ADB:Erk, Ludwig
Adolf Diesterweg in nahe Berührung kam, dann 1812 nach Isenburg bei Frankfurt a. Main, endlich 1813 nach Dreieichenhain in Hessen-Darmstadt. In dieser liederreichen Gegend verlebte Ludwig E. eine schöne Jugend. Der Musikunterricht, den ihm sein Vater ertheilte, hatte ihn so gefördert, daß er schon im elften Jahre die Orgel spielen konnte. Nach dem Tode des Vaters im J. 1820 erwies sich der Pathe Johann Balthasar Spieß in Offenbach hülfreich gegen den begabten, stillen, schüchternen Knaben und nahm ihn in seine bewährte Erziehungsanstalt (s. A. D. B. XXXV, 183) auf. Hier blieb E. bis zum Jahre 1826. Dann griff Adolf Diesterweg, der inzwischen Director des Lehrerseminars in Mörs geworden war, fördernd in sein Leben ein. Er veranlaßte ihn, als Musiklehrer an seine Anstalt zu kommen, und als Diesterweg die Mörser Stellung mit einer gleichen am Königlichen Seminar für Stadtschulen in Berlin vertauscht hatte, ruhte er nicht, bis er im J. 1835 E. auch hierher berufen konnte. Von diesem Jahre an bis zu seinem am 25. November 1883 erfolgten Tode hat E. in Berlin gewirkt. Nach außen hin ist er wenig hervorgetreten. In den Jahren 1836 bis 38 war er Musiklehrer [395] in der Familie des Prinzen Karl von Preußen – es muß ein eigenthümliches Bild gewährt haben, den stillen, bescheidenen E. beim Unterrichten des kräftigen, nicht gerade musikalischen Prinzen Friedrich Karl, des späteren Feldmarschalls, zu sehen. Zu derselben Zeit hatte E. neben seinem Lehramt am Seminar auch die Leitung des Liturgischen Chores in der Domkirche übernommen, die er später an Neithardt abgab. 1843 gründete er den nach ihm benannten, noch jetzt bestehenden Männergesangverein, 1852 eine gleiche Vereinigung für gemischten Chor. 1857 wurde er zum Kgl. Musikdirector, 1876 zum Professor ernannt.[1]
Erk: Ludwig Christian E., der hochverdiente Liedforscher, entstammt einem deutschen Schulhause. Am 6. Januar 1807 wurde er in Wetzlar als Sohn des Lehrers, Cantors und Organisten Adam Wilhelm Erk, eines tüchtigen Musikers, geboren. Die Mutter war eine geborene Göch, Tochter des Wetzlarer Bürgermeisters. Nach Auflösung des Reichskammergerichts konnte A. W. Erk nicht mehr in dem verarmten Städtchen bleiben; er siedelte im J. 1811 mit seiner Familie nach Worms über, wo er mitWie ersprießlich aber auch sein Wirken als Pädagog und Dirigent war, so wurde es in den Ergebnissen doch weitaus übertroffen durch seine Thätigkeit als Sammler und Herausgeber von Volksliedern und volksthümlichen Liedern sowie als Hymnologe. Schon als Zweiundzwanzigjähriger hatte E. in Mörs ein- und mehrstimmige Schullieder verschiedener Componisten vorbereitet und in drei Sammlungen erscheinen lassen, durch deren Auswahl und Bearbeitung er sich aufs glänzendste einführte. Sie wurden schnell mehrfach aufgelegt und gingen im J. 1840 in die Sammlung über: „Liederkranz. Auswahl heiterer und ernster Gesänge für Schule, Haus und Leben“, von der in den nächsten 27 Jahren nicht weniger als 288 000, bis Ende 1902 gar 750 000 Exemplare verbreitet wurden. Noch weitaus größer war die Popularität einer andern Erk’schen Liederausgabe u. d. T. „Singvögelein“ vom Jahre 1842; binnen 25 Jahren wurden von ihr 600 000 und bis Ende 1902 die ungeheure Zahl von 1 200 000 Exemplaren in den Handel gebracht, sodaß man das „Singvögelein“ das volksthümlichste deutsche Liederbuch nennen darf. Sehr groß war auch die Verbreitung der folgenden Sammlungen Erk’s – ich benutze hier die mir von der Baedeker’schen Verlagshandlung in Essen freundlichst zur Verfügung gestellten Notizen –: „Auswahl ein-, zwei- und dreistimmiger Lieder für Volksschulen“ (1852): 700 000 Exemplare, „Sängerhain, Sammlung heiterer und ernster Gesänge für Gymnasien, Real- und Bürgerschulen“ (1849): 500 000, „Deutscher Liedergarten“ (für Mädchenschulen, 1846): 100 000, „Die bekanntesten Choräle, dreistimmig gesetzt, zum Gebrauch in Schulen“ (1847): 800 000, ferner des in der Edition Peters in Leipzig erschienenen „Jugendalbums“ (1871) und „Deutschen Liederschatzes“ (1873).
