Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Die Agitation des Jahres 1856 und dadurch veranlaßte Reformgedanken Löhes

« Die Generalsynode von 1853 Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
Konflikte mit dem Kirchenregiment »
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Die Agitation des Jahres 1856 und dadurch veranlaßte Reformgedanken Löhes.

 Nach dem im ganzen befriedigenden Verlauf der Generalsynode von 1853 schien es, als würde die durch die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 auch auf kirchlichem Gebiete hervorgerufene Bewegung in der bayerischen Landeskirche in die Bahnen einer gedeihlichen und friedlichen Entwicklung einlenken. Durch eine Reihe von Maßnahmen bewies das Kirchenregiment seine ernste Absicht, diese Entwicklung mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern, indem es namentlich die dahingefallenen kirchlichen Ordnungen einer besseren Vergangenheit der lutherischen Kirche wieder aufzurichten bemüht war.

 So wurde zunächst durch königliche Entschließung vom 1. Februar 1854 das von der Generalsynode begutachtete neue Gesangbuch eingeführt. Schon die Einführung dieses Gesangbuchs, mit welchem doch der Landeskirche eine wertvolle Gabe geboten wurde, stieß indes auf Mißverstand und üblen Willen. Noch weit größeren Bedenken und Widerwillen begegnete die durch königliche Entschließung| vom 20. Juli 1854 im Einvernehmen mit der vorjährigen Generalsynode eingeführte Gottesdienstordnung, von der der Unverstand behauptete: sie katholisiere. Doch wurden vor der Hand diese kirchenregimentlichen Maßnahmen nur mit schweigendem Unwillen oder halblautem Murren hingenommen.
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 Inzwischen gieng das Kirchenregiment auf dem betretenen Weg mit Entschiedenheit vorwärts. Durch königliche Entschließung vom 28. Mai 1855 wurde ein Agendenentwurf, der sogenannte „Agendenkern“ zu fakultativem Gebrauch eingeführt, über dessen Annahme oder Ablehnung der nächsten Generalsynode die definitive Entscheidung vorbehalten bleiben sollte. Eine Reihe von andern Maßnahmen war vorbereitet. Da entlud sich die angesammelte Unzufriedenheit der Massen in dem Adressensturm des Jahres 1856. Das Signal zu diesem wüsten Sturm, der im Jahre 1856 über die bayerische Landeskirche hinbrauste und viele kaum gepflanzte gute Ordnungen wieder entwurzelte und niederriß, gaben einige vorläufige Bestimmungen der Kirchenbehörde über Beichte und Kirchenzucht. Ausgehend von dem unzweifelig lutherischen Grundsatz, daß die Privatbeichte zwar kein göttliches Gebot, sondern Sache der Freiheit sei, daß aber im Einklang mit Art. XI der Augsburger Konfession die Kirche dafür sorgen müsse, daß man sich ihrer als einer Wohlthat frei bedienen könne, daß sie also „beizubehalten sei“, hatte das Oberkonsistorium in einem Erlaß vom 2. Juli 1856 bestimmt, „daß die in manchen Orten, namentlich in Landgemeinden noch bestehende und gepflegte Einrichtung der Privatbeichte sorgfältig aufrecht zu erhalten und zu fördern sei; ferner daß, so lange sie noch nicht bestehe, wenigstens die persönliche Anmeldung zur Beichte als eine Forderung der kirchlichen Ordnung bezeichnet werden müsse und, wo sie sich verloren habe, durch öffentlichen Unterricht und seelsorgerliche Unterweisung allmählich wieder in Geltung zu bringen sei, bei welcher Gelegenheit der Geistliche „den| Seelenzustand der Einzelnen, soweit er es für nötig erachte, zu erforschen und zu beraten habe.“

 Dabei war in jenem Erlasse allerdings nicht versäumt worden zu bemerken, daß diese Bestimmungen „in ihrem vollen Umfange nicht sofort in Vollzug gesetzt werden könnten, sondern teilweise nur als die anzustrebenden Zielpunkte bei der Ordnung des Beichtwesens zu betrachten seien; daß jedem praktischen Vorgehen der Geistlichen immer erst eine aus Gottes Wort geschöpfte bekenntnistreue Unterweisung der Gemeinden Bahn brechen und das Verständnis dafür wecken müsse etc.“

 Vielleicht mehr noch als dieser Erlaß wurde ein zweiter von gleichem Datum von der kirchenfeindlichen Agitation des Jahres 1856 als Schreckmittel für die Massen benützt. Er betraf „die Wiederherstellung der Kirchenzucht“. Nachdem in diesem Erlaß einleitend bemerkt ist, daß es sich hier nicht um Erneuerung einer förmlich aufgehobenen oder völlig verlorenen Institution handle, da das Recht und der Bestand der Kirchenzucht auf dem Grund der Schrift- und Kirchenlehre beruhe und die Kirche, wie jede sittliche Gemeinschaft das Recht zur Übung einer ihrem Wesen und ihrer Aufgabe entsprechenden Disciplin als unverlierbares Eigentum besitze; daß es nicht um Erneuerung der mit Recht dahingefallenen polizeilichen Maßregeln und Strafbestimmungen älterer Kirchenordnungen, sondern nur um die Wiedergewinnung der rechten Form und Weise zur Übung der Zucht in wirklich kirchlichem Sinne zu thun sei, wird den Pfarrämtern der Auftrag erteilt: „unter Berücksichtigung der in ihren Gemeinden noch vorhandenen Überreste der Kirchenzucht, sowie der früherhin oder annoch gültigen Kirchenordnungen und unter sorgfältiger Erwägung aller einschlägigen Verhältnisse, mit Angabe der Art und Weise der Ausführung diejenigen Bestimmungen in Form einer Instruktion zusammenzustellen, welche sie nach vorgängiger Beratung mit den Kirchenvorständen zur Übung| der Kirchenzucht für notwendig und heilsam erachteten.“ Diese pfarramtlichen Berichte sollten die Basis einer der nächsten Generalsynode zu machenden Vorlage zur Wiederherstellung der Kirchenzucht bilden.

