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Artikel „Stern, Moriz Abraham“ von Ferdinand Rudio in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 502–504, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stern,_Moritz_Abraham&oldid=- (Version vom 20. April 2024, 03:36 Uhr UTC)
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Stern: Moriz Abraham St., Mathematiker, geboren am 29. Juni 1807 in Frankfurt a. M., † am 30. Januar 1894 in Zürich. Als Sohn des Kaufmanns Abraham Süßkind Stern, der u. a. auch einen Buchhandel betrieb und überhaupt eher zu einem Gelehrten als zum Kaufmann geboren war, lebte Moriz St. im elterlichen Hause bis zum Jahre 1826. Er war noch Zeuge all der stürmischen Ereignisse, die sich in Frankfurt während der Napoleonischen Kriege abspielten, und er erinnerte sich noch im späteren Alter deutlich an den Einzug des Zaren Alexander im J. 1813, an die Noth der Hungerjahre und an die schmähliche Judenhetze von 1819. Den ersten Unterricht, besonders auch im Hebräischen, empfing er von seinem Vater, dann aber wurde er namentlich von Wolf Heidenheim (s. A. D. B. XI, 300) in den orientalischen Sprachen unterwiesen. Diese Anregungen der Jugend hatten zur Folge, daß er die sprachwissenschaftlichen, speciell die orientalischen Studien niemals aus den Augen verlor. Weitere Privatlehrer – eine Schule hat St. nie besucht – waren Dr. Feibel, für Latein und Griechisch, und besonders Michael Creizenach (s. A. D. B. Nachtr. XLVII, 546) für die mathematischen Fächer.

Herbst 1826 bezog St. die Universität Heidelberg. Es war zwar ursprünglich der Wunsch der frommen Mutter gewesen, ihren Sohn einst als Rabbiner zu sehen, doch war inzwischen die Neigung zur Mathematik so mächtig geworden, daß sie sich nicht mehr zurückdämmen ließ. So besuchte denn der junge Student die mathematischen Vorlesungen von Schweins und Nokk, daneben aber auch philologische bei Baehr und Creuzer, sowie historische bei Schlosser. In mathematischer Hinsicht konnte aber Heidelberg damals nicht viel bieten und daher siedelte denn St. schon im nächsten Semester, auf den Rath seines Freundes Michel Reiß (s. A. D. B. XXVIII, 143), nach Göttingen über, um vor allem bei Gauß zu studiren. Und dem Zauberkreise dieses gewaltigen Genius hat er sich nicht mehr entzogen. Doch hörte er während der kurzen Göttinger Studienzeit neben Gauß auch noch bei Thibaut, Tobias Mayer, Stromeyer, Bouterwek, Otfried Müller u. A. Die Begeisterung, die ihm Gauß für die Mathematik, zumal für die Zahlentheorie, einflößte, machte es ihm möglich, bereits 1829 der Facultät seine Doctordissertation „Oberservationum in fractiones continuas specimen“ einzureichen. Ein eigenthümlicher Zufall wollte es, daß seine Doctorprüfung (5. März 1829) zugleich die erste von Gauß abgehaltene war, der später scherzend geäußert haben soll, es sei ihm dabei bänglicher zu Muthe gewesen als dem Examinanden.

Noch in demselben Jahre 1829 habilitirte sich St. an der Georgia Augusta, obwohl er wußte, daß er damit einen dornigen Weg betrete. Denn noch hatte es in Deutschland kein Jude erreicht, an einer Hochschule ordentlicher Professor zu werden. St. aber fühlte Muth und Kraft genug in sich, um vor der Schwierigkeit der Laufbahn nicht zurückzuschrecken. Freilich, volle neunzehn Jahre mußte er sich mit der bescheidenen Stellung eines Privatdocenten zufrieden geben, bis er endlich 1848 zum Extraordinarius vorrücken konnte. Und doch hatte sein Name schon lange einen guten Klang, war ihm doch beispielsweise 1841 ein Preis der Brüsseler Akademie für eine Abhandhandlung über die quadratischen Reste und gleichzeitig ein solcher von der dänischen Akademie für eine Arbeit über die Auflösung der transcendenten Gleichungen zuerkannt worden! Das Jahr 1848 brachte also St. endlich die Ernennung zum Extraordinarius. Als dann 1859 Dirichlet starb und Riemann zu seinem Nachfolger ernannt wurde, da konnte die Regierung endlich nicht mehr umhin, auch St. ein Ordinariat zu verleihen.

