ADB:Riemann, Bernhard
Wallmoden’schen Corps; dann wurde er Prediger in Breselenz, später in Quickborn. Die Mutter, Charlotte, war eine Tochter eines Hofrathes Ebell in Hannover. Im Riemann’schen Hause herrschte ein ernster religiöser und strebsamer Geist, der auf die sechs Kinder – Bernhard war das zweitälteste derselben – sich vererbte. Etwa 13½ Jahre lang genoß Bernhard den häuslichen Unterricht seines Vaters und eines Lehrers Schulz. Ostern 1840 kam er, eben comfirmirt, nach Hannover zur Großmutter, nach deren Tode Ostern 1842 nach Lüneburg und besuchte an beiden Orten die Mittelschule. Er war schon 19½ Jahre alt, als er Ostern 1846 zur Universität Göttingen abging. Sein Körper war nie kräftig, und die zu Hause mit Rücksicht auf denselben beobachtete Zurückhaltung ebensowohl als die Unregelmäßigkeit des ersten Unterrichtes hatten den fleißigen hochbegabten Schüler nicht früher zur Reife gelangen lassen. An mathematischen Kenntnissen besaß er allerdings weit mehr, als die Schule ihm zu bieten vermochte; er hatte bereits Euler’s Werke erfolgreich gelesen und studirte Legendre’s Zahlentheorie. Die Vorlesungen über numerische Gleichungen und über bestimmte Integrale bei Stern, über Erdmagnetismus bei Goldschmidt, über Methode der kleinsten Quadrate bei Gauß, welche er in den beiden ersten Semestern [556] mit hohem Genusse hörte, zeugen von der Vorbereitung, welche er bereits mitbrachte. Die Theologie und Philologie, denen er auf Wunsch seines Vater sich widmen sollte, befriedigten ihn dagegen keineswegs, und er erwirkte sich von dem Vater die Erlaubniß, Mathematiker werden zu dürfen. In Göttingen wurden Vorlesungen über höhere Dinge, als er bereits gehört hatte, nicht gehalten. R. ging Ostern 1847 für volle zwei Jahre nach Berlin, wo Jacobi (analytische Mechanik, höhere Algebra), Lejeune-Dirichlet (Zahlentheorie, bestimmte Integrale, partielle Differentialgleichungen), Eisenstein (elliptische Functionen) seine Lehrer waren, der Letztgenannte auch in persönlichem Verkehr zu ihm stand. Mit Eisenstein besprach R. die seit den Herbstferien 1847 in ihm entstandene Auffassung der Functionen complexer Variabeln, aber ohne sonderlichen Anklang zu finden, da Eisenstein bei der formellen Rechnung stehen blieb. Ostern 1849 kehrte R. nach Göttingen zurück. Er betheiligte sich am pädagogischen, am physikalischen Seminar. Dort hielt er einen Vortrag „Ueber Umfang, Anordnung und Methode des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf Gymnasien“, hier einen solchen „Ueber das Reversionspendel“. Der Verfasser dieser Biographie stand mit anderen Studiengenossen um die Tafel herum, an welcher R., allen gleich unverständlich, die Formeln für die Schwingungen des Reversionspendels ableitete, und Prof. Wilhelm Weber, der berühmte und geliebte Leiter des Seminars, gab sein Urtheil über den Vortrag mit den Worten: „Nun, das Endergebniß ist richtig, also wird die Ableitung auch richtig gewesen sein“. Gekannt hat ihn von uns allen kaum Einer (Prof. Ritter). Er war eben nicht Student, wie wir es waren; er war Candidat und trug sich mit Examengedanken sowie mit jenen Ideen, welche die Mathematik umgestalten sollten, wenn sie erst Gemeingut geworden waren, damals aber in ihrer Fremdartigkeit abstießen. Gauß, der, was freilich nicht an die Oeffentlichkeit gedrungen war, schon am 18. December 1811 in einem Briefe an Bessel Richtiges über Integrale zwischen complexen Grenzen ausgesprochen hatte, war wahrscheinlich der einzige deutsche Gelehrte, der die Dissertation Riemann’s, als sie endlich im November 1851 der philosophischen Facultät in Göttingen vorgelegt wurde, wirklich zu prüfen im Stande war. Sie erfüllte ihn mit Wohlwollen und Hochachtung. Am 3. December fand Riemann’s Doctorexamen, am 16. die öffentliche Disputation und Promotion statt. Das nächste wissenschaftliche Ziel war das der Habilitation. Auch hier verzögerte die Bedeutung der Aufgabe, welche R. für seine Habilitationsschrift sich gewählt hatte, die Schwierigkeit des Gegenstandes der Probevorlesung, den R. zwar selbst vorgeschlagen hatte, aber erst in dritter Linie, so daß er hoffen durfte, eines der beiden anderen Themata