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Artikel „Creizenach, Michael“ von Adolf Brüll in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 546–549, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Creizenach,_Michael&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 05:08 Uhr UTC)
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Creizenach: Michael C., geboren am 16. Mai 1789 in Mainz, † am 5. August 1842 in Frankfurt a. M., hervorragender Theologe, Mathematiker und Schulmann. Ursprünglich für den Rabbinerberuf bestimmt, wurde er schon frühzeitig in das Studium des Talmud eingeführt und galt in seinem dreizehnten Jahre, ob seiner Kenntnisse auf diesem Gebiete, für eine Art Wunderkind. Doch seinem regen Geiste und seinem tief veranlagten Gemüthe [547] genügte für die Dauer die Ausbildung nicht, die ihm zu Theil wurde und er suchte nach anderen Quellen der Belehrung. In seinem sechzehnten Jahre erst begann er die deutsche Sprache zu erlernen und wurde in seinen Bestrebungen von dem Bibliothekar Lehne unterstützt. 1805 wurde er in das französische Lyceum in Mainz aufgenommen und war es besonders Professor Turquem, der auch des Hebräischen kundig war und später mit ihm einen litterarischen Briefwechsel unterhielt, der seine ungewöhnlichen Anlagen erkannte und ihn in die mathematische Wissenschaft einführte. Schon nach 2½ Jahren wurde C., begleitet von der Anerkennung seiner Lehrer, aus dem Lyceum entlassen. Ihren größten Einfluß auf seine Geistesrichtung übten neben den Schriften Kant’s die Rousseau’s und der Encyklopädisten. Er stand durch seinen Bildungsgang, durch seinen philosophisch geschulten Geist mit seiner Auffassung vom Judenthume im Gegensatze zu dem Herkömmlichen und Hergebrachten, in welchem er eine durch beklagenswerthe Verirrung der tonangebenden Geister herbeigeführte Entstellung seines Lehrinhaltes erblickte, der nur durch eine gründliche Reform wieder zu seiner ursprünglichen Erhabenheit gelangen sollte und erkannte in einer verbesserten Jugendbildung vorerst den einzigen Weg zur Besserung vorhandener Schäden. Unter großen Kämpfen gründete er in Mainz 1813 eine jüdische Schule, die später von der Gemeinde übernommen wurde und arbeitete mit Eifer und Begeisterung an der geistigen Veredlung der Jugend. Auch gründete er einen israelitischen Handwerker-Verein, wie später auch in Frankfurt a. M. Nebstdem hielt er an Sabbathen und Festtagen religiöse Vorträge im Sinne der Reform und gründete 1823 eine Monatsschrift „Geist der pharisäischen Lehre“, von der nur sechs Hefte erschienen sind und in welcher er besonders dem Gedanken wissenschaftlichen Ausdruck gab, daß das Judenthum einer beständigen Entwicklung fähig und bedürftig sei und daß man damit gerade auf dem Standpunkt des Talmuds stehe, der ja auch nur eine oft über die Bibel hinausgehende Entwicklungsphase des Judenthums bedeute. C. hatte dadurch, daß er durch die zurückgegangenen Vermögensverhältnisse seiner Eltern gezwungen war, Privatunterricht zu ertheilen, viele persönliche Beziehungen zu intelligenten christlichen Kreisen, namentlich zu Officieren und Geistlichen bekommen, wodurch sein Blick geschärft und seine Anschauung geklärt wurde. So zählte Bischof Colmar zu seinen Freunden, und Männer wie Geissel und Weis, die nachmaligen Bischöfe von Köln und