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Artikel „Müllner, Adolf“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 149–157, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCllner,_Adolph&oldid=- (Version vom 26. Oktober 2024, 05:49 Uhr UTC)
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Müllner *): Amandus Gottfried Adolf M. ist eine eigenthümliche, nicht sowol ästhetisch als historisch interessante Erscheinung in unserer Litteratur, weniger bedeutend durch das, was er war und leistete, als durch das, was die Zeitverhältnisse und Zeitgenossen und schließlich er selbst daraus machten. Er wurde am 18. October 1774 zu Langendorf bei Weißenfels in Sachsen geboren. Seine Mutter, Bürger’s Lieblingsschwester Friederike Philippine Louise (1751–1799), lebhaft, offen, energisch und von natürlichem Verstand, aber auch derb, ja mitunter roh, klatschsüchtig, ohne Zartgefühl und Tact, hatte sich 1773 in zweiter Ehe mit dem phlegmatisch-gutmüthigen und geistig beschränkten Amtsprocurator und Pächter des kurfürstlichen Kammergutes in Langendorf, Heinrich Adolf M. († 1803) verheirathet. M. war das einzige Kind dieser Ehe; ein fünf Jahre älterer Stiefbruder starb nach vielen schlimmen Streichen 1796 als Candidat der Theologie. M. wurde wenige Tage nach seiner Geburt der Großmutter in [150] Weißenfels zur Pflege übergeben; erst nach ihrem Tode (1787) kehrte er ins Elternhaus zurück. Nachdem er anfänglich durch einen Hauslehrer, dann in der Weißenfelser Stadtschule den nöthigen Vorbereitungsunterricht erhalten hatte, wurde er am 6. October 1788 in die Schule zu Pforta aufgenommen. Die ersten paar Monate verbrachte er dort gemeinsam mit seinem Stiefbruder, der sie seit 1783 (bis zum Februar 1789) besuchte. Sein Beispiel wirkte in mancher Hinsicht verderblich auf Müllner’s Sitten. Die Mutter durfte mit Grund über seine Fühllosigkeit, seinen Mangel an Herzensgüte, auch über seinen Hang Schulden zu machen klagen. Doch erwachte in ihm ein lebhafter Ehrgeiz, und seine natürliche Begabung ermöglichte es ihm, ohne großen Privatfleiß sich rasch allerlei tüchtige Kenntnisse zu erwerben. Wahren Eifer zeigte er nur im Studium der Mathematik, besonders der Algebra (später auch der Astronomie). Auch wurde sein Sinn für Poesie, der sich schon im frühen Knabenalter durch seine Vorliebe für die Gedichte Bürger’s, Wieland’s und Schiller’s bekundet hatte, jetzt vielseitiger entwickelt: Virgil und Ovid wurden ihm Lieblingsautoren; er betheiligte sich an der Aufführung deutscher Dramen in der Schule, übersetzte Horazische Oden in Reimen und ließ es auch sonst nicht an metrischen Spielereien fehlen. Am 30. October 1793 verließ er Schulpforta und widmete sich auf den Wunsch des Vaters an der Universität Leipzig der Rechtswissenschaft, während ihn seine eigene Neigung wol mehr zu dem Oheim nach Göttingen gezogen hätte. Er hörte criminalistische und philosophische Collegien, eignete sich das sonstige juristische Wissen durch Privatstudium an, besuchte zum Zeitvertreib Schauspiele und Concerte, empfing aber auch tiefere Eindrücke von Shakespeare’s Dramen und schloß mit der etwa 17 Jahre älteren, hochgebildeten Frau des Juristen Dr. Kaulfuß einen innigen Freundschaftsbund, der seine Geistes- und Gemüthsentwicklung bedeutsam förderte und bis an seinen Tod ungelockert fortbestand. Neben kleineren poetischen Versuchen, die er nicht aufbewahrte, verfaßte er damals den zweibändigen, ursprünglich tragisch angelegten, dem Verleger und dem Publicum zu Liebe aber nachträglich heiter gewendeten Roman „Incest oder der Schutzgeist von Avignon“, den er etwas später (1799) als einen den criminalistischen Autor deutlich verrathenden „Beitrag zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Geistes und Herzens“ im Druck erscheinen ließ, aber niemals öffentlich als sein Werk anerkannte.

