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Artikel „Suso, Heinrich“ von Philipp Strauch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 169–179, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Suso,_Heinrich&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 23:50 Uhr UTC)
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Suso: Heinrich (vielleicht Johannes Heinrich) Seuse (Súse, in latinisirter Form Suso), deutscher Mystiker des 14. Jahrhunderts, ist am S. Benedictentag (21. März), höchst wahrscheinlich im J. 1300 zu Ueberlingen am Bodensee geboren. Er selbst nennt sich von Geburt einen Schwaben und entstammt dem im Hegau ansässigen, adligen Geschlechte v. Berg (de Monte). Seine Mutter war eine Seusin (v. Saus, v. Saussen) aus Ueberlingen; nach ihr, deren Vorbild bestimmend auf sein Leben wirkte, nannte sich später der Sohn. Sie war ’voll Gottes und hätte gern darnach heilig gelebt‘, doch die Ehe war ungleich: der Vater huldigte der Welt, und so wurde der Mutter das Loos einer ’viel großen Leiderin‘. In früher Jugend kam S. mit seinen Eltern nach Konstanz und fand hier wegen seiner außerordentlichen Begabung schon mit 13 Jahren im Inselkloster des Predigerordens (dem jetzigen Inselhôtel) Aufnahme, die sonst nicht vor dem 15. Jahre gewährt wurde. Mit seinem Klosternamen nannte man ihn Amandus, d. i. ’Herzentraut‘. Fünf Jahre lang blieb sein Gemüth dort ungesammelt, erst im 18. Lebensjahre vollzog sich in ihm der ’Kehr‘ und nun beginnt für ihn ein neues Leben, in dem er allmählich aus den ’niederen Schulen‘ emporsteigt zur ’hohen Schule und ihrer Kunst‘, ’zu einer ganz vollkommenen Gelassenheit seiner selbst‘. Dabei sucht er das äußere Leben dem inneren anzupassen und führt vom 18. bis 40. Lebensjahre ein steter Selbstpeinigung hingegebenes Dasein. In Köln liegt er dem studium generale ob. Sein dortiger Aufenthalt, während dessen seine Mutter starb, fällt in die letzte, anfechtungsreiche Lebenszeit des ’hohen‘, ’heiligen‘ Meisters Eckhart, dessen ’süßer Lehre‘ S. theilhaftig wurde. Meister Eckhart begegnet wiederholt in Suso’s Lebensbeschreibung. Er befreite den jungen Ordensbruder von dem ihn fast zehn Jahre lang peinigenden Gedanken, seine Aufnahme in den Orden sei durch Geschenkspenden – das Konstanzer Predigerkloster hatte sich durch Suso’s Eltern reichlicher Wohlthaten zu erfreuen – begünstigt worden. Nach Eckhart’s Tode sieht er den ’seligen‘ Meister in einer Vision und erfährt von ihm, er befände sich ’in überschwänglicher Klarheit, in die seine Seele bloß vergottet wäre in Gott‘. An ihn knüpft auch Suso’s Erstlingsschrift, das Büchlein der Wahrheit, an, in dem S. ’von innerlicher Gelassenheit und vom guten Unterschiede, der zu haben ist in Vernünftigkeit‘ redet. Es ist eine der schwierigsten Abhandlungen [170] unter den Schriften der deutschen Mystiker. Die Erinnerung an Eckhart († 1327) ist hier eine noch ganz frische. Das Werk wurde vielleicht vor Verurtheilung der 28 Sätze Eckhart’s (1329), gerade als die Verhandlung über ihn im Gange war, geschrieben, jedenfalls aber nicht sehr lange nach 1327. Es wendet sich namentlich gegen die häretischen Begarden und Brüder des freien Geistes, die auch deutsche Mystiker wie Eckhart in Gefahr brachten. Besonders interessant ist das sechste Capitel, welches uns Aufschluß gibt über Eckhart’s Verhältniß zu den häretischen Begarden. S., der Schüler Eckhart’s, vertheidigt keineswegs gewisse extravagante, begardisch gefärbte Lehren seines Meisters, er läßt sie vielmehr unberührt oder deutet sie nach seiner eigenen selbständigen Ansicht, oder hält ihnen, ohne sie im einzelnen zu widerlegen, andere richtige Sätze aus Eckhart entgegen, um diesen vom Vorwurfe des Begardenthums zu entlasten. Im allgemeinen behandelt die Schrift eine Reihe von Punkten, in denen die genannten Häretiker nicht richtig dachten; sie betreffen einerseits Gott und die Gottheit, Einheit und Trinität, das Verhältniß der Creatur zu Gott, die Incarnation, die Vereinigung der Seele mit Gott hier und im Jenseits, andererseits die Freiheit und das sittliche Betragen des Menschen. Wenn S. in dem Büchlein so viel von Gelassenheit spricht, ’so hat er hier nicht so sehr das Gelassensein im Auge als vielmehr die Frucht und das Ziel derselben: das Aufgehen in Gott unbeschadet dem Wesen‘.

