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Artikel „Nasse, Erwin“ von Georg von Below in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 844–848, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nasse,_Erwin&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 11:48 Uhr UTC)
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Nasse *): Erwin N., Nationalökonom, wurde als das achte unter neun Kindern des Klinikers Christian Friedrich N. (s. A. D. B. XXIII, 265 ff.) in Bonn am 2. December 1829 geboren. Das Gymnasium besuchte er in seiner Vaterstadt; mit größter Anerkennung gedachte er seines Lehrers in Oberprima, Professor Schopen. Vom Herbst 1846–48 studirte er in Bonn, in erster Linie classische Philologie, wie er denn Mitglied des von Welcker und Ritschl geleiteten philologischen Seminars war. Ferner hörte er namentlich Dahlmann, E. M. Arndt, Löbell, Brandis, auch den Theologen Nitzsch. 1848 ging er nach Göttingen, wo er Hermann und Lotze und ein Colleg über Bevölkerungsstatistik bei Wappäus hörte. Nachdem er nach Bonn zurückgekehrt, promovirte er bei Ritschl im August 1851 mit einer Dissertation „de publica cura annonae apud Romanos“. Das Thema deutet seine erwachenden staatswissenschaftlichen Neigungen an. Aber sein Studiengang war bis dahin durchaus der des Philologen. Diese Entwicklung haben ja im Zeitalter der historischen Richtung der Nationalökonomie mehrere ihrer namhaftesten Vertreter genommen: Roscher wie K. Bücher[WS 1] liefern dafür ebenfalls classische Belege. Während des militärischen Dienstjahrs, das N. nach seiner Promotion ableistete, faßte er den bestimmten Entschluß, Nationalökonom zu werden. Er ging 1852 auf 1853 nach Berlin, hörte bei Riedel Nationalökonomie sowie bei Dieterici Statistik des preußischen Staats und verlebte den Sommer des Jahres 1853 in England, wohin ihn auch später wiederholt während der großen Sommerferien seine Studien führten. 1854 habilitirte er sich in Bonn. Im Frühjahr 1856 wurde er als Professor nach Basel, im Herbst 1856 nach Rostock berufen. Von hier ging er im Jahre 1860 nach seiner Heimathstadt als Professor zurück. Hier hat er bis zu seinem Lebensende gewirkt. 1868/69 bekleidete er das Decanat der philosophischen Facultät, 1872/73 das Rectorat. Dem akademischen Senat gehörte er die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens fast ununterbrochen an. Ein Jahr vor seinem Tode wählte ihn die Universität nach dem Ableben Hälschner’s zu ihrem Vertreter im Herrenhause. Am 4. Januar 1890 erlag er der Influenzaepidemie, die damals so verheerend auftrat.

Seine wissenschaftliche Thätigkeit, in der er die Form der Abhandlung bevorzugte, ist sehr vielseitig. „Man ist erstaunt über die Fülle der Gegenstände, über die er geschrieben hat: Geldwesen und Bankwesen, englische und preußische Steuerpolitik, das englische Parlament, das preußische Beamtenthum, die deutsche Handelspolitik, das Armenwesen – kurz, es gibt kaum ein Gebiet, zu dem er nicht werthvolle Beiträge geliefert hätte“ (G. F. Knapp). Alle seine Arbeiten zeichnen sich durch kritische Art und sorgsame Ueberlegung aus; nirgends findet man etwas Eiliges, Unüberlegtes. Er war der Ansicht, daß die philologische Schulung für ihn besonders werthvoll gewesen sei: seine Befähigung auf dem Gebiet der Kritik führte er auf sie zurück. Seine ersten rein nationalökonomischen Schriften sind dem britischen Steuerwesen und dem [845] preußischen Bankwesen gewidmet (1854 und 1856). Diese und ähnliche Studien hat er bis zu seinem Tode festgehalten, besonders eifrig bis zum Ende der sechziger Jahre gepflegt. „Am meisten beachtet sind die Abhandlungen über Geld- und Bankwesen. Schritt für Schritt hat N. die großen Umwälzungen in Deutschland begleitet, stets voraussagend, was jetzt kommen müsse – und stets hat er dabei das Richtige getroffen. Merkwürdig ist, daß er die herrschende Stellung der preußischen Bank, wie sie heute ist, bereits im J. 1856 voraussah, also zu einer Zeit, ehe Preußen politisch eine herrschende Stellung besaß, und ferner zu einer Zeit, in der man uns für unbeschränkte Errichtung von Zettelbanken zu begeistern suchte“ (G. F. Knapp[WS 2]). Wirthschaftsgeschichtliche Arbeiten, die man bei N. im Hinblick auf seine philologisch-historische Ausbildung auf der Universität zunächst erwarten sollte, setzen erst im J. 1863 ein. Ihren Höhepunkt erreichen sie mit dem 1869 veröffentlichten Buch „Ueber die mittelalterliche Feldgemeinschaft und die Einhegungen des 16. Jahrhunderts in England“, in welchem er der erstaunten Welt darlegte, daß England früher dieselben Grundlagen der Agrarverfassung gehabt hat wie Deutschland. Das Resultat dieser Schrift, die auch ins Englische übersetzt wurde (von Ouvry, 1871), bedeutet eine außerordentliche Erweiterung unserer wirthschaftsgeschichtlichen Kenntnisse. Die weitere litterarische Thätigkeit Nasse’s erhält ihren besonderen Charakter durch seine religiöse und politische Stellung.

