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Artikel „Lebert, Sigmund“ von Karl von Stockmayer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 605–608, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lebert,_Sigmund&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 19:11 Uhr UTC)
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Lebert: Sigmund L., Clavierpädagog, 1821–1884. Sigmund Levi, genannt Lebert, ist geboren zu Ludwigsburg am 12. December 1821. Die in sehr dürftigen Verhältnissen lebenden Eltern vermochten dem Knaben nicht mehr als die gewöhnlichste Schulbildung zukommen zu lassen. Schon mit 13 Jahren mußte er lernen auf eigenen Füßen zu stehen. Er wandte sich nach Stuttgart, wo der Hofmusikdirector Abenheim sich des musikbegabten Knaben annahm und ihn im Clavierspiel und in der Harmonielehre unterwies. Die Ausbildung seiner schönen Singstimme wurde einem erprobten Gesangslehrer anvertraut, dessen gewissenhafter Unterricht den Erfolg hatte, daß L. die Rolle eines der drei Knaben in Mozart’s Zauberflöte auf dem Hoftheater übernehmen durfte. Abenheim bewies sein Interesse für den strebsamen Schüler besonders dadurch, daß er ihm eine Geldunterstützung von der israelitischen Oberkirchenbehörde auswirkte. So wurde es dem sechzehnjährigen Knaben ermöglicht, sich zu weiterer Ausbildung an das Conservatorium nach Prag zu begeben. Dort genoß er den Unterricht des ausgezeichneten Musiklehrers Tomaschek. Dabei verdiente er sich seinen Lebensunterhalt durch Clavierunterricht mit denkbar bescheidenstem Honorar. So stählte er früh schon im Kampf um Existenz und hohe Lebensziele seine ungewöhnliche Energie, die sein ganzes späteres Wirken im Dienst der Kunst ganz besonders charakterisirt. In der Hoffnung seine kümmerliche Lage zu verbessern, kehrte er gegen Ende der dreißiger Jahre nach Stuttgart zurück, wo sein um sieben Jahre [606] älterer Bruder Jakob Levi († 1883 als Professor am Stuttgarter Conservatorium) sich eine bescheidene Stellung als Hofmusiker und Clavierlehrer errungen hatte. Hier verlebte er die nächsten Jahre, treulich berathen und gefördert von seinem Bruder, als Clavierlehrer. Gleichzeitig vertiefte er seine theoretisch-musikalische Bildung als Schüler des Hofconcertmeisters Molique und erlangte durch seine mit eisernem Fleiß betriebenen technischen Clavierübungen eine gediegene Kenntniß von den Erfordernissen einer streng methodischen Schulung des Clavierspielers. Mit Eifer war er auch bestrebt, die Lücken seiner Schulbildung auf eigene Faust durch wissenschaftliche Studien auszufüllen. Etwa um die Mitte der vierziger Jahre nahm er für einige Zeit den Musiklehrerposten an einem Erziehungsinstitut in seiner Vaterstadt Ludwigsburg an. Die Vorbereitungsjahre für seine künftige Autorität auf musikpädagogischem Gebiet fanden ihren Abschluß durch einen mehrjährigen Aufenthalt (seit 1850) in München, wo sein Ansehen als ausgezeichneter Clavierlehrer sich mehr und mehr festigte. L. knüpfte werthvolle Beziehungen mit den damaligen musikalischen Größen Münchens an, unter denen ihm der um zehn Jahre jüngere Ludwig Stark ein besonders vertrauter Freund und unschätzbarer Mitarbeiter wurde. Lebert’s zielbewußte Energie, praktisches Talent und pädagogische Leistungsfähigkeit fand eine Ergänzung in Stark’s feinem künstlerischen Gefühle und componistischer Begabung. Der Plan eines groß angelegten Unterrichtswerks für das Clavier, gegründet auf gereifte fachmännische Erfahrung und mit musikalisch werthvollem Uebungsstoff ausgerüstet, wurde von den beiden Männern in jahrelanger nach ihren individuellen Gaben getheilter Arbeit allmählich verwirklicht und im J. 1858 erschien im Cotta’schen Verlag die große theoretisch-praktische Clavierschule von Lebert und Stark, die sich im Unterschied zu allen Studienwerken früherer Zeit die Aufgabe stellte, den Schüler durch alle Stufen vom ersten Anfang bis zur höchsten Ausbildung hindurchzuführen und zwar ohne die hergebrachten trockenen Fingerquälereien, was von den Zeitgenossen besonders als Fortschritt begrüßt wurde.