Wann S. von Köln, wo er bereits mit großem Erfolge predigte, nach Konstanz zurückgekehrt ist, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Er versah im Inselkloster das Amt eines Lectors und stand dann demselben auch als Prior vor. In die Zeit seines Konstanzer Aufenthaltes, in die 30er Jahre des 14. Jahrhunderts, fällt die Abfassung seines Büchleins der ewigen Weisheit, das vorherrschend ein Buch praktischer Mystik ist, während das Büchlein der Wahrheit der speculativen Mystik gewidmet war. Das Büchlein der ewigen Weisheit gehört mit zu den gelesensten deutschen Andachtsbüchern in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert; jede unserer größeren Bibliotheken besitzt Handschriften oder doch wenigstens handschriftliche Excerpte aus der Schrift, woraus der Werth des Büchleins, den das Mittelalter ihm zuerkannte, genügend erhellt. Mit Recht hat man es die schönste Frucht der deutschen Mystik genannt. Das Werk umfaßt drei Theile, von denen der letzte der älteste ist: die hundert Betrachtungen und Gebete, wie S. sie täglich bei seinen Venien (Prostrationen) zu sprechen pflegte, bilden die Grundlage für den ersten und zweiten Theil, die eigentlichen Haupttheile der Schrift. S. selbst bezeichnet als Zweck seines Büchleins, das er dann auch in lateinischer Sprache umarbeitete, die göttliche Liebe, die jetzt in manchen Herzen zu erlöschen beginne, in etlichen wieder zu entzünden, die Kalten zu erwärmen, die Lauen zu bewegen, die Unandächtigen zur Andacht zu reizen, die Schläfrigen aber zur Wachsamkeit der Tugenden anzueifern. Vorbild war ihm namentlich der h. Bernhard, den er wiederholt benutzt hat. Seinem Inhalte nach, der in die Form eines zwischen der ewigen Weisheit und ihrem Diener geführten Dialoges gekleidet ist, beschäftigt sich das Büchlein von Anfang bis zu Ende mit dem Leiden Christi. Im ersten Theile sieht S. sich unter das Kreuz des Herrn versetzt und läßt uns Christi und seiner Mutter Marter mitempfinden, damit wir daran die Größe unserer eigenen Sünden, die Nichtigkeit dessen, was wir Leiden nennen, ermessen können. Er schildert die Hinfälligkeit weltlicher Minne gegenüber der göttlichen, das ewige Weh der Hölle, an das alles irdische Leiden nicht hinreicht, wie es andererseits verschwindet vor den unvergänglichen Freuden des Himmels, vor allem aber, und hier erhebt sich die Darstellung des Verfassers, der selbst in der Schule des Leidens so wol erprobt war, zu besonderer Wärme und Schönheit, [171] wird er nicht müde, uns den Schatz, der im Leiden selbst liegt, zu erschließen. S. spricht hier goldene Worte, die nicht nur vom Standpunkte mittelalterlichen Mönchthums dieses Beiwort verdienen. Auch der Maria, ’der reinen Königin vom Himmelreich‘, sind als der Mittlerin zwischen Christus und dem Menschen zwei Capitel gewidmet, die erkennen lassen, wie tief S. das Ideal echter Weiblichkeit erfaßt hat. Er zeichnet sie uns mit derselben kindlichen Reinheit und Inbrunst, die später einem Frà Angelico von Fiesole, an den S. auch sonst erinnert, den Pinsel geführt hat. Der zweite Theil mahnt uns, wie wir zu sterben lernen sollen, um mit Christus zu leben, und malt zu diesem Zweck die Qualen eines unbereitet sterbenden Menschen aus, ein Abschnitt, der auch selbstständig wiederholt schon früh gedruckt worden ist (vgl. F. Falk, Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdruckes bis zum J. 1520, Köln 1890, S. 30 ff.). Sodann erhalten wir eine Anleitung zum innern Leben. Dem Abendmahl als dem wichtigsten Mittel uns die Frucht des Erlösungsleidens anzueignen wird eine eingehende Betrachtung gewidmet und das Ganze klingt in einem Lobe Gottes aus als dem Ziele des Lebens und Leidens, dem Zwecke unseres Daseins. ’In herrlicher Weise offenbart sich in dieser Schrift ein in Liebe an seinen Erlöser hingegebenes Gemüth und eine durch eigene Erfahrung gereifte Gottesweisheit, die ernst und milde zugleich, mit einem Rufen, das aus dem innersten Herzen kommt, von dem Unfrieden zum Frieden führen will, und mit Worten voll Geist und Leben, voll Licht und Schönheit Sinn und Herz ergreift und in ihre Kreise zieht.‘

Die lateinische Uebertragung, betitelt Horologium sapientiae, hat S. verfaßt, um sein Werk dem Ordensgeneral Hugo v. Vaucemain (1333–1341) vorzulegen. Die Bearbeitung, die, wie das Original, große Verbreitung fand, schon im 15. Jahrhundert mehrfach gedruckt, auch ins Französische, Englische und Holländische übersetzt wurde (s. C. Schmidt in den Theol. Studien u. Kritiken, 1843, S. 851 f.), fällt also zwischen diese Zeit (vor 1339?); sie ist übrigens eine durchaus selbständige, auch viel umfassender als das deutsche Buch und versteigt sich nicht selten zu einer dithyrambisch-überschwänglichen Ausdrucksweise. Auffallend ist, daß S. erst bei der lateinischen Bearbeitung auf den Titel Horologium sapientiae und die darauf Bezug nehmende imaginäre Vision kam – er sah sein Werk unter dem Bilde einer mit den schönsten Rosen geschmückten Uhr, deren Cymbalschläge die Seele mit himmlischen Klängen erfüllten –, während das deutsche Werk nichts entsprechendes bietet. Im 7. Capitel des zweiten Theiles des Horologium handelt S. über die Brüderschaft der ewigen Weisheit und die Vermählung mit der Weisheit; die lat. Form rührt von S. her, nicht aber die deutsche, wie sie in den bisherigen Gesammtausgaben (Diepenbrock, 3. Aufl., S. 321 ff.) und zwar verkürzt, sowie in manchen Handschriften