Nach gut bestandenem Examen kehrte M. zu Ostern 1797 zurück nach Weißenfels, wo seine Eltern jetzt in beschränkten Verhältnissen lebten, begab sich aber schon bald von da nach dem nahen Städtchen Delitzsch, um daselbst im kurfürstlichen Justizamt als Volontär (mit dem Titel eines Amtsviceactuars) zu arbeiten. Obwol sich hier die Aussichten für ihn nicht ungünstig gestalteten, folgte er dennoch nach Jahresfrist dem Rufe des vielbeschäftigten Rechtsanwaltes Vogel in Weißenfels, der ihn zunächst als Gehilfen annahm und ihm bald zu einer eigenen, einträglichen Advocatur verhalf. Nun konnte er, nachdem mit dem Tode der Mutter auch deren heftiger Widerspruch gegen dieses Bündniß verstummt war, 1802 seine Jugendgeliebte Amalie v. Lochau, die schöne, jedoch arme Tochter eines sächsischen Oificiers, heimführen. Weißenfels verließ er in der Folge nur noch, um dann und wann eine kleine Reise, meist in die nächsten Städte, zu unternehmen. Seine Gattin aber, gleich ihm lebhaften und heftigen Temperamentes, doch nüchtern und ohne jeglichen Sinn für Kunst und Poesie, wußte ihm nicht das Glück zu bereiten, das er von der Ehe gehofft hatte; je älter er wurde, desto fremder fühlte er sich im eignen Hause.

Die nächsten Jahre jedoch lebte M. in thätiger Stille ausschließlich seiner Familie, seinem Amte und den juristischen Studien. Die schöne Litteratur war so gut wie vergessen. Nur im Stile seiner rechtswissenschaftlichen Schriften verrieth [151] sich seine poetische Bildung. Mehr im humoristisch-satirischen als im gelehrten Tone veröffentlichte er 1804 unter dem Namen Modestinus „Sechzig Gedanken über den Entwurf einer neuen Gerichtsordnung für Kursachsen“, ein Unterfangen, das fast zu seinem Schaden ausgeschlagen wäre; doch ging er aus der deshalb eingeleiteten Untersuchung nicht nur straflos hervor, sondern auch sein Name wurde dadurch den Berufsgenossen allgemein bekannt und empfohlen. 1805 holte er sich in Wittenberg den juristischen Doctortitel und ließ in diesem wie in den folgenden Jahren mehrere Schriften oder Aufsätze über Fragen des Juatizwesens theils selbständig, theils in juristischen Journalen drucken. Auch recensirte er seit 1807 in der Leipziger Litteraturzeitung sowohl zahlreiche Werke über philosophisches Recht als auch Schriften mit praktischer Tendenz, weil er es für das Ziel aller Wissenschaften hielt, „Speculation und Praxis einander zu nähern, Idee und That untereinander zu verständigen“. Seine 1808 bereits abgefaßte, doch erst 1812 erschienene „Allgemeine Elementarlehre der richterlichen Entscheidungskunde“ (1819 mit neuer Vorrede noch einmal ausgegeben) schloß die Reihe dieser Publicationen. Wie schon seine erste juristische Schrift gegen den Mangel an philosophischem Geist in dem neuen Entwurf einer sächsischen Gerichtsordnung eiferte, so wurde auch dieses Buch veranlaßt durch das „Gefühl der geistlosen Handwerksmäßigkeit, womit er die Urtheilsfabrication betrieben sah“; auf speculativem Wege wollte er darin „die sogenannte Decretirkunst zu einer streng wissenschaftlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit von aller positiven Proceßform erheben“; er selbst betrachtete diese „Elementarlehre“ als eine überall praktischen Zielen zustrebende Rechtsphilosophie des Processes. Dem Werke fehlte der Beifall der Kritiker nicht; aber erst spät, nachdem M. sich längst auf anderem Gebiete einen Namen erworben, ließ sich ein buchhändlerisch befriedigender Absatz davon erzielen.

