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Artikel „Pyra, Jacob Immanuel“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 784–787, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Pyra,_Immanuel_Jacob&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 00:16 Uhr UTC)
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Pyra: Jacob Immanuel P., Dichter und Kritiker, ist geboren am 25. Juli 1715 zu Cottbus als Sohn eines mittellosen Advocaten. Er besuchte das Bautzner Gymnasium, früh für schöne Litteratur interessirt, mit Lohenstein, dann mit Neukirch beschäftigt, im Frommen Christenglauben erzogen. 1734–1738 studirte er Theologie in Halle bei dem strenggläubigen Lange, und fand in dessen Sohn, Samuel Gotthold, einen Freund und Dichtgenossen, der auch seine traurige Lage milderte. Zwei Hallesche Strömungen, der Francke’sche Pietismus und der von Thomasius eingeleitete freiere preußische Zug, ergriffen P. Religiöse Weihe, kritische Litteraturbetrachtung, Begeisterung für König und Vaterland vereinigten sich in ihm. Er trieb Philologie und Aesthetik. Er stiftete mit Lange eine poetische Gesellschaft, wies auf die Alten und die Engländer hin und ging von einseitiger Befehdung der bloßen Reimer zur Praxis der reimlosen Verse über. Er trat 1736 in briefliche Verbindung mit Gottsched. 1737 erschien sein größtes Gedicht, „Der Tempel der wahren Dichtkunst.“ Mit Gottsched äußerlich und innerlich zerfallen, näherte er sich den Schweizern. Im Laublinger Asyl seit 1739 dichtete er geistliche Oden und mit Lange freundschaftliche Lieder, begann nach einer unglücklichen Hauslehrerepisode eine Wochenschrift, setzte seine Uebertragung und Erläuterung der Aeneis fort und suchte, angeregt durch Wolff und Baumgarten, aber auch durch die Kämpfe der beiden litterarischen Heerlager, eine neue Poetik zu begründen. Gegen Ende 1742 als Lehrer, bald Subrector, an das Cöllnische Gymnasium zu Berlin berufen, erfreute er sich allmählich besserer Vermögensverhältnisse und genoß, neu belebt durch die Hauptstadt, anregenden Verkehr mit seinem braven Rector Damm, dem Gräcisten, streifte die alte pietistische Strenge ab, verschmähte sogar bedenkliche Liebessänger wie Rost und [785] Lamprecht nicht und reichte jungen Dichtern edlerer Richtung, die von seiner eigenen Theorie und Praxis gelernt hatten, wie Gleim und Kleist die Hand. Er schritt rasch vorwärts, nicht sowohl in den damals neu behandelten Dramen, die durch formale Experimente interessiren, als in der Kritik. 1743 trat er mitten im Dichterkrieg als gewappnetster Gegner der Leipziger hervor, keineswegs auf parodistischen Spott und bloße Verneinung beschränkt. Neue Angriffe wies er 1744 sehr überlegen zurück. Unsre Litteratur durfte Bedeutendes von ihm erwarten; aber sein schwächlicher Körper war den Entbehrungen eines kargen Lebens und den Unruhen des bei den Gegnern so oft in persönliche Schmähung ausartenden Kampfes nicht gewachsen: P. starb am 14. Juli 1744.

