ADB:Urlsperger, Johann August

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Artikel „Urlsperger, Johann August“ von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 355–361, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Urlsperger,_Johann_August&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 17:29 Uhr UTC)
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Urlsperger: Johann August U., Dogmatiker und Stifter der Christenthumsgesellschaft, der einzige den Vater überlebende Sohn des Seniors Samuel U. zu Augsburg (s. u. S. 361), geboren daselbst am 25. November 1728, † zu Hamburg am 1. December 1806. Bis ins zehnte Lebensjahr im Hause sorgfältig unterwiesen, wurde er im Herbst 1738 auf die Fürstenschule zu Neustadt a. Aisch gebracht. 1743 kehrte er nach Augsburg zurück und saß von da bis 1747 in der obersten Classe des Gymnasiums zu St. Annen. Sein tüchtiger Hauptlehrer, der Rector Hecking, der den Schüler überaus lieb gewann, rühmt sowol das lautere offene Wesen, den reinen Lebenswandel des Jünglings, seine trefflichen Geistesanlagen, wie seine großen erfreulichen Fortschritte. Ein Beweis für die letzteren ist die in fließendem Latein geschriebene Abhandlung: „De praestantia coloniae Georgico Anglicanae prae coloniis aliis“, durch welche er am 18. September 1747 von der Schule Abschied nahm. Es ist diese nicht [356] als erdkundliche Schrift oder Rede zu betrachten, sondern sie handelt von der Colonie Georgien und besonders von der Ansiedlung der evangelischen Salzburger, Ebenezer südlich von Savannah, in durchaus religiös-kirchlichem Sinne. U. preist die gnädige Fügung Gottes, daß die als treue evangelische Bekenner aus ihrer Heimath vertriebenen Salzburger jenseit des Oceans eine sichere Zuflucht und eine Freistatt gefunden haben, wo sie ungehindert ihres Glaubens leben und denselben ausbreiten können, denn er denkt auch an die Verkündigung des Evangeliums unter den Indianern. Noch im Spätjahr 1747 bezog U. die Universität Tübingen. Aber auch nachdem er bis ins vierte Jahr hier studirt hatte, betrachtete er seine Vorbereitungszeit nicht als abgeschlossen, sondern wandte sich, wie einst sein Vater es gethan, von der süddeutsch-schwäbischen zu der norddeutsch-sächsischen Universität Halle, wo er in dem Hause des Professors Joh. Sigm. Baumgarten [WS 1] wohnte, und nachdem er 1753 die Magisterwürde erlangt hatte, im nächsten Jahre mit einer Abhandlung: „De mysteriorum christianae fidei vera indole eorumque contra recentissimas oppugnationes vindiciis“ seinen akademischen Studiengang beschloß. Ehe er sich nun um eine amtliche Stellung bemühte, unternahm er zu ernsten Zwecken ein paar Reisen, die eine im November 1754 im Auftrage – jedenfalls seines Vaters – nach Regensburg, wo damals der Ausschuß der evangelischen Reichsstände seinen Sitz hatte. Dann aber trat er eine größere an, auf der er für seine spätere Wirksamkeit bedeutsame persönliche Beziehungen anknüpfte. In Frankfurt am Main besprach er bereits mit dem Senior D. Fresenius, einem geistverwandten Manne, mit weitem Blick, den Gedanken einer Gesellschaft für die Erhaltung und Beförderung reiner Lehre gegenüber den gefährlichen Neuerungen der Zeit. Dann setzte er seine Reise nach Norddeutschland über Hannover und Hamburg fort, besuchte Kopenhagen und kehrte über Berlin durch Sachsen und Franken zurück. Ende 1755 wurde er zum Gehülfen des Predigtamts in seiner Vaterstadt ernannt und von seinem Vater dazu eingesegnet. Nachdem er 1757 zweiter, drei Jahre später erster Diakon der Barfüßergemeinde geworden war, fiel ihm im April 1761 die Aufgabe zu, den in Tirol