ADB:Mollweide, Karl Brandan
M. v. Prasse’s Tod erledigte Ordinariat der Mathematik. In dieser Eigenschaft gehörte er zu den sogenannten Professoren „alter Stiftung“, welche ausschließlich zur Verwaltung des akademischen Rectorates und des Decanates befähigt waren, und diese letztere Würde hat er denn auch zweimal bekleidet. Bis 1816 wohnte er in dem Thurme der Pleißenburg, in welchem dereinst auf Anrathen des P. Hell die Sternwarte eingerichtet war und mußte deshalb im Winter von 1813 die schrecklichen Folgen der Völkerschlacht in verdoppeltem Maße über sich ergehen lassen, da sowol die Franzosen wie die Verbündeten das Schloß als Hauptspital benutzten. Bald darauf verheirathete sich M. mit der Wittwe des früheren Amanuensis der Sternwarte, Meißner, doch blieb seine Ehe kinderlos. Obwol früh gealtert und durch sein ergrautes Haar in verhältnißmäßig jugendlichem Alter denen auffällig, welche seine Bekanntschaft machten, hatte sich doch M. eine große Rüstigkeit und Arbeitskraft bewahrt, so daß sein baldiger Tod am 10. März 1825 (nicht am 16., wie Voigt in seinem „Nekrolog“ angibt) überraschen mußte.
Mollweide: Karl Brandan M., Mathematiker und Astronom, geb. am 3. Februar 1774 zu Wolfenbüttel, machte seine Studien in Halle, wo er 1811 eine Stelle als Lehrer am Pädagogium erhielt. 1811 ward er als außerordentlicher Professor der Astronomie und zugleich als Observator der Sternwarte nach Leipzig berufen, doch ward er schon im darauf folgenden Jahre ordentlicher Professor und im J. 1814 erhielt er zugleich das durchPraktischer und beobachtender Astronom ist M. eigentlich nie gewesen, obwol seine Berufung ihn wesentlich solcher Beschäftigung zuzuführen schien. Es hat dies wol theilweise darin seinen Grund, daß er gerade während der Kriegszeit sein Amt antrat, wo die Geldmittel nur spärlich eingingen und auch an sonstiger Unterstützung Mangel war. Man kann für diese Auffassung einen Beleg in den erhaltenen Rechnungen des Leipziger Observatoriums finden, aus denen hervorgeht, daß, während M. die Direction führte, nur ein Sextantenstativ und einige Bücher für dasselbe angeschafft wurden. Allein auch abgesehen von diesen äußeren [152] Gründen scheint er schon aus dem Grunde an fortlaufende Beobachtungen wenig haben denken zu können, weil sowol seine litterarische als auch seine akademische Thätigkeit den größten Theil seiner Zeit und Kraft absorbiren mußten. Man muß bedenken, daß ihm zwei Lehrämter, deren jedes allein schon seinen Mann fordert, übertragen waren, und daß er es auch fertig brachte dieser schweren Aufgabe gerecht zu werden, wobei er freilich oft vier wöchentliche Collegien mit zusammen 14–16 Stunden zu halten hatte. Als Ordinarius der Mathematik las er reine Mathematik nach Vieth, angewandte nach Karsten, Arithmetik, Algebra, Analysis und Geometrie nach Lorenz, Stereometrie, Trigonometrie und analytische Geometrie nach Biot, außerdem hielt er Specialvorlesungen über Kegelschnitte und Wahrscheinlichkeitscalcul. Des Ferneren trug er auch sämmtliche Zweige der Astronomie vor, besonders gerne behandelte er das Kapitel von den geographischen Ortsbestimmungen. Da er aber auch noch dem Lehrauftrage der Physik zu genügen hatte, so hielt er Vorlesungen über mathematische und physische Geographie, Mechanik nach Kästner, Optik nach Karsten und endlich über Experimentalphysik, bei der er sich dem Anscheine nach an kein bestimmtes Compendium hielt. Eine eigenthümliche Marotte, denn anders wird man diese seine Meinung nicht bezeichnen können, veranlaßte M., niemals über höhere Analysis, über Differential- und Integralrechnung, ein Colleg anzukündigen; er huldigte nämlich der Ansicht, daß diese Disciplinen nicht vom Katheder aus gelehrt werden könnten, schon weil es dabei allzuvielen Anschreibens an der Tafel bedürfe. Es erscheint diese Sonderbarkeit gewiß um so auffallender, wenn man aus der Lectüre von Mollweide’s Schriften die Ueberzeugung gewonnen hat, daß er das gesammte Gebiet der höheren Mathematik in ungewöhnlich hohem Grade beherrschte.
