ADB:Thomasius, Christian
Jakob Th. (s. u. S. 107), des Lehrers von Leibniz. Der Knabe durcheilte die ersten Stufen der Bildung mit der Raschheit und dem Glanz, welche stets die Merkmale seines Talents geblieben sind. So außerordentlich jung zum Universitätsstudium gelangt, nutzte Th. diesen Vorsprung, um sich zunächst überall, in der Physik, Mathematik, Geschichte umzusehen, Philosophie aber eingehender zu betreiben, ehe er ein Fachstudium ergriff. Eben damals erschien S. Pufendorf’s Jus naturae et gentium; die systematische Vollständigkeit desselben fesselte unsern jungen Magister der Philosophie (seit 1672, Baccalaureus seit 1671); den von der Leipziger Orthodoxie verworfenen Pufendorf’schen Ideen wußte er logisch nichts entgegenzusetzen; aber noch stand er zu starr im Banne der Tradition und der Erziehung, als daß er deshalb jene Ideen anzunehmen gewagt hätte; so zweifelte er einstweilen lieber an seiner Verstandeskraft, als an der alten Lehre. Deshalb, um diese Schwierigkeiten zu bewältigen, welche auf die Vorstellungen von Recht und Sittengesetz zurückführten, wandte sich Th. nunmehr der Jurisprudenz zu, bei welcher er als bei seiner Berufswissenschaft verblieb. In Leipzig hörte er namentlich bei C. Ziegler und bei J. Schilter; 1675 bezog er die Universität Frankfurt a. d. Oder, wohin ihn der Ruf eines Rhetius und Stryk führte. Von dem Unterricht auch dieser Männer nicht voll befriedigt, ging er alsbald dazu über, selbst juristische Privatvorlesungen zu halten, wobei er sich bereits bemüht haben will, positives und natürliches Recht zu verbinden, ersteres durch letzteres zu verbessern. So lernte er, wie er selbst sagt, lehrend und erwarb 1679 das Doctorat, nachdem er 1678 pro licentia unter Rhetius disputirt hatte. – In diese Frankfurter Jahre fällt aber die große Krisis von Thomasius’ innerem Leben. Ausführungen von Gegnern Pufendorf’s hatten ihn zunächst befriedigt und zu weiterem ruhigen Verharren in den alten Geleisen bewogen: sie schienen ihm das zu leisten, wozu er selbst nicht im Stande gewesen war, eine Widerlegung der Pufendorf’schen Ketzereien. Da schlug in diese Anschauung, welche mehr dem Wunsche entsprang, sich überzeugen zu lassen, als der Ueberzeugungskraft jener Ausführungen, hinein mit der unwiderstehlichen Gewalt freier Sprache, entrüsteter Satyre, sittlichen Ernsts und logischer Klarheit Pufendorf’s Apologia. Indem Th. durch diese Schrift voll hingerissen wurde, ward ihm mit einem Schlage klar, auf wie ungenügender Grundlage all sein Wissen und Glauben bisher beruht hatte: sein Verstand, an dem er gezweifelt hatte, weil er ihm die Richtigkeit der von seiner Umgebung verketzerten Ansichten vorführte, hatte Recht behalten; Alles, was man ihm dagegen gesagt, gepredigt, als Heilswahrheit eingeprägt hatte, erwies sich als Trug oder Irrthum. Alles, was man ihn gelehrt hatte, war ein Chaos von positiven Kenntnißbrocken, ohne Klarheit, Ordnung noch Begründung. Aus dieser Erkenntniß entsprang der feste, klare Entschluß, fortab sich nur noch auf den eigenen Verstand zu verlassen, diesen als Maßstab an alle Dinge zu legen und keiner noch so alten Schulmeinung, keiner noch so ehrwürdigen Ueberlieferung, keinem noch so fest gewurzelten Vorurtheil Rechnung zu tragen. Das Vorurtheil namentlich, das praejudicium, ist seitdem Thomasius’ böser Traum, den er fortwährend von sich und der Menschheit abzuwälzen, es ist sein [94] Feind, den er überall zu suchen und zu bekämpfen bemüht ist. Damit hat sein Leben seinen Zweck, sein Geist seine endgültige Richtung gewonnen; von allen Seiten strömten ihm nun unablässig die Anregungen, die Gedanken, die Ausführungen zu, auf allen Gebieten, durch alle Schlupfwinkel verfolgt er das Vorurtheil, in Vorlesung, Rede und Druck, in gelehrter und populärer Form, mit sprudelnder Fruchtbarkeit. Namentlich tritt ihm die Bedeutung der geschichtlichen Untersuchung in den Vordergrund, um durch dieselbe den Wechsel aller Dinge, die Haltlosigkeit aller Vorstellungen von der gerechten Grundlage des Bestehenden, die vielen Erfolge von Gewalt und List darzuthun, um durch Vertiefung der geschichtlichen Erkenntnisse die Ehrfurcht vor dem geschichtlich Gewordenen zu beseitigen. Als ein wohlbeanlagter und wohlerzogener Leipziger Professorensohn und Professuranwärter war er in Frankfurt eingezogen; als der Christian Thomasius unserer Culturgeschichte verließ er es, als Rationalist und Aufklärer, kampflustig und siegvertrauend.