sich findet. In demselben 7. Capitel citirt S. auch einen Cursus, d. h. Officium de aeterna sapientia. Noch unter der Arbeit am Horologium sapientiae ward gegen S. die Anklage wegen ketzerischer Schriften erhoben: es hieß ’er mache Bücher, in denen stünde falsche Lehre, mit der alles Land verunreinigt würde mit ketzerischem Unflate‘. Zu diesen Büchern hat sicher das Büchlein der Wahrheit mit gehört. Fraglich ist es, ob unter dem von S. an einer anderen Stelle seiner Vita genannten ’neuen Büchlein, dem der böse Feind gar feindselig war‘, das Büchlein der Weisheit verstanden werden darf. Auf dem Generalcapitel zu Brügge in Flandern im J. 1336 wurde der Prior von Konstanz seiner Stelle entsetzt: es ist wahrscheinlich, daß dieser Prior S. war, der jedoch auch nach Niederlegung seines Amtes zunächst in seinem Kloster verblieb. Im J. 1338 wurde der Konstanzer Clerus ebenso wie die Geistlichkeit vieler anderer Städte durch das von Kaiser Ludwig auf dem Frankfurter Reichstage erlassene Gesetz [172] betroffen, welches befahl, fortan die päpstliche Excommunication und das Interdict unbeachtet zu lassen und den Gottesdienst wieder aufzunehmen bei Strafe der Friedlosigkeit. Konstanz stand auf Seiten des Kaisers. Man hatte der Geistlichkeit bis zum 13. Januar 1339 Frist gegeben: dann sollte überall der Gottesdienst wieder aufgenommen werden. Die Dominicaner, die sich weigerten, verließen die Stadt, nur vier blieben zurück und kamen dem kaiserlichen Befehl nach. S., ein entschiedener Anhänger des Papstes, war schon vorher aus Konstanz gegangen: als Heinrich von Nördlingen (s. A. D. B. XXIV, 8) am 21. Dec. 1338, vom gleichen Schicksal aus der Heimath getrieben, in Konstanz eintraf, war S. nicht mehr dort. Acht der kirchentreuen Brüder seines Conventes fanden ein Unterkommen zu Diessenhoven im Thurgau, von wo sie erst am 25. April 1346 zurückkehrten. Andere Mitglieder des Convents blieben bis zum 15. Jan. 1349 aus Konstanz verbannt (K. Müller, Der Kampf Ludwig’s des Baiern mit der römischen Curie II, 99 f., 248 f.). Es ist wahrscheinlich, daß S. zu den ersteren acht gehört hat. Aber auch nach seiner Rückkehr blieben dem vielgeprüften Manne, dem selbst die eigene Schwester einmal tiefen Kummer bereitete, indem sie ihr Kloster verließ und in Sünde fiel, aus der der Bruder sie dann freilich wieder zu tugendhaftem Leben emporhob – ein ander Mal wurde er des Diebstahls, der Brunnenvergiftung bezichtigt –, neue Heimsuchungen nicht erspart. Er sah sich abermals Anfeindungen ausgesetzt und ward hinterlistiger Weise der Unzucht beschuldigt, infolge dessen sich auch frühere Freunde, wie Heinrich von Nördlingen, von ihm abwandten. Obwol seine völlige Unschuld an den Tag kam, ward S. doch schon vorher mit Rücksicht auf die Ehre des Ordens in ein anderes Kloster versetzt. Wir finden ihn, wahrscheinlich seit 1348 in Ulm, wo in jenem Jahre das Interdict aufgehoben worden war. Im Ulmer Predigerkloster ist S. dann bis zu seinem Tode am 25. Jan. 1366 geblieben. Er wurde im Kreuzgange seines Klosters bestattet. In späterer Zeit haben verschiedentlich übrigens erfolglose Verhandlungen stattgefunden betreffs Ueberführung der Gebeine nach Konstanz, wo man noch zu Ende des 17. Jahrhunderts in der Predigerkirche Suso’s Capelle zeigte (s. Freiburger Diöcesan-Archiv III, 214 f., 191 f.; Diöcesan-Archiv von Schwaben, hrsg. v. E. Hofele II (1885), S. 68). Gregor XVI. sprach S. am 16. April 1831 selig, die Kirche feiert sein Fest am 2. März. Ueber alte, S. darstellende Gemälde siehe Freiburger Diöcesan-Archiv III, 197, 215, Vetter a. unten a. O. Anm. 57.

In die Zeit seines Ulmer Aufenthaltes fällt die Revision seiner vier Hauptschriften, die S. um das J. 1362 vornahm, ’weil etliche seiner Bücher nun lange in fernen und in nahen Landen von mancherlei unkönnenden Schreibern und Schreiberinnen ungänzlich abgeschrieben seien, so daß Jedermann dazu legte oder davon nahm nach seinem Sinn. Er wollte, daß man ein recht Exemplar fände nach der Weise, als sie ihm zuerst von Gott einleuchteten.‘ Suso’s asketische und mystische Grundsätze sind in diesem von ihm selbst mit bildlichen Darstellungen der mystischen Vorgänge geschmückten Exemplare vollständig enthalten. An der Spitze steht seine Biographie, ein Werk, das schon deshalb unser Interesse erregt, weil es die spätere deutsche biographische Memoirenlitteratur in anmuthigster Weise einleitet. S. beabsichtigte anfänglich, die Aufzeichnungen erst nach seinem Tode der Oeffentlichkeit zu übergeben, entschloß sich dann aber doch schon bei Lebzeiten sie seinen Oberen mitzutheilen, um nöthigen Falls selbst für die Wahrheit des in dem Büchlein Enthaltenen eintreten zu können, damit das Werk nicht nach seinem Tode von Menschen, die es nicht verständen, angegriffen und etwa gar unterdrückt würde. S. fürchtete derartiges namentlich für den zweiten Theil seiner Vita, der sich gegen Schluß mit der Behandlung speculativer Fragen befaßt. Er legte deshalb einen Theil (eben [173] wol den zweiten) seinem Provincial Bartholomäus v. Bolsenheim, der dieses Amt von 1354 bis 1362 bekleidete, vor; als er ihm auch das übrige (den ersten Theil) zur Durchsicht übergeben wollte, starb der Provinzial, worauf S. das Ganze als erstes Buch für sein Exemplar bestimmte. Daß wir dieses vom Helden selbst inspirirte, autorisirte und herausgegebene Lebensbild besitzen, verdanken wir seinem Beichtkind Elsbeth Stagel, Dominicanerin