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Artikel „Löbell, Johann Wilhelm“ von Franz Xaver von Wegele in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 35–38, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Loebell,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 13:21 Uhr UTC)
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Löbell: Johann Wilhelm L., Geschichtschreiber. Geboren zu Berlin am 15. September 1786, erhielt er seine erste Schulbildung daselbst am Gymnasium zum Grauen Kloster, sollte aber gleichwol, dem Wunsche seiner Mutter zufolge – der Vater war bald hinweggestorben – sich dem kaufmännischen Berufe widmen, und trat demgemäß in der That in ein Bankgeschäft ein, die Handlung zu erlernen. Seine wahre Neigung hatte aber längst eine ganz andere Richtung genommen; die Wissenschaft war es, die gelehrte Laufbahn, auf welche ihn seine mühsam zurückgehaltenen Wünsche wiesen. Zuletzt, wenn auch nicht ohne schwere Kämpfe, setzte er es Dank seiner Beharrlichkeit doch durch, daß er den Impulsen seines Geistes folgen durfte. So besuchte er denn die [36] Universitäten von Heidelberg und Berlin, an welch’ letzterer namentlich Böckh nachhaltigen Einfluß auf ihn ausübte. Dem Studium des Alterthums war ja seine Neigung vor Allem zugewandt und sein ganzes Leben hindurch ist er seiner Vorliebe für die classische Welt, ihre Geschichte und Litteratur treu geblieben. In der Zeit der Freiheitskriege hat er zwar nicht activ am Kampfe Theil genommen, aber doch dem Vaterlande seine Kräfte zur Verfügung gestellt und in dem Büreau, welches sich mit der Organisation der Landwehr beschäftigte, gearbeitet. Nach der Wiederkehr des Friedens nahm er zunächst in Breslau seinen Aufenthalt, wohin ihn einige näher stehende Freunde lockten. Die erste Zeit lebte er hier als bloßer Privatmann, der Fortsetzung seiner unterbrochenen Lieblingsstudien hingegeben. Bald aber erhielt er, ganz seinen Neigungen entsprechend, an der Kriegsschule daselbst eine Anstellung als Lehrer der Geschichte, eine Wendung, die nicht ohne Einfluß darauf war, daß er fortan die Pflege und Erforschung derselben zum Berufe seines Lebens machte. An geistig anregendem Verkehr fehlte es ihm in der schlesischen Hauptstadt nicht. In dieser Beziehung sind vor Allem Steffens und Friedrich v. Raumer zu nennen, mit welchen er einen Freundschaftsbund schloß, der dann die Probe seines ganzen Lebens bestanden hat. Durch Steffens trat er zugleich mit Tieck in nähere, nachhaltige Beziehungen und wurde ziemlich tief von der romantischen Strömung erfaßt, ohne sich aber von ihr zu weit mit fortreißen zu lassen. Wenigstens die Freiheit und Unabhängigkeit seines Geistes hat unter dieser Verbindung nicht gelitten und am allerwenigsten hat seine streng protestantische Denkweise durch sie eine Abschwächung erfahren. Eine übertriebene und einseitige Werthschätzung des Mittelalters z. B. dürfte der letzte Vorwurf sein, der gegen ihn erhoben werden könnte. Dagegen ist es die ausgesprochene Vorliebe für litterarhistorische Studien, die er mit den Romantikern gemeinsam hatte; sie ist zwar sicher nicht von ihnen geweckt worden, aber ihr gegenseitiges Verhältniß erwärmte und verstärkte dieselbe. In Breslau hat auch die litterarische Thätigkeit Löbell’s ihren Anfang genommen. Er eröffnete sie (1818) mit einer feinsinnigen Schrift zur Beurtheilung des C. Sallustius Crispus und ließ (1820) eine Abhandlung „De origine Marchiae Brandenburgicae“ darauf folgen, die zwar die verwickelte Frage nicht löste, aber sicher für die Neigung und Anlage des Verfassers, sich in den verschiedenen Gebieten und Zeiten der Geschichte arbeitend zu orientiren, ein