Thomasius: Christian Th., hervorragender Förderer der deutschen Cultur, dem Fache nach Jurist, wurde geboren zu Leipzig am 1. Januar 1655 als Sohn des PhilosophenEs beginnt nun, nach einer kurzen holländischen Reise (1679) und nach einigen Jahren äußerer Ruhe, innerer Sammlung – während derselben prakticirte Th. zu Leipzig, namentlich als Vertheidiger in Criminalsachen, hielt Privatvorlesungen im üblichen Stil, und schrieb einige bloß fachmäßig gelehrte juristische Werke, in deren Vorreden es wetterleuchtet – die Glanzepoche seines Lebens; die sechs Jahre von 1684–1690 sind es, innerhalb deren Th. von dem Sitze allen akademisch-orthodoxen Zopfes, von Leipzig selbst aus, seine schmetternden Schwertschläge gegen Pedantismus, Scholastik, Orthodoxie, Buchstabenwissen, Geisteserstarrung führte, mit Berserkergrimm nach allen Seiten gleichzeitig einhauend, nichts und Niemand schonend, allein gegen alle. Nicht der fein geschliffene, funkelnde, spitze Paradedegen eines Voltaire vibrirt hier im Wechsel tief durchbohrenden Ausfalls und glänzender Parade; ein gewaltiger Flamberg, ein mächtig Gewappen aus der Rüstkammer der deutschen Gelehrsamkeit und Ueberzeugungstreue wird hier geschwungen, in ungefügen Hieben, mit beiden Händen geführt, saust es auf Richtungen und Köpfe der Gegner herab, die Vertheidigung stets in Form eines neuen Angriff. Grob, breitspurig, mit den verletzendsten Persönlichkeiten durchsetzt, ungeschickt da, wo sie einen leicht humoristischen Ton anschlagen will, unerfreulich mindestens, wo sie das Witzeln gallischen Esprits nachahmen möchte, ist die Polemik des Th. aus dieser seiner ersten Epoche; aber durchschlagend; und zaghaft anfangs, dann bewundernd, schließlich mitgerissen folgte die Leipziger akademische Jugend, folgte bald ganz Norddeutschland diesem Kampfe. Th., durch den Tod seines Vaters von jeder Rücksicht befreit, eröffnete diesen durch Vorlesungen über das Naturrecht und durch eine Dissertation über die Bigamie (1684), welche, mit der extremsten naturrechtlichen Richtung, noch über Pufendorf hinausgehend, als naturrechtlich erlaubt hingestellt wird. Diesem Vorspiele folgte 1687 die Herausgabe eines Lehrbuchs des Naturrechts, welches in fast allen Punkten mit Pufendorf übereinstimmt und diesen namentlich gegen des Th. früheren Lehrer, den Leipziger Professor Val. Alberti, vertheidigt, die „Institutines Jurisprudentiae divinae“; und der Anschlag an das schwarze Brett der Universität eines deutschen Programmes: „Discurs, welchergestalt man denen Frantzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen soll“. Natürlich, wie sofort bemerkt sei, insofern, als sie gute Manieren, Kunst feinen Lebensgenusses mit allseitigem, unpedantisch den Kern der Dinge erfassendem Wissen und mit reicher Welterfahrung verbinden – nicht, indem man ihnen blindlings in Moden, Leichtsinn, Sünden nachfolgen solle. Dieser Anschlag und der sich daran anschließende Vortrag über des Spaniers Gracian Grundregeln, „vernünftig, klug und artig zu leben“ war eine unerhört revolutionäre That in doppelter Beziehung. Sowol wegen [95] des Stoffes – wann waren jemals sonst derartige ungelehrte, scheinbar frivole Dinge an das schwarze Brett, auf das Katheder getragen worden? – wie wegen der deutschen Sprache. Und zwar bricht hier Th. mit der lateinischen Gelehrtensprache in vollem Zweckbewußtsein; er weiß wol, daß er in seiner deutschen Sprache, wie ihre Anwendung an sich schon die schärfste Kriegserklärung gegen allen scholastischen Zunftbetrieb ist, so auch die mächtigste Stütze für diesen Krieg finden wird. Nicht nur Freiheit der Bewegung, Kraft und Natürlichkeit des Ausdruckes wird ihm sein, an Luther’s Werken genährter, an Chr. Weise sich zunächst anschließender deutscher Stil von selbst gewähren: sondern seine deutschen Worte werden sich an ganz Deutschland wenden, sie werden ihm Zuhörer und Leser aus allen Kreisen, über die mit gelehrten Vorurtheilen angefüllten Universitätszirkel hinaus zuführen, sie werden ihm die frischen Empfindungen und den nationalen Enthusiasmus der Jugend gewinnen, namentlich auch der Jugend aus den vornehmeren, der pedantischen Schulgelehrsamkeit verächtlich gegenüberstehenden Ständen. Freilich wendet sich bloß scheinbar an letztere seine Logik von 1688, durch ihren Titel: „Introductio ad Philosophiam Aulicam seu primae Lineae libri de prudentia cogitandi et raiocinandi“; das Werk ist nicht etwa wirklich für Hofleute bestimmt, sondern für Studirende, die sich eben gleichzeitig durch dasselbe an einen eleganten, weltmännischen Ton und entsprechende Auffassung gewöhnen sollen. Der Sorge für die praktische Ausbildung der Studirenden dienen eine ganze Reihe gleichzeitiger Programme