 Ein dritter Erlaß „Normen zur Sicherstellung des geistlichen Amtes gegen ungebührliche Zumutungen betr.“ – gleichfalls vom 2. Juli 1856 – verfügte „in Rücksicht auf die von der Generalsynode des Jahres 1853 gestellten Anträge und in Gemäßheit der in diesem Betreff ergangenen allerhöchsten Entschließung vom 7. Januar 1856“, daß Lästerer und offenbare Verächter der Kirche als Taufpaten nicht angenommen, daß gefallenen Brautpaaren bei ihrer Trauung die auszeichnenden Ehren unbescholtner Brautpaare nicht zugestanden und daß beharrlichen Lästerern und offenbaren Verächtern der Kirche, wenn sie in Unbußfertigkeit versterben, bei dem Begräbnisse die Ehre der Begleitung des Leichenzuges durch den Geistlichen und der kirchliche Segen versagt werden sollte. Zur Sicherung des Verfahrens der Geistlichen vor Mißgriffen wurde denselben in allen Fällen, wo solche disciplinarische Maßregeln zur Anwendung kommen würden, vorgängige Belehrung der Gemeinden über den Zusammenhang der kirchlichen Rechte und Pflichten und Anzeige an das Kirchenregiment zur Pflicht gemacht.

 Ein vierter, ebenfalls vom 2. Juli 1856 datierter Erlaß, „die Verordnung vom 18. Mai 1838, die Anmeldung zur Kommunion und die Wiederverehelichung geschiedener Personen betr.“, sicherte bezüglich der Wiederverehelichung und Trauung geschiedener Personen den Geistlichen schonende Berücksichtigung ihrer Gewissensbedenken zu, „insolange dem dermaligen Bestande der Gesetzgebung die erwünschte Abänderung nicht auf legislativem Wege zugegangen sei“; wogegen ein fünfter Erlaß vom 9. Juli 1856, „die persönliche Anmeldung der Verlobten bei Proklamationen und die Aufgabe des geistlichen Amtes in dieser Beziehung betr.“, die Geistlichen anwies,| „die Bedeutung und den Segen der christlichen Ehe durch Predigt und Unterricht wieder in das rechte Licht zu stellen und durch treue Wahrnehmung ihrer seelsorgerlichen Pflichten zu versuchen, den gebührenden Einfluß auf das Familienleben wieder zu gewinnen, damit sie mit ihrem Rate schon bei der Verlobung künftiger Ehegatten zugezogen werden und so den günstigen Zeitpunkt wahrnehmen könnten, die Versuche zu ehelichen Verbindungen, denen die Unhaltbarkeit von vornherein auf die Stirne gezeichnet sei, mit allem Ernste zu Hintertreiben und die Gedanken auf die unverbrüchliche Ordnung Gottes in der Ehe hinzuweisen etc. etc.“
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 Dies der wesentliche Inhalt der Erlasse des bayrischen Kirchenregiments vom Jahr 1856. Für den kirchlich vorgeschritteneren Teil der Geistlichen und Laien eine Abschlagszahlung für die Zukunft, erschienen sie den nur äußerlich mit der Kirche zusammenhängenden Massen in den Gemeinden als ein Attentat auf die Freiheit des protestantischen Gewissens, ein hierarchischer Versuch zur Knechtung des Volks. Das Kirchenregiment war in einer Täuschung befangen, als es bei den landeskirchlichen Gemeinden einen hinlänglichen Fond christlicher und kirchlicher Gesinnung voraussetzte, um solche Ordnungen kirchlichen Gemeinlebens ertragen zu können. Bei der im Jahre 1857 noch unter dem frischen Eindruck der Stürme des vorangegangenen Jahres abgehaltenen Generalsynode war wenigstens diese Erkenntnis und dieses Geständnis allgemein. „Daß man – sagt die Erlanger Zeitschrift für Protestantismus und Kirche in ihrem Referat über die Generalsynode zu Ansbach 1857 – sich fast allenthalben in dem Zustand der Gemeinden getäuscht, daß man die Zahl und den Einfluß der wohlgesinnten Glieder derselben viel zu hoch, dagegen den der innern und äußern Feinde der Kirche viel zu gering angeschlagen hatte – wer könnte sich jetzt dieses Geständnisses mehr erwehren?“ Dagegen daran, daß diese Erlasse in so unvorbereiteter Weise in die Gemeinden| geworfen wurden, trug das Kirchenregiment keine Schuld. Seine Erlasse waren bloß an die Geistlichkeit gerichtet und waren nur durch eine verräterische Indiskretion in die Öffentlichkeit der Presse gelangt, wo sie erst in auswärtigen, dann auch in bayerischen Blättern erschienen. Von Nürnberg aus, wo der „Fränkische Kourier“ in die Lärmtrompete stieß, verbreitete sich die Aufregung in andere Städte und auch auf das flache Land. Eine Monstreadresse, von 7000 Unterschriften bedeckt, gieng an den König ab, in welcher die (!) evangelisch-lutherischen Einwohner der Stadt Nürnberg „wegen Verletzung ihrer verfassungsmäßigen und kirchlichen Rechte durch Übergriffe der geistlichen Gewalt“ Beschwerde führten, und von dem katholischen Summepiskopus nicht allein Sistierung der jüngsten kirchlichen Erlasse, sondern auch Zurücknahme der von der Generalsynode von 1853 beschlossenen und von dem König erst wenige Monate vorher sanktionierten kirchlichen Ordnungen und schließlich die Beseitigung des gegenwärtigen Kirchenregiments verlangten. Andere Städte, wie Augsburg, München, folgten dem Vorgang Nürnbergs. Die Lokalpresse bemächtigte sich des willkommenen Agitationsmittels und brachte jene aus ähnlichen gesinnungstüchtigen Agitationen des „protestantischen Volks“ bekannten Blüten des Unsinns hervor, an welchen Unwissenheit und Bosheit gleichen Anteil zu haben pflegen.
