ADB:Thiersch, Heinrich
Friedrich Thiersch’s (s. o. S. 7,) ältester Sohn, durch seine Mutter Amalie Enkel des Generalsuperintendenten Christian Fr. Josias Löffler in Gotha (s. A. D. B. XIX, 106). Th. wurde am 5. November 1817 in München geboren. Er war, wie Melanchthon, [18] ein frühreifes Kind. Mit vier Jahren lernte er von seiner Mutter lesen und schreiben. Durch eine unheilbare Schwäche des rechten Fußes, die Folge einer Lähmung, die er sich schon im 6. Lebensjahre durch Erkältung zuzog, wurde er von den Spielen der Jugend fern gehalten und in allzu rascher geistiger Entwicklung gefördert. Mit sechs Jahren fing er das Lateinische an, mit sieben oder acht das Griechische, mit elf das Hebräische. Im Herbste 1833, noch nicht sechzehn Jahre alt, bestand er am alten (jetzt Wilhelms-)Gymnasium in München, unter Döllinger’s Vorsitz, das Absolutorialexamen; im Herbste 1837, nachdem er zwei Jahre in München Philologie, zwei Jahre in Erlangen Theologie studirt hatte, mit der ersten Note das theologische Examen in Ansbach, und im October 1839 mit derselben Note das philologische in München, wo er am 19. Mai 1838, durch Prof. Ast, zum Doctor der Philosophie promovirt worden war. Dazwischen hatte er, von Pfingsten 1838 an, eine Lehrstelle an der ev. Missionsanstalt in Basel bekleidet, hatte sie aber im Frühjahr 1839 aus Gesundheitsgründen aufgeben müssen. Seit October 1839 Repetent in Erlangen, habilitirte er sich dort am 7. Mai 1840 als Licentiat der Theologie. Am 5. November 1842 wurde er als außerordentlicher Professor nach Marburg berufen und im Januar 1846, an derselben Universität, zum ordentlichen Professor befördert. Eine Berufung nach Rostock, 1845, eine solche nach Königsberg, 1846, und eine dritte nach Erlangen, 1848, lehnte er ab. Dagegen folgte er 1849 dem Rufe, an den „katholisch-apostolischen“ (irvingianischen) Gemeinden in Norddeutschland, die sich damals bildeten, als Pastor zu wirken. Am 1. August 1849 reichte er die Bitte um Enthebung von seiner Professur ein, und im Januar 1850 wurde derselben entsprochen. Als Pastor der Gemeinden Marburg und Cassel blieb er bis 1864 in Marburg, bis 1860 zugleich mit der Aufsicht über die norddeutschen Gemeinden, seit 1860 mit der Leitung der Gemeinden in Süddeutschland und der Schweiz betraut, seit 1858 auch als Privatdocent für Philologie und alte Geschichte thätig. 1864 siedelte er nach München, 1869 nach Augsburg, 1875, als Oberhirte sämmtlicher Gemeinden der Schweiz, Süddeutschlands und Oesterreichs, nach Basel über, wo er am 3. December 1885 starb. Seine Frau, Bertha, die Tochter Christian Heinrich Zeller’s in Beuggen, mit der er sich am 22. September 1840 vermählt hatte, war ihm am 14. Juli 1869 vorausgegangen. Von den dreizehn Kindern, welche sie ihm geschenkt, hinterließ er neun, vier Söhne und fünf Töchter.
Thiersch: Heinrich Wilhelm Josias Th., Theolog,Einen authentischen Commentar seiner geistigen Entwicklung, auch seines Anschlusses an den Irvingianismus, hat Th. nicht nur in der bis zum November 1866 reichenden Selbstbiographie hinterlassen, welche in dem unten angeführten Buche von Wigand abgedruckt ist, sondern vor allem in zahlreichen Schriften. Ein vollständiges Verzeichniß derselben, soweit sie selbständig erschienen sind, s. bei Wigand S. 463 f., vgl. auch S. 178 ff. Hier können nur die wichtigeren besprochen werden.