werde ihm aufgegeben werden, persönliche Kränklichkeit und Beschäftigung mit noch ganz anderen wissenschaftlichen Untersuchungen die endgültige Entscheidung. Erst im Juni 1854 war jede Förmlichkeit vollzogen und R. Privatdocent der Mathematik an der Universität Göttingen. Es war wiederholt von den Leistungen die Rede, welcher R. damals schon sich rühmen durfte, wenn er auch weit entfernt davon war, es zu thun. Wir müssen denselben näher treten, soweit es möglich ist, ohne allzutief in mathematische Feinheiten uns zu verlieren. Zwei mathematische Begriffe haben im Laufe der geschichtlichen Entwicklung sich bedeutend erweitert: der Begriff der Zahlengröße und der der Function. Während einer nach Jahrtausenden zählenden Periode kannte man nur positive Zahlen. Die negative Zahl trat hinzu, als man in algebraischen Aufgaben Lösungen ermittelte, welche nur unter der Annahme gewisser Gegensätze sich verstehen ließen. Andere Gleichungen wieder führten zur imaginären Zahl. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete sich eine geometrische Versinnlichung der imaginären und der aus reellen und imaginären Summanden zusammengesetzten complexen [557] Zahlen, in welchen letzteren man die allgemeine Zahlengröße erkannte, welche die reelle sowie die imaginäre Zahl als Sonderfall in sich schloß, je nachdem einer der beiden Summanden Null war. Function einer oder mehrerer Veränderlichen nannte man bis ins 19. Jahrhundert hinein das Ergebniß von Rechnungsoperationen einfacher oder verwickelter Art, die mit jenen Veränderlichen vorzunehmen waren, und zur Kenntniß der Function war es unerläßlich, die Vorschriften zu ermitteln, welche bei Angabe bestimmter Werthe der Veränderlichen – des Argumentes, wie man heute sagt – die Function selbst auswerthen ließ. Für das Argument standen alle reellen, seit Euler auch complexe Zahlenwerthe zur Verfügung. Lejeune-Dirichlet war es namentlich, der eine Weiterfassung des Functionalbegriffes dahin sich gestattete, von zwei irgendwie z. B. erfahrungsmäßig gegebenen, zusammengehörigen und insofern von einander abhängigen Zahlengrößen die eine Function der anderen zu nennen. Waren die dieser Erweiterung wesentlich reelle Argumente in Rechnung gezogen worden, so beschäftigte sich der große französische Mathematiker Cauchy mit Functionen complexer Argumente und wurde dadurch Riemann’s Vorarbeiter. Als dessen Vorarbeiter müssen Cauchy und Lejeune-Dirichlet auch in dem Sinne gelten, daß sie wenigstens einige Lehrsätze über Functionen aussprachen, die von deren Darstellung unabhängig waren. R. ging aber in zwei Beziehungen noch viel weiter. Erstens sah er das Eigenthümliche einer Function, das was allein ihre volle Kenntniß vermittelt, niemals in dem zur Auswerthung führenden Ausdruck, sondern ausschließlich in gewissen Merkmalen ihrer Stetigkeit oder Unstetigkeit, in ihrer Differentialgleichung und in ihren singulären Punkten. Zweitens dehnte er die geometrische Versinnlichung des Complexen weiter aus als irgend ein Vorgänger. Von einwerthigen Functionen stieg er auf zu den mehrwerthigen. Waren Erstere auf einer Ebene ausgebreitet dem Auge sichtbar, so leistete R. das Gleiche für Letztere, indem er verschiedene Blätter über einander gelagert annahm, welche in gewissen Punkten und Linien mit einander verwachsen von diesen aus ein verschiedenes Fortschreiten zuließen. Diese großen Gedanken sind ausgesprochen in der Doctordissertation: „Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Functionen einer veränderlichen complexen Größe“. Wir wenden uns zu der Habilitationsschrift: „Ueber die Darstellbarkeit einer Function durch eine trigonometrische Reihe“. Lejeune-Dirichlet gab 1829 den ersten strengen Beweis für die Gültigkeit der von Fourier abgeleiteten und nach diesem benannten Reihe. In ihr bilden bestimmte gewisse Integrale die Coefficienten trigonometrischer Reihenglieder, unter deren Integralzeichen die darzustellende Function einer reellen Variabeln selbst vorkommt. Jene Beweisführung nimmt aber zwei Voraussetzungen über die betreffende Function als zugestanden an, einmal das Zugeständniß der Integrirbarkeit und zweitens daß sie in