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 Die Aufregung war eine hochgradige und eine Weile schien auch die Stellung des Oberkonsistoriums ernstlich erschüttert, und zwar um so mehr, als die Bescheidung der Adressen und damit auch die folgenschwere Entscheidung über die Zukunft der lutherischen Kirche in Bayern in den Händen von Männern lag, die der katholischen Kirche angehörten und bei welchen daher wenig Verständnis für die Lebensinteressen der lutherischen Kirche vorauszusetzen war. Indessen der König, obwohl Katholik, beurteilte die Sachlage richtiger als viele seiner protestantischen Unterthanen, indem er erkannte,| daß die so hart angefochtenen Erlasse auf der Grundlage des lutherischen Bekenntnisses ruhten und also kein Grund vorliege, das Oberkonsistorium einer unkirchlichen Agitation zum Opfer fallen zu lassen. In seiner Milde jedoch gab er die Zusage, eine abermalige Prüfung der noch nicht durch die Generalsynode und seine eigene Sanktion gefestigten Erlasse der obersten Kirchenbehörde anbefehlen zu wollen. In folge dessen trat eine gewisse Beruhigung der Geister ein. So fand die Generalsynode von 1857, welche getrennt für die beiden Konsistorialbezirke in Ansbach und Bayreuth abgehalten wurde, die Lage der Dinge.
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 Wenn nun auch die Flut dieser widerchristlichen Bewegung bald wieder zurückgieng, so hatte sie doch häßlichen Unrat genug an den Strand geschwemmt und vor jedermanns Augen bloßgelegt. Es offenbarte sich in ihr ein innerer Bruch großer Massen mit dem Christentum, von dessen Ausdehnung man vorher keine Vorstellung gehabt hatte. Dennoch war es zu keiner äußeren Lossagung dieser Massen oder auch nur ihrer Führer von der Kirche gekommen. Im Gegenteil, die Feinde der Kirche nahmen nach wie vor Bürgerrecht im Heiligtum in Anspruch und gebärdeten sich als „die Kirche“, und ihre Häupter saßen, trotz offener Leugnung konfessioneller ja gemeinchristlicher Lehren, namentlich in Städten vielfach sogar im Gemeindekirchenvorstand. Von Maßregeln der Zucht gegen diese inkonsequenter Weise in dem äußeren Verband der Kirche zurückgebliebenen Massen oder wenigstens gegen die Stimmführer war nirgends etwas zu sehen. Löhe und seine Gesinnungsgenossen, die um des Gewissens willen schon gegen die Abendmahlsgemeinschaft mit Reformierten und Unierten protestiert hatten, fühlten sich noch weit mehr beschwert bei dem Gedanken, mit solchen offenbar gewordenen „Antichristen“ Ein kirchliches Ganzes bilden, also auch in Sakramentsgemeinschaft treten zu sollen. Löhe sah nunmehr die einzige Möglichkeit des Verbleibens in der Landeskirche in der| Erlangung einer freieren, gewissermaßen eximierten Stellung im landeskirchlichen Ganzen, wodurch ein Zusammenschluß der gleichartigen Elemente ermöglicht und die Verflechtung in die Übelstände und Sünden des landeskirchlichen Ganzen, die Nötigung, mit den Ungläubigen an Einem Joch zu ziehen, wegfiele. Die Bildung solch engerer Kreise von Gläubigen, in welche sich vorhandenes geistliches Leben, das von den Zuständen eines größeren kirchlichen Ganzen sich unbefriedigt fühlt, zurückzieht, um sich einen Herd und stärkenden Mittelpunkt der Gemeinschaft und zugleich einen Spielraum für eigenartige Thätigkeit zu schaffen – ein Bedürfnis, welches z. B. in der römischen Kirche die immer neuen Gestaltungen des Ordenslebens hervorgerufen hat – erschien Löhe nicht, wie dem uniformierenden Bureaukratismus landeskirchlicher Behörden als eine Gefahr der Auflösung, sondern als ein Mittel der Konservierung der Landeskirchen. Schon die Stiftung der Gesellschaft für innere Mission war, wie oben erwähnt, nach Löhes Absicht ein solcher Versuch, die gleichgesinnten Elemente zu einer Glaubensbruderschaft zusammenzufassen und Luthers Gedanken von der Sammlung der Gläubigen zeitgemäß zu erneuern und zu verwirklichen. Die sakramentliche Sonderstellung, die er in der Schwabacher Eingabe für sich und seine Gesinnungsgenossen in Anspruch genommen hatte und in die er sich durch seinen Protest gegen die im Lande hin und her herrschende unionistische Abendmahlspraxis gedrängt sah, schien geeignet, diesem Zusammenschluß kirchlichen Halt und Charakter zu geben. Nun glaubte Löhe sich genötigt, auf diesem Wege einen weiteren Schritt vorwärts zu thun. Seit langer Zeit schon war er der Ansicht, daß der Zusammenhalt und die Zukunft der Landeskirchen von der Gestattung größerer Freiheit der Bewegung für die Gläubigen (und – konsequenter Weise – auch für die Ungläubigen) bedingt sei. Bereits am 12. Mai 1852 hatte er an Baron von Maltzan geschrieben: „Ich wünsche einen Schritt vorwärts zu dringen,| diesen Sommer über Parochial- und Beichtverhältnis zu schreiben, Grenzen zu ziehen, nachzuweisen, daß die Landeskirchen nur dann Leben bewahren können, wenn sie das Beichtverhältnis lösbarer machen, wenn bei aller Stätigkeit des Parochialverhältnisses die Gläubigen hin und her sich um die Altäre solcher Geistlichen scharen dürfen, welche kirchlichen Sinnes sind.... Im Beichtverhältnis liegt für die, welche versuchen wollen, in den Landeskirchen zu bleiben, die letzte Zuflucht.“