internirten bei Maxen gefangenen Preußen das heil. Abendmahl zu spenden. Ein Jahr später hatte er die Freude, der unmittelbare Amtsgehülfe seines Vaters zu werden, indem ihm das Diakonat an der Hauptpfarrkirche zu St. Annen übertragen wurde. Als der Vater 1765 seine öffentlichen Aemter niederlegte, hätte er in dessen Stelle als erster Pfarrer und Senior eintreten können. Mit ernster Ueberlegung lehnte er aber den Ruf bescheiden ab und blieb bis 1770 Diakonus, in welchem Jahre er zum Pfarrer an der heil. Kreuzkirche befördert wurde. Endlich wurde ihm auch 1772 nach Ableben seines Vaters das Seniorat des Stadtministeriums übertragen. Schon Mitte der vierziger Jahre des Jahrhunderts hatte der Vater geklagt, daß die Völker Christus verwürfen. Als nun aber während des Sohnes Amtsführung das überkommene biblisch-apostolische Bekenntniß mehr und mehr von den Wogen des Deismus, Naturalismus bis zur barsten Freigeisterei überfluthet wurde, blieb U. nicht bloß fest beim Glauben der Väter, er fühlte auch den Muth und Beruf in sich, das überkommene Lehrgebäude durch ernstliche Denkarbeit neu zu festigen und weiter zu bauen, und zwar nicht, wie es auch Zeitgenossen versuchten, hier und da einen Lehrsatz zu stützen: „Wollen wir,“ sagt er vielmehr, „das Reich der Wahrheit, so weit es uns möglich ist, überschauen, so muß unser Standort das Centrum und nicht ein unendlich kleines Plätzchen auf der Peripherie dieser unendlichen Kugel sein.“ So versenkte er sich denn in die tiefsten Geheimnisse und Fragen von der Dreieinigkeit, der Gottebenbildlichkeit, Erlösung und Erhöhung der menschlichen Natur. In dem Geheimniß Gottes und des Vaters und Christi, Colosser 2, 2, sieht U. den [357] rechten Schlüssel zu allen geoffenbarten Wahrheiten. Durch Verfolgung dieses Gedankens läßt sich der Versuch einer im eigentlichsten Sinne des Wortes biblischen Theologie machen, zur Befestigung des überkommenen Lehrbegriffs in allen Haupttheilen. Er unterscheidet ein dreifaches Geheimniß. In jedem derselben ist der dreieinige Gott, aber unter verschiedenen Benennungen zu betrachten. U. bestimmt dann die drei Geheimnisse näher. Trotz seiner geschichtlichen Erscheinung im Fleisch ist der Gottmensch in Gott ewig gegenwärtig gewesen. Durch den Sohn, den Gottmenschen, ist uns der Vater sichtbar geworden. Schon bei seiner erwähnten akademischen Abhandlung vom Jahre 1754, die ausdrücklich sich als gegen die jüngsten Angriffe der Neuerer gerichtet bezeichnet, hatte U. das dreifache Geheimniß nach der fraglichen Paulinischen Stelle berührt. Die drei Personen der Dreieinigkeit sind einander völlig gleich an Wesen und Eigenschaften, alle haben den Grund ihrer Göttlichkeit in sich selbst. Nach einem von Ewigkeit gefaßten Rathschlusse bestimmt die erste Person die zweite und dritte zum Ausgehen zu einem bestimmten Heilszwecke. Die hierbei hervortretende Unterordnung der zweiten und dritten Person ist eine lediglich ökonomische völlig wesensgleicher Personen. Unterschieden werden die drei Personen der Gottheit als unendliche Lebenskraft bei der ersten, als unendlich lebendiges Bewußtsein ihrer Vollkommenheit (Erkenntnißkraft und Weisheit) bei der zweiten. Der Charakter der dritten ist eine unendliche Neigungskraft zu dem All aller endlich erkannten Vollkommenheiten und eine damit verbundene Freude und Wonne (Liebe und Freude). Die Untersuchungen über die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Macht Sünde zu vergeben und zu behalten, die zunächst der Gemeinde, als dem Leibe Christi, verliehen ist, steht mit den Untersuchungen über das dreifache Geheimniß in engstem Zusammenhange.