Speier standen zu ihm im Verhältnisse von Schüler und Lehrer. Er veröffentlichte in Mainz 1821: „Abhandlungen über zwei schwierige Stellen im Euklides“, 1822: einen „Versuch über die Paralleltheorie“ und ein „Lehrbuch der darstellenden Geometrie“, 1825: eine „Anleitung zur höheren Zinsrechnung mit logarithmischen Tafeln“ und ein „Französisches Lesebuch zum Gebrauche für Schulen“. Im J. 1824 erlangte er in Gießen die philosophische Doctorwürde und 1825 wurde er an die israelitische Realschule „Philanthropin“ (gegründet 1804) nach Frankfurt a. M. berufen, woselbst sich ihm ein ergiebiges Feld der Thätigkeit als Lehrer, Prediger und Schriftsteller eröffnete an der Seite des helldenkenden geistvollen Oberlehrers Dr. M. Heß und anderer Gesinnungsgenossen, die ihr ganzes Leben und Wirken der Reform des Judenthums und der Veredlung der Jugend gewidmet hatten. Hier konnte er den Satz zur Wahrheit machen, den er unter sein Bildniß geschrieben: „Die Jugend ist unsere schönste Hoffnung und darum sei sie auch der theuerste Gegenstand unserer Sorgfalt“. Er zeigte als Lehrer, begabt mit Klarheit und Bestimmtheit des Vortrages, „daß die jüdische Religion nicht veraltet ist und nie veralten kann, daß man sie wohl mit einer anmuthslosen Rinde überzogen, aber ihr nicht die Lebenskraft [548] rauben konnte, die ihr eine ewige Jugendlichkeit verbürgt, welche sich bei fortschreitender Cultur immer lebenskräftiger und beglückender zeigen wird – - dieser gute Geist wird um so segensreichere Früchte bringen“ meinte er „je unumwundener die Religion dem jugendlichen Geiste in ihrer ursprünglichen Schönheit dargestellt wird, in dem enthüllten Liebreiz, mit dem das geoffenbarte Gesetz den Propheten entgegenstrahlte“ (Stunden der Weihe für israelitische Confirmanden, Frankfurt a. M. 1841. VI, VII, vgl. hiezu: Die Confirmationsfeier für unsere Schüler und Schülerinnen der Frankfurter israelitischen Realschule. Frankfurt a. M. 1828). In der mit der Schule verbunden gewesenen „Andachtsstunde“, welche ursprünglich 1812 in einem sonntäglichen Gottesdienst bestand, bei welchem die Schüler und Schülerinnen anwesend waren und bei welchem nach einem von der Orgel begleiteten Gesange, über einen moralischen Gegenstand gesprochen wurde (Heß, Programm des Philanthropins, 1812, S. 34), die von 1815 ab in eine allsabbathliche umgewandelt wurde, welche zum Sammelpunkt auch der gebildeten reformfreundlichen Gemeindemitglieder geworden, und in der neben deutschen Gebeten die Predigt den Hauptbestandtheil ausmachte, war C. der rechte Mann am rechten Platze. Seine Reden, aus der Fülle des Herzens und aus der Tiefe der Ueberzeugung hervorquellend, ausgezeichnet durch Reichthum der Ideen und durch Klarheit der Gedanken, wie aus den in seinem Nachlasse befindlichen Predigten zu ersehen ist, die ich noch zu veröffentlichen gedenke, übten einen mächtigen Einfluß auf die Hörer aus, und es war namentlich die von ihm eingeführte Confirmation seiner Schüler und Schülerinnen, die von ergreifender Wirkung sich erwiesen hatte. Dabei zeichnete sich C. durch anspruchsloses wohlthätiges Wirken aus und erwarb sich in der eines zeitgemäßen Rabbiners entbehrenden Gemeinde die Liebe und Verehrung der weitesten Kreise, zumal er auch in der „Loge zur aufgehenden Morgenröthe“ eine führende Stellung einnahm. 