 Löhe führte den hier angekündigten Plan auch aus und legte einer Pastoralkonferenz, welche am 14. Juli 1852 zu Nürnberg versammelt war, eine Reihe von Sätzen über das Beicht- und Parochialverhältnis zur Überlegung und Besprechung vor.

 Damals hatte diese Frage mehr nur theoretischen Wert, nun aber in folge der kirchlichen, vielmehr widerkirchlichen Bewegungen des Jahres 1856 gewann sie für Löhe unmittelbar praktische Bedeutung. Hatte er und seine Freunde sich um des Gewissens willen gegen das geringere Übel der Abendmahlsmengerei in den Stand der Protestation gesetzt, so schien die durch die Vorgänge des Jahres 1856 geschaffene Lage ihm noch viel gewissensbeschwerender zu sein und ein Thatzeugnis gebieterisch zu fordern. Und nicht bloß einen Akt des Zeugnisses achtete er für geboten, sondern ebenso sehr einen Akt der Fürsorge für die von gleicher Gewissensnot bedrängten gläubigen Laien hin und her in den Gemeinden, denen aus Gründen konfessioneller Treue der Sakramentsgenuß an ihren heimischen Altären unmöglich war.

 So richtete er denn unter dem 22. April 1857 eine außer ihm noch von 9 Geistlichen (denen sich jedoch später noch mehrere anschlossen) unterzeichnete Eingabe an das Oberkonsistorium, die in der Erklärung gipfelte, daß er und seine Freunde, wenn sie nicht ihr Gewissen, ihren Lebensgang und Gottes Wort Lügen strafen wollten, sich genötigt sähen, in Zukunft mit denjenigen Gemeinden| im bayerischen Vaterlande die Abendmahlsgemeinschaft aufzuheben, welche sich an den kirchenfeindlichen Bewegungen des Jahres 1856 beteiligt hätten, ohne daß der Sturm der Feinde abgeschlagen und gegen dieselben christliche Zucht angewendet worden sei; sowie daß sie sich verpflichtet fühlten, den ihnen gleichgesinnten Laien, welche sich durch die Zustände ihrer Heimatgemeinden im Gewissen bedrängt fühlten – wenn auch unter Beobachtung der nötigen Formen – ihre Altäre zu öffnen.