zu Töß bei Winterthur. Die Stagel stammte aus einem alten Züricher Geschlechte, das seit dem 13. Jahrhundert öfter urkundlich begegnet. Ihr Vater war der Metzger und Rathsher Rudolf Stagel am Rindermarkt zu Zürich, der nebst anderen Mitgliedern seines Geschlechtes wiederholt in Verbindung mit den Frauenklöstern zu Oetenbach und Töß vorkommt. Elsbeth scheint ihre Angehörigen zärtlich geliebt zu haben, in Büchern und Abschriften von ihrer Hand findet sich gern eine Fürbitte an den Leser, ihrer Eltern und Geschwister neben ihr zu gedenken. Elsbeth Stagel ist die erste Schriftstellerin Zürichs. Ihre erste schriftstellerische Leistung scheint der Zeit der Bekanntschaft mit S. vorauszuliegen: es sind die bis jetzt nur in Auszügen gedruckten Lebensbeschreibungen der sel. Schwestern im Kloster zu Töß (s. Baechtold, Gesch. der deutschen Litt. in der Schweiz, Anm. S. 51; Vetter, S. 12 ff., bes. S. 53, Anm. 19), die Elsbeth nach älteren schriftlichen und mündlichen Berichten sowie nach eigenen Wahrnehmungen zusammengestellt hat. Baechtold bezeichnet treffend diese anziehend und lebendig geschriebenen Viten, die ein hochausgebildetes geistiges Leben in jenem Kloster voraussetzen lassen, als ein nicht ganz unwürdiges Seitenstück zu Ekkehart’s IV Aufzeichnungen über die berühmtesten Klosterbrüder zu S. Gallen. Zu Töß lebte u. a. seit ca. 1309 die Königstochter Elisabeth von Ungarn († 1337). Elsbeth Stagel muß eine bedeutende Frau gewesen sein, ebenso reich an Geist wie an Gemüth. ’Sie hatte,‘ sagt S. von ihr, ’einen viel heiligen Wandel von außen und ein englisches Gemüth von innen. Sie schrieb auf, wo ihr etwas Lustliches werden und das sie und andere Menschen fördern könnte zu göttlichen Tugenden‘. In die schwierigsten Fragen mystischer Lehre suchte sie einzudringen. Schon vor ihrer Bekanntschaft mit S. hatte sie sich Auszüge aus den Schriften Meister Eckhart’s gemacht. Ihr späterer inniger Verkehr mit S. war die Folge eines Besuches Suso’s in Töß, bei dem die Stagel ihn kennen lernte. Sie, in jeder Beziehung ihm geistesverwandt, erbittet sich ihn zu ihrem geistlichen Führer. S. räth der für Eckhart begeisterten Nonne, sie solle sich zunächst auf dem Wege des inneren Erlebnisses Erkenntniß sammeln, ehe sie an die hohen speculativen Fragen herantrete. Dieser Weg aber sei der der Nachfolge Christi in Leben und Leiden, der Weg der Demuth, Selbstverleugnung und Buße. Elsbeth legt sich nun starke Selbstpeinigungen auf, allein S., durch eigene Erfahrung gewitzigt, verbietet ihr das: Jesus habe nicht gesagt: nehmet mein Kreuz auf euch, sondern jeder nehme sein Kreuz auf sich. Sie solle sich nur in dem üben, was ihr schwacher Leib ertragen könne; was dem einen Menschen tauge, tauge dem andern nicht, Gott würde sie schon mit andern als selbsterwählten Leiden heimsuchen. Bald darauf wurde die Stagel krank, um nie wieder ganz zu genesen. Ihr inneres Leben, das sie ganz dem Suso’s anpaßte, konnte dadurch aber nur noch Förderung erfahren. Von den zahlreichen Schülerinnen, die sich insbesondere in den Frauenklöstern Alemanniens an S. bildeten, hat zweifellos die Stagel ihn am besten verstanden. In ihrer Verehrung für S. zeichnete sie heimlich alles auf, was dieser ihr im Laufe der Zeit von seinem eigenen Leben erzählt hatte. Als S. später dieses ’geistlichen Diebstahls‘ inne wurde, tadelte sie der bescheidene Priester darum; sie mußte das Schriftstück herausgeben und er verbrannte Alles. Als ihm dann aber noch ein anderer Theil solcher Aufzeichnungen zu Gesicht kam und er diesen gleichfalls verbrennen wollte, da verhinderte [174] dies Gott. Später hat S. diesen Memoiren einige Zusätze in der Person seines Beichtkindes beigefügt und dieser andere Theil liegt uns im ersten Buch des Suso’schen Exemplars vor. Die nach dem Tode der Elsbeth Stagel gemachten Zusätze lassen sich manchmal noch gut erkennen, eben so oft aber auch nicht aus Elsbeth Stagel’s Arbeit ausscheiden. Wenn das Material oft ungeordnet und abgerissen erscheint, so erklärt sich das aus der Art, wie Elsbeth Stagel mit den verschiedenen äußeren und inneren Erlebnissen Suso’s, sei es mündlich, sei es brieflich – die ursprüngliche Briefform tritt nicht selten noch deutlich hervor – bekannt wurde: wenn S. seinem Beichtkinde aus seinem Leben mittheilte, so brauchte er sich dabei nicht an die Zeitfolge zu binden; zudem treten fast alle zeitlichen Angaben in der Vita in unbestimmter Form, mit einem Vorgesetzten ’wol‘ auf. Diese Thatsache ist nicht immer genügend beachtet worden und voreilige, falsche Schlüsse für die Chronologie von Suso’s Leben und Werken waren die Folge. Die Biographie, die uns in zwei Redactionen vorliegt, über deren gegenseitiges Verhältniß die Ansichten auseinandergehen (s. Anz. f. deutsch. Alterthum IX, 138 ff.), zerfällt in zwei Hälften, deren erste sich ausschließlich mit S. befaßt und sein Leben vor dem Beginn des Verkehrs mit Elsbeth Stagel schildert. Die zweite, die mit der Bekanntschaft zwischen beiden beginnt und bis zu Elsbeth’s Tode reicht, ist eine Art Anleitung zur Vollkommenheit für seine geistliche Tochter, von den kindlichen Uebungen eines anfangenden Menschen an bis hinauf zu der innigsten, hier möglichen Vereinigung mit Gott, dargelegt an Suso’s eigenem Lebensgange. Nur den mystischen Weg lernt die Stagel nicht am Leben Suso’s, sondern aus seiner Lehre kennen, in der er sich als ein gründlicher Kenner des Thomas von