und öffentlicher Vorlesungen, über philosophische und juristische Stoffe; alle legen sie den Ton darauf, das mit hohlen Formeln, mit der Ueberlieferung bloß theoretischen Wissens in zahllosen Einzelheiten und in dialektischer Verknüpfung, wie sie bis dahin üblich waren, zu brechen sei, daß vielmehr die Rücksicht auf praktische Verwendbarkeit des Gelernten an erste Stelle treten müsse; so wenig man tanzen lerne durch Besuch von theoretischen Vorträgen über die Tanzkunst, so wenig lerne man logisch denken, ethisch handeln, juristisch Geschäfte führen durch die hergebrachten Collegien über Logik, Moral, Jurisprudenz; praktische Anleitung zu geben sei auch hier Hauptaufgabe des Lehrers. Namentlich in den juristischen Vorlesungsprogrammen ist hier schon (wie an anderer Stelle eingehend nachzuweisen hier vorbehalten bleiben muß) die ganze spätere fachwissenschaftliche Lehre des Th. im Keime enthalten. All dies war ihm aber damals nur Nebenarbeit; in erster Linie steht das entscheidende Werk der Jahre 1688 und 1689, das Werk, mit welchem Th. sich an das ganze deutsche Publikum in freiester, originellster Form wendet, seine deutsche Monatsschrift, wie sie diese beiden Jahre hindurch erschien, unter vielfach wechselndem Titel (zuerst: „Scherz- und ernsthafter, vernünftiger und einfältiger Gedanken über allerhand lustige und nützliche Bücher und Fragen erster Monat oder Januarius, in einem Gespräch dargestellt von der Gesellschaft derer Müßigen“). Ebenso wechselt die Form ab, bald haben wir Dialoge vor uns, bald witzelnde Erzählungen, bald wild polemische Ausfälle, bald ruhige Aufsätze, namentlich Berichte über die moderne Litteratur, die schöne sowol wie die gelehrte, die ausländische wie die inländische; stets aber ist der Geist aller dieser Ausführungen derselbe. Den Angriffen gegen theologische Intoleranz, gegen aristotelische Scholastik, gegen gelehrten Pedantismus ganz im allgemeinen entspricht die lobende Hervorhebung der Moral des Confucius, der Epicuräischen Philosophie, der Romanlectüre als eines nicht zu unterschätzenden Bildungsmittels. Alle diese Dinge werden immer wieder, von allen Seiten her, frisch vorgenommen, im Anschlusse bald an ein neues Buch, bald auch an ein Ereigniß des Tages; Th. hat sich hier die Waffe des Journalismus nicht nur neu geschaffen, sondern sie auch bereits mit vollendeter Meisterschaft zu führen gewußt; ebensowenig hat er freilich den [96] bedenklichen in ihm schlummernden Tendenzen widerstanden, der Neigung zu Uebereilungen, Uebertreibungen, namentlich aber auch zur rücksichtslosen Ausbeutung der Skandalsucht des Publikums auf Grund unverbürgter, persönlich gehässiger Gerüchte. Diese Anspielungen und Insinuationen gegen seine Feinde würden wir heute kaum mehr zu erkennen in der Lage sein, wären wir nicht anderweitig darüber genauest unterrichtet, namentlich durch des Th. eigene spätere Vertheidigungsversuche; er ist danach entschieden gelegentlich zu weit gegangen, indem er einzelnen seiner Gegner gemeine Delicte beimaß, zwischen welchen und einem zelotisch-verfolgungssüchtigen Obscurantismus denn doch noch ein gewaltiger Abstand besteht. Solcherlei ist gewiß nicht zu entschuldigen; wenn aber darüber hinaus gegen Th. von berufenster Seite die Anklage erhoben worden ist, er sei mit seinem ganzen Kampfe gegen die aristotelisch-scholastische Unterrichtsmethode der Philosophen wie gegen die auf der Concordienformel aufgebaute pseudo-lutherische Intoleranz der Theologen im Unrecht gewesen, da nun einmal die Universität Leipzig auf diese Concordienformel und auf jenen Aristotelismus begründet und verpflichtet gewesen sei: so soll und kann dieses Argument lediglich ein formal-juristisches Urtheil begründen. Gerade darin, daß er sich über solche Bedenken wegsetzte, daß er alle jene Ketten und Riegel mit Einem Ruck sprengte und seinen freien Flug nahm hinaus in die Weite, die er damit seiner Nation eröffnete: gerade darin besteht des Th. That; nicht bloß die formale Gesetzwidrigkeit muß ihm deshalb nachgesehen werden, sondern auch manche sachlich ärgere Uebertreibung, begangen im Kampf gegen das Autoritätsprincip, so namentlich die geschmacklose Herabsetzung der ganzen Antike. Nur vor zwei Punkten ist auch in seinen kühnsten Tagen Thomasius’ Sturmgeist stets stehen geblieben: vor der reinen, im Sinne des ersten Jahrhunderts aufgefaßten christlichen Religion, und vor der durch den Herrscher ausgeübten politischen Staatsallmacht. An jener hielt er ebenso unbedingt mit gläubigem Gemüth, namentlich gegen den Spinozismus, wie an dieser aus doctrinärer Einsicht fest; in beiderlei Beziehung auch positiv kennzeichnend für die erste deutsche Etappe des Aufklärungszeitalters.