Wenn wir auf Mollweide’s ausgedehnte litterarische Wirksamkeit einen Blick werfen, so haben wir zuerst darnach zu fragen, was er als didactischer Schriftsteller geleistet hat. Er gab im J. 1818 zu Leipzig Wenceslaus Karsten’s Lehrbegriff der gesammten Mathematik und ebendaselbst 1821 die von seinem Amtsvorgänger v. Prasse nachgelassenen Logarithmentafeln heraus. Wichtiger ist seine Fortsetzung des Klügel’schen Lexikons. Professor Klügel (s. Bd. XVI S. 253) hatte den Plan gefaßt, ein encyklopädisches Wörterbuch der gesammten Mathematik auszuarbeiten und zwar mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Litteratur. Drei Bände der ersten Abtheilung, die reine Mathematik enthaltend, waren noch von Klügel selbst fertig gestellt worden, während für den vierten Band, der von Q bis S reichen sollte, die Vorarbeiten noch kaum begonnen waren. Hier trat M. ein und lieferte eine Fortsetzung, die in jeder Hinsicht mustergültig genannt werden darf. Als besonders gründlich seien die Artikel „Quadratur“, „Rectification“, „Sphäroid“, „Symmetrische Function“ hervorgehoben, in welch letzterem mit Glück der Versuch gemacht wird, die Operationen der sogenannten combinatorischen Analysis der Theorie der höheren Gleichungen dienstbar zu machen. Ganz besonders aber verdienen die Artikel „Summirbare Reihe“ und „Summation der Reihe“ auch heute noch beachtet zu werden, denn wir wüßten kein einziges Lehrbuch der algebraischen Analysis aus neuerer Zeit zu nennen, welches das gesammte Material so vollständig und umsichtig verarbeitet aufwiese. – Wenn M. für Zeitschriften schrieb, so pflegte er v. Zach’s „Monatliche Correspondenz“ zu bevorzugen, deren Herausgeber er insoferne zu Dank verpflichtet war, als letzterer die Berufung nach Leipzig allem Vermuthen nach bewirkt hat; einzelne Beiträge erhielten Gilbert’s Annalen und Lindenau’s Zeitschrift für Astronomie, einige wenige Gehlen’s Journal der Physik. Die Naturlehre beschäftigte ihn namentlich in seinen früheren Lebensjahren lebhaft; so behandelte er die Farbenzerstreuung im menschlichen Auge (Gilb. Ann. 1804 und 1808), die angeblich magischen Experimente, welche man mit den sogenannten Schwefelkiespendeln gemacht [153] haben wollte (ibid. 1808), die Declination und Inclination der Magnetnadel (ibid. 1808), die Laplace’sche Barometerformel (ibid. 1819), welche er auf eine für die logarithmische Rechnung geschickte Form zu bringen lehrte, die Affinität der Körper gegen das Licht (Gehlen’s Journal, 1806). Eine ganze Reihe seiner Publicationen hat es mit der Farbenlehre zu thun, theils in positivem Sinne, indem, neuere Forschungen anticipirend, die Newton’schen Hauptfarben auf weniger als sieben zurückgeführt werden sollen (Gehlen’s Journal, 1806), theils auch in polemischem. Die Bekämpfung der Goethe’schen Farbentheorie war ihm eine Herzenssache, wie aus seinen beiden bezüglichen Schriften, „Prüfung der Farbenlehre des Herrn v. Goethe und Vertheidigung des Newton’schen Systems wider dieselbe“ (Halle 1810) und „Darstellung der optischen Irrthümer in Herrn v. Goethe’s Farbenlehre“ (ibid. 1811) hervorgeht. Der große Dichter hatte auch einer Stelle in den neuen Beiträgen zufolge das ganz richtige Gefühl, daß ihm in M. sein entschiedenster Gegner erstanden sei. – Von dessen kleineren, aber selbständigen astronomischen Schriften sind die folgenden zu nennen: „Kurzgefaßte Beschreibung der künstlichen Erd- und Himmelskugeln“, Leipzig 1818; „Adversus gravissimos chronologiae mysticae autores et astronomiae patronos“, ibid. 1821. Außerdem scheinen erwähnenswerth seine analytische Theorie der Fixsternaberration (Zach’s Corresp. 