Aquin und Meister Eckhart’s erweist. Letzteren hat er besonders stark im 55. Capitel seiner Vita benutzt, während ein großer Theil des vierundfünfzigsten dem Itinerarium mentis ad deum des Bonaventura entnommen ist. S. erörtert vor seiner geistlichen Freundin den Unterschied von wahrer und falscher Vernünftigkeit und wahrer und falscher Gelassenheit, wobei er, wie im Büchlein der Wahrheit zur besseren Veranschaulichung des Gegensatzes auf die Irrlehren der Brüder vom freien Geiste Bezug nimmt. Er gibt ihr eine Blüthenlese von Sprüchen und Lehren, um, wie er sagt, den äußeren Menschen zu seiner Innerlichkeit zu leiten; ihre Befolgung weise ihn zu seiner höchsten Seligkeit. Unter ihnen befindet sich auch jener Satz, in dem treffend der mystische Heilsweg der Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung mit Gott angedeutet ist: ’ein gelassener Mensch muß entbildet werden von der Kreatur, gebildet werden mit Christo und überbildet werden in der Gottheit‘. Sodann beantwortet er ihre in das Höchste eindringenden Fragen, was Gott ist, wo Gott ist und wie Gott ist, wie die Dreifaltigkeit bestehen möge in des Wesens Einigkeit; er deutet ihr den wahren Sinn des Entgottet- und Entgeistetwerdens, wieder unter Zurückweisung der von den Brüdern des freien Geistes diesen Begriffen untergelegten Interpretation, und macht ihr den Unterschied zwischen lauterer Wahrheit und zweifelhaften Visionen in Gegenständen der Erkenntniß klar; ob ein Traumgesicht trüglich sei oder nicht, darüber könne keiner dem andern Aufschluß geben, ’nur jener merkt es, der es empfunden hat‘. Aber noch ist seines Beichtkindes Wissensdrang nicht befriedigt: sie möchte erfahren, wo und wie das letzte, höchste Ziel unserer Erkenntniß zu suchen sei, so daß sowol das Resultat der inneren Erfahrung und Empfindung als auch die Lehre der Schrift in Uebereinstimmung gefunden werde, welche Frage S. ihr im Anschluß an Meister Eckhart in dem Capitel ’von dem allerhöchsten Ueberflug eines durch inneres Erlebniß gereiften, vernünftigen Gemüthes‘ zu beantworten unternimmt, um schließlich ihrem Dürsten nach Erkenntniß mit den Worten Einhalt zu thun: ’Wolauf! Tochter, gieb der Kreatur [175] Urlaub und laß dein Fragen fürder sein; horche selbst, was Gott in dir spreche. Du magst dich wol freuen, daß dir worden ist, was manchem Menschen vorenthalten ist; wie sauer es dir worden ist, das ist nun alles dahin mit der Zeit. Dir ist nun weiter nichts mehr zu thun, als göttlichen Frieden in stiller Ruhe haben und fröhlich zu harren der Stunde deiner zeitlichen Vergangenheit in die vollkommene ewige Seligkeit.‘

Elsbeth Stagel war auch für die Verbreitung der Schriften Suso’s bemüht: wir besitzen z. B. von ihrer Hand eine Abschrift des Büchleins der Weisheit. Daß sie des Lateinischen kundig war, erhellt daraus, daß sie jene lateinischen Sprüche, die S. zu den Bildern in seiner Capelle verfaßt hatte, in deutsche Reime übertragen hat; S. fügte sie später seinem Briefbuche an. Auf die Stagel geht aber auch die Sammlung Suso’scher Briefe zurück, aus der S. dann eine Auswahl als viertes Buch in sein Exemplar aufnahm. Hätte nicht Elsbeth Stagel die an sie und andere seiner geistlichen Kinder ’zur Ruhe und Erleichterung einem abgeschiedenen Gemüte‘ gerichteten Briefe sorgfältig gesammelt – eine Abschrift dieser ursprünglichen Sammlung, des unverkürzten Briefbuches, liegt in einer Stuttgarter Handschrift vor, ist jedoch noch nicht edirt –, S. wäre wol nie dazu gekommen, ein Briefbuch daraus zu machen. Die Briefe dieses ins Exemplar aufgenommenen Briefbüchleins sind mit wenigen Ausnahmen nicht mehr die ursprünglichen, vielmehr hat S. sie zum Zwecke der Veröffentlichung redigirt: er stellte aus dem gesammelten Material elf Briefe zusammen, indem er einzelne kürzte, neue aus Bruchstücken verschiedener Briefe bildete. Von diesem gekürzten Briefbüchlein, in dem S. aus seiner umfassenden Correspondenz in gedrängterer Form die eigentliche Lehre zusammenfassen wollte, müssen bereits vor der letzten Redaction von Suso’s Leben Exemplare in Umlauf gewesen sein. Es ist hervorgehoben worden, daß neben der Innigkeit und Liebe, die uns auch aus den andern Schriften Suso’s entgegentreten, es in diesen Briefen vor allem die seelsorgerische Weisheit sei, die unsere Bewunderung errege. Es sind die besten Pastoralbriefe, die das Mittelalter hervorgebracht hat. Ihr Verfasser verfügt über jene außerordentliche Gabe, die man die Unterscheidung der Geister nennt. S., der sich in einem dieser Briefe einmal als einen Kärrner Gottes bezeichnet, der aufgeschürzt durch die Lachen fahre, um die Menschen aus der tiefen Lache ihres sündlichen Lebens wieder zur Schönheit zurück zu bringen, ist ’unerschöpflich in den Mitteln, um auf die Adressaten einzuwirken: er lehrt, er ermahnt, er zürnt, er tröstet, er eifert an, er hält wieder die Zügel zurück, er trauert, er freut sich. Kurz, er wird allen alles, um alle zu wecken und für Christus zu gewinnen‘. Die Sprache ist gerade in den Briefen oft von fesselnder Anmuth und es berührt um so auffallender, daß derselbe S., der doch wie kaum einer die deutsche Sprache zu handhaben verstand, an anderer Stelle einmal äußert, und auch hier wieder in echt poetischer Weise, Worte, aus einem lebendigen Herzen gesprochen, erkalteten und verbleichten wie die abgebrochenen Rosen, sobald sie auf todtes Pergament kämen und sonderlich in deutscher Sprache.