Die wiederholten Durchmärsche und Einquartierungen französischer Truppen in Weißenfels seit 1806 hatten ihn nämlich veranlaßt, sich mit allem Eifer auf das Studium der französischen Sprache und Litteratur, die er bis dahin nur dürftig kannte, zu werfen. Seine Neigung wandte sich hier mit einer fast einseitigen Bestimmtheit der dramatischen Litteratur zu; auch der Eindruck, den das Leipziger Gastspiel der Frau Bethmann im Sommer 1806 auf ihn machte, mag dabei nachgewirkt haben. Zumeist zog ihn Voltaire an als der Dichter, welcher von dem Conventionellen der französischen Poesie noch am stärksten abweiche. Seine „Mérope“ übersetzte M. 1809 nicht übel in reimlose deutsche Jamben, ohne jedoch den modern-höfischen, wider Natur und Costüm verstoßenden Ton des Originals zu verändern. Auf den Bühnen versperrte die ältere Verdeutschung des Stückes durch Gotter dem neuen Versuche den Eingang. M. aber bearbeitete gleichfalls noch 1809 eine kecke französische Anekdote (aus Andrieux’ „Contes et opuscules“) als einactiges Lustspiel „Der angolische Kater oder die Königin von Golkonda“. Und als er in demselben Sommer die weimarische Truppe zu Lauchstädt spielen sah, faßte er den Plan, das Weißenfelser Liebhabertheater, das seit einigen Jahren eingegangen war, wiederherzustellen; schon im Februar 1810 konnte er es mit Goethe’s „Mitschuldigen“ und seinem neuen Lustspiel eröffnen. Er widmete dem Unternehmen die kräftigste Theilnahme. In seinen Händen ruhte die ganze Direction; er besorgte die Regie, leitete die Proben, spielte regelmäßig selbst eine der wichtigsten Rollen, verfaßte einen großen Theil der aufzuführenden Stücke. Fast durchgängig auf Grund französischer Dramen dichtete er rasch hintereinander in den nächsten vier Jahren noch weitere sechs Lustspiele, denen sich 1815 und 1817 zwei Fragmente „Die Lieb’ im Kriege“ und „Der Reiter“ anschlossen. Aber die Wirkung dieser Komödien blieb nicht auf die Weißenfelser Privatbühne beschränkt, seitdem eine von [152] ihnen, „Die Vertrauten“ in zwei Acten, durch Vermittlung eines Schulfreundes Müllner’s im Wiener Burgtheater am 9. März 1812 zur Aufführung gelangt war und rauschenden Beifall geerntet hatte. Bald folgten ihr die übrigen fünf Lustspiele auf der Wiener, Berliner, Weimarer oder Prager Bühne nach und nahmen von da ihren Siegeslauf durch ganz Deutschland. Dieser Erfolg war nicht unverdient. Sämmtliche Stücke waren scenisch gedacht und geschickt auf den Bühneneffect berechnet, überhaupt vortrefflich in technischer Hinsicht, erforderten dabei wenige Personen und die einfachsten Requisiten und hatten überdies wegen ihrer Kürze nur auf den bescheidenen Platz eines Vor- oder Nachspiels Anspruch. Eine klar übersichtliche Handlung, eine natürliche und lebhafte Entwicklung waren regelmäßige Vorzüge, der Mangel an geistigem und seelischem Gehalt wie überhaupt an inneren, psychologisch bedeutenden Motiven regelmäßige Schwächen dieser mitunter an die Posse streifenden Intriguenspiele, deren Form jedoch wieder durch den ständigen Gebrauch gereimter, ziemlich frei, aber meist glücklich gebauter Verse geadelt wurde. Ueber der wirksamen Situationskomik und dem witzigen Dialog vergaß man das schablonenhafte Einerlei der Motive und Charaktere; kleine Unwahrscheinlichkeiten und selbst galante Zweideutigkeiten verletzten das Publicum nicht sonderlich, das im „Angolischen Kater“ von beiden derbe Proben hatte hinnehmen müssen. Wie der Inhalt und die Technik dieser Stücke auf französische Vorbilder, so weist die Charakteristik vielfach auf die ältere sächsische Komödie zurück; auffallend tritt ihre nahe Verwandtschaft mit den gleichzeitigen Lustspielen des jungen Körner hervor. Bei den besten von ihnen (den „Vertrauten“ und dem „Blitz“) herrscht tendenzlos die reine Komik; die Mißachtung der Standesunterschiede durch die Liebe stellen „Die Zurückkunft aus Surinam“ und kräftiger „Die großen Kinder“ dar; ein ganz modernes, ernsteres Sujet, die Bekehrung eines leichtsinnigen Lebemannes zu tiefer und dauernder Liebe ist das Thema der „Zweiflerin“; in der „Onkelei“ endlich spottet der Verfasser humoristisch über ein von ihm selbst aus dem französischen Lustspiel entlehntes und mit großer Vorliebe immer wieder angewendetes Grundmotiv der komischen Verwicklung.