Wenn sich die jene Zeit beherrschenden kritischen Organe mit Urlsperger’s tiefdurchdachten theosophischen Untersuchungen wenig beschäftigten, so lag das wesentlich daran, daß sie dafür durchaus kein Verständniß hatten. Die allgem. D. Bibliothek Bd. XVI, vgl. Bd. XXIV, nennt diese Untersuchungen Träume und unnütze und ungegründete Speculationen. Anerkennend behandeln sie die Götting. gel. Anzeigen v. J. 1769, 2 S. 1244 ff. und die Leipz. Gel. Zeitung sowie einzelne philosophisch gebildete Köpfe in England und Deutschland, so der Philosoph und Akademiker Lambert in Berlin. Sehr bemerkenswerth ist, daß man von seiten der Neologen mit Wohlgefallen hervorhob, daß U. kein Bedenken getragen, auf die Schwierigkeiten und das Unzulängliche der Athanasischen Erklärung hinzuweisen. Aber er mußte es sogar erleben, daß er deshalb verketzert und bei Kaiser und Reich angeklagt wurde. Da sandte er seine Untersuchungen an die theologische Facultät der Tübinger Hochschule, deren Zögling er ja war, zur Prüfung und Begutachtung mit der Bitte, ihn, falls seine Auffassungen von der Dreieinigkeit Abweichungen von der biblischen und Väterlehre enthielten, dessen mit Gründen zu überführen, andernfalls ihm aber zum Zeichen ihrer Anerkennung die theologische Doctorwürde zu verleihen. Letzteres geschah im Jahre 1775 in der ehrenvollsten Weise, wodurch einer reichsgerichtlichen Verfolgung der Boden entzogen wurde. Wenn U. es beklagte, daß die Theologen zu seiner Zeit aus Denkfaulheit sich mit den Fragen über das dreifache Geheimniß nicht befassen mochten und von der Zukunft eine Anerkennung seiner geistigen Arbeit erwartete, so ist diese Hoffnung nicht unerfüllt geblieben, denn Dogmatiker wie Baur und Dorner haben sich eingehender damit befaßt und es wird von ihm geurtheilt, daß er in richtiger Erfassung, daß unser moderner Personbegriff sich nicht mit der Trinitätslehre der Väter verbinden lasse, weil diese unter Hypostase etwas anderes verstanden, eine glücklichere Fassung der immanenten oder Wesenstrinität neben der ökonomischen vertreten hat. Auch die neueste [358] Wissenschaft der christl. Lehre bei Kühler (2. Aufl. S. 315–318) kommt der Urlsperger’schen Auffassung nahe. Wie U. selbst, so erkannten es auch Zeitgenossen (vgl. Gött. gel. Anz.), daß bei seiner Auffassung eine Fülle von Bibelstellen und die gesammte biblische Lehre ein neues Licht und klaren Zusammenhang gewinnen. Nach Urlsperger’s Ueberzeugung trägt die Bibel, die einzige wahre Erkenntnißquelle in Glaubenssachen, das wahre System zwar der äußeren Form nach sehr unsystematisch vor, sie schließt aber nach ihrem Geist das strengste System in sich, ja sie verdient allein den hohen Namen eines wahren Systems unter allen Systemen der Welt. (Zeugn. d. Wahrh. S. 71.)