Die hohe Bedeutung, welche diese Ausgaben für Schule und Haus haben, ist erst dann recht zu würdigen, wenn man sich das tiefe Niveau der Liedersammlungen vergegenwärtigt, die E. zu Beginn seiner Thätigkeit im J. 1828 vorfand. Noch immer stand damals das unendlich triviale Mildheimische Liederbuch in Blüthe – 1834 erlebte es eine achte Auflage – und neben ihm Lindner’s musikalischer Jugendfreund, Bartsch’s Melodien zur Liedersammlung zur Erhebung, Veredlung und Erfreuung des Herzens u. s. w. Statt der hier gepflegten unausstehlich ledernen, schalen Tendenzpoesien brachte E. echte Dichtungen, statt der sentimentalen Biedermeiermusik gute, kräftige, alte und neue Melodien aus dem Schatze der Kunst- und Volkslieder, Alles leicht verständlich und eingänglich, theils einfach zwei- oder dreistimmig gesetzt, theils mit unschwerer wenn auch nicht immer meisterhafter Clavierbegleitung, das Ganze niemals trocken und lehrhaft, sondern bei aller Berücksichtigung pädagogischer Zwecke lebendig und künstlerisch. Dies ist um so höher anzuschlagen, als die classischen Lieder aus der höheren Kunstsphäre von dieser Sammlung zumeist ausgeschlossen bleiben mußten; sind ja doch die Gesänge Beethoven’s, Schubert’s, Schumann’s viel zu gewählt, zu aristokratisch, um ohne weiteres von den Massen verstanden zu werden. Wie für diese Goethe’s Lied „An den Mond“ weniger geeignet ist, als etwa Claudius’ Abendlied: [396] „Der Mond ist aufgegangen“, so müssen in volksthümlichen Ausgaben von Liedercompositionen die Namen Schulz und Silcher viel öfter vorkommen, als Mozart und Beethoven.
Als musterhafter Herausgeber hat sich E. von Sentimentalität, Plattheit und Verbesserungssucht frei gehalten und sich große Verdienste um unsere Schul- und Hausmusik erworben.
Noch bedeutungsvoller aber ist sein Wirken als Auffinder und Erforscher auf dem Gebiete des Volksliedes geworden. Von seinen Jünglingstagen bis ins Alter hat er nicht gerastet, auf seinen Streifereien wie einst Goethe in Sesenheim Lieder „aus denen Kehlen der ältesten Mütterchens aufzuhaschen“, und er wurde hierbei von guten Mitarbeitern unterstützt: seinem Bruder Friedrich, den Lehrern Glock, Wilh. Irmer, Wilh. Greef, Carl Ed. Pax, A. Jacob u. s. w. (Friedrich Erk, Irmer und Greef waren auch Mitherausgeber der obenerwähnten Liedersammlungen). Die Ergebnisse hat E. zunächst u. d. T.: „Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen“, dann als „Neue Sammlung deutscher Volkslieder mit ihren eigenthümlichen Melodien“, in dreizehn dünnen Heften kleinsten Octavformats herausgegeben, die in den Jahren 1838–45 in Berlin erschienen. Während hier noch Volkslieder mit volksthümiichen Liedern gemischt sind, veröffentlichte er eine sehr erweiterte und vervollständigte Ausgabe der eigentlichen Volkslieder u. d. T.: „Deutscher Liederhort“ im Jahre 1856 in Berlin – ein bewunderungswürdiges Denkmal deutschen Forschersinns und Forscherfleißes, hervorragend nicht nur durch die gewaltige Fülle werthvollen neuen Stoffes, sondern auch durch die Gewissenhaftigkeit, Sachkenntniß und Bescheidenheit in dessen Verwendung. E. hatte die Freude, für sein Werk die Anerkennung der Besten zu finden, von denen vor allem der Name Jacob Grimm’s genannt sei.