Der ernste, energisch an seiner Charakter- und Geistesbildung arbeitende, keinem Fortschritt verschlossene Mann, welcher polemische Verstandesschärfe mit tiefer Neigung zu religiöser Dichtung vereinigte, Römer und Engländer so eingehend wie die Bibel studirte, behauptet in der deutschen Litteraturgeschichte seinen Platz unter den Vorläufern Lessing’s und als ein Vorbote Klopstock’s. Ein Programm für den christlichen vates, den deutschen Milton, ist das mit einem charakteristischen Motto aus Vida’s Hymnen ausgestattete, 1737 in 4° erschienene allegorische Lehrgedicht „Der Tempel der wahren Dichtkunst. Ein Gedicht in reimfreien Versen von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft in Halle“. In dem lang hin und her wogenden Kampfe für und wider den Reim nimmt P. als ein extremer Reimfeind Stellung mit reimlosen Alexandrinern. Gottsched war in dieser Formfrage unbefangener als die durch ihn selbst angeregten Züricher und als die Hallenser. Die Wirkungen sind bei den jüngern Anakreontikern, bei Klopstock, bei Ramler zu verfolgen. In den Miltonstreit greift P. mit dem feierlichen Votum ein, der göttliche Prophet verdiene den Kranz vor Homer: „Er hat die Poesie vom heidnischen Parnaß ins Paradies geführet.“ P. wendet sich von der Aftermuse ab, die ihn in eine ambraduftige Opernwelt zu Nymphen lockt und folgt der wahren Dichtkunst (Milton’s Urania, Klopstock’s Sionitin) in das Reich der echten Poesie. Der Vorhof wird unplastisch beschrieben. Dann findet im Tempel eine weitere Umschau nach Gattungen und Personen statt. Spätere Einschiebsel sind nachzuweisen; das Ganze uneinheitlich. Der 5. Gesang verherrlicht die frommen Sänger seit dem alten Testament und giebt die Losung aus: singt christlich-episch, laßt den leeren Reim, ahmt den Alten weise nach! Die Anlage des Ganzen und manche Einzelheiten bekunden den Einfluß vor allem Pope’s (Temple of fame), des Kebes und Vergil, vielleicht des Dante, sicher – wie noch näher zu untersuchen – des Vida und Sannazaro, deren Namen in der letzten Revue nicht vergessen sind. P. selbst entwarf ein Gedicht auf die Sündflut.

P. hat die Einseitigkeit dieses Programms nicht unentwegt festgehalten, sondern schon vor Berlin die puritanische Verpönung aller Sinnlichkeit fallen lassen. Er mischte realistisch-idyllische Züge in kleine Gedichte. Er ergötzte sich an den Epopöen Boileau’s und Pope’s und lieferte 1741 in seiner nur bis auf neun Stücke gediehenen Wochenschrift „Gedanken der unsichtbaren Gesellschaft“ (vergl. Bemühungen 12, 255 ff.) das Fragment „Bibliotartatus“ in gereimten Alexandrinern, durch das launig entworfene Bild eines studentischen Renommisten Zachariae anregend. Im „Tempel“ hat er die römischen Elegiker als Sänger „geiler Buhlerlieder“ abgewiesen, David über Pindar erhoben, aber den edlen Paaren Homer und Vergil, Horaz und Theokrit, Sophokles und Euripides gegenüber, deren Tugendliebe manch Christenlied beschäme, nur sein Bedauern ausgesprochen, daß sie noch in der blinden Nacht des Aberglaubens irrten. Er war nichts weniger als ein Feind der Antike. „In Pyra singt der göttliche Virgil“ [786] rühmt Bodmer. 1736 schickte P. die Probe einer Aeneisübersetzung, in reimfreien iambischen Tetrametern, an Gottsched (Waniek S. 21, Crit. Beitr. St. 17, 89, 18, 328, 21, 69). Ein häßlicher Streit über den Vorrang der P.’schen Leistung oder der „Schwarzias“ folgte. P. ging später zu reimfreien Alexandrinern über; immer etwas verbreiternd, aber gegen die Amthor, Schwarz u. s. w. unläugbar edel im Ausdruck. Sein Nachlaß (Gleimstiftung in Halberstadt; zum Vergil vgl. auch Nathusius, Halberstädter Programm 1874) enthält 31/2 Gesänge. Ein Stückchen der Ilias in Hexametern hat sich erhalten und bekundet den Uebergang zum antiken Maß. Auch Pyra’s dramatische Versuche zeigen ihn auf neuer Bahn. Er wählt alttestamentliche Stoffe: Jephta, Agag (Saul); aber auch ein Atreusfragment liegt vor. Rhetorisches Gepräge, Frauenchöre, Versexperimente bis zur Einführung des Hexameters ins Drama.