So eifrig er Jahrzehnte lang sich mit solchen Fragen befaßte, so hohen Werth er darauf legte, so vergaß er darüber doch seine Aufgabe als Prediger, Seelsorger und Berather seiner Gemeinde nicht, sondern fand bei seinem treuen Wirken allgemeine Anerkennung und Liebe bei seiner Oberbehörde, seinen Amtsbrüdern und in der Gemeinde. Um so mehr mußte es manche überraschen, als er 1776, vier Jahre nach dem Antritt des Seniorats, seine kirchlichen Aemter niederzulegen sich veranlaßt sah. In einer gedruckten längeren Abschiedsrede an seine sechs Jahre lang geistlich versorgte Kreuzgemeinde, worin er von der Bedeutung und Herrlichkeit des geistlichen Amts mit der größten Begeisterung redet, spricht er sich auf das bestimmteste darüber aus, daß er diesen ihm schweren Entschluß erst nach dreimaligem ernstlichen Krankheitsanfall auf wiederholten dringenden Rath der Aerzte gefaßt habe. Der Argwohn seiner zahlreichen kirchlichen Gegnerschaft gab ihm aber auch noch später Anlaß, den Grund seines Austritts aus dem Amte weiteren Kreisen klarzulegen. Daß U. aber, wenn er erklärte, auch außer dem Amte bis ans Ende seine ganze Kraft der göttlichen Reichssache widmen zu wollen, schon den Gedanken der von ihm zu gründenden christlichen Vereinigung mit sich herumtrug, darf bestimmt angenommen werden. Waren ihm doch derartige Bestrebungen schon in England und durch seines Vaters Verbindung mit der englischen Gesellschaft für die Förderung der Erkenntniß Christi, deren correspondirendes Mitglied er auch selbst seit 1765 war, nahe getreten, hatte er doch auch schon im J. 1755 den Plan einer Gesellschaft zur Förderung reiner Lehre entworfen. Nachdem er nun endlich in Augsburg einen kleinen Anfang gemacht und im J. 1778 die schwedische Gesellschaft de fide et christianismo ihn zu ihrem Mitglied ernannt hatte, ging er seit 1779 brieflich und in Schriften mit der Gründung einer allgemeinen deutschen Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit ans Werk, verbreitete ihre gedruckten Grundgesetze oder Satzungen und suchte sie durch Erläuterung gegen Mißverständnisse zu sichern. In demselben Jahre unternahm er dann auch eine größere Reise zur persönlichen Vereinbarung mit frommen und gelehrten Männern in Deutschland, Holland und England. Am Christtage konnte er aus London frohlockend in die Heimath schreiben: ,Gottlob, die Gesellschaft ist da!‘ Während aber die Stammgesellschaft auf englischem Boden schon im nächsten Jahre auf kürzere Frist unterbrochen wurde, war der erste Ort, wo sich ein fester, fröhlich aufgehender Samenkern jener christlichen Vereinigung bildete, die schweizerische Stadt Basel. Der 30. August 1780 gilt als der Stiftungstag. Daß keine Stadt in Deutschland der Stammort und Mittelpunkt der Gesellschaft wurde, ist nicht ganz zufällig, da die Zustände im Reich dergleichen Unternehmungen nicht sonderlich begünstigten. Nach Basel folgten als Sitze von Particulargesellschaften in den Jahren 1781 und 1782 erst Nürnberg, dann Frankfurt, Stuttgart, Berlin, Stendal, Prenzlau, Magdeburg, Wernigerode, Minden. Bereits 1784 war die Gesellschaft an allen Enden deutscher Zunge, von Chur, Bern, St. Gallen im Süden bis nach Ostfriesland, Flensburg, Mecklenburg, Pommern (Vorpommern war stark betheiligt) im [359] Norden und von Düsseldorf und Elberfeld im Westen bis nach dem Ordenslande Preußen im Osten ausgebreitet. Darauf, daß die Gesellschaft eine deutsche sein