Th. begann mit rein gelehrten Arbeiten. Auf seine Inauguraldissertation „Ad Pentateuchi versionem Alexandrinam critice pertractandam prolegomena“ (Erlangen 1839) und seine Habilitationsschrift „De Pentateuchi versione Alexandrina dissertatio critica“ (Erlangen 1840) folgten 1841 „De Pentateuchi versione Alexandrina libri tres“ (Erlangen), eine „eindringende Arbeit“, welche die Anfänge einer Grammatik und Rhetorik der Septuaginta enthält und bestimmt war, die Nutzbarkeit dieser Uebersetzung zur Emendation des masoretischen Textes des A. T. in Frage zu stellen. Th. hat auf diesem Felde bis heute keine Nachfolger gefunden. (Gg. Heinrici, Theol. Encyklopädie, 1893, S. 44.) Seine „Hebräische Grammatik für Anfänger“ (1842, 2. Aufl. 1858) hat Th. [19] selbst nur in der zweiten Bearbeitung anerkannt; die erste wünschte er „als eine jugendliche Uebereilung der Vergessenheit zu übergeben“ (Wigand S. 45). In die Zeitschr. für Protestantismus und Kirche schrieb er 1841 Bemerkungen über die Anfänge der kirchlichen Literatur und Glaubenslehre, 1842 Mittheilungen über das katholische System der Theologen in Oxford, in die Zeitschrift f. d. ges. luth. Theologie u. Kirche 1841 über die Lehre des Irenäus von der Eucharistie, und in die Studien u. Kritiken 1842: „Irenaei capita IV in graecum sermonem restituta criticisque annotationibus illustrata“.
Als Vertreter der neutestamentlichen Exegese in Marburg sah sich Th. gedrängt, sich mit den Tübinger Kritikern auseinanderzusetzen. Er gewann die Ueberzeugung, daß ihre Kritik „fast lediglich auf dem einen philosophischen Vorurtheil gegen das Uebernatürliche beruhe“, daß die Methode von Strauß „keine echt historische“, sondern ein Verfahren sei, „das keine geschichtlichen Urkunden in der ganzen Welt aushalten könnten“, und daß man in Baur’s Auffassung der Geschichte des Urchristenthums „keine Kirchen- und Religionsgeschichte und überhaupt keine Geschichte zu erkennen habe, sondern ein willkürlich construirtes, der widerstrebenden Wirklichkeit aufgezwängtes dialektisches Schema, wobei das eigentliche Subject der Kirchengeschichte, nämlich die christliche Gemeinde, für welche die heiligen Bücher geschrieben, und von der sie anerkannt worden sind, gänzlich außer Acht gelassen“ werde (Th. bei Wigand S. 52). Es war für Th. „Gewissenssache“, mit diesen Ergebnissen umfassender Quellenstudien öffentlich aufzutreten. So entstand seine wissenschaftlich bedeutendste Arbeit, der „Versuch zur Herstellung des historischen Standpunkts für die Kritik der neutestamentlichen Schriften“ (1845). Sie steht in der Reihe der vom schrift- und offenbarungsgläubigen Standpunkte aus gegen Baur gerichteten Streitschriften „in mehrfacher Hinsicht unerreicht da; sie ist eine der ersten, aber auch der gelungensten und wirksamsten Be- und Verurtheilungen der Neutübinger Tendenzkritik“ (Zöckler in der RE. von Herzog und Plitt² XVIII, 371). Baur suchte den jugendlichen Gegner von oben herab abzufertigen („Der Kritiker und der Fanatiker, in der Person des Herrn Heinrich W. J. Thiersch. Zur Charakteristik der neuesten Theologie“, 1846), wurde aber von Th. ebenso würdig als bestimmt zurückgewiesen („Einige Worte über die Aechtheit der neutestamentlichen Schriften und ihre Erweisbarkeit aus der ältesten Kirchengeschichte gegenüber den Hypothesen der neuesten Kritiker“, 1846). Th. hat den wesentlichen Inhalt seines „Versuchs“ lebenslang vertreten, wiewol ihm „die Formlosigkeit und das Uebertriebene an einzelnen Stellen gar nicht unbewußt“ blieb; von seiner Erwiderung auf die Baur’sche Schrift meinte er zwanzig Jahre später, sie zeige „schon einen Fortschritt in Besonnenheit“ und „dürfte wol auch jetzt noch der Beachtung wert sein“ (Th. bei Wigand S. 52).