In der Ode hat P. den letzten Schritt zum antiken Maß nicht gethan, aber antikisirend dem Wagniß Klopstock’s vorgearbeitet. Lyrica erschienen 1745 in „Thirsis und Damons freundschaftlichen Liedern,“ besorgt von Bodmer, der „dem poetischen Ansehn zu Liebe“, wohl aus Thomson, die arcadischen Namen für P. und Lange substituirt hat. In der 2. Auflage 1749 hat Lange eine zusammenfassende Notiz über Pyra’s Pläne und Nachlaß gegeben. P. ist der tiefere, erhabnere, während Lange in landpastörlicher Behaglichkeit am genießbarsten ist. P. hat zuerst den Reim gewandt gehandhabt, dann ohne den „Schellenklang“ vornehm, selbstbewußt, fern vom „Pöbel“ hohe Ideale, Klopstock’sche Themata: Gott, Dichtkunst, Tugend, Freundschaft, Vaterland besungen. Im Psalm ist er Cramer’s Vorgänger. Seine Reimode „Ich sah den jungen Adler fliegen“ feiert König Friedrich. Die Sammlung wurde zuerst von Kästner im Hamburger Correspondenten vom 15. December 1745 angegriffen. Lange und Meier antworteten, vielleicht von Sulzer unterstützt, in einer wortreichen Broschüre. Kästner replicirte.

Nach Pyra’s Tod schrieb Bodmer an Lange: in Pyra hätten sie einen Freund, der Geschmack einen Kenner, die Poesie einen Dichter, die Kritik einen Streiter verloren. Lange vergleicht ihn mit Horaz und fügt hinzu, P. habe das Reich der Dummheit kühn angegriffen und tolle Schmierer niedergeschlagen wie Zeus tolle Riesen. Gegen die „Erzgottschedianer“ Cramer und Mylius, die 1743 in den „Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks“ einen ebenso bornirten wie boshaften Kampf wider Milton, Haller, die Zürcher eröffneten, aber nicht gegen sie allein, gab P. 1743 den ersten „Erweis, daß die G*ttsch*dianische Seite den Geschmack verderbe“ heraus, worin in trefflicher, an den Franzosen und Liscow geschulter Prosa die schweizerische Lehre von der dichterischen Phantasie gegen die „logicalischen Erklärungen“ verfochten, Wernicke als Anfang einer gesunden Kritik, Haller als Anfang einer neuen, gedankenschweren Poesie beredt gewürdigt, und mit seinem Sinn für Dichtersprache, doch nicht ohne theologisirende Beweisgründe Milton in Schutz genommen wird. Was in Leipzig für Haller’schen Unsinn galt, stellt P. als erhabene Prägnanz und geschmückte Rede hin, auch Hallers Varianten beachtend. Er wirft den Sachsen „Weisianismus“ vor. Er geht grausam ins Gericht mit Atalanta und Cato. Man antwortete plump und persönlich, Bemühungen 12, 264. P. warf 1744 die „Fortsetzung des Erweises …“ auf den Markt, die Unpersönlichkeit seiner Kritik durch eine beredte Unterscheidung zwischen dem Dichter und Poetiker Gottsched und dem Professor und Magnificus Gottsched kundgebend. Er verurtheilt Gottsched’sche Lieblinge wie Neukirch, Schwarz, erkennt aber J. E. Schlegel’s Begabung an. Er wird der neuen Komödie nicht gerecht, weiß aber alle Schwächen der „Hausfranzösin“ aufzudecken und setzt seine Polemik gegen den „Cato“ vernichtend fort. Neben schiefen Bemerkungen feine Einzelheiten, z. B. gegen die [787] todte Beschreibung in der Poesie. „Nicht große Leute, sondern die Natur muß die Regeln geben“, hatte er schon im Vergilstreit geschrieben. Jetzt erklärt er Gottsched’s ganze Poeterei für Wasserdichtung, seine „Dichtkunst“ nur für ein historisch-kritisches Handbuch ohne ästhetische Einsicht, fordert vor allem „poetisches Feuer“ und erklärt, der geborene Dichter werde schon nach und nach durch Uebung Regelmäßigkeit erwerben. – Die Hallischen Bemüher haben ihre niedrige Kampfweise noch an Pyra’s frühem Grabe fortgesetzt und gegen Lange wohlgezielte Hiebe geführt; überlaute Lobeserhebungen auf den Todten antworteten ihnen. Ruhige Würdigung ist seinen Verdiensten und Talenten erst spät zu Theil geworden; zuerst wies Danzel nachdrücklicher auf P. hin.

Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts. Mit Benutzung ungedruckter Quellen. Leipzig 1882 (vergl. Seuffert, Anzeiger der Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur 28, 253). – E. Schmidt, Lessing. 1884. 1, 227. – Neudruck der „freundschaftlichen Lieder“, 2. Aufl., mit Einleitung von Sauer in Seuffert’s Deutschen Litteraturdenkmalen 22, Heilbronn 1875.