Am Grimm’schen Wörterbuch war E. längst Mitarbeiter geworden, wie er auch im J. 1854 aus Arnim’s Nachlasse den vierten Band von „Des Knaben Wunderhorn“ herausgegeben hatte. Die eigenthümliche, an E. selbst gerichtete Widmung dazu rührt von Bettina von Arnim her. In ihr Haus war E. durch Hoffmann von Fallersleben eingeführt worden, mit dem er Jahrzehnte hindurch in Freundschaft verbunden war. Eine Reihe von Werken entstammt der gemeinsamen Arbeit Hoffmann’s und Erk’s, so das Deutsche Volksgesangbuch (1848), Hundert Schullieder (1848), Alte und neue Kinderlieder (1873), Unsere volksthümlichen Lieder (1856). – Aus der Fülle weiterer Arbeiten sei hier nur noch die vorzügliche Ausgabe von Joh. Seb. Bach’s mehrstimmigen Choralgesängen und geistlichen Arien hervorgehoben, die E. „zum ersten Mal unverändert nach authentischen Quellen mit ihren ursprünglichen Texten und den nöthigen kunsthistorischen Nachweisungen“ im J. 1850, 2. Theil 1865, edirt hat.
Welch hohe persönliche Verehrung E. genoß, trat so recht am 10. Juni 1876 zu Tage bei der Feier seines fünfzigjährigen Lehrerjubiläums, an der sich fast die gesammte deutsche Pädagogenwelt und tausende von Sängern betheiligten. Eine Hoffnung, die E. an diesem Tage in einer denkwürdigen Rede aussprach: er werde eine neue erweiterte Ausgabe seines „Liederhorts“ selbst vollenden können, ist nicht in Erfüllung gegangen. Nach Erk’s Tode hat Franz Magnus Böhme das Werk „im Auftrage und mit Unterstützung der Königl. Preuß. Regierung nach Erk’s handschriftlichem Nachlasse und auf Grund eigener Sammlung neubearbeitet und fortgesetzt“ und in drei umfangreichen Bänden (Leipzig 1893–94) veröffentlicht. Leider war Böhme, ein sonst verdienter Forscher, für diese Arbeit nach keiner Richtung hin genügend ausgerüstet; er hat die Eigenschaften der Zuverlässigkeit und Zurückhaltung, die [397] bei seinem Vorgänger stets gerühmt werden konnten, vermissen lassen und durch flüchtige Redaction die prachtvolle von G. hinterlassene Arbeit empfindlich geschädigt. Eine günstige Folge hat aber die neue Ausgabe gehabt: Johannes Brahms ist, wie er dem Verfasser dieser Notizen mittheilte, durch Böhme’s lehrhaft-doctrinäre, wenig künstlerische und wenig wissenschaftliche Anmerkungen dazu veranlaßt worden, seine 49 Deutschen Volkslieder mit Clavier-Begleitung (Berlin 1894) herauszugeben.
Erk’s stattliche Bibliothek und sein handschriftlicher Nachlaß sind von der preußischen Regierung angekauft, der Königl. Akadem. Hochschule für Musik in Berlin überwiesen und durch Dr. Emil Vogel in mustergültiger Weise katalogisirt worden; im J. 1903 sind die Schätze in den Besitz der Berliner Kgl. Bibliothek übergegangen. Sie bieten eine wahre Fundgrube für Musikforscher und Litterarhistoriker, die sich mit dem älteren und neueren Volksliede und dem volksthümlichen Liede seit etwa 1790 beschäftigen, und auch der Hymnologe wird hier sehr werthvolles Material finden.
- Chronologisches Verzeichniß der musikalischen Werke und liter. Arbeiten von Ludwig Erk. 1825–1867. Für Freundeshand (von E. selbst verfaßt). Berlin 1867. – Karl Schultze, Ludwig Erk, eine biographische Skizze. Berlin 1876.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ Erk, Ludw. XLVIII 395 Z. 9 v. o. l.: Er starb am 26. Nov. 1883 in Berlin. [Bd. 56, S. 396]