Lebert’s Thatkraft blieb bei diesem ersten Schritt nicht stehen. Neben der Veröffentlichung der Clavierschule hatte er sich das weitere Ziel gesetzt, die praktische Verwerthbarkeit seiner Theorie durch Gründung eines Unterrichtsinstituts zu erweisen. Er rief in Stuttgart die Musikschule ins Leben, deren Mitbegründer Faißt, Stark und Speidel zugleich deren hervorragendste Zierden in älterer Zeit wurden. Die von L. zur Mitarbeit herangezogenen bewährten Lehrkräfte (Singer, Cabisius, Brückner und Lindner kamen um weniges später noch hinzu), die von diesen gepflegte solide künstlerische Richtung, namentlich aber das unermüdliche, auf Verbesserung und Erweiterung der Anstalt gerichtete Streben des Begründers und Vorstands brachten diese rasch zu hoher Blüthe und sicherten ihr dauernd einen Platz unter den hervorragendsten deutschen Conservatorien. Es lag in der Eigenart des Lebert’schen Unterrichts, daß er als Resultat in erster Linie die tüchtige Ausbildung ungezählter Lehrkräfte für das Clavierspiel zeitigte, die ihrerseits wieder für die Verbreitung der Lebert’schen Methode in den weitesten Kreisen sorgten. Aber auch Künstler von bedeutendem Ruf rühmen sich des von ihm genossenen Unterrichts, der dann die solide Grundlage für die bei ersten Kunstgrößen abzuschließenden Studien bildete. So hat z. B. Liszt mehrere hochbegabte Schüler aus Lebert’s Händen übernommen und diesem wiederholt Dank und Anerkennung für die von ihm erzielten Resultate ausgesprochen.

Die Nachfrage nach der Clavierschule von Lebert und Stark war so groß, daß binnen vier Jahren die 2000 Exemplare der gar nicht billigen ersten Auflage vergriffen waren. 1862–1863 erschien die zweite Auflage, die, wie [607] überhaupt alle folgenden, aufs Gewissenhafteste mit Ergänzungen und Verbesserungen bereichert war. Eine sichere Empfehlung waren die zahlreichen Anerkennungsschreiben von den maßgebendsten Autoritäten, denen L. in den Jahren 1855–1857 sein Werk zur Begutachtung vorgelegt hatte und deren Zeugnisse in den beiden ersten Auflagen abgedruckt wurden. Die Mehrzahl dieser neugewonnenen Freunde sandte Originalbeiträge für den Schlußband. Es finden sich darunter Etuden von Franz und Ignaz Lachner, Moscheles, Ferdinand Hiller, Faißt u. A. In der zweiten Auflage kamen Beiträge von Liszt, Bülow und Rubinstein hinzu, in der dritten Auflage (1869), die um einen starken vierten Band vermehrt war, solche von Brahms, Saint-Saëns, Stephen Heller u. s. w. Als Anhang zur zweiten Auflage erschien das bekannte Werk von Weitzmann: „Geschichte des Clavierspiels und der Clavierliteratur“, das aber in seiner folgenden Auflage (1879) von der Clavierschule wieder losgetrennt wurde. Im Laufe der Jahre erschienen auch Uebersetzungen in französischer, italienischer, russischer, spanischer und englischer Sprache, letztere auch in zahlreichen nichtautorisirten Nachdrucken in Amerika. Eine von Max Pauer seit 1904 besorgte neueste Ausgabe (erschienen sind Bd. 1 in 23. Aufl., Bd. 2 in 24. Aufl.) trägt den Charakter einer eingehenden, den nach einem halben Jahrhundert vielfach gewandelten Auffassungen Rechnung tragenden Neubearbeitung. Auf diese Thatsache scheint Riemann’s Musiklexicon (6. Aufl. 1904, S. 750) die Behauptung zu stützen, daß das Werk zufolge der Pedanterie seiner Abfassung allmählich in der allgemeinen Werthschätzung zurückgegangen sei. Der discutable Vorwurf des Veraltetseins wird in Kunsttheorien bekanntlich von jeder neuen Richtung gegen eine ältere erhoben und ein Körnchen Wahrheit mag allerdings zum mindesten dabei mit unterlaufen. Hier aber genügt es, zum Beweis der Lebensfähigkeit der alten Methode darauf hinzuweisen, daß der Cotta’sche Verlag neben der verdienstlichen Pauer’schen Bearbeitung die Musikschule auch in ihrer traditionellen Gestalt weiter erscheinen läßt, um der Nachfrage eines conservativeren Publicums Rechnung zu tragen. Für letzteres dürfte die fachmännische Charakteristik Faißt’s, der selbst ein trefflicher Musikpädagog war, noch immer Geltung haben. Faißt faßte im J. 1884 sein Urtheil in einem langen, kunstvoll gebildeten Satz zusammen, der aus der Fülle einst competenter Zeugnisse hervorgehoben sein möge: „Die eigentümlichen Ideen, welche in dem Werke ihren Aussdruck erhielten, waren, neben einem genau methodischen, stufenmäßigen und das Bedürfnis der Übung bis zur höchsten Stufe möglichst erschöpfenden Aufbau des Lehrsystems, hauptsächlich die Aneignung eines bestimmten, klaren, präzisen und gleichmäßigen Anschlags aller Finger zur Bildung eines großen, vollen, schönen und mannichfaltigst nüancierten Tons, bei vollkommenem, möglichst gesangreichem Legatospiel, und die Entwicklung der Technik, sowie des geistigen Verständnisses der Schüler aus der Pflege des polyphonen Stils, mit streng folgerichtiger, deutlicher Führung der Stimmen unter sorgfältiger Abwägung des ihrer innern Bedeutung entsprechenden gegenseitigen Klangverhältnisses derselben, neben plastisch hervortretender, abgerundeter Gliederung des musikalischen Satzbaues“.