Durch die ersten Erfolge dieser Stücke ermuntert und durch Zacharias Werner’s „24. Februar“, den er 1812 am entsprechenden Tag auf der Weißenfelser Liebhaberbühne aufgeführt hatte, zu eigner Production mächtig angeregt, wandte sich M. im Mai 1812 zur tragischen Poesie und dichtete in wenigen Tagen das einactige Trauerspiel „Der 29. Februar“, in allem und jedem eine äußerliche Nachahmung des Werner’schen Schicksalsdrama’s, durchaus das krasse Product des nüchtern berechnenden und spitzfindig erkünstelnden Verstandes voll greller, das Original oft noch übertreibender Theatereffecte, aber ohne innere poetische Wahrheit und Nothwendigkeit. Im „24. Februar“ fand M. die Grundzüge seiner Charaktere, gewisse Hauptmotive der Handlung, das düstere Colorit sowie den ganzen fatalistischen Apparat; aber Werner’s Stück war nur seine ergiebigste, nicht seine einzige Quelle. Aus dem Leben seines Oheims Bürger entnahm er die Voraussetzungen der tragischen Fabel; am „Oedipus rex“ lernte er, wie die Enthüllung und Bestrafung eines in der Vergangenheit liegenden geheimnißvollen Verbrechens zum Hauptgegenstande der dramatischen Handlung zu gestalten war – auch sein folgendes Trauerspiel wies dieses dem Criminalisten geläufige Grundmotiv auf –; von Calderon borgte er den Trochäus, den Werner nur vereinzelt angewendet hatte; an Schiller’s Aufsatz „Vom Erhabenen“ knüpfte er unmittelbar seine Ansicht von dem Zwecke der Schicksalsdichtung an, die unsichtbaren Fäden, durch welche das Erdenleben mit einer höhern Weltordnung zusammenhängt, dem inneren Sinn sichtbar werden zu lassen und so das Ahnen jener Weltordnung zur lebendigen Empfindung zu steigern: aus diesem fühlbaren [153] Walten einer überirdischen, durch geistige Größe und strengste Gesetzmäßigkeit imponirenden Macht über der Handlung des Stückes folge mehr der Eindruck des Erhabenen als der des Erhebenden. Dabei forderte er als unerläßliche Bedingung für die volle Wirkung, daß die fatalistischen Vorstellungen mit der modernen Glaubenslehre, mit den christlichen Ideen in Einklang gebracht seien. Ihm selbst wurde das nicht schwer, da er ohne Scheu willkürliche, jedes logischen oder organischen Zusammenhanges baare Vorgänge und Situationen nur äußerlich miteinander verband; so äußerlich, daß er, als man in Wien und in Berlin sich weigerte, Blutschande und Kindesmord auf die Bühne zu bringen, sich schnell entschloß, diese beiden Grundmotive des Dramas hinwegzuräumen und ihm sogar eine innerlich unmögliche heitere Schlußscene anzuflicken. In dieser Gestalt erzielte das Stück (nun unter dem Titel „Der Wahn“) 1815 in Wien und 1816 in Berlin guten Erfolg, nachdem es bereits 1812 in seiner ursprünglichen Form das Leipziger Theaterpublicum zu reichlichen Thränen gerührt hatte. Aber auch Gegenstücke und Parodien stellten sich bald ein.

Dem „29. Februar“ ließ M., von Iffland zu einem großen, mehractigen Trauerspiel aufgefordert, schon im October 1812 „Die Schuld“ in vier Aufzügen folgen. Die frei erfundene, aber im einzelnen viele aus älteren Dramen (besonders der „Braut von Messina“, dem „24. Februar“ und dem „29. Februar“) entlehnende Fabel sollte dazu dienen, den Satz des Seneca, dem M. in einer Schrift Eduard Henke’s über die Strafrechtstheorie begegnet war, zu erläutern, daß für gewisse Verbrecher der Tod eine Rettung sei. Nur fehlte es seiner Darstellung auch hier wieder an dem ergreifenden Ausdruck der Wahrheit und an jener inneren logischen Consequenz, die uns den freiwilligen Tod als einzige und nothwendige Sühne des Frevels erscheinen läßt. Indem er die überkommenen tragischen Motive abschwächte (der Mörder ahnt nicht, daß er seinen Bruder tödtet), wälzte er einen guten Theil der Schuld von dem Verbrecher ab und lud ihn dem unentrinnbaren Schicksal auf. Dazu bediente er sich denn auch wieder des ganzen, schon im vorigen Stücke verwendeten fatalistischen Apparats. Daß er sich hinterher als Dichter von dem Schicksalsglauben seiner Personen lossagte, änderte an der Sache nichts, bewies aber nur, daß er sein Werk keinswegs, aus innerer Herzensüberzeugung und Empfindung im Dienst einer großen Idee geschaffen, sondern ohne inneren Antheil nur mit dem kalten Verstande ausgeklügelt hatte. Wenn gleichwol „Die Schuld“ sich alle größeren Bühnen Deutschlands im Sturm eroberte und über ein Jahrzehnt beherrschte (1813 zu Wien, 1814 zu Weimar, Berlin, Stuttgart etc. aufgeführt), so täuschten wieder die technischen Vorzüge oft über die eigentlichen poetischen Mängel hinweg. Vornehmlich wußte M. hier durch die bange, beklemmende Stimmung zu wirken, welche über dem ganzen Werke schwebt und von Anfang an so mächtig den Leser oder Zuschauer ergreift, daß er bis zum Schlusse auch wider Willen unter dem Banne des ersten, schauerlichen Eindrucks bleibt. Nicht minder fesselt das charakteristische, lebhafte, bilderreiche, oft epigrammatisch pointirte Pathos der Sprache; obwol nicht immer frei von phantastischem Schwulst und rhetorischen Hyperbeln, zog es doch vielleicht mit zumeist das Interesse eines Goethe und Matthisson an, welche in der Schicksalstragödie eine Schutzwehr gegen die unsittliche und unpoetische Theatermache Kotzebue’s und seiner Genossen erblickten.