 „Es ist nicht unsre Absicht – so schließt die Eingabe – uns der Aufsicht des Staats oder auch nur derjenigen der kirchlichen Behörden zu entziehen, wir wollen innerhalb des landeskirchlichen Verbandes bleiben; aber der Abendmahlsgemeinschaft der nun offenbar gewordenen unchristlichen Massen und Gemeinden wollen wir uns entziehen und begehren uns mit unsern Gleichgesinnten sakramentlich zusammenzuschließen und so nach Gottes Wort und dem kirchlichen Bekenntnis zu leben. – Es wäre uns sehr lieb, wenn wir durch die Hilfe des K. Oberkonsistoriums als treue Glieder der Kirche unser Ziel und Recht erlangen könnten. Sollte aber das K. Oberkonsistorium uns nicht beistehen können, sondern der Meinung sein, uns widerstehen zu müssen, so hoffen wir geduldig zu leiden und lieber alles zu ertragen, als daß wir solche Zustände wie die jetzigen unwidersprochen und unangefochten lassen.“

 Dieser Eingabe legte Löhe noch einen Brief an den ihm von lange her befreundeten Oberkonsistorialpräsidenten Harleß bei. Nachdem er hier einleitend bemerkt, daß er bei allem, was er seit Jahren gethan und gelassen habe, von einer Rücksicht der Liebe auf Harleß’ Stellung geleitet worden sei, daß nun aber Umstände eingetreten seien, die ihn zu reden nötigten, fährt er fort: „Gegenwärtig ist es wohl am Tage, daß auf eine einheitliche Leitung dieser Massen auch in Bayern nicht mehr zu rechnen ist. Ich habe es nie glauben können, daß die in vieler Hinsicht vortrefflichen| Erlasse, welche von Euch ausgiengen, zum erwünschten Ziele führen könnten. Aber meine innigsten Wünsche und herzliche Teilnahme gieng mit Dir um so mehr, als ich ja die pädagogische Wichtigkeit des Gelingens wohl erkannte und um den Preis des Gelingens meine eigenen Ansichten gar wohl hätte können fallen lassen. Da es nun aber anders geworden ist, und die wahre Gestalt der Landeskirche ohne all unser Zuthun sich so grell enthüllt hat, auch in der That, wie es jetzt steht, keine kirchenregimentliche Maßregel erdacht werden kann, welche andere Zustände herbeiführen sollte, so ist es mir unmöglich gewesen, angesichts der göttlichen Befehle und im Zusammenhang meines Lebensganges auf weiteres zu harren und von der Zeit, die vielmehr eine einschläfernde Wirkung haben und die Gewissen vollends ertöten möchte, eine Hilfe zu erwarten.... Und so empfängst Du denn gleichzeitig eine Erklärung von einigen Pfarrern, der eine Beistimmungserklärung von noch einigen folgen dürfte.... Vielleicht wäre der von uns (in eben dieser Erklärung) betretene Weg ein solcher, der den Gewissen der Besseren hilft, auf dem Wege des sakramentlichen Zusammenschlusses ihnen neue Kraft und damit neue Wirkung auf die andern verleiht, den andern aber unter den besten Umständen und der kräftigsten Haltung der Getreuen teils Buße nahe legt, teils erlaubt, ihrer Überzeugung zu folgen. Ich bedenke wohl alle möglichen Folgen, den möglichen Sturm; aber kann man denn auch noch nach solchen Erfahrungen glauben, mit dem Zusammenhalten dessen, was da ist, das Reich des HErrn zu fördern? Ich meine, der große, viele Sauerteig müßte das bischen Süßteig gar verschlingen und versäuern; ich fürchte, wir überliefern nach vieler, schwerer Mühe und Arbeit auf diesem Wege der nachfolgenden Zeit am Ende nicht mehr oder gar noch weniger Gutes als wir empfangen haben. Ach, daß es nicht so wäre, daß sich die Besseren zum Gehorsam der göttlichen Befehle zusammenschlössen und es – ich meine auf den möglichst| friedlichen Wegen – wagten zu kämpfen. Hiedurch würden mehr Seelen gewonnen als durch die Hoffnung pädagogischen kirchlichen Einwirkens. Da hast Du mein Herz ausgesprochen. Ich meinerseits – nun seit 1830 in Wirksamkeit – ...wünsche, daß, so lange ich lebe und wenn ich sterbe, denen allen, die ich gelehrt und geweidet habe, das Eine unleugbar fest stehe, daß ich dem Worte Gottes mehr als allen Verhältnissen anhieng, die mir überliefert wurden. Unsere armen Leute müssen nicht bloß lesen, sondern auch sehen können was geschrieben steht. Sie müssen Zeugnis haben für den Weg des Lebens.

 Mit diesen meinen Worten nahe ich Deinem Herzen, theurer Bruder. Ich erwarte keine Antwort, will Dich nicht bemühen; aber ich denke Deiner und bete zum Gott unseres Lebens, daß Du uns möchtest samt Deinen Kollegen einen Weg zeigen können, auf welchem wir unter Gewährung dessen, was wir nicht entbehren können und dürfen, um das wir deshalb auch nicht zu bitten vermögen, mit unsern lieben Obern ferner gehen können. Ich denke Euch mit dem, was ich bin und habe, anzuhangen, bis ich weggeworfen werde. In diesem Falle bete ich mit dem größten Beter zu meinem Gott:

,Auf Dich bin ich geworfen aus Mutterleibe‘.
– – In treuer Liebe und herzlicher Ehrerbietung verharrt
Dein
treuer W. L. 