Der neutestamentlichen Theologie gehören noch zwei werthvolle Programme an: „De epistola ad Hebraeos commentatio historica“ (Marburg 1848, für Barnabas als Verfasser, nach dem positiven Zeugniß Tertullian’s), und „De Stephani protomartyris oratione commentatio exegetica“ (Marb. 1849), und vor allem ein größeres Werk, in welchem Th. die Ergebnisse seiner Forschungen auf dem Gebiete des christlichen Alterthums zusammenfaßte: „Die Kirche im apostol. Zeitalter und die Entstehung der neutestamentlichen Schriften“ (1852, 2. Aufl. 1856, 3. Aufl. 1879). Man hat dieses Werk, das Th., besonders in der 2. Ausg., für die gediegenste seiner Arbeiten hielt (bei Wigand S. 63), „eine im Grunde von ästhetischen Gesichtspunkten bedingte Dichtung“ genannt (Holtzmann, Lehrbuch d. hist.-krit. Einleitung in das N. T., 1885, S. 191.) Davon ist aber nur so viel richtig, daß die Form der Darstellung „von ästhetischen Gesichtspunkten bedingt“ ist; sie ist wahrhaft classisch und verleiht dem [20] Buche bleibenden Werth, wenn gleich der Inhalt vielfach überholt, theilweise auch durch irvingianische Sonderauffassungen getrübt ist.
Im Winter 1844–45 hatte Th. „Vorlesungen über Katholicismus und Protestantismus“ gehalten. Es „erschien ihm als Pflicht, wie er an dem Streite gegen die Widersacher des christlichen Glaubens sich betheiligt hatte, so auf der anderen Seite ein Zeugniß friedlicher Gesinnung gegen alle, die das Wesentliche des Christenthums festhalten, also insbesondere gegen die Katholiken, abzulegen“ (bei Wigand S. 56). Diese Vorlesungen wurden 1846 herausgegeben (2. Aufl. 1848; Th. selbst zog später die erste Ausgabe der zweiten vor: Wigand a. a. O.). Von der Aufnahme, welche sie fanden, schrieb damals Karl G. A. v. Burger in der Zeitschr. für Protestantismus und Kirche (N. F. Bd. 12, S. 1): „Es wird nicht viele Erscheinungen der neueren und neuesten theol. Literatur geben, welche in nahen und ferneren Kreisen mit gleicher Theilnahme begrüßt und aufgenommen worden sind … In der Verworrenheit der Gegenwart, unter dem Getöse des Streites … sehnt mehr als ein Gemüt sich auch einmal nach einem Worte des Friedens, der ruhigen Verständigung; und eine Schrift, welche eine unparteiische Würdigung der vorhandenen Gegensätze, eine unbefangene … Besprechung der großen Streitfragen der Gegenwart verheißt, und ihre Aufgabe nicht ganz verfehlt, kann sicher darauf rechnen, daß Unzählige die Hand begierig nach ihr ausstrecken als nach der Befriedigung eines lang gehegten Wunsches. Nun aber trägt jene Schrift nicht bloß diese Verheißung an der Spitze, sondern erfüllt sie auch auf eine so anregende, durch Form und Inhalt gleich anziehende Weise, daß wir die Begierde wol begreifen, mit der sie von Gelehrten und Nichttheologen, und insbesondere von der studirenden Jugend verschlungen wird“. Burger erkannte gerne „die Macht des unabweisbaren Eindrucks“ an, den die Schrift auf ihn gemacht habe, in der „ein Schatz der mannichfachsten Belehrung, aus nicht gewöhnlicher historischer Kenntniß geschöpft und eine Fülle bedeutsamer Beziehungen und Nachweise für Wissenschaft und Leben“ geboten werde, mußte aber den Grundgedanken, wonach das Dasein und Wirken apostolischer Männer und die Ausrüstung mit den dem Urchristenthum eigenthümlichen Geistesgaben zum Begriff der Kirche gehöre, entgegentreten und außerdem den begründeten Vorwurf erheben, daß Th. gegen die römische Kirche „allzu gerecht (Pred. Sal. 7, 17)“ sei, auf Kosten des Protestantismus. – 1880 um eine 3. Auflage seiner „Vorlesungen“ angegangen, wies Th. dies zurück: „Seit dem Vatikanum ist die römische Kirche eine andere geworden. Ich kann jetzt nicht mehr die Hoffnungen für sie in ihrer Gesammtheit aussprechen, wie sie damals mein Herz bewegten“ (Wigand S. 196). – Einen bedeutsamen Nachtrag zu den „Vorlesungen“ bilden drei Sendschreiben an V. A. Huber: „Döllinger’s Auffassung des Urchristenthums“ 1861.
