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Artikel „Meister, Leonhard“ von Heinrich Breitinger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 21 (1885), S. 261–263, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Meister,_Leonhard&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 05:55 Uhr UTC)
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Meister: Leonhard M., Theologe und Litterat, Neffe des Pfarrers von Küßnacht, Sohn des Pfarrers von Neftenbach, wurde (wahrscheinlich am 2. December 1741) in diesem zürcherischen Dorfe geboren, wo er am 3. des gleichen Monates durch seinen Vater die Taufe erhielt. Er verlor seinen Vater im Alter von kaum vier Jahren. Die Wittwe, Anna Künzlin, zog mit ihren Kindern nach Zürich. Sehr frühe erwachte in Leonhard die Lust am Lesen und am Schreiben. „Schon als ein Kind“, sagt seine fragmentarische Autobiographie, „las ich gern und schrieb Predigten, Gebete, Romane. Gedichte, gereimte und reimlose, schmierte ich in Menge, bevor ich wußte, was Silbenmaß und Poesie ist. Auf Gassen und Straßen sah man mich selten. Mehr lebte ich unter Weibern, als mit dem männlichen Geschlecht“. Während er „an den zinzendorfischen Blut- und Lammespredigten“ des Predigers Ulrich sich religiös erwärmte, las er mit seinem Jugendfreunde, dem nachmaligen Professor Müller in Berlin, Spinoza, Edelmann, Jakob Böhme, Delamettrie und Connor, „eine wahre Minerva vulgivaga“. Als seine verdienten Lehrer nennt er Breitinger, Steinbrüchel, Ulrich, Hirzel und Bodmer. Als sein gelehrter Oheim Meister 1757 aus Deutschland nach Küßnacht kam, trat Leonhard zu ihm und seinem Sohne Jakob Heinrich, Leonhard’s nunmehrigem Studiengenossen, in ein intimes Verhältniß. „Bald wuchsen wir in eine Familie zusammen. Litterarischer Wetteifer belebte uns Beide“. In dieser französisch redenden Umgebung legte Leonhard den Grund zu seiner späteren Sprachgewandtheit im Französischen. „Die französische Litteratur zog mich mehr und mehr an. Die patriarchalische und messianische Dichtkunst fand ich zu hoch, zu verstiegen, zu wenig menschlich“. Der sich selbst überlassene, träumerisch-indolente Jüngling, dem nüchterne, methodische Arbeit zuwider war, verzögerte durch gelegentlichen Leichtsinn den Abschluß seiner Fachstudien (vgl. Bodmer’s Briefe an Meister in Küßnacht in Stadlin’s Pestalozzi I); erst 1764 ward er ordinirt, lebte einige Jahre von Privatunterricht in Zürich, sodann 1767 als Informator im Hause des appenzeller Landammann Zellweger in Trogen. Hier, sagt er, sei der Einsiedler zum Weltmanne geworden. „Unter diesen Zerstreuungen that ich meine Pflicht als Hauslehrer sehr schlecht; auch studirte ich nur französische Litteratur und las sonderheitlich die Encyklopädie. Um diese Zeit ließ ich meine ersten Schriften drucken. Es waren jene Romantischen Briefe (Berlin 1769), die in Klotzens Bibliothek allzustreng recensirt worden. Product eines Kopfes, von dem Klotz sagt: Er sei brausender Most, von dem man nicht wisse, ob Essig oder Wein daraus werde“. – Ein romantischer Plan, mit einem Handlungsdiener des Zellweger’schen Hauses auf gut Glück in die weite Welt zu reisen, ward rechtzeitig entdeckt und der phantastische Informator nach Zürich zurückgesandt. Hier nahm M. seine Privatstudien wieder auf und ließ von nun an eine Schrift über die andere drucken. Einige satirische Versuche machten ihm Feinde in der eleganten, mehr noch in der frommen Welt von Zürich. Im J. 1773 wurde in Zürich eine Kunstschule (obere Industrieschule) errichtet, und M. erhielt die Professur der Geographie und Geschichte. „Diese Beförderung machte in meinem Leben Epoche, indem ich nun den Privatunterricht aufgab und mich je länger je mehr aus den Zerstreuungen der schönen Welt losriß“. Indessen scheint