Suso’s Briefe sind weniger Briefe in unserm Sinne als vielmehr geistliche Ermahnungen und Ansprachen, nahe verwandt den eigentlichen Predigten. Von letzteren sind, mit Tauler’s Predigten vermischt, nur wenige auf uns gekommen und doch scheint S. auf seinen im Interesse des Ordens unternommenen Wanderungen, die ihn den Rhein auf- und abwärts, ins Elsaß und die nördliche Schweiz, sowie an den Niederrhein bis nach Niederland führten, gerade als Prediger wirksam gewesen zu sein. Wir besitzen von ihm nur Klosterpredigten, an beschauliche Seelen gerichtete Homilien. In sein Exemplar hat keine Aufnahme gefunden, doch berührt sich die Predigt vom guten Hirten nahe mit dem [176] Briefe ’Wie sich ein Mensch in austragenden Aemtern halten soll‘ (bei Denifle Brief VII, bei Preger XXI), eine andere mit dem sechsten Capitel des Büchleins der ewigen Weisheit. Da Suso’s Speculation in den Predigten dieselbe wie in seinem Exemplar ist, so mochte er nicht für nöthig befinden, sie dort besonders zu berücksichtigen. Das Speculative tritt in ihnen überhaupt mehr zurück als bei Tauler und vollends bei Eckhart. Das Thema seiner Predigten knüpft nur lose an den Text an, eine streng logische Gliederung geht ihnen ab, aber auch sie bekunden sowol in der Tröstlichkeit ihres Inhalts, der in dem mystischen Grundgedanken der Weltentsagung und Gotteshingabe gipfelt, als in der milden Schönheit ihrer Darstellung den liebenswürdigen Geist ihres mit den geheimsten Vorgängen im menschlichen Herzen so wol vertrauten Verfassers. Am meisten Verbreitung hat die durch praktische Tendenz ausgezeichnete Predigt Lectulus noster floridus (Hohel. 1, 15, vgl. Denifle I, 193) gefunden: sie begegnet mehrfach in handschriftlicher Ueberlieferung (Wackernagel, Altd. Predigten S. 552; Cod. Stuttg. theol et phil. 155 fol. f. 264b; Cgm. 456 f. 90; Jahrb. d. Vereins f. niederdeutsche Sprachforschung X, 36).

Einstweilen zweifelhaft bleibt, ob S. auch der Verfasser des von Preger (Gesch. der deutschen Mystik II, 344 ff.) aufgefundenen, aber noch nicht herausgegebenen Minnebüchleins ist; manche Stellen erinnern ganz an ihn und doch verräth sich wieder nicht seine Hand darin. Sicher mit Unrecht aber ist in früherer Zeit das Buch von den neun Felsen S. zugeschrieben worden, welches vielmehr nach Karl Schmidt’s Nachweis Rulman Merswin (s. A. D. B. XXI, 460) zum Verfasser hat.

Eine eigentlich mystische Lehre Suso’s ist nicht zu entwickeln; ein zusammenhängendes, methodisch durchgeführtes System ist in seinen Schriften nicht enthalten. Er vertritt im wesentlichen die Lehrsätze eines Thomas und Meisters Eckhart, ohne sie deshalb einfach zu copiren. Die Klippen, die einen Meister Eckhart gefährdeten, hat er zu meiden gewußt. Ein Gegensatz zur Scholastik ist nirgends wahrzunehmen und man durfte bei S., der mehr als irgend einer den Geist des deutschen Mittelalters zu veranschaulichen geeignet ist, am allerwenigsten von einer evangelischen Grundrichtung reden. Für S. ist überhaupt die phantasievolle, poetische Form, in die er seine Mystik einhüllt, das eigentlich Charakteristische; er will weniger den Verstand anregen als auf das Gemüth wirken und ist uns besonders da sympathisch, ’wo hinter der mystischen Umhüllung das rein Menschliche erscheint, ein tief empfindendes und mitfühlendes Herz hervorschlägt, ein treues, liebevolles Menschenauge hervorleuchtet‘.

S. ist der Poet der deutschen Mystik, ein geistlicher Minnesänger, der letzte mittelhochdeutsche Dichter, mit dem die Periode abschließt. Seine Prosa ist Poesie, wie bei Mechthild von Magdeburg (s. A. D. B. XXI, 154) ist auch bei ihm alles Empfindung und Anschauung. Während Meister Eckhart für die Gebildetsten seiner Zeit speculirte und philosophirte, der großen Masse oft unverständlich, Tauler hingegen die Eckhart’schen Gedanken in gemeinverständlicher Sprache für das christliche Leben auszunutzen suchte, wandte S. die mystische Lehre vor allem auf sich selbst an und weil er sie mit reichem dichterischen Sinne von der Seite des Gefühls zu erfassen strebte, so hat er namentlich auf das weibliche Herz gewirkt. Es ist bemerkenswerth, daß S. selbst sein Exemplar mit Zeichnungen geschmückt hat, damit ein frommer Mensch, wie er sagt, in seinem Ausgange der Sinne und Eingang des Gemüths allezeit etwas finde, das ihn von dieser Welt wieder auf zu dem minniglichen Gott ziehe. Seine malerische Begabung spricht sich neben der Freude an bildlichen Vorstellungen auch überall in seinen Schilderungen aus; oft glaubt man geradezu Beschreibungen von Gemälden zu lesen: das beste Zeugniß für die Lebhaftigkeit und [177] Anschaulichkeit seiner Sprache. S. sagt einmal von sich, er hätte von Jugend auf ein minnereiches Herz gehabt und hat damit selbst sein ganzes Wesen am besten charakterisirt. Die Liebe ist es, die all sein Thun durchdringt und durch keine Qual des Leibes und der Seele, wie er sie mannichfach zu erdulden hatte, konnte dieser reiche Quell in ihm versiegen, der mit seiner klangvollen Sprache auch in unsere Herzen einfließt. Aber nicht nur lyrisch ist Suso’s Minnesprache, er hat vielmehr episch sein Leben in der Minne zu fassen gesucht und dieses Leben nach Görres’ schönem Wort zu einem großen Epos der Gottesliebe ausgedichtet. Bei S. ist alles Harmonie. Alles dürstet bei ihm nach Schönheit und noch mehr als bei Mechthild von Magdeburg darf hier von einem geistlichen Minnesang die Rede sein. Das Ideal der Weiblichkeit ist von Niemanden höher erfaßt und reiner verehrt worden als von S. Mit Vorliebe knüpft er an die irdische Liebe an, um zur göttlichen emporzuziehen. Er predigt gegen die Liebe dieser Welt, die mit Lieb anfinge, aber mit Leid ein Ende nehme, während die süße Minne zu Gott oft mit Leiden beginne, dann aber immer schöner und glücklicher mache, bis Lieb mit Lieb ewiglich vereint würde. Er gewann mit solchen Lehren gar viele Frauen für das göttliche Leben. Lebensüberdrüssige weiß er aufzurichten, gefallene Frauen wieder zu erheben. Sie sehen ihn in ihren Gesichten, aber er erzählt auch, wie er wiederholt in Lebensgefahr geschwebt habe, weil er adlige Töchter von ihren Eltern weg ins Kloster gelockt, in jene besondere Welt, die da heiße ’der Geist‘, deren Bewohner ’die Geister und Geisterinnen‘ genannt seien. Ein Ritter bezichtigt ihn des Raubes an einer geliebten Frau, die sich nun den Schleier vorziehe und ihn nicht mehr ansehen wolle. ’Sie will nur einwärts sehen, das muß er (Suso) mir büßen!‘ So wirbt er für die Gottesminne und bekämpft die Minne auf Erden, von der wir uns so gern betrügen lassen. Er warnt vor ihren Verlockungen, vor dem süßen Gesang der todbringenden Sirenen, vor dem man sich die Ohren verstopfen müsse, vor den feurige Strahlen der Liebe entsendenden Blicken der Frau Venus, vor Frau Sälde und ihrem schwankenden Glücksrade.