gegebenem Intervalle nur eine endliche Anzahl von größten und kleinsten Werthen besitze. R. geht über seinen Lehrer, dessen Untersuchungen er wohl in den Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen, deren Einleitung sie zu bilden pflegten, genauer aber aus der gedruckten Abhandlung kennen gelernt hatte, so weit hinaus, daß er von jenen beiden Voraussetzungen Abstand nimmt; er geht aus von irgend einer Function einer reellen Variabeln, die er an keinerlei Bedingung geknüpft sein läßt. Diese Abhandlung stand für R. in engem Zusammenhange mit seinen sonstigen Speculationen, insoweit es sich auch hier um einzelne besonders auffällige Punkte im Verlaufe der Function handelte, aber es war doch ein geläufigerer Gegenstand, welchen er hier behandelte, und wäre diese Habilitationsschrift sofort dem Drucke übergeben worden, so würde sie unzweifelhaft mehr gelesen und früher verstanden worden sein als die Doctordissertation. Schon das hier zum ersten Male gebildete Beispiel einer Function, welche zwischen zwei [558] noch so engen Grenzen unendlich oft unstetig ist, würde sich rasch zum Allgemeingut der Mathematiker gemacht haben. Leider dachte R. nicht so praktisch, und erst nach seinem Tode wurde die schöne Abhandlung gedruckt. Ebenso erging es seiner Probevorlesung: „Ueber die Hypotheken, welche der Geometrie zu Grunde liegen“. Ob freilich die tiefsinnige Betrachtung allgemeiner Mannigfaltigkeiten, zu welcher R. sich gleich damals erhob, nicht auf Widerspruch gestoßen oder unbeachtet geblieben sein würde, zu einer Zeit, in welcher der Name des Verfassers ihr noch nicht Beachtung und zum mindesten vorsichtige Beurtheilung sicherte, steht dahin. Als die Vorlesung aus Riemann’s Nachlaß in den Abhandlungen der Göttinger Akademie erschien, wirkte sie geradezu epochemachend. Neben diesen drei Arbeiten liefen noch Untersuchungen über theoretische Physik nebenher; es handelte sich dabei um den Zusammenhang zwischen Elektricität, Galvanismus, Licht und Schwere, also wieder um Fragen von ebenso großer Tragweite als Schwierigkeit. Aus der Theorie, welche R. sich hier gebildet hatte, floß die Erklärung einer durch Prof. Kohlrausch experimentell festgestellten Thatsache (die Messung des elektrischen Rückstandes in der Leidener Flasche betreffend) und R. hielt darüber seinen ersten öffentlichen Vortrag in der mathematisch-physikalisch-astronomischen Section der deutschen Naturforscherversammlung, welche im September 1854 in Göttingen tagte. Um alle Gegenstände zu nennen, mit welchen Riemann’s schöpferischer Geist sich gleichzeitig beschäftigte, müssen wir kurz auch naturphilosophischer Studien gedenken, welche vermuthlich bis 1854, wenn nicht höher hinauf reichen, und in welchen R. auf Herbart sich stützte, ohne ganz in dessen Fußstapfen zu treten. Kehren wir nach dieser Darstellung von Riemann’s Geistesleben zu den Anfängen seiner akademischen Thätigkeit zurück. Seine Doctordissertation war gedruckt aber wenig oder gar nicht gelesen; seine Vorlesungen waren dürftig besucht, und der mündliche Vortrag verursachte ihm die größten Schwierigkeiten. Uebersprang doch im geselligen Verkehre seine glänzende Denkkraft vielfach Zwischenglieder und bedurfte der Zügelung durch die Zwischenfragen des mit ihm Redenden, der nicht in gleicher Raschheit zu folgen vermochte, wie viel schwieriger war es für seine Schüler, gleichen Schritt mit ihm zu halten, wo jene Zügelung ausgeschlossen war. Gleich im ersten Docentensemester Riemann’s starb Gauß. Lejeune-Dirichlet wurde auf den freigewordenen Lehrstuhl berufen: Bemühungen für R. gleichzeitig eine außerordentliche Professur zu erwirken, schlugen fehl, doch wurde ihm von da an eine jährliche Remuneration von 200 Thalern ausgezahlt. Im Sommer 1856 wurde er zum Assessor der mathematischen Classe der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften ernannt, im November 1857 zum außerordentlichen Professor unter Erhöhung der jährlichen Remuneration auf 300 Thaler. Am 30. Juli 1859 wurde er, kaum zwei Monate nach dem Tode Lejeune-Dirichlet’s, zum ordentlichen Professor befördert. Verglichen mit den gewaltigen Verdiensten Riemann’s um die Wissenschaft