 Harleß glaubte, nachdem er Kenntnis von der Eingabe genommen hatte, erst mit Löhe in persönlichen Verkehr sich setzen zu sollen, ehe er die Eingabe zu offizieller Kenntnis des Kollegiums brachte – ein dankenswerter Entschluß, durch den er anstatt des steif bureaukratischen Wegs der Behandlung jener Eingabe den förderlicheren des brüderlichen Meinungsaustausches einschlug. So folgte denn ein eingehender Briefwechsel zwischen Harleß und Löhe,| der ja freilich die Zurückziehung der genannten Eingabe zum schließlichen Ergebnis hatte, der aber doch den beiderseitig verschiedenen Standpunkt zu einer kirchlichen Frage von hoher Wichtigkeit zu solch klarem Ausdruck brachte, daß etwas genauere Mitteilungen aus demselben zweifelsohne auf das Interesse der Leser rechnen dürfen.

 Zunächst verlangte Harleß nähere Aufklärung über einige ihm unverständlich gebliebene Punkte jener Eingabe, namentlich über Sinn und Absicht der Erklärung, daß die Unterzeichner der Petition zu dem Entschluß gekommen seien, in Zukunft mit keiner Gemeinde im bayerischen Vaterlande Abendmahlsgemeinschaft zu halten, die sich an den kirchenfeindlichen Bewegungen des Jahres 1856 beteiligt habe, ohne daß der Sturm der Feinde abgeschlagen und gegen dieselben die christliche Zucht angewendet worden sei. Es könne doch die Absicht der Unterzeichner nicht gewesen sein, eine verantwortungslose unbedingte Vollmacht zur excommunicatio minor oder zur Lösung des Parochialverbandes in bezug auf Beichtverhältnis sich für ihre Person zu erbitten. Denke man z. B. an Unterzeichner der Nürnberger Adresse oder an Glieder von Nürnberger Gemeinden. Da unter den ersteren zweifelsohne mancher sei, der nicht gewußt habe was er that, so sei ohne nähere „exploratio“ Ausschluß vom h. Abendmahl nicht einmal in diesem Fall gerechtfertigt. Was aber andere Gemeindeglieder betreffe, so könne doch deren Ausschluß vom Sakrament nicht schon damit angezeigt sein, daß in den betreffenden Gemeinden „der Sturm der Feinde nicht abgeschlagen und gegen dieselben die christliche Zucht nicht angewendet wurde.“ Es sei auch da erst zu ermitteln, ob die einzelnen in Frage kommenden Gemeindeglieder daran schuldbar beteiligt seien. In bezug auf die Lösung des Beichtverhältnisses aber lasse sich eine Form allgemeiner Gutheißung nicht denken, ohne daß sie konsequent zur Zerstörung alles geordneten Gemeindeverbandes führte.

 „Die zweifellose Verpflichtung des Geistlichen – so schließt| Harleß seine Erwiderung, – an seinem Teile und in seinem Berufe wider das zu tage gekommene, erweisbare Antichristentum Einzelner mit dem Bindeschlüssel Ernst zu machen, bedarf keiner Bestätigung. Ebenso zweifellos ist die Pflicht der Kirchenbehörde, den Vollzug der Pflichten und Rechte des Amts wider offenkundige und unbußfertige Unchristen zu schützen und daß man es zu thun entschlossen sei, kann aufrichtig versichert werden. Aber das läßt sich nicht versichern, daß man einen Entschluß der Abendmahlszucht nach irgend einer Seite hin ohne nähere Angabe der Modalität der Ausführung und ohne Vorbehalt der Prüfung in den einzelnen Fällen im Voraus gut zu heißen im stande sein werde.“
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 Gleichzeitig richtete Harleß einen vertraulichen Brief an Löhe, in welchem er demselben die Bedenken aussprach, welche ihn hinderten die Eingabe in ihrer jetzigen Gestalt dem Kollegium vorzulegen. „Es würde uns – sagt er – höchst peinlich und empfindlich sein, jetzt in dieser so ernsten und hochwichtigen Sache zu einer amtlichen Äußerung veranlaßt zu werden, die, restringiert und verklausuliert, wie ein halbes Ja und ein halbes Nein aussähe. Aber nach der Form der Eingabe wüßte ich selbst keine andere Antwort... Die Gutheißung der beabsichtigten Abendmahlszucht bliebe entweder bloß eine allgemeine Anerkennung der dem Geistlichen zuständigen Rechte, unter Vorbehalt der Prüfung der einzelnen Fälle, oder sie müßte nach einer bestimmten Seite hin irgend eine specielle Ermächtigung aussprechen. Mit der ersteren kann als einer selbstverständlichen nicht viel gedient sein. Und worin sollte die zweite bestehen? ... Die Sache bleibt ja immer ein casus in terminis. Und als geordneten Hergang kann ich mir nur den denken, daß gewissensbedrängte Glieder einer Gemeinde, die einen andern Beichtvater suchen, dies zur Anzeige bringen, und auf diesen Anlaß hin unter Beobachtung der kirchlichen Form und nach erklärter Willigkeit des zum Beichtvater Begehrten das neue Verhältnis geordnet| wird. Denn Exceptionsfälle kann man nicht zur Regel machen... Es wäre nun freilich sehr leicht, auf die Eingabe mit Darlegung dieser Schwierigkeiten ablehnend zu antworten. Aber was wäre damit erreicht? Nichts als der Schein, die kirchliche Oberbehörde werde nun auch in wirklich eintretenden Fällen gewissensbedrängten Gläubigen die Zuflucht verbauen und werde, was nicht im voraus allgemein geregelt werden kann, auch in Einzelfällen den einzelnen Geistlichen oder Laien nicht gewähren wollen... Ich möchte Dich also dringend bitten, die Eingabe nicht so einzurichten, daß, wie gesagt, nur ein halbes Ja und Nein geantwortet, oder, was noch schlimmer wäre, der unbestimmten oder ungerechtfertigten Allgemeinheit der Erklärung wegen die Zustimmung versagt werden müßte, während wir sie für einen konkreten Fall unbedingt geben könnten. Helft nicht selbst dazu, daß wir uns etwa die Hände binden müssen. – Daß der HErr die Worfschaufel in die Hand genommen hat, seine Tenne zu fegen, ist klar. Verschwemmen und verschlemmen läßt sich nichts mehr. Die Entscheidung kann bald kommen. Vermeidet inzwischen alles, uns in eine halbe Position zu bringen. Ich wollte, ich könnte Dich sprechen! Des HErrn Gnade sei und bleibe mit uns! In treuer Liebe
Dein 
A. v. Harleß. 