S. ist ein Ritter und Sänger im Solde der Gottesminne, er huldigt ihr wie man es irdischer Liebe thut. In seiner Kindheit hatte er die Gewohnheit, die ersten Blumen, die er im Jahre brach, zum Kranze zu winden und sie der Mutter Gottes, seiner geistlichen Geliebten, zu widmen. Ihretwegen wich er allen Frauen auf der Straße aus und bot ihnen Zucht und Ehre. Er huldigt der ewigen Weisheit, seiner Geliebten, in derselben, nur ins geistliche umgedeuteten Weise, wie es hier auf Erden liebende Jünglinge thun. Wie diese nach alter Sitte in Schwaben beim Beginn des neuen Jahres Nachts umherziehen, um vor den Fenstern ihrer Liebsten schöne Lieder zu singen, so feierte auch er sein ewiges Lieb durch ein Lied. Und nicht anders um Fastnacht, wo die thörichten Leute dieser Welt anfangen ausgelassen zu sein: da begeht er eine himmlische Fastnacht, in der er sich die kurze, vergängliche Lust einer solchen Bauernfastnacht recht klar vor die Seele hält. Oder er pflanzt am ersten Maitage, an S. Walburgentag, an dem man in Schwaben Maien vor die Wohnung der Liebsten steckt, auch seiner himmlischen Liebe einen geistlichen Maibaum, d. h. er befaßt sich mit dem heiligen Kreuzesstamme, der blühender ist mit Gnaden und Tugenden als alle Maien jemals blühten und Blumen trugen. In dieser Weise wird für S. jede irdische Beschäftigung, jedes Ereigniß ein Anlaß zu geistlicher Betrachtung und es bleibt fast keine Seite des irdischen Lebens unberührt. Immer aber redet S. in der höfischen Liebessprache und auf Frau Venus, sowie auf Ovid, den Meister der Minne, beruft er sich mehr als einmal. Es ist schwer unter den vielen Bildern und reichen Gedanken auszuwählen: [178] alles gibt Zeugniß vom Reichthum seiner Phantasie. In der Natur findet S. den reinster Abglanz göttlicher Schönheit, ganz besonders in den Blumen des Feldes und des Gartens sieht er die beredtesten Verkündiger göttlicher Liebe, und auch ihm wird gar oft das Hohelied Erreger lieblicher Gedanken und Bilder. S. ist aber nicht nur ein geistlicher Minnesänger; auch die ritterliche Zeit spiegelt sich in ihm besser wider als bei irgend einem anderen Dichter der Epigonenzeit. Bei S. strahlt der Glanz des Ritterthums fast noch ebenso hell wie in dessen schönsten Tagen, die damals schon vergangen waren. Er weiß von der Kunst des Jagens, von den höfischen Tänzen zu erzählen, die freilich im Himmel anders als in dieser Welt getanzt werden. Als adliges Ritterkind kennt er auf das genaueste die Institutionen und Pflichten seines Standes und auch er dient anfänglich als Knappe seinem geistlichen Herrn und erwirbt erst allmählich durch Thaten des Leidens die Ritterwürde.

So dürfen wir als Grundzüge seines Wesens die Liebe, das Schwabenthum, den romantisch-ritterlichen Geist bezeichnen. An Suso’s gewandter und aus dem Herzen strömender Rede hat sich nicht nur seine Zeit erbaut, auch im folgenden Jahrhundert wurde er noch viel gelesen und auf die spätere geistliche Litteratur ist er nicht ohne Einfluß geblieben. Es wäre eine dankenswerthe Aufgabe, dieses Nachwirken einmal im Zusammenhang zu verfolgen. Johannes Nider hat in seinen Vierundzwanzig goldnen Harfen ein paar Mal Citate aus S. eingestreut (s. A. D. B. XXIV, 743), ohne daß man deshalb ein irgendwie tieferes Eindringen in seine Mystik wahrnehmen könnte. Die in Bartholomäus Ringwaldt’s (s. A. D. B. XXVIII, 640) Trewen Eckhart im Capitel ’Wunsch und Wehklagen der Verdampten‘ (Goedeke, Elf Bücher deutscher Dichtung I, 136) erwähnte Parabel von dem Berge, von welchem ein Vöglein alle hunderttausend Jahre ein Sandkorn wegträgt, geht vielleicht auf S. zurück (s. Denifle I, 368). Friedrich v. Spee zeigt sich in Leben und Dichten nahe mit S. verwandt, die späteren pietistischen und mystischen Dichter, zu denen Spee überleitet, bieten manche Berührungspunkte. Daß Herder’s schöne Legende Die ewige Weisheit dem Leben Suso’s nachgebildet ist, hat Reinhold Köhler in den Berichten der königl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, 1887, S. 105 ff. im einzelnen nachgewiesen.