1808), seine Zusammenstellung der für die Längenbestimmung wichtigen Formeln zur Redaction der scheinbaren Distanz zweier Himmelskörper auf die wahre (ibid. 1808), seine Herleitung der Cagnoli’schen Formeln zur Berechnung der Lage des Sonnenäquators (im gleichen Bande), sein Aufsatz über Aberrations- und Nutationstafeln (ibid. 1810), die Bestimmung der Zeit aus den gleichen Höhen zweier Sterne (ibid. 1812). Was wir aber bei M. besonders hoch anschlagen dürfen, das ist seine stete Betonung des geschichtlich-antiquarischen Momentes, dem er in zahlreichen Publicationen Rechnung zu tragen wußte. Schon in seiner akademischen Antrittsschrift von 1811 („De pisce quem occidens Plejas fugit“) hatte er den Nachweis geführt, daß in diesem Passus des Ovid nur das Sternbild des südlichen Fisches gemeint sein könne. Geschichtlicher Natur sind seine Bemerkungen über eine Stelle der virgilischen Georgica (Zach’s Corresp. 1802, 1813, Zeitschr. f. Astr. 1816), über die Mappirungskunst und über die Optik des Ptolomaeus (Zach’s Corresp. 1805, Gilb. Ann. 1812), über den Kalender des Johann v. Gmunden und über Kepler (Zach’s Corresp. 1812). Ein wirkliches Verdienst erwarb er sich dadurch, daß er den wahren Sinn einer höchst eleganten Vorschrift zur Construction der Mittagslinie, welche bei den alten Agrimensoren sich findet, von ihnen aber offenbar nicht richtig verstanden worden war, aufdeckte (ibid. 1813). Was bei diesen Einzelarbeiten schon mehrfach als Mollweide’s Tendenz zu Tage getreten war, gründliche Durcharbeitung schwerverständlicher mathematischer Ueberbleibsel aus dem Alterthum, das bekommt feste Gestalt in den verdienstvollen „Commentationes mathematico-philologicae tres“ (Leipzig 1813). Dieselben enthalten Erläuterungen einiger Dichterstellen, in welchen von astronomischen Vorgängen die Rede ist, ferner einen Abschnitt über gewisse arithmetische Formeln des Gromatikers Epaphroditus, über welche allerdings erst neuerdings durch die Untersuchungen von M. Cantor volles Licht verbreitet worden ist, und endlich, im Anschluß an das agronomische Werk des Columella, geistreiche Divinationen über das Verfahren, dessen sich die griechischen Geometer bei der Ausziehung der Quadratwurzeln bedient haben mögen. Gerade dieses Kapitel der Commentationen hatte sich einer höchst anerkennenden Recension von Seiten des sonst mit seinem Lobe so sparsamen Gauß in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ zu erfreuen. – Durch die zuletzt besprochene Schrift sehen wir uns ganz von selbst auf Mollweide’s Arbeiten im Gebiete der reinen Mathematik geführt, die zum Theile einen für alle Zeiten [154] bleibenden Werth besitzen. Sein Programm „De quadratis magicis“ (Leipzig 1811) erbrachte den Nachweis, daß die Construction solcher Zauberquadrate, die man wenigstens in Deutschland nur als Curiositätenspiel behandelt hatte, zu ernsten und interessanten mathematischen Problemen Anlaß gebe; ein weiteres Programm (ibid. 1823) suchte die damals zu neuer Bedeutung gelangte Frage einer richtigen Leibrentenversicherung auf die richtige Grundlage zu stellen. Außerdem wären zu nennen die Aufsätze über Vega’s Logarithmenwerk (Zach’s Corresp. 