 Löhe erwiderte hierauf mit einem langen und eingehenden Brief an Harleß. In demselben erläutert und begrenzt er den an der Eingabe vom 22. April 1857 von Harleß für unklar und bedenklich befundenen Passus (über die Aufhebung der Abendmahlsgemeinschaft mit solchen Gemeinden, die sich an der kirchenfeindlichen Agitation des Jahres 1856 beteiligt hätten), indem er bemerkt, daß es sich ihm hier natürlich nicht um eine beabsichtigte Exkommunikation ganzer Gemeinden, sondern nur um gewissenhafte pastorale Behandlung solcher, bei der großen Fluktuation der Bevölkerung| in den Gemeinden nicht seltenen, Fälle gehandelt habe, wo Glieder auswärtiger Gemeinden das Sakrament an seinen Altären oder umgekehrt Gemeindeglieder von Neuendettelsau dasselbe an den Altären auswärtiger, namentlich städtischer Gemeinden suchten. Gleichzeitig forderte er zu Gunsten so mancher Laien, die durch bekenntniswidrige oder sonst der Regel des göttlichen Worts widersprechende Zustände ihrer Gemeinden sich im Gewissen bedrängt fühlten, eine Art kirchlicher Freizügigkeit d. h. eine größere Freiheit in der Eingehung und Auflösung des Beichtverhältnisses, dessen Loslösung von dem Parochialverhältnis er für ebenso möglich als unter Umständen für die Beteiligten notwendig, ja auch im eigensten Interesse der Landeskirchen liegend erachtete. Die Ergebnisse seiner Studien über diese Frage nach dem Verhältnis des Beichtverbands zum Parochialverband, die ihm nicht blos eine Frage von principieller Wichtigkeit, sondern in der jetzigen Phase der Landeskirchen geradezu eine Lebensfrage für letztere zu sein schien, hatte er, wie bereits erwähnt, schon im Jahre 1852 einer Pastoralkonferenz in Nürnberg zur Besprechung vorgelegt. Wir geben diese Sätze im Anhang. Den oben erwähnten Brief Löhes an Harleß hingegen lassen wir mit einigen unwesentlichen Kürzungen hier folgen.


Geliebter Freund und Bruder!
 ...Bei der bereits in Deinen Händen befindlichen Erklärung war es Absicht, sich allgemeiner zu halten. Man wollte ja bei Festhaltung der eigenen Überzeugung dem Königlichen Oberkonsistorium Raum lassen, uns diejenigen Wege zu zeigen, welche eingeschlagen werden können, ohne daß wir völlig die Verbindung mit der Landeskirche abbrechen. Wir wollten und wollen keinen Schritt mehr thun, als den Gottes Wort und unser Gewissen fordert; die Folgen, welche weiter kommen könnten, legten und legen wir in| Gottes Hand. Da ist denn nun auch geschehen was wir wünschten und hofften; Du hast freundlich und eingehend, wenn auch nicht amtlich, geschrieben und wir sind in ein Stadium des Überlegens mit Dir getreten. Es wird uns gewiß auch allen ganz recht sein, statt der ersten Erklärung eine andere, bestimmtere und mehr zum Ziele führende zu geben.

 Fest steht uns, daß wir den im Neuen Testamente befindlichen Befehlen über die Gemeinschaft gehorchen müssen. Was Matth. 18; Luc. 17, 3–5; 1 Kor. 5; 2 Kor. 2 u. 13, 1 ff.; 2 Thess. 3, 6 u. 14, 15; 1 Tim. 1, 20 u. 6, 3–5; Tit. 3, 10 u. 11; 2 Joh. 10, 11 geschrieben ist, erkennen wir für Lebensregel; mir wenigstens sind diese Stellen so ins Gewissen gefallen, daß ich wider meine Seligkeit anzustreben glauben würde, wenn ich nicht ehrlich und treu mich zu ihnen bekennen würde. Ich habe viel Kummer und böses Gewissen darüber, daß ich nicht treuer im Gehorsam gegen Gottes Wort und Willen war und habe in nunmehr 26 jähriger Amtszeit es nie bereut, wenn ich treu war, immer aber, wenn ich lässig war. Bei der vorhandenen Treue habe ich immer Segen gehabt.

