersucht die Zuverlässigkeit jedes Schreibers, beachtet die verschiedenen Mundarten. Er führt eine vernünftige, wohlüberlegte (Wigal. S. 481) Interpunction ein. Er strebt nach einer gleichförmigen alterthümlichen Orthographie. Er entwirft die ersten Linien der mittelhochdeutschen Metrik. Er stellt die für alle Zeit gültigen Grundsätze der Einrichtung altdeutscher Texteditionen mit Erklärungen auf: er will nicht durch abgerissene Bemerkungen zu flüchtigem Lesen verleiten: „das Bequemere dem Gründlichen vorziehen bringt kein Gedeihen“ (Bon. S. XVI). In der Textkritik hat B. nach dem gestrebt, was sein großer Schüler Lachmann erreichte, zugleich aber diesem die Aufgabe gestellt und zu deren Lösung Wesentliches beigetragen, z. B. die Wichtigkeit der Reime für das Mittelhochdeutsche geahnt, auf speciellem Gebiete die Entstehung der Minnesingerhandschriften aus Liederbüchern der Fahrenden und damit eine Thatsache von großer Bedeutung erkannt. In der Exegese zeigen die Anmerkungen zum Wigalois und Iwein, in der Bedeutungslehre die Wörterbücher zum Bonerius, Wigalois und Iwein (1833) und die von ihm geschaffene Grundlage zu dem großen von W. Müller und Zarncke ausgeführten Mittelhochdeutschen Wörterbuche (vgl. Haupt’s Zeitschr. I. 39–56) seine unbestrittene Meisterschaft. Anmerkungen und Wörterbuch arbeiten sich natürlich in die Hände. Beim Bonerius kam es zumeist auf die elementarsten Erkenntnisse der mittelhochdeutschen Bedeutungslehre, besonders im Verhältniß zum Neuhochdeutschen an. Schon damals wußte B., daß die Cardinalfragen dort liegen, wo das Wort in der Sprache geblieben ist, aber die Bedeutung sich geändert hat. Beim Wigalois macht sich das Antiquarische besonders geltend: in Wohnung, Kleidung, Lebens- und Kampfweise, Sitte und Anschauung des deutschen Mittelalters soll eingeführt werden. Im Iwein handelt es sich um die intimen Feinheiten des Sprachgebrauches, um ausführliche Darstellung der Partikeln und Hülfszeitwörter, um Syntax und Stil: in der Begriffswelt tritt moralisches und psychologisches, Wörter wie êre, muot u. dgl. hervor. Benecke’s Exegese ist aus echt historischem, pietätvollem Sinne, aus folgsamster Hingebung und Versenkung entsprungen. Die Sinnes- und Gemüthsart des Autors wird ihm wie eines Mitlebenden gegenwärtig. So trocken und spröde er sich äußerlich geben mochte, die Quelle seiner höchsten Leistungen ist Weichheit und Kunst des Anschmiegens. Der Ausdruck seiner Begeisterung hat leicht etwas absichtliches und gemachtes, aber ihr Wesen ist echt. Es schlummerte einige Romantik auf dem Grunde seiner Seele, und den altdeutschen Dichtern widmete er eine tiefe Liebe. Aber zu dem modernen Nachempfinden gesellte sich in ihm die Verstandesbildung des 18. Jahrhundert, ihr verdankt er die scharfe Sonderung der Bedeutungen, die präcise, schlagende Fassung der Erklärung, worin [324] die Individualität des Wortes jedesmal so merkwürdig zur Geltung kommt. Man darf sagen: das meiste was er lexikalisch behandelte ist ein für alle Mal festgestellt. Generelle Beobachtungen theilt er leider nur gelegentlich mit; aber wo er es thut, sind sie von großer Feinheit, so über die Entstehung der Partikeln und das Verschwinden vieldeutiger, unbestimmter Wörter (Wigal. 739), über die Lebendigkeit echt deutscher, die Leblosigkeit entlehnter Wörter (ebend. 514), um jener Lebendigkeit gerecht zu werden, verlangt er für ein Gesammtwörterbuch des Mittelhochdeutschen die Anordnung nach Stämmen. B. ist recht eigentlich ein Kenner. Er scheint immer mehr zu wissen, als er sagt. Er hat auf seinem Gebiete etwas Classisches. Grimm’s Grammatik nennt er eine Naturgeschichte der deutschen Sprache und im Wigal. 665 spricht er von einer vergleichenden Anatomie der Sprachen: wir könnten ihn selbst mit einem Naturforscher vergleichen, der von einer Entdeckungsreise heimkehrt und die neugefundenen Arten und Familien beschreibt und bestimmt: so hat er aus der Blüthezeit der mittelhochdeutschen Poesie in verschiedenen Beutezügen Wörterschätze geholt und eingeheimst. Es ist kein Zufall daß die Erscheinung dieses Mannes sich an Göttingen knüpft und daß nahe verwandte Mundarten und Sprachen, Süddeutsch, Norddeutsch, Englisch, den Kreis seiner unmittelbarsten sprachlichen Erfahrung ausmachten.

Brockh. Convers.-Lex. der Gegenwart, Leipzig 1838, I. 439 ff. N. Nekr. d. Deutschen XXII. (1844) II. 602–604. Scherer, J. Grimm 89 f. 100. 102 f. 106. Raumer, Gesch. 455. 540. Briefe in Pfeiffer’s Germania XIII. 118–127.