1810), über die Gauß’schen Summen- und Differenzlogarithmen, deren sich M. als einer der ersten unter den deutschen Mathematikern bemächtigte (ibid. 1813), über die trigonometrische Auflösung quadratischer Gleichungen (ibid. 1810), über die größte einem Viereck einzubeschreibende Ellipse (ibid. 1810), welcher Arbeit auch indirect eine der schönsten Abhandlungen von Gauß ihren Ursprung verdankt, endlich über gewisse Attractionsaufgaben (ibid. 1813). Die monatliche Correspondenz von 1808 brachte ferner einen Artikel von M. mit der unscheinbaren Ueberschrift „Zusätze zur ebenen und sphärischen Trigonometrie“, in welchem jene wichtigen Abänderungen der älteren Napier’schen Analogien sich mitgetheilt finden, die heutzutage zum ehernen Bestand der Elementarmathematik gerechnet werden. Dieselben werden gewöhnlich als Gauß’sche oder Delambre’sche Formeln bezeichnet, obgleich der Letztere ganz gewiß nicht vor M. dieselben veröffentlichte, und jedenfalls hat sich Letzterer vor seinen beiden Rivalen dadurch einen Vorsprung gesichert, daß er den Relationen für das sphärische die entsprechenden Relationen für das ebene Dreieck zur Seite stellte, welche bei der Berechnung der Dreiecksstücke aus zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel nicht wohl entbehrt werden können. Seinen eigentlichen Triumph als erfinderischer Kopf feierte aber M. in seinen Studien auf dem Felde der geometrischen Kartographie. Wir haben hier vornämlich drei seiner Aufsätze im Auge: Schmidt’s Projectionsart der Halbkugelf1äche; Beweis, daß die Bonne’sche Entwerfungsart die Länder ihrem Flächeninhalte nach gemäß der Kugelfläche darstellt; Einige Projectionsarten der sphäroidischen Erde (Zach’s Corresp. 1805, 1806, 1807). d’Avezac hat erst 50 Jahre später die in diesen Arbeiten leider fast begrabenen Gedanken ihrem wahren Werthe nach zu würdigen begonnen und besonders auch festgestellt, daß die von M. erfundene conforme Kegelprojection fälschlich dem Delisle, die homalographische fälschlich Babinet zugeschrieben werde. Aequivalente Projectionen, d. h. solche, bei denen die ebenen Bilder zweier flächengleicher Kugelfiguren selbst denselben Flächeninhalt besitzen, existirten bereits seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts, wo Stabius eine solche angegeben hatte, allein gerade der Charakter der Aequivalenz war vor M. noch nicht zum Gegenstande eingehenderer Untersuchung gemacht worden. Wir glauben seine bezüglichen Erfolge nicht besser charakterisiren zu können, als wenn wir einige Worte von Berghaus, dem competentesten Beurtheiler kartographischer Dinge, hier wiederholen: „Mollweide’s äquivalente Projection gilt für Halbkugelbilder, die von allen am schwierigsten herzustellen sind, als das Beste, was geometrisch geleistet werden kann.“
- Poggendorff, Biographisch-litterarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften, 2. Bd., Leipzig 1863, S. 180 ff. – Bruhns, Die Astronomen der Sternwarte auf der Pleißenburg in Leipzig, Leipzig 1879, S. 20 ff. – Wolf, Geschichte der Astronomie, München 1877, S. 147, 557, 633, 771. – Günther, Die quadratischen Irrationalitäten der Alten und deren Entwickelungsmethoden, Abhandl. z. Gesch. d. Math., 4. Heft, Leipzig 1882, S. 66 ff. – d’Avezac, Coup d’oeil historique sur la projection des cartes, Bull. de la soc. géogr. de France, année 1863, S. 338. – Berghaus, Entwurfsarten für Planigloben, Peterm. geogr. Mittheil., 1858, S. 63.