In der Stellung, welche er als der Autor der Monatsschrift, als der Begründer des deutschen Aufklärerthums und Journalismus einnimmt, lebt Th. hauptsächlich im Gedächtnisse der Nation weiter, ein zorn- und witzsprühender Eiferer gegen alles Niedrige und Beschränkte, gegen allen Schulen- und Regelzwang, mehr niederreißend, als aufbauend, mehr Vertreter des sog. gesunden Menschenverstandes und Agitator als Gelehrter, trotz aller gelegentlich dabei an den Tag gelegten Gelehrsamkeit. Indessen ist diese Vorstellung eine durchaus einseitige, eben nur für diese erste Periode zutreffende; Th. ist vor allem ein impulsiver, stets durch die Stimmung und Aufgabe des Moments beeinflußter Charakter gewesen; und im J. 1690 traten zwei hervorragend wichtige Ereignisse in sein Leben ein, welche zu einem neuen Entwicklungsstadium führten. Das eine die Berührung mit dem in Leipzig verfolgten Pietismus, dessen juristische Vertheidigung er übernahm; zu dem persönlichen Einflusse eines Spener und Francke mochte die innere Neigung zum Rückschlag kommen, der Hang nach Bescheidenheit und Ruhe nach der Keckheit und dem Lärm der letzten Jahre; entscheidend war aber wol das Bedürfniß des gläubigen Gemüthes, an Stelle des beseitigten orthodoxen Dogmenglaubens etwas anderes Positives zu setzen. So ward Th. selbst Pietist und, da er eine einmal eingeschlagene Richtung regelmäßig bis ins Extreme verfolgt, auch Separatist und Mystiker, letzteres hauptsächlich im Anschlusse an Poiret. Der pietistischen Stimmung entsprießen namentlich eine ganze Anzahl von Schriftchen, in welchen Th. sich selbst und anderen ins Gewissen redet, in dem bekannten zerknirschten und starke Scheltworte [97] anwendenden Ton; namentlich bereut er nun die gehässigen Uebertreibungen seiner bisherigen Polemik, und der Vorsatz, solche Persönlichkeiten zu meiden, ist ein dauernder Gewinn, welchen er aus dieser pietistischen Krisis zieht. Weniger glücklich sind die durch die pietistische Selbstbetrachtungs- und Selbstzergliederungsneigung hervorgerufenen Ideen über die Möglichkeit, menschliche Charaktere nach bestimmten Formeln gewissermaßen mathematisch auf ihre Componenten zu bestimmen und danach die zukünftigen Handlungen dieser Menschen zu berechnen. Der pietistische Ton klingt uns schon aus dem Titel einer damals von Th. herausgegebenen Zeitschrift („Historie der Weisheit und Thorheit“, 1693) entgegen. Der Inhalt dieser Zeitschrift aber hängt wol noch mehr mit einem gewissen Separatismus zusammen, soferne nämlich die kirchengeschichtlichen Beiträge überwiegen, welche regelmäßig die officielle Kirche als durch philosophische Einflüsse auf Abwege gerathen, die großen Ketzer dagegen als Repräsentanten wahren Christenthums darstellen. Es handelt sich da geradezu um Vorarbeiten zu Arnold’s Kirchen- und Ketzergeschichte (1699), einem Werk, zu dem Th. in naher Beziehung steht, ohne daß bisher seine Mitarbeiterschaft im einzelnen genügend nachgewiesen wäre. Der Mysticismus endlich veranlaßte ihn zu metaphysischen Grübeleien, mit welchen er ein seiner ganzen Denkart dauernd verschlossenes Gebiet betrat; sein pneumatischer „Versuch vom Wesen des Geistes“ (1699) ist wol das unerfreulichste, halt- und werthloseste seiner Werke. – Jedoch war dafür gesorgt, daß er nicht in solchen Dingen oder in pietistischer Frömmelei unterging, schon durch das andere entscheidende Ereigniß des Jahres 1690: die Verlegung seines Wohnsitzes und seiner Thätigkeit von Leipzig nach Halle. Dort war, nachdem er sich mit aller Welt überworfen hatte, nachdem auf vielseitige und fortgesetzte Klagen auch scharfe obrigkeitliche Maßregeln gegen sein Wirken in Wort und Schrift ergriffen worden waren, nicht mehr seines Bleibens; so verließ er seine Vaterstadt (die durch ihn selbst aufgebrachten, seitdem herrschenden Anschauungen von einer eigentlichen „Vertreibung“ und „Flucht“ sind übertrieben) am 18. März 1690, wurde in Berlin, wo er sich gute Beziehungen vorzubereiten gewußt hatte, wohl aufgenommen, mit Rathstitel und Gehalt ausgerüstet und mit der Erlaubniß, Vorlesungen zu halten, nach Halle entlassen. Aus diesen Vorlesungen ist die juristische Facultät, der Kern der Universität Halle hervorgegangen. In den ersten Jahren mußte Th. den Schülern, welche er um sich nach Halle berief, Alles in Allem sein. Und er ward dieser Aufgabe gerecht im höchsten Maße; er hielt ihnen nicht nur Vorträge über die gesammte positive Rechtswissenschaft nach einem eigenen Plane, in welchem besonders die Geschichte des Rechts und seiner Quellen eine hervorragende Rolle spielt; dazu fügte er nicht nur Vorträge über das Naturrecht