Wie im Hause von Nasse’s Vater, einem Freunde der Romantiker, eine ausgesprochene Religiosität herrschte, so hielt auch der Sohn diese mit Bewußtsein fest. Er bekannte sich zu einem milden positiven Christenthum, war ein fleißiger Besucher der sonntäglichen Predigt und setzte eine Ehre darein, Mitglied der kirchlichen Gemeindevertretung zu sein. Politisch vereinigte er deutsche mit conservativer preußischer Staatsgesinnung. Wenn er nicht als einseitiger Vertreter der historischen Richtung der Nationalökonomie angesehen werden kann, so bauten sich doch seine allgemeinen Anschauungen wesentlich auf der Erkenntniß der historischen Grundlage unseres öffentlichen Lebens auf. Seine Beschäftigung mit der historischen Litteratur ging weit über das rein nationalökonomische Interesse hinaus. „Man kann nie eine zu breite historische Bildung haben“, und „nur der historisch gebildete Mensch kann die vaterländischen politischen Verhältnisse richtig beurtheilen“, sind Sätze, die er seinen Kindern einschärfte. Aus seinem Sinn für das Historische erklärt sich gewiß auch großentheils seine Sympathie für die englischen Verhältnisse. An der dortigen aristokratischen Gesellschaftsordnung schätzte er namentlich den ohne staatliche Besoldung geleisteten freiwilligen Dienst für das Land. Während seines Aufenthalts in Basel fühlte er sich, obwohl ihn mit den dortigen Patriciern und Collegen vieles in Lebensanschauung und Gesinnung verband, doch durch die antipreußische Gesinnung der Baseler beengt. In Rostock trat er in persönliche Beziehungen zu einer Reihe mecklenburgischer Conservativer. Ihre Art interessirte ihn lebhaft; er hatte Freude am Disput mit ihnen. Aber auch hier gab es Differenzen der conservativen Richtung. In Bonn hielt er in der Conflictszeit treu zur Regierung, war mit Cl. Th. Perthes der einzige der Professoren, der den Antrag an das Abgeordnetenhaus, die dreijährige Dienstzeit abzulehnen, nicht unterschrieb. Durchdrungen von der Nothwendigkeit der Heeresreorganisation, kam er oft in heftigen Streit mit Männern wie Sybel und Noorden (seinem Neffen). Wenig später vereinigte sie eine starke Gemeinsamkeit der politischen Anschauungen. Die neue Gestaltung der politischen Dinge verschaffte N. 1869 ein Mandat in einem rheinischen Wahlkreis für das Abgeordnetenhaus, das er, der freiconservativen [846] Fraction beitretend, bis zum Jahre 1879 ausgeübt hat. Er erwies sich auch als gewissenhafter und thätiger Parlamentarier; besondere Verdienste erwarb er sich in der Budgetcommission. Nebenbei sei hier erwähnt, daß er auch dem Bonner Stadtrathscollegium angehörte. Die Bonner Zeitung schrieb darüber nach seinem Ableben: „Er nahm durch sein Wissen, seine Erfahrung, durch die Macht seiner Persönlichkeit eine hervorragende Stellung in dem Collegium ein, und wenn er manchmal im Kampfe der Meinungen seinen Standpunkt etwas scharf betont haben mag, so konnte diese Geradheit seiner Natur der Hochachtung keinen Abbruch thun, welche ihm stets im öffentlichen und politischen Leben auch von seinen Gegnern gezollt worden ist.“