Unter den übrigen wissenschaftlichen Arbeiten Lebert’s sind als besonders wichtig hervorzuheben die vortrefflichen instructiven Ausgaben classischer Clavierwerke, wozu er einen ausgesuchten Stab hervorragender Fachmänner geworben hatte. Seine Mitherausgeber waren Faißt, Stark, Bülow, Ignaz Lachner und Liszt. Letzterer blieb in allen wichtigen Unternehmungen Lebert’s treuer und hochgeschätzter Rath und Mitarbeiter. Beide veröffentlichten gemeinsam eine Bearbeitung von Beethoven’s Clavierconcerten. Ein Jahr vor seinem [608] Tode vollendete L. noch die Ausgabe von Mozarts Clavierconcerten unter Mitwirkung von Ignaz und Vinzenz Lachner, Faißt und Linder.

Aeußere Anerkennungen seiner Verdienste wurden L. in reichem Maße zu Theil. Im J. 1868 ernannte ihn König Karl von Württemberg zum Professor und verlieh ihm 14 Jahre später die große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft. Die Universität Tübingen ernannte im J. 1873 L. und Stark zu Ehrendoctoren der philosophischen Facultät. Aus Anlaß des Erscheinens der Clavierschule in italienischer Uebersetzung wurde L. in den Jahren 1880 und 1881 mit der[WS 1] Ehrenmitgliedschaft der Cäcilien-Akademie in Rom, der philharmonischen Akademie in Bologna und der Akademie des Kgl. Musikinstituts in Florenz ausgezeichnet.

In den letzten Jahren seines arbeitsreichen Lebens befiel L. ein beschwerliches Leberleiden, das ihn zu seiner Bekümmerniß mehr und mehr seiner rastlosen Thätigkeit entfremdete. Drei Tage vor Vollendung seines 63. Lebensjahres, am 8. December 1884, erlag er der Krankheit. Sein feierliches Leichenbegängniß am 11. December bewies die hohe Achtung, in der der Verstorbene in amtlichen und Fachkreisen Stuttgarts gestanden hatte. Neben den Collegen und Schülern des Conservatoriums war das kgl. Cultusministerium, die gesammte Hofcapelle und zahlreiche Vertreter der Wissenschaft und Kunst zugegen. Immanuel Faißt ehrte als Vorstand des Conservatoriums dessen dahingegangenen Gründer durch einen vortrefflichen, von Dankbarkeit und überzeugter Hochachtung erfüllten Nachruf am Grabe.

Worte der Erinnerung an Prof. Dr. Sigmund Lebert. Von Prof. Dr. Faißt, Stuttgart 1884. – Schwäbischer Merkur 1884, S. 1985.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: der der