nach seinem Lehrbuche, nicht nur encyklopädisch-philosophisch auf alles dies vorbereitende Vorlesungen; sondern er nahm auch praktische Uebungen in dem Gebrauch der deutschen Sprache, in der Logik und Rechtsanwendung mit ihnen vor, ja kümmerte sich um ihre Manieren, ihren äußeren Anstand; so bot er ihnen nicht nur in seiner einzigen Person eine ganze philosophische und eine ganze juristische Facultät, sondern selbst den Lehrmeister in Dingen, welche Schule und Elternhaus verabsäumt hatten. Als der gewaltige Erfolg dieser Bemühungen die feierlich-förmliche Errichtung der Universität Halle 1694 zur Folge hatte und nun eine ganze Reihe weiterer Lehrkräfte ihm gesellt wurden, namentlich in der Stellung als Ordinarius der juristischen Facultät und Director der Universität der große Civilist S. Stryk (s. A. D. B. XXXVI, 698 fg.), schon seit Ende 1692, gewann Th. daraus wiederum neuen Vortheil, nicht nur nach der Seite der Entlastung von der übermäßigen Lehrthätigkeit, sondern auch nach der Seite positiver [98] Anregung und sorgfältiger Schulung in Angelegenheiten der Spruchpraxis und der Geschäftsverwaltung. Mehr als bisher findet sein Geist nun Bethätigung auf dem Felde der Fachwissenschaft; aus der Menge der Programme und Dissertationen treten drei Vorstellungsreihen als hauptsächlich leitende hervor: Erstens die Ueberzeugung von der Bedeutung der Geschichte, ohne welche die Jurisprudenz blind ist; Th. versteht da von der Entwicklung durch Alterthum, Mittelalter, Receptionsepoche, neuere Zeit hindurch ein zusammenhängendes Bild in vielfach treffenden Zügen zu entwerfen. Zweitens der scharfe Widerspruch gegen die herrschenden Vorstellungen von der Trefflichkeit des Römischen Rechts und von seiner Gültigkeit in Deutschland; vielmehr wimmele es von Mängeln (naevi) und kaum ein Zwanzigstel oder ein Zehntel des Corpus jur. civ. sei bei uns wirklich in Geltung; im übrigen herrsche bei uns Naturrecht und unser, diesem weit näher stehendes, einheimisches Recht; namentlich auf letzteres geht dabei Th. immer mehr ein, gibt zu ihm eine Reihe bedeutender Einzelbeiträge, und zeigt dabei seinen genialen Scharfblick in der Auswahl der Punkte, auf welche er jene, an sich ja zweifellos stark übertriebene Grundanschauung anwendet. Drittens im Kirchenrecht die Ausbildung der einseitigst territorialistischen Lehre, nach welcher allein dem Herrscher in allen nicht unmittelbar zum Glauben gehörigen Dingen, d. h. auf dem ganzen Gebiete der sog. adiaphora, und in allen eines äußeren Zwanges bedürftigen Anlässen die unumschränkte Gewalt zukommt, während die Geistlichkeit nur auf dem Gebiete des Glaubens und nur durch Ueberredung zu wirken berufen ist; selbst die Strafe des Bannes, der Excommunication, ist nur der Landesherr zu verhängen befugt; jede andere Auffassung wird als ’papistisch‘ gebrandmarkt und da, wo sie sich in der Geschichte geltend macht, auf Ränke der papistischen Politik zurückgeführt. Spuren solcher auch im Protestantismus zurückgebliebenen papistischen Auffassung nachzuweisen macht sich Th. zur besonderen Aufgabe und findet solche am stärksten im Eherecht. Dem Fürsten aber empfiehlt er weiteste Toleranz zu Gunsten aller auf dem Boden des Christenthums stehenden confessionellen Schattirungen (über Pufendorf’s Toleranz hinaus, hinter Locke’s ganz allgemeiner Toleranz zurückbleibend); und gegen die Auffassung der Ketzerei als eines strafbaren Verbrechens richtet er zwei seiner treffendsten, kräftigsten und erfolgreichsten Dissertationen (1697 „An haeresis sit crimen“ und „De jure principis circa haereticos ex hypothesi juris clericalis“). Zusammengefaßt, wennschon bloß in der Form kurzer Inhaltsangabe über zu haltende Vorlesungen, findet man alle diese Anschauungen des Th. in seinem „Summarischen Entwurf der Grundregeln, die einem studioso juris zu wissen nöthig“ (Halle 1699). Ein letztes Resultat derselben Gedankenrichtung endlich, namentlich auch durch Stryk’s Einfluß gefördert, ist die Abhandlung „De crimine magiae“ (Nov. 1701, in zwei deutschen Uebersetzungen erschienen 1704 und 1706); hier verwirft Th. nicht bloß, wie schon früher mehrfach geschehen war, die Beweisbarkeit, sondern, zum ersten Male, die Möglichkeit des Teufelbündnisses und aller damit zusammenhängenden Spuk- und Wahnvorstellungen, welche zu so vielen Greueln Veranlassung gegeben hatten; alle körperliche Wirksamkeit des Teufels wird geleugnet und als wahre Knechte des Teufels werden die mit Geist und Willen ihm verfallenen, die Verbrecher und Sünder, bezeichnet; die einfache Abschaffung aller Hexenprocesse wird im Endergebniß kategorisch gefordert.
Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts stellten sich Reibungen ein zwischen Th. und dem in der theologischen Facultät der Universität Halle zur Herrschaft gelangten, daüber auch seinerseits zu einer formelgläubigen Hieratik erstarrten Hallischen Pietismus. Diese Reibungen verblieben keineswegs bloß auf dem Gebiete geistlicher Ermahnungen und akademischer sowie litterarischer Aussprachen, [99] sondern führten auch zu Klagen und Gegenklagen nach Berlin, wo man im wesentlichen zu Gunsten friedlichen Ausgleiches entschied, indem man Th. vom theologischen Gebiet abzulassen, den Theologen aber sich persönlicher Angriffe gegen Th. zu enthalten befahl: natürlich beiderseits ohne viel Erfolg. Der Kampf hat sich litterarisch sowol wie in der angedeuteten Form officieller Beschwerden bis 1713 hingezogen, in welchem Jahre Th. zum letzten Male wegen einer „Diss. de concubinatu“ Verfolgungen ausgesetzt schien, die indessen bald wieder abgewendet wurden. Entschieden war eigentlich der Sieg des Th., wenigstens in amtlicher Beziehung, schon seit 1709, als man ihm, um ihn zur Ablehnung einer Rückberufung nach Leipzig zu veranlassen, den preußischen Geheimrathstitel verliehen und die Nachfolge in Stryk’s Stellungen versprochen hatte; in dieselben ist er denn auch 1710, mit Stryk’s Tode, eingetreten. – Hand in Hand mit diesen äußeren Vorgängen vollzog sich die Loslösung des Th. aus den pietistischen und mystischen Anschauungen selbst. Half ihm die Verkehrtheit jener erkennen das kopfhängerisch-heuchlerische Gebahren, wie es sich namentlich im Haller Waisenhause einnistete und seinem pädagogischen Ideal so direct widersprach, so zerflog der Zauber der Mystik vor der Klarheit eines Locke, mit dessen Studium er sich nun ernstlich befaßte. Ueberhaupt aber konnte man wol von vornherein vermuthen, daß dies ganze pietistische Wesen, so ernsthaft Th. es damit zunächst nahm, doch für ihn nur eine Durchgangsphase sein konnte; diese Phase führte ihn von dem überschwellenden Sturm und Drang der Jugend durch eine seiner gesunden Lebenslust widersprechende Contrition hinüber zu dem ausgeglichenen Gleichmaaß eines reifen Mannesalters, welches natürliche Heiterkeit und Lebhaftigkeit mit Ernst und Würde in Auftreten, Sprache und Gesinnung zu verbinden weiß. Dementsprechend steht nun Th. auf der Höhe seiner wissenschaftlichen Leistungen; es ist die Periode, in welcher sich alle verschiedenen von ihm angesponnenen Gedankenfäden in allseitiger Durchführung und besonnener Formulirung zu Einem Gewebe vereinigen. In der Philosophie des Naturrechts emancipirt er sich von Pufendorf („Fundamenta Juris naturae et gentium“, 1705), indem er als den großen Unterschied zwischen Recht und Moral die Erzwingbarkeit der Rechtssatzungen proclamirt und daraus namentlich die Unhaltbarkeit des Begriffes eines jus divinum positivum universale ableitet. In der Rechtsgeschichte läßt er, besorgt durch seinen Lieblingsschüler Georg Beyer (s. A. D. B. II, 596), die mustergültige „Delineatio historiae juris civilis“ (1704) erscheinen; deren äußere Methode kurzer Schlagsätze, der sog. positiones, ist seinem Vorlesungsdictat entnommen, an welches sich dann seine mündlichen Ausführungen knüpften, von Seiten seiner Schüler aber ist diese Methode der Positionen für alle solche lehrbuchartigen Schriften (Compendien) aufgenommen. Im Privatrecht führt er nicht nur den Kampf gegen die Gültigkeit des Römischen Rechts in Deutschland weiter durch, sondern gelangt auch im Gegensatze zu diesem dazu, ein vollständiges System des deutschen Privatrechts aufzuführen, welches dann in G. Beyer’s, als erstes Lehrbuch über diesen Gegenstand bekannter „Delineatio juris Germanici“ (1718) stark benutzt ist; dieses deutsche Recht ersetzt mit Vortheil das früher von Th. unbefangen aus Haß gegen das Römische Recht ins positive Recht hinübergezogene Naturrecht. Die hier gewonnene Einsicht in die Bedeutung des heimischen Rechtes überträgt Th. auf das Feudalrecht („Selecta Feudalia“, 1708, mit dem Abdruck des Auctor vetus de beneficiis), ferner auch auf Staats- und Strafrecht. Studien zu der Geschichte des letzteren führen einerseits zu der Carolina und den Fehmgerichten, andererseits zu der päpstlichen Gesetzgebung, namentlich Innocenz VIII. zurück; daraus geht dann schließlich die Einsicht hervor in den Zusammenhang der schlimmen Trias: Inquisitionsproceß, Folter, Hexenverfolgung. Mit sicherem [100] historischen Griff weiß Th. diese Dinge zu verbinden, und namentlich die Ausführungen gegen die Folter gehören wieder zu denjenigen, an welche sein Name aufs dauerhafteste geknüpft ist („Disp. de tortura in foris Christianorum proscribenda“, 1705). Bei dem hiermit zugleich schon berührten Gebiete des Kirchenrechts beschränkt Th. sich jetzt nicht mehr auf die Vertretung der landesherrlichen Rechte und auf die Bekämpfung der bei Geistlichen aller Kirchen grassirenden Herrschsucht, sondern geht dazu vor, das ganze kanonische Recht von diesen Gesichtspunkten aus durchzuarbeiten, namentlich seitdem dasselbe in den Bereich seiner pflichtmäßigen Vorlesungen fällt (seit 1710 als Ordinarius der Facultät); dadurch führte er eigentlich zuerst das kanonische Recht in ein Kirchenrecht in unserem Sinne über und bereitete den Boden, auf welchem sein großer Schüler J. H. Böhmer wirken sollte; freilich legte er dabei auch den Grund zu einer der leidigsten Neigungen des Aufklärungszeitalters, der, alle möglichen historischen Vorgänge auf Intriguen der Päpste (arcana papatus) und der Clerisei herzuleiten. – Die großen Schriften, in welchen wir neben zahllosen Dissertationen u. s. f. diese Ausführungen finden, sind: „Cautelae circa praecognita Jurisprudentiae“ (1710); „Cautelae circa praecognita Jurisprudentiae Ecclesiasticae“ (1712); „Notae ad singulos Institutionum et Pandectarum titulos, varias juris Romani antiquitates, inprimis usum eorum hodiernum in foris Germaniae ostendentes“ (1713), das umfangreichste juristische Werk unseres Autors, welches für seine Behauptung von der geringen