1827 hielt er eine treffliche Ansprache bei Grundsteinlegung des Krankenhauses der israelitischen Männer- und Frauenkrankencasse in Frankfurt am Main; auch wurde er nach auswärts, so nach Eltville, Offenbach und Mainz zur Abhaltung von Reden berufen (vgl. Predigt, gehalten in der Synagoge zu Mainz bei Gelegenheit des Geburtsfestes S. K. H. des Großherzogs von Hessen und bei Rhein am 26. December 1831 mit einem Vorworte von Dr. Derenburg, Präses des Vorstandes Mainz 1832), die der deutschen Predigt die Bahn ebnen halfen. 1828/29 hielt er in Frankfurt a. M. auf Aufforderung der Vorsteher des Physikalischen Vereins Vorträge über physische Geographie. Dabei setzte er eifrig seine mathematischen Studien fort. 1828 erschien von ihm neben „Gebete und Psalmen für Israeliten“ ein „Lehrbuch der technischen Geometrie“, 1829 ein „Versuch über die Theorie der Zahlen aus dem Französischen des A. M. Legendre“, 1. Theil: „Methoden und Lehrsätze zur unbestimmten Analytik enthaltend“ und er veröffentlichte noch neben der Abwehrschrift gegen Dr. H. E. G. Paulus „Ueber die jüdische Nationalabsonderung“ und den „Zwei und dreißig Thesen über den Talmud“ (1831), neben dem „Biblischen Lehrbuch für die hebräische Sprache“ (1839) und „Betrachtungen über die 10 Bußtage“ (1840) ein „Lehrbuch der Planimetrie“ (Frankf. a. M. 1834) und ein „Lehrbuch der Algebra“ (Stuttg. 1839). In den Jahren 1833 bis 1844 stellte C. ein ganzes Lehrgebäude der jüdischen Religion in reformistischem Sinne auf, in welchem er die historischen Grundlagen für eine Reform des Judenthums darlegte, in seinem aus vier verschieden betitelten Theilen bestehenden Werke „Schulchan Aruch“, welches mehrere Gegenschriften hervorrief (S. R. Hirsch, J. Löwenstein u. A.), und dessen erster Theil 1837 in London [549] ins Englische übertragen wurde. Dabei war er ein fleißiger und tüchtiger Mitarbeiter an Abraham Geiger’s „Zeitschrift für jüdische Theologie“ und an Jost’s „Annalen“, mit dem er 1841 und 1842 gemeinsam eine hebräische Zeitschrift „Zion“ herausgab, die gehaltvolle Arbeiten, biographische und bibliographische Mittheilungen und Editionen aus der mittelalterl. Litteratur enthält. Sein letztes Werk war „Jesod Mora sive fundamentum pietatis. Nach Ibn Esra lateinisch und deutsch“ (1841). C. wurde am 8. August 1842 unter großen Ehren begraben. Sein College, der Geschichtsschreiber Dr. M. Jost widmete ihm einen herrlichen Nachruf (auch abgedruckt in: Kayserling, Bibliothek jüdischer Kanzelredner, S. 385), auf dessen Anregung, am Tage der Bestattung, die für die Lehrer am Philanthropin und deren Hinterbliebene segensreich wirkende „Creizenach-Stiftung“ ins Leben gerufen wurde. Auf seinem Grabstein steht als Inschrift: „Seine Kraft widmete er der Zukunft Israels, sein Herz schlug der Menschheit“.

Michael C. hinterließ eine Tochter und drei Söhne, unter denen der älteste Julius C., geboren 1816 zu Mainz, † 1884 als Oberlandesgerichtsrath zu Darmstadt, Verfasser einer Abhandlung über den kaufmännischen Contocurrent (Mainz 1873) und anderer juristischer Werke, sowie der zweite Theodor (s. u.) als Schriftsteller hervorgetreten sind.

Quellen: Seine eigenen Schriften, Einladungsschrift zur Prüfung der Real- und Volksschule der israel. Gemeinde in Frankfurt a. M. 1826, 1843. – Neuer Nekrolog d. Dtschn. Jahrg. XX. Weimar 1844, S. 576–587.