Suso’s sämmtliche Werke sind früh gedruckt worden. Die älteste deutsche Ausgabe erschien 1482 zu Augsburg, von dem Ulmer Felix Fabri besorgt; eine zweite, Augsburg 1512, ist nur eine Reproduction der ersten Ausgabe. Denifle hat wahrscheinlich gemacht, daß dem Drucke von 1482 nicht Suso’s Original, sondern eine spätere schlechte Handschrift zu Grunde gelegen hat. Surius übersetzte 1555 die Schriften Suso’s ins Lateinische und aus dieser Paraphrase sind die französischen und italienischen Uebertragungen hervorgegangen, ja sogar eine Rückübersetzung ins Deutsche, von A. Hofmann, Köln 1661, besorgt. Nach den beiden alten Drucken, aber auch mit Hinzuziehung von Münchener Handschriften gab dann M. Diepenbrock 1829 Suso’s Leben und Schriften ’mit unverändertem Texte in jetziger Schriftsprache‘ heraus, mit einer Einleitung von J. Görres (4. Aufl., Regensburg 1884). Für wissenschaftliche Zwecke ist jetzt die allein brauchbare Ausgabe die vom P. Fr. Heinrich Seuse Denifle, Die deutschen Schriften des Seligen Heinrich Seuse aus dem Predigerorden. Nach den ältesten Handschriften in jetziger Schriftsprache hg., Bd. 1, München 1880. Sie ist leider noch unvollendet. Die noch ausstehenden Bände sollen das unverkürzte Briefbuch, die Bruderschaft der ewigen Weisheit, die Predigten, das Horologium sapientiae und anhangsweise das Minnebüchlein bringen. Denifle hat sich bei seiner Erneuerung ’durchaus und zwar fast sklavisch‘ an die Handschriften gehalten und so gut wie möglich den alten Sprachcharakter gewahrt; trotzdem bleibt eine Veröffentlichung des Originaltextes sehr erwünscht: mit Suso’s Sprache [179] wird man sich erst dann ersprießlich beschäftigen können. Auch das ziemlich verzweigte handschriftliche Material bedarf noch der Vervollständigung und systematischen Durcharbeitung; es sei hier nur auf eine Pariser Handschrift (Vetter, Anm. 47. 62), auf Ms. Berol. germ. quarto 182, auf Catalogue of the library of Dr. Kloss of Franckfurt a/M. 1835 verwiesen. Das Büchlein der Weisheit, sowie der deutsche Text der Bruderschaft der ewigen Weisheit haben auch, gelegentlich in gekürzter Gestalt, Aufnahme gefunden in Der ewigē wiszheit betbüchlein. Gedruckt vnd vollendet in der loblichen stat Basel durch meyster Jacoben von Pfortzheim in costen Marx werdemüller vō zürch. Nach christi gebůrt als man zalt dūsent funffhundert vnd achtzehen iar. In dem anderen tag des Brachmonetz. Fol. Ib–LXVb (Exemplar aus der Mainzer Stadtbibliothek). – Heinrici Susonis seu fratris Amandi Horologium sapientiae ed. J. Strange. Editio nova. Coloniae 1861. Ueber eine englische Bearbeitung s. Horstmann, Anglia X, 323 ff. – Henric Suso’s Gudelig Visdoms bog i dansk oversaettelse fre det femtende århundrede udgivet af C. J. Brandt, Kjbenhavn 1858. – Meyboom, Suso’s Hondred artikeln in Nederland: Archief voor Nederlandsche kerkgeschiedenis I (1886). – Gůldene Sendtbriff vieler Alten Gottseeligen Kirchen Lehrer: Als Johann Thaulers, Heinrich Seussen, Johan Creutzers u. s. w. hg. von D. Sudermann 1622. – Preger, Die Briefe Heinrich Suso’s. Nach einer Handschrift des 15. Jahrhunderts hg., Leipzig 1867. Die von Preger abgedruckten Briefe sind ein Gemisch aus dem ursprünglichen und dem gekürzten Briefbuch, vgl. die Polemik darüber zwischen Denifle und Preger in der Zeitschr. für deutsches Alterthum XIX, 346 ff., XX, 373 ff., XXI, 89 ff.; Anzeiger für deutsches Alterthum I, 261 ff. Vgl. auch Vetter, Anm. 62. – Für Suso’s Leben hat Denifle vor längerer Zeit in Rom wichtiges Material aufgefunden; leider konnte sich der Verfasser dieses Artikels das neue Material bisher nicht zugänglich machen. Vgl. C. Schmidt in den Theol. Studien und Kritiken 1843, S. 835 ff. und Mémoires de l’Académie royale des sciences morales et politiques de l’Institut de France. Tome II. Savants étrangers. p. 396–436. – F. Bricka, Henri Suso. Strassb. 1854. – F. Böhringer, Die deutschen Mystiker des 14. u. 15. Jahrhunderts, S. 297–441. – C. Greith in den Kath. Schweizerblättern für Wissenschaft und Kunst II (Luzern 1860), 65 ff., 137 ff., 399 ff. und in seiner Schrift: Die deutsche Mystik im Predigerorden, Freiburg 1861. – J. Bach, Meister Eckhart, S. 164 ff. – E. Böhmer, Damaris, 1865, S. 291 ff. – L. Kärcher im Freiburg. Diöces.-Arch. III, 189 ff. – W. Volkmann im Programm des Gymnasiums zu Duisburg, 1869. – Preger in der Zeitschrift f. hist. Theologie, 1869, S. 119 ff. und Gesch. der deutschen Mystik im Mittelalter II, 309 ff. Vgl. Anzeiger f. deutsches Alterthum IX, 138 ff. – F. Vetter, Ein Mystikerpaar des 14. Jahrhunderts, Basel 1882. – Unzugänglich blieb eine populäre Darstellung des Lebens Suso’s von Denifle in der Zeitschrift Alte und neue Welt (Einsiedeln) 1883, Heft 10 f. – R. Seeberg, Ein Kampf um jenseitiges Leben. Lebensbild eines mittelalterlichen Frommen in protestantischer Beleuchtung. Dorpat 1889, vgl. Blätter f. litterar. Unterhalt., 1889, Nr. 44. – Th. Jäger, Heinrich Seuse aus Schwaben (genannt Suso). Ein Diener der ewigen Weisheit im 14. Jahrh., Basel 1894. – Ueber Suso als Prediger s. Cruel, Gesch. d. deutschen Predigt im Mittelalter, S. 396 ff. und Linsenmayer, Gesch. d. Predigt in Deutschl., S. 432 ff.