Geltung des Römischen Rechts in Deutschland den Inductionsbeweis durchführt; weiterhin die Ausgabe von Lancelottus’ „Institutiones juris canonici“ mit einer Auswahl von Noten Anderer und zahlreichen eigenen Noten (4 Bände, 1713–17); und endlich die „Historia contentionis inter imperium et sacerdotium“, mit Betonung namentlich der Litterärgeschichte, als einer auch sonst von Th. wesentlich berücksichtigten und geförderten Wissenschaft. – In den Jahren 1713–1717 treten schließlich in den Kreis der Fragen, mit welchen Th. sich beschäftigt, auch gesetzgeberische ein, auf Anregung von Seiten der Staatsregierung her. Obschon er die Schäden in Recht und Rechtspflege seiner Zeit scharf erkennt und bitter beklagt, steht Th. im wesentlichen, nach einem ersten, etwas lebhafteren Anlauf (Vorwort zu den Notae etc., 1713), auf einem skeptischen Standpunkt („Bedenken“ v. 1717, mitgeth. in den Juristischen Händeln, Theil 4, Handel 4, und zwei Dissertationen v. 1717: „De emendatione administrationis justitiae etc.“ und „De charactere et circumspectione Medici ad curandam taediositatem processum adhibendi“). Er meint schließlich, nicht durch eine übereilte Gesetzgebung, welche noch so schön klingen möge, aber nichts ändern werde, sondern nur durch Hebung des Niveaus des allgemeinen Wissens bei juristischen Professoren, Studenten, Geschäfts- und Staatsmännern werde sich eine wahrhafte Besserung erzielen lassen; dazu aber bedürfe es mehrerer Generationen; bis dahin möge man die Gesetzgebung ruhen lassen; und dann werde man kaum mehr neuer Gesetze bedürfen. Mit diesen Auseinandersetzungen verbinden sich Studien zur Geschichte der Universitäten (Ausgabe des sog. Testamentes von Melchior v. Ossa, 1717, mit Noten und mit Anhang: „Ein kleiner Versuch von Annalibus, 1409–1629“, Leipzig und Wittenberg betreffend).
Welcher Unterschied zwischen dem jugendfeurigen Reformator und dem Th., der sorgfältig auseinandersetzt, ein Institut als verkehrt, fehlerhaft erkennen berechtige noch nicht dazu, es abzuschaffen oder zu verbessern, ehe man wisse, ob diese Operation bei diesem Stadium der Krankheit nicht zu schwer sei! Man sieht, wie sich der Uebergang ins hohe Alter vollzieht. Der Eintritt in dasselbe charakterisirt sich durch ein bequemeres Sich-gehen-lassen in Form und Inhalt. Der immer schon reichlich breite Stil des Th. fließt jetzt ganz auseinander, in [101] endlose Länge und Ausführlichkeit; die immer schon häufigen Wiederholungen zeigen zu ihrer Entschuldigung nicht mehr neue Einkleidung noch Variirung des Gedankens; die Neigung, in einer für das 18. Jahrhundert so kennzeichnenden Weise uns von sich selbst zu unterhalten, führt zu autobiographischen Aufsätzen, die allerdings reiches Urkundenmaterial, aber auch unendlich viel todtes Detail enthalten, weniger wol aus Selbstgefälligkeit, als aus Bequemlichkeit, da Th. die Mühe nicht aufwendet, das Bedeutsamere auszuwählen; und in derselben Weise werden jetzt früher liegen gebliebene Arbeiten, Berichte über früher geführte Processe u. dgl. veröffentlicht. Dieser Ton herrscht namentlich in den beiden letzten großen Sammelwerken, den „Ernsthaften, aber doch muntern und vernünftigen Thomasischen Gedanken über allerhand auserlesene juristische Händel“ (4 Bde., 1720 und 1721) und den „Vernünftigen und christlichen, aber nicht scheinheiligen Thomasischen Erwägungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel“ (3 Bde., 1723–1725), in letzteren noch weit mehr als in ersteren. Indessen behalten trotz aller dieser Mängel namentlich die Erzählungen über Rohheit oder Leichtsinn der Richter in einer Reihe von Hexenuntersuchungen ihren Werth. Ebenso werthvoll ist, wegen des reichen litterärgeschichtlichen Materials, die „Paulo plenior Historia juris naturalis“ (Halle 1719). Als im J. 1723 der große Kampf zwischen den Pietisten und Wolf tobte, blieb zwar Th. diesem Streit fern, da ihm keiner von beiden Theilen sympathisch war, auch Wolf nicht, dessen mathematisch-demonstrative Methode ihm, dem Feinde aller „–aner“, als eine neue Auflage scholastischer Dialektik verhaßt war; aber sein ganzer Ingrimm gegen die Pietisten zeigt sich doch in der außergewöhnlich scharf-verbissenen Satire, der Diss. „An poenae viventium eos infamantes sint absurdae et abrogandae“, aus dem April dieses Jahres. Dagegen ist eine letzte Vertheidigungsschrift für Toleranz aller christlichen Confessionen unter einander in auffallend mildem, behaglichem Tone abgefaßt, angefüllt mit freundlichen persönlichen Anspielungen auf edelgesinnte Bekannte des Autors aus den verschiedensten Kreisen, einschließlich selbst der Jesuiten. Dieses „Gespräch vom Simultaneo“ (erschienen 1725, geschrieben wol schon 1720) führt uns in des Th. Heim ein, in welchem er, unter der Larve eines tolerant denkenden katholischen Regierungsbeamten („Geschäftsmannes“, wie man das damals nannte) dargestellt, einen ihm befreundeten Jesuiten empfängt; in der Schilderung der tüchtig ihrem Hauswesen vorstehenden, dasselbe unter Entfaltung eines behaglichen Wohlstandes leitenden, aber auch zwischen den Männern verständnißvoll und geistreich vermittelnden Hausfrau hat da Th. der Gattin, welche ihm seit 1680 treu in allen Schicksalen zur Seite stand, ein für Beide gleich ehrendes Denkmal gesetzt. Und als seine „Gemischten Händel“ wieder von allerlei Seiten Anfechtung erfuhren, da hat der alte Kämpe sich noch einmal zu einer Kraft und Schonungslosigkeit der Erwiderung aufgeschwungen, welche seine Gegner nicht mehr von ihm erwartet haben mochten, ja welche geradezu in Ton und Inhalt an die ersten Jugendwerke erinnert. Dieser „Anhang zu den Thomasischen Gemischten Händeln“ (v. 1726) ist aber seine letzte Druckschrift geblieben; seine letzte Disputation hatte er am 3. November 1725 abgehalten; seine Lehrthätigkeit war er schon seit mehreren Jahren wesentlich einzuschränken genöthigt gewesen; am 23. September 1728 ist er gestorben, überlebt von der Ehefrau, von einem Sohne, Christian Polykarp, von zwei Töchtern, fünf Enkeln und zwei Enkelinnen.