solle, legte U. einen Nachdruck. Die Mitglieder sollten durch ihre Betheiligung gerade ihr deutsches Herkommen zu erkennen geben. Dem widersprach es nicht, daß es auch in Amsterdam und London Zweiggesellschaften gab und das U. im J. 1780 zu London auch einmal Engländer zum Beitritt aufforderte. Zufällig war es nicht, wenn sich besonders an solchen Orten, an denen kräftige pietistische Bewegungen stattgefunden hatten, wie in Elberfeld, im Ravensbergischen, Wernigerode, Köthen, Dargun, frühzeitig Glieder der neuen Vereinigung herausbildeten. Wie ja der Gründer selbst ein Sohn des Pietismus war, so hatte auch ohne feste Organisation eine gewisse geistige Verbrüderung bereits vor der Urlsperger’schen Stiftung unter den pietistischen Kreisen stattgefunden. Wie sehr es aber U. auf eine christlich-deutsche Verbrüderung im großen Stile ankam, bewies er schon dadurch, daß er nicht, wie beispielsweise die Ravensbergische Zweiggesellschaft es vorschlug, einen kleineren, wenn auch intensiv pietistischen Ort wie Wernigerode, sondern Mittelpunkte der Weltbewegung wie London und Berlin – letzteres der Hauptsitz der Neologie! – zu Hauptsitzen seiner Gesellschaft erhoben zu sehen wünschte. Uebrigens gelang es U. von vornherein nicht, seine Gründung zu dem zu machen, was er mit ihr beabsichtigt hatte: zu einer Art christlich-bibelgläubiger Akademie, einer Vereinigung der geistig-litterarischen Kräfte im Gesammtgebiet deutscher Zunge zur Bewahrung, aber auch zum weiteren Ausbau der reinen schriftgemäßen Lehre und Religionswissenschaft. Auch als die Gesellschaft, die schon 1784 den Ausdruck ‚reine Lehre‘ aus ihrem Titel weggelassen hatte und nun statt dessen ‚deutsche Gesellschaft zur Beförderung christlicher Wahrheit und Gottseligkeit‘, auch kurz ‚Deutsche Christenthumsgesellschaft‘ genannt wurde, aus sich heraus mit entschiedener Befürwortung von Nürnberg und Wernigerode eine eigene wissenschaftlich-theologische Zeitschrift gründen wollte, war dies zu Urlsperger’s Bedauern nicht zu erreichen, doch schwebte ihm immer noch sein ursprünglicher, etwa mit Hülfe eines frommen Fürsten zu verwirklichender Zweck vor Augen. Aber auch als nun diese Gesellschaft nur zu einer Vereinbarung zu gegenseitiger geistlicher Stärkung und Erbauung ihrer Glieder untereinander, sowie zur geistigen und leiblichen Unterstützung auswärtiger Brüder und unterdrückter Glaubensgenossen in der Zerstreuung sich gestaltete, fand sich U. darein und wirkte für sie unermüdlich mit Wort und Feder. Auch unternahm er zu ihrer Ausbreitung wiederholt Reisen, auf denen er auch nach Herrnhut, Wien und Wernigerode kam. Es fehlte nicht an erfreulichen Früchten, die er noch erblühen sah, so in der kräftigen Unterstützung der evangelischen Regungen und der Evangelisirung im Oesterreichischen zur Zeit der Josephinischen – wenn auch noch eingeschränkten – Toleranz. Und wenn er geahnt hatte, daß aus der Gesellschaft in Zukunft noch Einrichtungen für die Kirche erwachsen könnten, die ihr bisher fehlten, so sah er noch bei Lebzeiten die Baseler Tractatgesellschaft und die Anfänge der dortigen Missionsbestrebungen aus ihr erblühen. Auch die ‚Sammlungen für Freunde des Reiches Gottes‘, die seit 1784 an die Stelle der zuerst durch mühsame Abschriften verbreiteten Auszüge aus den Gesellschaftsprotokollen getreten waren, blieben bestehen und dauern noch heute als eine der frühesten derartigen Zeitschriften fort.