Im Verkehr mit Iffland hatte M. auch den Gedanken eines historischen Trauerspiels aufgefangen, das als Seitenstück zu Schiller’s „Wallenstein“ den Tod Gustav Adolfs darstellen sollte. Allein wie viel Verlockendes auch der Stoff gerade für einen Weißenfelser Dramatiker haben mußte, M. legte ihn bald wieder zurück, sei es daß ihn die dazu erforderlichen historischen Studien abschreckten, oder daß ihn nur die allgemeine Einsicht leitete, wie das Geschichtliche die [154] schwache Seite seiner Poetik war. Aber unmittelbar, nachdem der Waffenlärm der Freiheitskriege verrauscht war, der auch ihn mehrmals aus dem Amts- und Arbeitszimmer hinaus in die Nähe der sächsischen Schlachtfelder getrieben hatte, entwarf er (1815) eine Tragödie, in welcher er selbst einen „täuschenden Hohlspiegel“ der jüngsten heroisch-tragischen Zeitepoche aufzustellen glaubte. Er lieh seiner Hauptfigur äußere, zufällige Züge des von ihm überaus bewunderten Napoleon und machte den Kampf zwischen Heldenthum und Königthum, den er soeben selbst erlebt hatte, zum Thema seines Werkes. Aber um seine Einbildungskraft von „Geographie und Geschichte, Kirche, Staatskunst und Censur“ nicht allzusehr in die Enge treiben zu lassen, verlegte er die Fabel seines „König Yngurd“ in eine völlig unbekannte Vorzeit der nordischen Reiche, etwa ein Jahrtausend vor der christlichen Aera, wo er unbekümmert um alle historischen Verhältnisse die Handlung seines Stückes nach freiem Belieben erdichten konnte. Im Einzelnen ließ er sich dabei freilich grobe Anachronismen zu Schulden kommen. Aus Elementen, die er theils dem Shakespeare’schen Drama (besonders dem „Macbeth“ und „König Johann“), theils der Schicksalstragödie entlehnte, verfertigte er so ein unklares, zweckloses Trauerspiel in gereimten Jamben, das sich von seinen früheren Stücken sehr unvortheilhaft durch breite Anlage, langsame Entwicklung, unpassende, weil wenig charakteristische Rhetorik, überhaupt durch eine dem Autor bisher fremde Gleichgültigkeit gegen die Forderungen der Bühne unterschied. Die Armuth an Ideen bei einem störenden Ueberfluß an Reflexion und die Schwäche oder der Mangel an Originalität in der Zeichnung einzelner Charaktere war hier nicht einmal durch technische Vorzüge des ganz episch gebauten Werkes verdeckt. Für die Aufführungen desselben, die erst durch Eßlair’s Gastspiele häufiger wurden, waren Kürzungen aller Art oder Vertheilung des Ganzen auf zwei Theaterabende nöthig, und wie ärgerlich sich M. auch in Briefen oder Vorreden seiner Dramen über diese nutzlose Anstrengung für die von ihm angeblich verachtete Bühne aussprach, so bereitwillig kam er doch allen Wünschen der Intendanzen entgegen und arbeitete noch 1825 den „Yngurd“ neuerdings für das Theater um. Die Berliner Aufführung, die er an Ort und Stelle selbst vorbereiten half, brachte ihm unter manchen sonstigen Ehren den Titel eines preußischen Hofraths ein (1817).