[503] Noch ein Vierteljahrhundert, bis zum Jahre 1884, wirkte St. als Ordinarius in Göttingen. Im ganzen hat er also der Georgia Augusta 55 Jahre lang als Lehrer angehört. Seine Vorlesungen umfaßten ein weites Feld: Algebraische Analysis, analytische Geometrie, Differential- und Integralrechnung, bestimmte Integrale, Variationsrechnung, Zahlentheorie, Theorie der numerischen Gleichungen, Mechanik, populäre Astronomie, wozu dann später die Vorträge im mathematisch-physikalischen Seminar traten. An der gewaltigen Reform des mathematischen Universitätsunterrichtes, die sich in jenem Zeitraum vollzog, hat auch St. einen bedeutenden Antheil gehabt. Hunderte von Schülern, die stets mit inniger Verehrung seiner gedachten, hat er in die Wissenschaft eingeführt, darunter solche, die, um nur Riemann zu nennen, den größten Mathematikern ihres Jahrhunderts sich beigesellten.

Im Herbste des Jahres 1884 veranlaßte ihn der Tod seiner einzigen Tochter, die Lehrthätigkeit aufzugeben und zu seinem Sohne Alfred nach Bern überzusiedeln, der dort seit 1873 als Professor der Geschichte an der Hochschule wirkte. Als dieser dann im J. 1887 an das eidgenössische Polytechnikum berufen wurde, hatten die Zürcher Mathematiker die große Freude, mit dem neuen Collegen zugleich auch den ehrwürdigen Nestor der deutschen Mathematiker in ihren Kreis aufnehmen zu können. Die naturforschende Gesellschaft entbot ihm sofort als Willkomm die Ernennung zum Ehrenmitgliede und beglückwünschte ihn zwei Jahre später durch eine besondere Deputation zum 60jährigen Doctorjubiläum. Wiederum ein Jahr später, im J. 1890, konnte St. ein Jubiläum ganz seltener Art feiern: Sein erster Beitrag zum Crelleschen Journale war im 6. Bande erschienen – und 100 Bände später schloß er im 106. Bande die stattliche Reihe der Beiträge ab, die er diesem berühmten Journale zugewendet hatte.

Bis in das höchste Alter hatte sich St. einer fast beispiellosen Gesundheit und Rüstigkeit zu erfreuen. Erst im Januar 1894 stellten sich ernstliche Beschwerden ein, aber ohne eigentliche Krankheit. Und so entschlief er, fast unerwartet für seine Angehörigen, sanft und ohne Kampf am Morgen des 30. Januar.

Mit ihm sank der letzte Zeuge jener großen Göttinger Zeit ins Grab, die durch die Namen Gauß, Wilhelm Weber, Dirichlet, Riemann, Clebsch bezeichnet ist. Mit allen diesen Männern, und so vielen anderen seiner Fachgenossen, namentlich mit Eisenstein, war er in inniger Freundschaft verbunden. Aber auch außerhalb des Kreises der Mathematiker hat er mit manchem hervorragenden Zeitgenossen die herzlichsten Beziehungen unterhalten, so mit Jakob Henle, dem berühmten Anatomen, mit Stilling, dem Chirurgen und Physiologen, mit seinem Landsmann Abraham Geiger, dem Rabbiner und Orientalisten (s. A. D. B. VIII, 786), mit Theodor Benfey, Berthold Auerbach u. A. In besonders nahen Beziehungen aber stand er zu Gabriel Riesser, dem bekannten Politiker und Vorkämpfer der Emancipation der Juden in Deutschland, und zu Gabriel Gustav Valentin, dem Physiologen an der Universität Bern. –