Th. ist kein tiefer Philosoph und Denker, kein gelehrter Forscher und Sammler gewesen, sein Blick haftet meist bloß am unmittelbar Praktischen, sein Verstand leugnet kurzweg alle Probleme, denen er nicht gewachsen ist; der Dauer seiner einzelnen Werke steht ihre geringe formale Durcharbeitung und ihre Zersplitterung [102] im Wege. Aber er ist ein Mann von sprudelndem Ideenreichthum, von intuitiv selbst bei historischen Fragen der richtigen Lösung zustrebender Genialität; und seine Werke, häufig denselben improvisirten Charakter tragend wie seine Lehrvorträge, haben, wie diese auf eine zahlreiche Zuhörerschaft, so auf das Publicum ihrer Zeit im weitesten Maaße gewirkt: durch den Reiz einer frischen Unmittelbarkeit, durch die Gewalt einer mächtigen Persönlichkeit. Er hat in einzelnen Specialwissenschaften, dem deutschen Privatrecht, dem Kirchenrecht grundlegend und pfadweisend gewirkt; in anderen, dem Naturrecht, dem Strafrecht Epoche gemacht; er hat auf die Bedeutung der Kirchen-, Litterär- und Rechtsgeschichte hingewiesen, für seine Zeit treffliche Uebersichten über sie gegeben, auch im einzelnen manche wichtige Beiträge zu der Kenntniß dieser Gebiete geliefert; aber weit über alle diese hinaus gehen seine erzieherischen Verdienste. Um ihn schließen sich die Schüler in immer weiteren Kreisen. Zunächst die verhältnißmäßig starke Anzahl derjenigen persönlichen Schüler, welche unter seiner Leitung zu bedeutenden Gelehrten und Schriftstellern herangewachsen sind, wie, um nur einige zu nennen, Beyer, Titius, Stolle, Gerhard, Joh. S. Stryk, v. Meyern, Gundling, Schmauß, Leyser, Heineccius, J. H. Böhmer, denen der spätere große Curator von Göttingen, der Frhr. v. Münchhausen, gesellt sein mag. Sodann die weit bedeutendere Anzahl derjenigen Zuhörer, welche seine Anschauungen mitgenommen haben ins praktische Leben, in die Gerichts- und Regierungsstuben; hat man doch nicht mit Unrecht einzelne Seiten in dem Charakter des liberalen und nationalen, praktischen und berufseifrigen preußischen Beamtenthums auf diese seine Hallische Schule zurückführen können. Und schließlich die ganze unendliche Anzahl aller Zeitgenossen, welche aus den Schriften des Th. Anstoß erhalten haben zu freiem, selbständigem Denken, zu frischer, fröhlicher Lebensthätigkeit, zur Abwendung von pedantischer Schulfuchserei und von kleinlicher Verzagtheit, zur Verabscheuung von Obscurantismus und Intoleranz. In allen diesen hat Th. fortgewirkt, weit mehr als in seinen Druckwerken, die, nicht einmal zu einer großen Ausgabe gesammelt, vielfach zerstreut und dem nicht fachmäßigen Leser heute schwer zugänglich sind. (Einzelne Sammlungen sind u. a.: „Allerhand bisher publicirte kleine deutsche Schriften“, 1701; „Orationes academicae“, 1723; „Programmata Thomasiana“, 1724; „Dissertationes academicae“, 4 Bde., 4°, Halle 1773–1780.)
- H. Luden, Chr. Thomasius nach seinen Schicksalen u. Schriften dargestellt, Berlin 1805 (heute ungenügend). – Wohlverdientes Denkmal dem Herrn Christian Thomasius ausgerichtet 1729 d. P. v. Ludewig, Nachruf. – Consilia Halensia III, Einleitung, 1–96. – Distel in d. Ztschr. f. d. gesammte RW. 10, 440. – Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, 1 u. 2. – Schrader, Gesch. d. Universität Halle I, Buch 1 u. 2. – Landsberg, Zur Lebensgeschichte des Chr. Thomasius, Festgabe zur Haller Säkularfeier, 1894. – Biedermann, Deutschland im 18. Jahrh. II, 353 bis 368. – Schlosser, Gesch. d. 18. Jahrh. II, 603–613. – Hettner, Litteraturgesch. d. 18. Jahrh., Thl. 3, Buch 1, 90 fg. – Jul. Schmidt, Gesch. des geistigen Lebens in Deutschland I, 160 fg. – v. Raumer in d. Neuen Allg. Archiv f. d. Gesch. d. Preuß. Staates I, Heft 3, 185 fg. – Dernburg, Thomasius u. d. Stiftung d. Universität Halle, Rede, geh. am 12. Juli 1865. – Prutz, Gesch. d. Journalismus I, 286–341.