Durch die Bestimmungen des Wiener Congresses war Weißenfels 1815 an Preußen gefallen. M. wurde zwar alsbald als Justizcommissar in seinem Amte bestätigt und sogar ins Spruchcollegium nach Merseburg mit 900 Thalern Gehalt berufen; aber durch seine theatralischen Erfolge an glänzenderen Gewinn gewöhnt, lehnte er nicht nur diese Anstellung ab, sondern legte Ende 1815 überhaupt seine Advocatur nieder, um sich von nun an ganz der Schriftstellerei zu widmen. Langsam arbeitete er (1817–1819) ein neues, bühnengemäßeres Trauerspiel in fünf Acten aus, „Die Albaneserin“, sein modernstes, aber am wenigsten charakteristisches Stück, nach der Anlage der Fabel wieder eine Schicksalstragödie, doch ohne den äußerlichen Apparat derselben und mit einer oft bedenklichen Abschwächung der fatalistischen Hauptmotive. Dagegen strebte er hier mehr als je zuvor, die Charaktere psychologisch zu vertiefen und aus ihrem Innern die Handlung herzuleiten, ohne freilich dabei das willkürliche Walten des Zufalls irgendwie zu beschränken. Shakespeare und Schiller hatten wieder bedeutenden Einfluß auf die Erdichtung der Fabel wie auf den Gang der Handlung und den (meist rhetorisch schwülstigen) Ausdruck der Empfindungen; das Thema der „Braut von Messina“ und der „Schuld“, Brudermord aus Bruderhaß, war hier mit künstlichem Raffinement nüancirt in Brudermord aus Bruderliebe. Nicht minder wirkten Houwald’s erste Trauerspiele, vom Verfasser theilweise als Manuscript an M. gesandt, auf Form und Inhalt der „Albaneserin“ ein. Der [155] Dichter gab vor, er habe das Werk ursprünglich der Bühne vorenthalten wollen; da ihm aber König Friedrich Wilhelm III. zu Anfang des Jahres 1819 auf Ansuchen des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg ein beträchtliches Geldgeschenk übermachte mit dem Wunsche, M. möge seine künftigen Dramen zuerst dem Berliner Theater anbieten, so versandte er die Handschrift alsbald an die Berliner sowie an die übrigen deutschen Bühnen. Hier errang das Stück zwar nicht überall, doch an den meisten Orten einen nachhaltigen Erfolg; von einem Weimarer Kunstfreund erntete M. gar das Lob, er sei „der psychologische Tragiker κατ¨ ἑξοχήν“. Gleichwol blieb „Die Albaneserin“ sein letztes Trauerspiel. Sein Weißenfelser Liebhabertheater war 1818 eingegangen, hauptsächlich in Folge seiner tyrannischen Leitung: damit hörte für ihn der Impuls zur dramatischen Thätigkeit auf; denn die Vorschläge mehrerer Freunde, die ihm eine Stelle in der Direction der Wiener oder Berliner Bühne verschaffen wollten, hatte er mit dem Hinweis auf seine mangelnde Befähigung für ein solches Amt rund abgelehnt. Dagegen eröffnete ihm nunmehr der freigebigste seiner bisherigen Verleger, Baron Cotta, indem er ihm die Redaction des kritischen Theiles in dem mit dem „Morgenblatte“ verbundenen „Litteraturblatt“ anbot, die Aussicht auf einen größeren und sichreren litterarischen Erwerb.

Schon in den vorausgehenden Jahren hatte M. nicht nur einen „Almanach für Privatbühnen“ (1817–1819) und mehrere Auflagen seiner bald einzeln gedruckten, bald gesammelten Dramen herausgegeben, sondern auch zu den verschiedensten Zeitschriften Beiträge geliefert, meist Proben aus seinen Tragödien, bevor sie vollständig im Druck erschienen, Angaben für Bühnenbearbeitungen derselben, novellistische Erzählungen ihres Inhaltes („Hugo und Elvire“, 1817), lobende Selbstkritiken und bissige Repliken auf weniger günstige Recensionen. Als Redacteur des Cotta’schen „Litteraturblattes“ (1820–1825), an dem die berufensten Autoren mitarbeiteten, setzte er diese kritische Thätigkeit fort, anfangs mit Ernst und Maß und nicht ohne sachliches Verdienst. Allmählich aber raubte ihm die Sucht zu witzeln und seine zänkische Parteilichkeit mehr und mehr die dem Kritiker nöthige Ruhe und Würde. Schon seine Glossen, mit denen er die Aufsätze der Mitarbeiter beständig begleitete, verursachten manchen Verdruß. Schlimmere Differenzen erwuchsen aus der Einmischung des Verlegers in die Rechte des Redacteurs einerseits und aus Müllner’s Heftigkeit und Eitelkeit andrerseits; sie führten endlich zum Bruch zwischen beiden.