Diese Sendschreiben sind der letzte Beitrag, den Th. zur gelehrten theol. Litteratur geliefert hat. Seine späteren theol. Schriften entbehren zwar keinswegs der wissenschaftlichen Grundlage, sind aber, wie das schon 1854 geschriebene Büchlein „Ueber christliches Familienleben“ (7. Aufl. 1876), für weitere Kreise bestimmt. So die exegetischen Arbeiten: „Die Bergpredigt Christi“ (1867, 2. Aufl. 1878); „Die Gleichnisse Christi“ (1867, 2. Aufl. 1875); „Die Genesis“ (1869), 2. Aufl. unt. d. Titel: „Die Anfänge der hl. Geschichte n. d. 1. Buche Mose’s“ (1877). So auch der „Inbegriff der christl. Lehre“ (1886), ein aus den Vorbereitungen für den Confirmandenunterricht hervorgegangener zusammenhängender Lehrvortrag, von Th. auf seinem Sterbelager zum Abschluß gebracht, um „dem christlichen Volk insgemein zur häuslichen Erbauung und Belehrung und der reiferen Jugend zur Mitgabe und Aussteuer auf dem Lebensweg“ zu dienen (Vorwort v. 24. Nov. 1885). Alle diese Schriften, wenn sie auch dem [21] nichtirvingianischen Leser manchen Anstoß bieten, sind Perlen der christlichen Litteratur, von allem Phrasenwerke völlig frei, gehaltvoll, tief und klar und von einem unvergleichlichen Zauber der Sprache.
Seine politischen Ueberzeugungen hat Th. in dem Buche „Ueber den christlichen Staat“ (1875) zusammengefaßt, das weniger bekannt ist als es verdient. Es ruht auf tiefer Kenntniß der Geschichte und reicher Lebenserfahrung, ist ausgezeichnet durch Weite des Gesichtskreises und Klarheit des Blicks und athmet den Geist wahrer Freiheit, von dessen Hauch doch immer nur wenige, und durchaus nicht am meisten die Parteimänner der Linken, berührt sind.
Am erfolgreichsten war Th. indessen als biographischer Schriftsteller. Die Biographien seines Vaters („Friedrich Thiersch’s Leben“, 2 Bde., 1866) und seines Schwiegervaters („Christian Heinrich Zeller’s Leben“, 2 Bde., 1876) sind Meisterwerke, welche vielleicht alle seine übrigen Schriften überdauern werden. Vorangegangen waren die „Erinnerungen an E. A. v. Schaden“ (1853), seinen Jugendfreund und Schwager, der, als Th. Repetent in Erlangen war, den meisten und den förderlichsten Einfluß auf seine wissenschaftliche Entwicklung genommen hatte (Th. bei Wigand S. 47). Daneben veröffentlichte Th. noch eine Reihe kürzerer Lebensbilder, theils in selbständigen Schriften, wie „Luther, Gustav Adolf und Maximilian I. von Bayern“ (1869); „Melanchthon“ (1877); „John Wesley“ (1879); „Lavater“ (1881), theils in Sammelwerken und Zeitschriften: „Bellarmin“ und „Cassianus“ (in Herzog-Plitt’s RE.), „Maria Theresia“ (Daheim 1865) und „Karl I. von England“ (Westermann’s Monatshefte 1865). Außer diesen biographischen Arbeiten ist zu nennen die „besonders wegen ihrer genialen Schlußbetrachtungen über die Orientpolitik der europäischen Großmächte immer noch lesenswerthe“ Schrift: „Griechenlands Schicksale vom Anfang des Befreiungskriegs bis auf die gegenwärtige Krisis“ (1863), sowie endlich, als ein interessantes Denkmal von Thiersch’s Vielseitigkeit und Scharfsinn, eine mit seinem Sohne August bearbeitete Schrift über die Physiognomie des Mondes (1879, 2. Aufl. 1883). (Vgl. Zöckler in Herzog-Plitt’s RE.², S. 376 und Wigand S. 260 flg.)