kann man diese Laufbahn keine rasche nennen; verglichen mit der so mancher anderer akademischer Lehrer war sie, die in 5 Jahren vom Privatdocenten zur Besitzergreifung des durch die Namen der beiden letzten Inhaber geweihten Lehrstuhls führte, gewiß keine langsame. R. hatte innerhalb jener fünf Jahre nicht gefeiert. Erschienen war die Abhandlung über die durch die Gauß’sche Reihe F (α, β, γ, x) darstellbaren Functionen, welche andeutete, was man alles aus einer linearen Differentialgleichung herauszulesen im Stande sei. Erschienen waren namentlich die großen Abhandlungen über die Abel’schen Functionen, welche den Nutzen der functionentheoretischen Auffassungen ihres Verfassers auch dem in entgegengesetzten Anschauungen befangenen Auge klar machten. Die Abhandlung über den Zusammenhang zwischen Elektricität und anderen Naturkräften schien genügend gefördert, um im Februar [559] 1858 der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften eingereicht zu werden; später jedoch zog R. sie wieder zurück, wahrscheinlich weil er sich eines Fehlers bewußt wurde, der durch eine ungerechtfertigte Umkehrung einer Integrationsfolge sich eingeschlichen hatte. Dagegen reichte er derselben Gesellschaft seine Abhandlung über die Fortpflanzung ebener Luftwellen von endlicher Schwingungsweite ein, auf welche er als einen Beitrag zur Lehre von den nicht linearen partiellen Differentialgleichungen einiges Gewicht legte und auch seine im Anschluß an eine nachgelassene Abhandlung von Lejeune-Dirichlet angestellten Untersuchungen über die Bewegung eines flüssigen gleichartigen Ellipsoides dürfen nicht unerwähnt bleiben. In seinen Vorlesungen hat er vielleicht damals schon den weiteren, durch ihn selbst nie im Drucke veröffentlichten Schritt gethan, daß er die auf der Horizontalebene ausgebreiteten Functionswerthe nach einer Kugelfläche hinprojicirte. Wir können hier nicht alle Arbeiten Riemann’s einzeln erwähnen. Wir verzeichnen nur die äußeren Anerkennungen, die ihm infolge derselben wurden. Die Berliner Akademie wählte ihn am 11. August 1859 zum correspondirenden, im März 1866 zum auswärtigen Mitgliede. Die bairische Akademie ernannte ihn am 28. November 1859 zum correspondirenden, am gleichen Datum 1863 zum ordentlichen Mitgliede. Ordentliches Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften wurde er im December 1859. Endlich zählte er seit 19. März 1866 zu den correspondirenden Mitgliedern der Pariser Akademie, seit 14. Juni 1866 zu den auswärtigen Mitgliedern der Royal Society von London. Es waren freudige Augenblicke, welche solche Anerkennungen verursachten, nach den schweren Stunden persönlichen Leidens, welche vorhergingen. Riemann’s Vater und eine Schwester starben 1855; der Bruder, der Postsecretär in Bremen war und seit des Vaters Tode für die Schwestern sorgte, starb Ende 1857, eine weitere Schwester zu Anfang 1858. Die beiden noch überlebenden Schwestern zogen nun zu R. nach Göttingen und am 3. Juni 1862 vermählte er sich mit deren Freundin Fräulein Elise Koch. Neues Unglück drohte. Im Juli 1862 erkrankte R. an einer Brustfellentzündung, aus welcher ein Lungenleiden sich bildete, dem er erliegen sollte. Vergeblich waren wiederholte Aufenthalte in Italien. Er gewann dort liebe Freunde, seine Gesundheit erhielt er nicht wieder, und auf jeden Versuch, in die Heimath und zu seinem Lehrberuf zurückzukehren, folgte neue schwerere Erkrankung. Der deutsche Krieg des Jahres 1866 hatte begonnen, als er am 15. Juni 1866 unter mancherlei Hindernissen durch Eisenbahnzerstörung wieder nach Süden aufbrach. Ende Juni traf er am Lago Maggiore ein, drei Wochen später hatte er seine irdische Bahn vollendet. Der Geschichte der Mathematik gehört er für ewig.
Riemann: Georg Friedrich Bernhard R., Mathematiker. Geboren in Breselenz (Dorf im Hannöverschen bei Dannenberg nahe der Elbe) am 17. September 1826, † in Selasca am Lago Maggiore am 20. Juli 1866. Der Vater, Friedrich Bernhard R., war während der Freiheitskriege Lieutenant im- Vgl. Riemann’s gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlaß, herausgegeben unter Mitwirkung von R. Dedekind von H. Weber, Leipzig 1876.