Außerdem verlegte Cotta 1822 Müllner’s ursprünglich für die Weißenfelser Dilettanten abgefaßtes Taschenbüchlein für Schauspielerinnen unter dem Titel „Vers und Reim auf der Bühne“ und 1824–1826 zwei Bände seiner „Vermischten Schriften“. Neben herzlich unbedeutenden lyrischen Gedichten (am erträglichsten sind noch einige Epigramme), der Uebersetzung der „Mérope“ und zwei Lustspielfragmenten bildeten fast ausschließlich dramaturgische Aufsätze, die zum Theil früher einzeln erschienen waren, den Inhalt. Sie bekundeten alle (namentlich die Artikel des „Theaterlexikons“) viel praktische Kenntniß der Bühne, richtige Einsicht in die Kunst des Spiels und des Vortrags und das löbliche, oft aber in fade Witzelei ausartende Bestreben, schwierigere Begriffe den Lesern und Leserinnen durch Bilder und Gleichnisse deutlich zu machen. Reich an guten Einfällen, ließen sie doch eine selbständigere, tiefere Auffassung der dramatischen Kunst und ein wahres, freies Verständniß ihrer geschichtlichen Entwicklung vermissen; so sah M. z. B. oberflächlich genug in der Oper nur ein „Rührei von Kunst und Unsinn“. An Schiller’s Aufsätze über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst und über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen knüpfte er seinen Briefwechsel mit Methusalem Müller (schon 1818 entstanden) über den Unterschied zwischen moralischer und ästhetischer Schätzung [156] tragischer Handlungen und Charaktere an, anerkennenswerth in der Tendenz, aber ohne eigne Gedanken, unendlich breit und reich an abschwächenden Wiederholungen. Gehalt- und lehrreicher waren die Theaterkritiken, zu denen ihn das Leipziger Gastspiel des Wolffischen Ehepaars (1818) und der großen Sophie Schröder (1819) veranlaßt hatte, während eine Recension von Grillparzer’s „Ahnfrau“, so viel Richtiges sie auch vorbrachte, doch etwas einseitig den Standpunkt christlicher Moral vertrat. (Auch mehrere der folgenden Tragödien Grillparzer’s besprach M. im „Litteraturblatt“.) Unter den nicht dramaturgischen Aufsätzen der „Vermischten Schriften“ (großentheils autobiographischen Charakters) ragte noch am ersten die kleine Novelle „Die Mondfinsterniß bei Tage“ hervor, anmuthig und einfach aufgebaut, allerdings stellenweise durch einen erzwungenen und eintönigen Humor geschädigt.

Müllner’s Arbeiten für den Cotta’schen Verlag hinderten ihn jedoch keineswegs, gleichzeitig auch sonst für allerlei Zeitschriften thätig zu sein, ja 1823 noch ein eignes kritisches Wochenblatt, „redigirt und glossirt von Kotzebue’s Schatten“, unter dem Titel „Hekate“ zu begründen, das ihm bei denkbar wenig Mühe außerordentlichen Gewinn, seinem Leipziger Verleger aber ebenso großen Nachtheil brachte, so daß es, ohne eine litterarische Bedeutung erlangt zu haben, nach Jahresfrist eingehen mußte. Als Nachfolger Kotzebue’s, mit dem er seit 1816 in persönlich freundlichem Verkehr gestanden war, hatte sich M. schon kurz zuvor aufgespielt, indem er 1820–1822 in mehreren Journalen „Kotzebue’s Litteraturbriefe aus der Unterwelt“ veröffentlichte, die er 1826 gesammelt zu Braunschweig bei Friedrich Vieweg erscheinen ließ. Es waren großentheils negative, mitunter bissige, auch oft parteiische Kritiken der jüngsten litterarischen Erzeugnisse Deutschlands, im ganzen zu breit gehalten, aber stellenweise durch scharfen Witz trefflich gewürzt.