St. hat eine sehr ausgedehnte und sehr vielseitige wissenschaftliche Thätigkeit entfaltet, wie überhaupt der Kreis seiner Interessen ein ungewöhnlich weiter war. Sein eigenstes Gebiet war ja natürlich die reine Mathematik, besonders die Zahlentheorie, die Theorie der algebraischen und der transcendenten Gleichungen, die Theorie der Kettenbrüche, die Theorie der Bernoullischen und der Euler’schen Zahlen, die Reihentheorie und die Functionentheorie. Diese Gebiete hat er theils in selbständigen Werken bearbeitet (genannt sei die „Theorie der Kettenbrüche“, Berlin 1834, und das „Lehrbuch der algebraischen [504] Analysis, Leipzig 1860), theils in zahlreichen Abhandlungen, die in den verschiedensten wissenschaftlichen Journalen, vorzugsweise in dem von Crelle (es enthält dieses nicht weniger als 55 seiner Abhandlungen und zwar aus den Jahren 1830–1890) veröffentlicht sind. Aber auch auf dem Gebiete der angewandten Mathematik war er thätig. Er hat Poisson’s Lehrbuch der Mechanik übersetzt (Berlin 1835–36, 2 Bde.), eine „Darstellung der populären Astronomie“ (Berlin 1834) und eine volksfaßlich bearbeitete „Himmelskunde“ (Stuttgart 1846, 2. Aufl. 1854) herausgegeben und er ist auch in einigen Abhandlungen auf Probleme der Mechanik und der Astronomie eingetreten. Besondere Erwähnung verdienen sodann mehrere mathematisch-historische Arbeiten, so seine Denkrede auf Gauß und die trefflichen Artikel Johannes de Gemunden und Johannes de monte regio in der Encyklopädie von Ersch und Gruber.

Wir haben gesehen, daß sich St. in seiner Jugend besonders viel mit sprachwissenschaftlichen Studien beschäftigt hat. Er kehrte aber auch im Mannesalter immer und immer wieder zu ihnen zurück, namentlich dann, wenn er, durch Schicksalsschläge schwer getroffen, in veränderter wissenschaftlicher Beschäftigung neuen Lebensmuth zu schöpfen suchte. Wie tief er in die orientalischen Sprachen einzudringen wußte, das bekunden die beiden Werke: „Ueber die Monatsnamen einiger alter Völker, insbesondere der Perser, Cappadocier, Inder und Syrer“ (gemeinsam mit Theodor Benfey 1836 herausgegeben) und „Die dritte Gattung der achämenidischen[1] Keilinschriften“ (1850). Aber auch von den europäischen Sprachen beherrschte St. nicht wenige, als 80jähriger Greis lernte er sogar noch Russisch.

Endlich sind auch noch die Schriften zu nennen, die St. zur Reformbewegung im Judenthum veröffentlicht hat und die zum Theil seinem Verkehr mit Gabriel Riesser entsprungen sind. –

Die vorliegende Biographie stützt sich auf folgende Arbeiten: 1. F. Rudio, Erinnerung an Moriz Abraham Stern. Mit dem Bilde Stern’s veröffentlicht in der Vierteljahrsschrift der naturf. Gesellsch. in Zürich, Bd. 39, 1894. Dieser Erinnerungsschrift, die in größerem Format auch separat erschienen ist, ist ein vollständiges Verzeichniß der Publikationen Stern’s beigegeben. In gekürzter Form findet sich der Nekrolog auch im Jahresbericht der deutschen Mathematikervereinigung, IV, 1894/95. – 2. Alfred Stern, Zur Familiengeschichte (in beschränkter Anzahl als Manuscript gedruckt Zürich 1906).

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 504, Z. 22 v. o. lies: achämenische statt achämenidische. [Bd. 54, S. 795]