M. dem Lehramte weder die nöthige Liebe noch die erforderlichen Eigenschaften nachhaltigen Ernstes und methodischer Consequenz entgegengebracht zu haben. Sein Schüler Ludwig Meyer von Knonau (Lebenserinnerungen, S. 16), nachdem er die Vorzüge seines Lehrers David Breitinger gelobt, [262] äußert sich über M. so: „Gerade das Gegentheil war einer seiner Collegen, Professor Leonhard Meister, der oft zerstreut, noch öfter nachlässig, bald scherzte, bald in Zorn gerieth, mit lächerlichen und übertriebenen Verweisen und Schimpfworten um sich warf und deßwegen auch wenig Achtung und noch weniger Gehorsam fand. Oft setzte er sich hin, schrieb etwas oder las für sich“ (während die Schüler Wandkarten studiren sollten). – Seine Vielschreiberei blieb ihm die Hauptsache. Er besuchte fleißig die helvetische Gesellschaft und unterhielt einen lebhaften Briefwechsel mit Konrad Füßli in Veltheim, General von Zurlauben, Balthasar in Luzern, mit Staatsschreiber Iselin in Basel, mit dem Basler Zunftmeister Peter Ochs, mit Prof. Vernet in Genf, mit Pater Steinegger in Einsideln etc. In Zürich schlug er sich zu Lavater’s Gegnern, Bodmer, Breitinger, Sal. Geßner und Hottinger. „So entstanden meine Schriften über die Schwärmerei und die Einbildungskraft (1775 und 1778). Während der Sommerferien las ich sie in dem akademischen Hörsale öffentlich vor“. Lavater wohnte bei, und seine Anhänger ärgerten sich mehr als ihr Führer. – Durch seine zahlreichen Schriften wurde M. zu einer sehr bekannten Persönlichkeit auch im Auslande. Die deutsche Gesellschaft in Mannheim ehrte ihn 1786 mit goldenen Schaumünzen, die königl. preußische Akademie in Berlin sogar mit einem Accessit für die Abhandlung „Vom Einflusse der Nachahmung fremder Werke auf den vaterländischen Geschmack“. Viele Ausländer besuchten ihn; mit ihnen und mit Landsleuten machte er manche genußreiche Schweizerreise. Als seine Reisegenossen nennt er selbst: Johannes von Müller, Bonstetten, Coxe, Storr, Ebel, den preußischen Minister Dohm, Nikolai, Biester, Staeudlin, Abel, von Dalberg, Bertola, Pindemonte, die Damen Laroche und Diderot’s Tochter Mme. de Vandeuil. Auch diese Lustreisen veranlaßten einige kleinere Schriften. – Die politischen Fragen beschäftigten Meister’s beweglichen Sinn und unruhigen Kopf mehr als es seinem Lehramte ziemen wollte. 1777 bei Gelegenheit der Erneuerung eines Bündnisses mit Frankreich schlug er sich zu den sog. Libellisten, welche die Bürgerschaft Zürichs im demokratischen Sinne bearbeiteten. Mehr und mehr entzog er sich so den Boden seiner Wirksamkeit als Lehrer. Die Frommen warfen ihm Frivolität, die Aristokraten politische Wühlerei vor. So gab er denn 1791 seine Professur auf und bezog die Pfarre St. Jakob bei Zürich. Unter der sog. Helvetik ließ er sich von seinem Freunde Peter Ochs in Basel bewegen, die Stelle eines Redactionssecretärs des helvetischen Directoriums anzunehmen. Im Januar 1799 zog er in dieser Eigenschaft nach Luzern, dann nach Bern. Da aber die Besoldung ausblieb, empfahl er sich einigen Männern von Langnau, die bei ihm Geschäfte hatten, als Candidaten für ihre vacante Pfarre und erlangte diese im J. 1800. So war er denn in den Canton Zürich zurückgekehrt, verließ indessen seine Gemeinde Langnau am Albis 1806, privatisirte ein Jahr in Rüschlikon am Züricher See, übernahm endlich 1807 die Pfarrei Kappel, wo er am 23. October 1811 starb. In seiner fragmentarischen Selbstbiographie schildert sich M. mit großer Offenheit als einen gutmüthigen, regsamen, von der Phantasie und seinen Launen beherrschten, nachlässigen und unruhigen Menschen, als einen hastigen Vielschreiber, dessen Thätigkeitstrieb weder Disciplin noch wissenschaftlichen Ernst kannte, der seinem feuilletonistischen Talente die Gründlichkeit jederzeit zum Opfer brachte, als einen Freund der schöngeistischen und der Frauenkreise, als einen unterhaltenden Gesellschafter, der sich in die gelehrten Regionen unfreiwillig verirrt hatte. „Da kam ich mir selber so vor als ein Anakreon oder sonst ein Epicuri de grege porcus, dem man wider Willen den Doctorhut aufgesetzt. Gelehrsamkeit nämlich war nie mein Zweck, höchstens für mich eine Abwechslung oder Erholung.