Noch etwas früher als seine parlamentarische, beginnt seine socialpolitische Thätigkeit, zunächst im Rahmen christlicher Gemeinschaften. Im J. 1868 hielt er in der Versammlung des zu Bonn tagenden Vereins für innere Mission einen Vortrag über „Armenpflege und Selbsthülfe“; ein Vortrag auf dem Stuttgarter Kirchentage von 1869 über „den Antheil der inneren Mission an der Lösung der Arbeiterfrage“ folgte. N. war es auch gewiß, der den Altkatholiken Held, seinen nationalökonomischen Collegen in Bonn, veranlaßte, an den von dem Centralausschuß des Vereins für innere Mission angeregten Erörterungen über die Lage der Lohnarbeiter (seit 1870) sich zu betheiligen. Bald nahm ein breiterer Kreis die angedeuteten Bestrebungen auf: es wurde der Verein für Socialpolitik begründet, in dem N. an leitender Stelle stand, seit 1873 Vicevorsitzender, seit 1874 Vorsitzender war und bis zu seinem Tode blieb. So reiht er sich der Gruppe interessanter Persönlichkeiten ein, die von conservativ-christlichen Anschauungen aus zu socialpolitischen Forderungen gelangen. Wenn auch die Socialpolitik des deutschen Reichs zum größeren Theil Bismarck’s eigenstes Werk ist, so bildet doch die Voraussetzung für seinen Erfolg eine gewisse Disposition an anderer Stelle, und es gewährt großen Reiz, den verschiedenen Ideencomplexen nachzuspüren, die die erforderliche Stimmung vorbereiteten.

Im J. 1879 schied N., wie erwähnt, aus dem parlamentarischen Leben. Der Grund war einmal der, daß er in Bonn seit dem Weggang Held’s nach Berlin eine vermehrte Lehrthätigkeit auf sich nehmen mußte. Sodann aber verminderte sich auch seine Neigung für die parlamentarische Thätigkeit. Vom Standpunkt des gemäßigten Freihändler’s aus mißbilligte er nämlich die eben jetzt inaugurirte Schutzzollpolitik Bismarck’s, während er doch im übrigen der conservativen Regierung durchaus seine Sympathien entgegenbrachte. Seine Loyalität und Sachlichkeit ließen es nicht zu, daß er von dem Widerspruch in einem Punkt zur allgemeinen Opposition überging. Aber er zog es immerhin vor, das Parlament zu verlassen. Litterarisch freilich vertrat er seine abweichende Auffassung in energischer Weise. Hierher gehört vor allem seine Auseinandersetzung über den Cobdenclub. Als Lothar Bucher seine aus leidenschaftlicher Abneigung gegen das englische Freihändlerthum entsprungene, grundlos auch deutsche, gänzlich uninteressirte Mitglieder des Cobdenclubs verdächtigende Broschüre über diesen veröffentlichte (anonym; später wurde sie unter seinen Aufsätzen wieder abgedruckt), bekämpfte N. sie in seinem Artikel „Der Cobdenclub und die deutsche Waarenausfuhr“ (Jahrbücher f. Nationalökonomie 1882). Als dann Gustav Tuch in Schmoller’s Jahrbuch 1883 mit weiteren Angriffen auf den Freihandel gegen ihn auftrat, erwiderte er mit der Abhandlung „Die Richtung der deutschen Waarenausfuhr“ (Jahrbücher f. Nationalökonomie 1883). Uebrigens hat er Bucher als Verfasser jener Broschüre schwerlich gekannt.

Seit seinem Ausscheiden aus dem parlamentarischen Leben widmete er [847] sich in erhöhtem Maße der Lehrthätigkeit. Als akademischer Lehrer wirkte er durch den Eindruck seiner unbestechlichen, vornehmen Persönlichkeit. Wie seine hohe Gestalt, so unterstützte ihn auf dem Katheder wie im Parlament seine markige Stimme und die kräftige Betonung seiner vorsichtig erwogenen Sätze mit der entschieden norddeutschen Aussprache. Eine kleine Einschränkung der Wirkung seiner Vorlesungen lag vielleicht darin, daß seine vornehme Zurückhaltung ihn hinderte, manches so ohne alle Umschweife zu sagen, wie es das pädagogische Interesse vielleicht empfiehlt.