So mannichfach ihr Inhalt ist, gemeinsam ist fast allen Schriften Thiersch’s die hohe Schönheit der Form, vermöge deren er Anspruch hat, den Classikern der deutschen Prosa beigezählt zu werden. Und Thiersch’s Schreibweise, voll Adels und ungesuchter Würde, wohl abgewogen in jedem Ausdruck, ist das treue Spiegelbild seiner Persönlichkeit: ein antiker Charakter, doch durchleuchtet und verklärt von wahrer christlicher Frömmigkeit. Was Th. von G. H. v. Schubert sagte: daß er wol die höchste dem Christen erreichbare sittliche Stufe errungen habe (bei Wigand S. 36), das läßt sich ohne Uebertreibung auf ihn selbst anwenden. Ein im Ewigen ruhender Geist sprach in dem ernsten, aber friedevollen Blick, der unter der mächtig gewölbten Stirn und den buschigen Brauen hervor aus tiefen Augen leuchtete. In seiner Gegenwart war leichtfertiger Scherz, war eine unlautere Regung nicht denkbar. Aber keineswegs gedrückt, nur gehoben fühlte man sich in seiner priesterlichen Nähe. Denn als eine wahrhaft priesterliche Gestalt, in des Wortes edelstem und höchstem Sinne, hält ihn das Gedächtniß derer fest, die das Glück gehabt haben, dem außerordentlichen Manne im Leben zu begegnen.
Es ist viel beklagt worden, daß Th. durch den Irvingianismus dem akademischen Lehramte, in dem er mit reichem Segen gewirkt hatte, und der theologischen Wissenschaft entzogen wurde. Und in der That, man kann sich eines tiefen Bedauerns nicht erwehren, wenn man bedenkt, daß der Mann, der im 27. Lebensjahre die „Vorlesungen“, im 28. den „Versuch“ geschrieben hatte, im 33. den Lehrstuhl verließ und fortan für die evangelische Theologie so gut wie [22] verloren blieb. Aber die Wissenschaft, man mag sie noch so hoch stellen, ist nicht das Höchste; vollends für die christliche Kirche nicht die Theologie. Seltener und werthvoller als das gelehrteste Werk ist das Beispiel eines Mannes, der alle lockenden Aussichten für nichts achtet und ohne zu zaudern das schwerste Opfer auf sich nimmt, um seiner Ueberzeugung, seinem Gewissen zu folgen; noch seltener und noch köstlicher vielleicht die Demuth, die Th. bewährt hat, die Freiheit von allem Gelehrtendünkel nach so frühen und so glänzenden Erfolgen. (Vgl. dazu Luthardt, Erinnerungen aus vergangenen Tagen, 1891, S. 304.)
Der theologischen Jugend hat Th. am Schlusse der Vorrede zur „Kirche im apostol. Zeitalter“ ein schönes Vermächtniß gewidmet, das auch hier den Schluß bilden möge: „Ich kann nicht schließen ohne ein Wort an unsere jungen Theologen, in deren Mitte ich so lange gelebt und gewirkt. Ich kenne den Jammer der Zerrissenheit, in welchen sie durch den Streit der Lehrer gestürzt werden. Intellectuelle Abstumpfung, sklavische Ergebung an die Autoritäten des Unglaubens, Absterben des Glaubens an Wahrheit überhaupt sind die Folgen der Rücksichtslosigkeit, mit welcher man alle Doctrinen des Unglaubens und des Halbglaubens auf die Zuhörer einstürmen läßt. Rafft euch auf aus der Gleichgültigkeit und fasset Muth. Macht euch frei von dem blinden Glauben an die, welche aus ihrer öden Seele nur die Kunst des Zweifels und des Argwohns euch mittheilen können. Lernt wieder forschen und nicht nur nachschreiben; nicht bloß grübeln, sondern betend nach Wahrheit ringen. Kehret zu dem Quell der heiligen Schriften zurück, dessen Wasser euch die Widersacher verdächtig gemacht haben. Schöpfet wieder mit Vertrauen, und, wenn Lebenskräfte in euch strömen, so erkennt, was es ist, das man euch rauben will“ (Marburg, den 30. März 1852).
- Vgl. Heinrich W. J. Thiersch’s Leben (zum Theil von ihm selbst erzählt), herausgeg. v. Dr. Paul Wigand, Basel 1888, auch den Aufsatz von Wigand (Thiersch’s Schwiegersohn) in der Allg. konf. Monatsschrift 1886, S. 673 ff., 800 ff. – Zöckler in Herzog-Plitt’s RE.², Bd. 18, S. 369 u. in d. Ev. KZ. 1886, Nr. 4. – Dr. v. Orelli im Basler Kirchenfreund 1885, Nr. 25 u. 26. – Luthardt in d. Allg. Ev.-Luth. KZ. 1885, Nr. 45 u. 46, 1886, Nr. 1 u. 2 und in s. Erinnerungen aus vergangenen Tagen, Leipzig 1891, S. 294 ff.