“ Hiermit stimmte denn auch das Urtheil der Zeitgenossen. Schiller’s (nicht Goethe’s) Distichon: [263] „Deinen Namen les ich auf zwanzig Schriften, und dennoch Ist es Dein Name nur Freund, den man in allen vermißt“ hat über M. nur die Wahrheit gesagt. Meister’s Nachlaß enthält eine Anzahl Briefe aus der Feder berühmter Personen; sie befinden sich auf der Zürcher Stadtbibliothek und (zum kleinsten Theile) in dem Archiv der Familie Reinhart-Sulzer in Winterthur. – Werke: „Romantische Briefe“, 1769; „Von der Mode“, 1769; „Das Schweizer Journal“, 1770; „Rede bei Eröffnung der zürcherischen Kunstschule“, 1773; „Ueber die Schwermerei“, 1775 (die Autobiographie bemerkt, diese Schrift sei besonders gegen die in Bündten grassirende Zinzendorf’sche Secte gerichtet); „Ueber die Einbildungskraft“, 1775; „Sittenlehre der Liebe und Ehe“, 1779; „Kleine Schriften“, 1781; „Berühmte Züricher“, 2 Thle., 1782; „Kleine Reisen durch einige Schweizer Kantone“, 1782; „Helvetiens berühmte Männer“, 3 Bde., 1782–1793 (fortgesetzt von Bernet 1833); „Fliegende Blätter, historischen und politischen Inhalts“, 1783; „Kaiser Rudolph von Habsburg“. 1783; „Ueber Bodmern, nebst Fragmenten aus seinen Briefen“, 1783; „Hauptscenen der helvetischen Geschichte“, 2 Thle., 1784; „Helvetische Scenen der neueren Schwärmerei und Intoleranz“, 1785; „Charakteristik deutscher Dichter“, 2 Bde., 1785, 1787; „Helvetische Galerie großer Männer und Thaten für die vaterländische Jugend“, 1786; „Geschichte von Zürich bis zu Ende des 16. Jahrhunderts“, 1786; „Abriß des eidgenössischen Staatsrechtes“, 1786; „Grundlinien der holländischen Geschichte“, 1787; „Hauptumriß der älteren Völkergeschichte, nebst Einleitung in die schönen Künste und Literatur“, 1787; „Geschichte der römischen Hierarchie und ihrer heiligen Kriege bis zur Vertilgung der Tempelherrn“, 1788; „Kurze Geschichte des französischen Neichstages bis zur Bürgerbewaffnung nebst Necker’s Vortrage“, 1789; „Schweizerische Spaziergänge“, 1789; „Neue schweizerische Spaziergänge“, 1790; „Vermischte historische Unterhaltungen über Europens Umbildung während der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, 1790; „Theokratische Sittengemälde aus dem Heiligthume morgenländischer Vorwelt“, 1791; „Monatsschrift für Helvetiens Töchter“, Zürich 1793; „Briefe an Freundinnen“, 1794; „Historisch-geographisch-statistisches Lexikon von der Schweiz“, 2 Bde., 1796; „Der Philosoph für den Spiegeltisch“, 1796; „Lehrmeister über die Verfassung des untheilbaren, helvetischen Freistaates“, 1798; „Ueber den Gang der politischen Bewegungen in der Schweiz“, 1798; „Helvetische Revolutionsgeschichte seit 1789“, 1798 (fortgesetzt 1800); „Helvetische Geschichte von Cäsar bis Bonaparte“, 4 Bde., 1801–1809; „Helvetische Blätter“, 1802; „Erzählungen des Greisen am Kamine“, 1805; „Geschichte des Menschen nach Körper und Seele“, 1805; „Launigte Phantasien“, 1805; „Meisteriana“, 1811; Autobiographie im schweizerischen Muscum“, Aarau 1816.

Conspectus Ministerii Turicensis. Mscpt. der zürch. Stadtbibliothek. – Autobiographische Fragmente (–1805) im schweizerischen Museum, Aarau 1816, S. 535 u. 823. – Meister’s Nachlaß auf der Stadtbibl. Zürich. – Briefe Bodmer’s an Meister in Küßnacht (zum Theil gedruckt in Stadlin’s Pestalozzi, 1. Bd.). – Markus Lutz, Nekrolog denkwürdiger Schweizer, Aarau 1812.