Hatte es Urlsperger’s bibelgläubigen Speculationen gegenüber aus dem einfachen Grunde wenig Kritiker gegeben, weil nur wenige diesen philosophischen Untersuchungen zu folgen imstande waren, so konnte es dagegen nicht fehlen, daß eine Gründung von so allgemein greifbaren Zwecken, die sich in entschiedenem Gegensatz zu der herrschenden Zeitrichtung bewegte, den allgemeinsten Widerspruch fand. Und obgleich die Satzungen und Grundzüge der Gesellschaft von U. mit [360] solcher Mäßigung und Weisheit abgefaßt waren, daß ein Blatt wie die Fliegenden Blätter für Toleranz und Aufklärung in Dessau, das sich die Mühe gab, die grundlegenden Schriften in wesentlich erschöpfenden Auszügen abzudrucken, nichts dagegen einzuwenden vermochte, so hinderte das nicht daran, daß alsbald gegen U. und seine Gründung von den tonangebenden kritischen Organen, wie von Nicolai und der Allgem. D. Bibliothek, der Berliner Monatsschrift, der allgem. (Jenaischen) Litteraturzeitung oder in anonymen Pamphleten, wie in: ‚Ueber Jesuitismus, Lavaterianismus und Urlspergerianismus‘. Krakau (Nürnberg) 1787, ‚Das protestantische Freymaurerklerikat‘, 1788, die schlimmsten und thörichtsten Anklagen und Verdächtigungen von geheimer jesuitischer Leitung, hierarchischem Streben, allgemeiner Religionsvereinigung, fanatischem Unchristenthum, Feindschaft gegen den Culturfortschritt erhoben wurden, ganz abgesehen von Beleidigungen und pöbelhaften Schmähungen, an denen es auch nicht fehlte. Auch Theologen von Semler’s Richtung, wie Prof. Hufnagel in Erlangen, waren wenigstens sehr argwöhnisch gegen die Gesellschaft. Allen solchen Beargwöhnungen und Schmähungen trat U. mit bewundernswürdiger Würde und Ruhe entgegen und erreichte dadurch, daß wenigstens billig denkende, besonders infolge der Bemühungen und Opfer der Gesellschaft für Arme und Bedrängte, für die Mission und die Evangelisirung, ihre Vorurtheile gegen dieselbe schwinden ließen. Mittlerweile steigerte sich aber Urlsperger’s Hinfälligkeit, die ihn bereits 1776 zur Niederlegung seiner Aemter genöthigt hatte, mehr und mehr. Nur bis ins Jahr 1787 reichen seine litterarischen Veröffentlichungen. Die beabsichtigte Fortsetzung seiner dogmatischen Untersuchungen, die geplanten Mittheilungen aus seinem und seines Vaters umfassendem Briefwechsel und über beider Erlebnisse gelangten nicht zur Ausführung. Durch Wanderungen in Deutschland und der Schweiz suchte er sich zu kräftigen, aber nicht mit dem gewünschten Erfolge. Im 68. Lebensjahre sah er sich veranlaßt, mit seiner Gattin Anna, geb. Ouchterlony, die jedenfalls einer schwedischen Familie entstammte, seine Vaterstadt Augsburg zu verlassen und nach Oettingen im Ries überzusiedeln. Im 77. Jahre unternahm er noch eine Reise nach England. Nach längerem Aufenthalt daselbst zurückkehrend starb er zu Hamburg im Hospital der Freimaurer, deren äußere Einrichtungen er in gesünderen Tagen theilweise als vortreffliche offen anerkannt hatte.

Als treuer Sohn des Pietismus im Geiste Spener’s, Francke’s und Bengel’s und in seinem unermüdlichen Wirken und Streben für die Ausbreitung der Kirche Christi war Joh. Aug. U. durchaus ein Abbild seines Vaters, dessen Arbeiten er sowol während dessen später Lebenszeit als nach seinem Ableben bis an sein Lebensende fortsetzte. Aber wenn der Vater schon in der Mitte der vierziger Jahre über den allgemeinen Abfall vom Väterglauben geklagt hatte, so fällt des Sohnes Wirken ganz in die Zeit des herrschenden Deismus, Naturalismus und Rationalismus. In dieser Zeit vermittelt er nun die Verbindung zwischen dem alten gläubigen Pietismus und der neueren Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein und sammelt die Gesinnungsgenossen aus allen Kreisen und Gegenden deutscher Zunge in einer Gesellschaft, deren Wirkungen in unsere Zeit hinein reichen. Aber seine besondere