günstiges Zeugniß ablegte. Denn das war seine Natur, das Ganze der geschichtlichen Entwickelung im Auge zu behalten und dieselbe zu durchdringen, im unverkennbaren Gegensatze zu einer nachdrängenden jüngeren Schule oder Gruppe von Historikern, die in der größtmöglichen Beschränkung auf ein enges Gebiet der Geschichte ihre Weisheit und Ueberlegenheit gründet, – ein Standpunkt, welchen er freilich nicht zu theilen vermochte und über dessen schwache Seite er, der sich das erlauben durfte, noch in den letzten Jahrzehnten seines Lebens gesprächsweise mit seiner abfälligen Neigung nicht zurückhielt. In Breslau entstand (1821) noch eine andere Schrift Löbell’s, die zwar nicht mit seinen geschichtlichen Studien zusammenhängt, aber eine Frage behandelte, die ihm bis zum Ende seines Lebens fortgesetzt am Herzen lag, nämlich eine Abhandlung über das Gymnasialstudium, bez. über das Verhältniß der humanistischen und realen Lehrfächer, wobei er zunächst einen vermittelnden Weg gesucht hat. Im J. 1823 that sich für L. eine größere Wirksamkeit auf. Er ging als Lehrer der Geschichte an das Cadettenhaus nach Berlin. Nach glaubwürdigen Zeugnissen hat er sich in dieser nicht leichten Stellung die Achtung und Liebe seiner jugendlichen Schüler erworben. Während seines Aufenthaltes in Berlin übernahm er die wissenschaftliche Leitung einer Neubearbeitung der bekannten Becker’schen Weltgeschichte und hat sie zum größten Theile selber ausgeführt; drei Auflagen dieses Werkes sind unter seinen [37] Auspicien erschienen. Bei einer Aufgabe dieser Art war ein Mann wie er so recht am Platze, der mit der vollständigen wissenschaftlichen Vorbereitung das entsprechende Maß der geschmackvollen Darstellung verband und durch verständige Unterscheidung einer halb gelehrten und halb populären Behandlungsweise glücklich die Klippe umschiffte, an welcher spätere Bearbeitungen gescheitert sind. Seine Wirksamkeit in der Hauptstadt des preußischen Staates war übrigens von kurzer Dauer: wie vollkommen er auch den ihm anvertrauten Posten ausfüllte, er war immerhin zu etwas Höherem berufen. So folgte er denn im J. 1829 einem Rufe als außerordentlicher Professor (der Geschichte) an die rheinische Universität und erhielt zwei Jahre darauf das Ordinariat seines Faches. Ein ganzes Menschenalter lang hat er der Bonner Hochschule angehört und als Lehrer, wie noch viele lebende Zeugen bestätigen können, eine höchst fruchtbare Thätigkeit entfaltet. Auch das Eine darf als einer seiner Vorzüge angeführt werden, daß er jüngeren auftauchenden Talenten aufs uneigennützigste entgegenkam und ihnen den Boden nach Kräften ebnete. Der Umkreis seiner Lehrvorträge umschrieb das ganze Gebiet der Geschichte und nebenher der Litterärgeschichte, für welche er, wie wir wissen, von Anfang an eine ebenso ausgesprochene Vorliebe als seltene Befähigung mitgebracht hatte. Seine litterarischen Arbeiten der Bonner Epoche bewegen sich in den verschiedensten Zeiten der Geschichte und haben überall, wenn nicht entscheidend, doch anregend und fördernd gewirkt. Sie brauchen hier im Einzelnen nicht Alle aufgezählt zu werden, um so weniger, als es nicht immer die Bücher waren, in welchen er die Ergebnisse seiner Studien niederzulegen pflegte. Die universalhistorischen Neigungen seines Geistes haben ihn niemals ganz verlassen, wie er denn, längst über die Mittagshöhe seines Lebens hinweggeschritten, den Plan einer ganz selbständigen Ausarbeitung einer allgemeinen Geschichte faßte, die einerseits dem Bedürfnisse des gebildeten Lesers, und andererseits den Anforderungen der gelehrten Fachgenossen genügen sollte. So erschien denn auch wirklich im J. 1846 der erste Band einer „Weltgeschichte in Umrissen und Ausführungen“, der freilich auch ohne Fortsetzung geblieben ist. Die Gründe dieser Sistirung wissen wir nicht anzugeben, es müßte denn sein, daß der Verfasser in der Aufnahme des bez. ersten Bandes eine zu geringe Ermuthigung gefunden hat. Die Hauptleistung Löbell’s auf dem Gebiete der Geschichtschreibung, die wieder auf der Grenzlinie der Geschichte und Litteratur liegt, ist im J. 1839 an das Licht getreten und führt den Titel „Gregor von Tours und seine Zeit, vornehmlich aus seinen Werken geschildert“ etc. Die Schrift ist gleich bei ihrem Erscheinen mit ungetheiltem und wohlverdientem Beifall aufgenommen und mit Recht 30 Jahre später, nach ihres Urhebers Tode (mit einem schönen Vorworte von H. v. Sybel), aufs neue aufgelegt worden. Gerade die letztere Thatsache verkündet es deutlich, daß ihr Werth, trotz der dazwischen liegenden hochwichtigen Arbeiten auf dem Gebiete der merovingischen Geschichte, als nicht gemindert betrachtet wird. Einer der mehrfachen Vorzüge des Werkes, die hier nicht weiter erörtert werden können, ist die glückliche Verbindung einer scharfsinnigen Forschung einerseits und geschmackvollen Darstellung andererseits, die ja die schriftstellerische Art Löbell’s überhaupt charakterisirt, wenn wir das wiederholen sollen. Der Verfasser ist keiner der kapitalen Fragen, die auf seinem Wege lagen, aus dem Wege gegangen und hat die wichtigsten darunter, wenn auch nicht alle zum Abschluß geführt, aber doch um ein wesentliches weiter gebracht. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens war vorzüglich durch umfassende Studien über die classische Epoche unserer nationalen Litteratur ausgefüllt. Als Frucht derselben liegen drei Theile seiner „Vorlesungen über die Entwickelung der deutschen Poesie“ vor (Leipzig 1856–1865), deren letzten als opus posthumum A. Koberstein herausgegeben hat. Nur Klopstock, Lessing und Wieland [38] sind ausgeführt, alles Uebrige ist in der Vorbereitung haften geblieben. Das Auszeichnende dieser Schilderungen ist bekannt, wenn es ihnen auch nicht an Widerspruch gefehlt hat. Sie verrathen eine tiefe Kenntniß des Stoffes und sind von einer geistvollen und originellen Behandlung desselben getragen, von welcher auch der Gegner lernen kann. L. steht dabei in einem schlechtverhehlten Gegensatze zu Gervinus, gegen welchen er noch in den letzten Jahren seines Lebens – anonym – in einer eigenen kleinen Schrift aufgetreten ist, um die übertriebene Verherrlichung Schlossers und dessen Art, Geschichte zu schreiben, erfolgreich zurückzuweisen. Aber auch nach einer anderen Seite hin hat sich L. zuletzt noch erhoben, nämlich gegen den Ultramontanismus. Nichts anderes als eine eindringliche Warnung der von diesem dem Protestantismus drohenden Gefahr wollen die „Historischen Briefe“ sein, die er, ebenfalls anonym, im J. 1861 erscheinen ließ. Er ging dabei historisch zu Werke, d. h. er wies an den Thatsachen nach, welche fortgesetzten Verluste der Protestantismus seit den Anfängen der Gegenreformation namentlich auch räumlich erlitten hat. Nur ein so scharfblickender, so kenntnißreicher und zugleich so überzeugter Gelehrter konnte ein Buch der Art ausgehen lassen. Ob es die beabsichtigte Wirkung geübt, wäre eine andere Frage, die der Verfasser wenigstens sich nicht mehr vorzulegen brauchte. Schon seit geraumer Zeit von qualvollen körperlichen Leiden heimgesucht, erlag er denselben zu Bonn am 12. Juli 1863, nachdem er ihnen lange den Widerstand einer tapferen Seele entgegengesetzt hatte.

Theodor Bernhardt und Carl v. Noorden, Zur Würdigung Johann Wilhelm Löbell’s. Vier litterarhistorische Untersuchungen. Braunschweig 1864.