In Vieweg’s Verlage gab M. denn auch, nachdem er von der Redaction des Cotta’schen „Litteraturblattes“ zurückgetreten war, seit dem Anfang des Jahres 1826 das „Mitternachtblatt für gebildete Stände“ und 1828 eine vollständige Sammlung seiner dramatischen Werke in sieben Theilen heraus; aber noch bevor die letzteren die Presse verließen, hatten ihn Zerwürfnisse schlimmster Art auch mit diesem Buchhändler entzweit, und so kam sein Wochenblatt von 1828 an zu Wolfenbüttel bei Niedmann heraus, der es auch nach Müllner’s Tode (jetzt als „Mitternachtszeitung“) bis 1839 fortsetzte. M. hatte alle hervorragenderen Autoren Deutschlands zur Theilnahme aufgefordert und konnte so in dem ersten Jahrgang Beiträge von den beliebtesten Schriftstellern seiner Zeit mittheilen, von Fouqué, Raupach, Clauren, Rellstab, Wilhelm Müller, Houwald, Kind, Castelli, Krug v. Nidda u. a. Er selbst war besonders als Kritiker in seiner bisherigen bedenklichen Weise thätig; daneben lieferte er Theaterberichte, Auszüge aus fremden Werken, auch lyrische Gedichte. Größere Novellen, geschichtliche Aufsätze, namentlich auch litterar-historische Essays, die sich gern mit Goethe beschäftigten, wechselten mit kleinen Sinngedichten, matten Anekdoten, Räthseln und Streckcharaden. Der Gehalt und Werth des vielgelesenen Blattes nahm bald auffällig ab, während sein Umfang schon 1827 von den anfänglichen drei Nummern wöchentlich auf vier anwuchs. Die bedeutendste Arbeit, die M. im „Mitternachtblatt“ (Januar 1828) veröffentlichte, war die 1829 als erster (einziger) Theil der „Novellen“ besonders abgedruckte Criminalgeschichte „Der Kaliber“. Er behandelte darin sein altes Thema vom Brudermord aus Liebe zu demselben Weib in epischer Weise, schwächte aber das tragische Problem ab, indem er im Bruder des Gemordeten nicht den wirklichen, sondern nur den vermeintlichen, schließlich als unschuldig erkannten Verbrecher darstellte. Der juristische [157] Verfasser konnte dabei zugleich ein breites Gemälde von der heillosen Leichtfertigkeit des alten schriftlichen Criminalprocesses entwerfen.

Als achten Theil seiner dramatischen Werke ließ M. gleichfalls 1828 erscheinen „Meine Lämmer und ihre Hirten, historisches Drama in vier Handlungen“, seine letzte unerquicklichste Schrift, in der er weitläufig und gehässig seine persönlichen, selten lange erfreulichen, dem Publicum übrigens höchst gleichgültigen Erfahrungen mit seinen verschiednen Verlegern schilderte, um auf diesem unsichern Grunde seine nicht unpraktischen, aber oft noch sehr allgemeinen und unbestimmten Ansichten über litterarisches Originareigenthum und über den höheren Buchhandel zu entwickeln. Selbst seine Freunde vermochten ihr Mißfallen über diese und ähnliche Früchte würdeloser Polemik nicht zu unterdrücken; seine Feinde spotteten laut über den „Dey von Weißenfels“, der sich als „Apollo der Leukopeträer“ fühle. Müllner’s litterarische Stellung war durch seine eigne Schuld bereits gefährlich erschüttert, als er am 11. Juni 1829 an den Folgen eines Schlagflusses zu Weißenfels starb. Nach seinem Tode schwand sein Ruhm fast noch schneller dahin, als er einst entstanden war. Bald verurtheilte die Kritik einstimmig den vorher maßlos Ueberschätzten und das Publicum hätte selbst den Dichter der „Schuld“ nach wenig Jahren völlig vergessen, wenn seinen Namen nicht Platen’s Satire in der „Verhängnißvollen Gabel“ (1826) dem Gedächtnisse der Leser neuerdings eingeprägt hätte. –

Müllner’s Leben, Charakter und Geist, dargestellt vom Professor Dr. Schütz zu Leipzig. Meißen 1830. (Das weitschweifige, unschöne, pietätlose und doch bisweilen überschätzende, aber stofflich reiche Werk eines der nächsten Freunde Müllner’s.) – Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, III, 363–374. – Dr. Höhne, Zur Biographie und Charakteristik Adolf Müllner’s. Programm des städtischen Gymnasiums zu Wohlau, 1875. (Auf Grund des handschriftlich erhaltenen Briefwechsels Müllner’s.) – Jacob Minor, Die Schicksalstragödie in ihren Hauptvertretern. Frankfurt a. M. 1883, S. 100–154.

[149] *) Zu Bd. XXII S. 704.