Größe besteht darin, daß er zur Zeit allgemeinen Abfalls nicht nur den überkommenen Glauben bewahrte, sondern auch mit großer philosophischer Begabung über die tiefsten Geheimnisse des Christenthums nachdachte und sie in ganz neuer Weise so darstellte, daß dadurch die biblische Religionswissenschaft ein ganz neues Licht und Zusammenhang gewann. Und mit einem tiefen Ahnungsvermögen begabt, sah er in den Zeichen der Zeit nicht bloßes Dunkel: er erkannte z. B., daß die von ihm zu gründende Christenthumsgesellschaft nicht nur nöthiger als je, sondern daß auch keine Zeit für ihre Entstehung eine so günstige sei, wie die Gegenwart. Er sah im J. 1786 [361] eine allgemeine, alle Verhältnisse umgestaltende Umwälzung, die vom Gebiet der römisch-katholischen Völker ausgehen werde, nicht nur bestimmt voraus, sondern auch, daß dies nur eine kürzere vorübergehende Periode sein und darnach alles sich auf neuen Grundlagen wieder aufbauen werde. Dabei war er so sehr ein Mann von einem Gusse, daß sich die leitenden einheitlichen Gedanken seines unermüdlichen Wirkens von der ersten gedruckten Schülerarbeit und von seiner studentischen Abhandlung bis an sein Lebensende ohne irgend eine Abschweifung verfolgen lassen. Endlich muß es Bewunderung erregen, daß ein frommer Geist, dessen Streben von Jugend auf durchaus auf die Förderung reiner Lehre gerichtet war, eine Gesellschaft stiftete, in der die oft so tief erscheinende Kluft verschiedener Lehranschauungen, zunächst wenigstens innerhalb des lutherischen und reformirten Bekenntnisses, durch eine kräftige und wirksame persönliche Lebens- und Liebesgemeinschaft überbrückt war. Hierin war er entschieden seiner Zeit voraus.

Urlsperger’s äußere Erscheinung lernen wir aus einem schönen Schwarzkunstblatte kennen, das der tüchtige Kupferstecher Joh. El. Haid zwischen 1765 und 1770 nach einem Gemälde Ant. Graff’s gefertigt hat. Es stellt ihn in Amtstracht als Diakon zu St. Annen in langem weißem Krausenkragen dar. Das klare offene Auge hat etwas gewinnendes. Unter dem Bilde steht sein Wahlspruch: Sursum corda! non est mortale quod opto [WS 2].

An einer seiner Bedeutung entsprechenden Biographie Urlsperger’s fehlt es noch. Das Vorstehende ist aus einer größeren handschriftlichen Arbeit ausgezogen. Am inhaltreichsten von bisherigen Mittheilungen sind die Auszüge, die Joh. Jac. Gradmann aus einem ihm ums Jahr 1802 offenbar von U. selbst mitgetheilten Lebenslaufe in seinem ‚Gelehrten Schwaben‘ S. 694–696 gegeben hat. Von sechs verschiedenen Aufsätzen Dr. Ostertag’s in Basel mögen hier die Artikel J. A. Urlsperger und Christenthumsgesellschaft in Herzog-Plitt’s Encyklopädie erwähnt werden. Dazu kommen drei in der Gedächtnißschrift zum 100jährigen Bestehen der Christenthumsgesellschaft Basel 1880 gedruckte Reden, besonders die von Christoph Joh. Riggenbach. Vgl. auch H. W. J. Thiersch, Chr. Heinr. Zeller’s Leben I, 133 f.; C. F. Spittler im Rahmen seiner Zeit I. Manches biographisch brauchbare enthalten Urlsperger’s Schriften, besonders die ‚Zeugnisse der Wahrheit vom J. 1786‘, auch die in gleichzeitigen kritischen Zeitschriften und Pamphleten enthaltenen Urtheile und Angaben. Das vollständigste Verzeichniß seiner Schriften findet sich bei Gradmann S. 696–704, woneben noch Meusel, Das gel. Teutschl. VIII, 172–175 (Lemgo 1800), zu vergleichen ist. Das gedruckte Verzeichniß seiner merkwürdigen gegen 5100 Bände zählenden Bücher findet sich auf der Stadtbibliothek zu Augsburg. Seine Gattin starb 73 Jahre alt zu Oettingen am 3. April 1811. Sie war so leidend, daß ihr schon 1798 und bis an ihr Ende das h. Abendmahl im Hause gereicht werden mußte.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hier wird wohl Sigmund Jacob Baumgarten (1706–1757) gemeint sein.
  2. lat., Etwa: „Erhebet die Herzen! es ist nicht sterblich, was ich erwähle“