Als Zeichen der Hochschätzung, die N. in der wissenschaftlichen Welt fand, sei erwähnt, daß er von der Berliner Facultät zwei Mal für eine vacante Professur vorgeschlagen worden ist, vor Held’s Berufung und nach dessen Tode (die Professur erhielt jetzt der gleichfalls von der Facultät genannte Schmoller[WS 3]). Das Institut de France wählte ihn zum correspondirenden Mitglied.

Nasse’s Vater war ein Mann von überaus mannichfaltigen Interessen gewesen: neben seiner medicinischen Fachwissenschaft fesselten ihn politische und religiöse Probleme, Poesie, Musik, Malerei. Wenn bei dem Sohn die Richtung auf die mehr praktischen Fragen des wirthschaftlich-politischen Lebens und der Verwaltung überwiegt, so bewahrte er doch viel von dem Erbtheil des Vaters. Vor allem war er ein gründlicher Kenner Shakespeare’s und Goethe’s. Sie waren seine unzertrennlichen Begleiter auf Reisen. Ein großer Freund der Natur, hatte er bei seinen Wanderungen in die Umgegend Bonns stets ein Bändchen in der Tasche. Persönlichen Austausch fand er in so reichem Maße im Kreise der eigenen Familie, daß ihm für weiteren intimeren Verkehr kaum Zeit blieb. Von seinen Brüdern bekleideten mehrere namhafte Stellungen. Der älteste, Hermann, war Physiologe in Marburg (ein Sohn von ihm Vertreter der Pharmakologie in Rostock), ein anderer, Werner, Psychiater in Bonn, der jüngste, Bertold, Verwaltungsbeamter in den Rheinlanden, dann Unterstaatssecretär im Cultusministerium, zuletzt Oberpräsident in Coblenz. Mit allen nah verbunden, theilte N. mit dem jüngsten Bruder die gemeinsamen Interessen vielleicht noch ganz besonders. Im J. 1858 hatte er sich mit Hermine v. Hogendorp vermählt, die er im Hause seiner mit einem Grafen Bylandt vermählten Schwester Linde im Haag kennen gelernt hatte. Dieser Ehe entsprossen sechs Söhne und zwei Töchter. Es hat ihm auch nicht an Beziehungen gefehlt, die über den großen Kreis seiner Familie, deren Leben sich aufs glücklichste gestaltete, hinausgingen; schon seine öffentliche und akademische Thätigkeit mußten sie mit sich bringen. Sein Verhältniß zu seinem näheren Fachgenossen Held war das beste; er bewies ihm, der vom Privatdocenten zum Ordinarius neben ihm in Bonn aufstieg, das liebenswürdigste collegiale Entgegenkommen. Indessen ein Mann, der leicht Verbindungen anknüpft und sich leicht gibt, war er nicht. Er hatte nicht die Art, sich über das zu äußern, was ihn bedrückte; die Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten des Lebens empfand er tief und war selbst gegenüber den vertrautesten Familienmitgliedern in der Mittheilung seiner Sorge karg. Ueber seine Schwerlebigkeit hinaus trug ihn jedoch seine tiefe Religiosität.

G. F. Knapp, Ein Wort zur Erinnerung an E. Nasse, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 47; wiederholt: G. F. Knapp, Grundherrschaft und Rittergut, Vorträge, nebst biographischen Beilagen, Leipzig 1897. – K. Lamprecht, Die Schriften E. Nasse’s, Jahrbücher f. Nationalökonomie und Statistik, N. F. Bd. 20. – Lippert, Art. E. Nasse, Handwörterbuch der Staatswissenschaften (hier ebenfalls ein Verzeichniß der Schriften Nasse’s). – Kölnische Zeitung 1890, Nr. 5, 6, 8. – Bonner Zeitung 1890, Nr. 4. – Für die Erkenntniß der Anschauungen Nasse’s [848] sind auch wichtig die Ansprachen, die er in den Versammlungen des Vereines für Socialpolitik als dessen Vorsitzender gehalten hat (s. z. B. Schriften des Vereins Bd. 21, S. 1). – Mittheilungen der Familie. – Eigene Erinnerungen.

[844] *) Zu Bd. LII, S. 588.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Karl Bücher (* 16. Feb. 1847, † 12. Nov. 1930), Nationalökonom, studierte zunächst Geschichte und Altphilologie
  2. Georg Friedrich Knapp (* 7. März 1842, † 20. Feb. 1926), Nationalökonom, Hochschullehrer
  3. Gustav von Schmoller (* 24. Juni 1838, † 27. Juni 1917), Nationalökonom, Historiker