 Obige Stellen begründen die Notwendigkeit, die Anhänger falscher Lehre und freche, unbußfertige Übertreter zu meiden, also gewiß auch beim Tisch des Herrn zu meiden. Sie geben eine Weisung für das Darreichen und Verweigern, für das Nehmen und Nichtnehmen des Sakraments, so wie für die Gemeinschaft am Tische Jesu, welche ich durch Mitgenuß suchen und fliehen muß. Pfarrer und andere Christen haben damit eine Regel. – Dieser Regel gemäß hat sich, wie Du weißt, die hiesige Gemeinde in offenen Protest gegen die Abendmahlsgemeinschaft mit Reformierten und Unierten gesetzt – und wenn wir darauf auch nie eine Antwort bekommen haben, so haben wir uns doch der abgegebenen Erklärung gemäß verhalten. In irgend eine Art des Protestes| haben sich auch andere versetzt. Das was jetzt geschieht und nach unserer Erklärung geschehen soll, ist nur ein Schritt weiter, – ein durch die Ereignisse geforderter Schritt. Wir könnten es vor dem Herrn nicht verantworten, wenn wir bei unseren nun bestätigten und bewährten Überzeugungen 1857 alles gehen ließen, da wir unter leichteren Umständen der Wahrheit die Ehre geben.

 Wir müssen uns von der Gemeinschaft der Feinde des Evangeliums frei erhalten und frei machen.

 Das ist Hauptsache, festzuhalten um unserer Seligkeit willen und aus Liebe zu vielen blinden thörichten Leuten, die auf das Wort nicht merken, wenn sie nicht sehen, daß es den Ernst des Lebens bei denen wirkt, die es predigen und bekennen.

 Not und Liebe drängt uns einen Schritt vorwärts zu gehen, in welcher Weise, das zeige uns der Herr.

 Es sind hier Pfarrer und andere Christen zu unterscheiden. Sprechen wir zuerst von diesen, dann von jenen.

 Es ist ganz richtig, daß die bereits bestehenden Verordnungen es einem einfachen Christen möglich machen, durch die Erklärung, daß er kein Vertrauen zu seinem Beichtvater habe, sich aus Übeln Gemeindeverhältnissen und von bösen Pfarrern zu befreien und andere zu suchen. Es sind auch nicht wenige Leute, welche wir bis jetzt mit dem crede et manducasti zur Ruhe verwiesen haben. Aber sie sind zum Teil in großen Gefahren ihrer Seligkeit, das Gewicht ihrer Gemeindegenossen und Pfarrer wirkt übel auf sie. Sie können nicht immer warten oder mit bösem Gewissen zu Gottes Tisch gehen. Durch die Ereignisse der letzten Jahre sind sie noch mehr beschwert. Was sollen sie thun? Nun ja, ihrem Drange folgen, das bisherige Beichtverhältnis lösen, ein anderes suchen. Aber in wessen Hände fallen sie? In die Hände ihrer Pfarrer und Dekane. Diese Männer aber nehmen so etwas als persönliche Beleidigung, wissen meist nicht, wie sie Zucht üben sollen, haben sie| nie geübt; die abstumpfende Macht ihrer Amtsgewohnheit läßt sie nicht dahin kommen, daß sie die Not eines bedrängten Gewissens fassen. Die armen Leute, unsere Gesinnungsgenossen begehren gar nicht, ihre Pfarrer anzuklagen oder auf Ausschließung der oder jener Persönlichkeit zu dringen.... Sie wollen einfach –
Ruhe für ihre Seelen. –

 Hier sollte man helfen. „Da hie und da Glieder der Gemeinden durch die neuen Ereignisse in Gewissensnot wegen der Abendmahlsgemeinschaft gekommen sind, so soll deren Gewissen geehrt und ihnen die Auflösung des bisherigen Beichtverbandes nicht erschwert, sondern nach abgegebener Erklärung ihnen das nötige Zeugnis gegeben werden, sich an den oder jenen Pfarrer im Lande anzuschließen.“

 Ungefähr so sollte man rescribieren. Das gienge dann vice versa. Wenn unter christlich entschiedenen Pfarrern Rationalisten etc. sind, so könnten sie gleicherweise Pfarrer ihres gleichen suchen. Die suchen und finden sie auch so wie es jetzt ist.... Ich verhehle mir gar nicht, daß auf diesem Wege das Beichtverhältnis gelockert würde. Aber was thuts? Das Parochialverhältnis bleibt damit in Ordnung. Das Beichtverhältnis ist z. B. in Nürnberg längst vom Parochialverhältnis abgelöst ohne allen Schaden. Warum soll das nicht anderwärts auch sein können, und warum soll das Beichtverhältnis, das wie das Vertrauen wechseln kann und seiner Natur nach wandelbar ist, widernatürlich in die Stagnation der übrigen Verhältnisse hineingebannt werden? Bei Stetigkeit die Möglichkeit der Bewegung: sonst erstirbt alles. Die römische Kirche hat einen Kampf der Stetigkeit und Freiheit gehabt (Verhältnis der Mönche und ihrer Seelsorge zu den Pfarrern). Unserer Kirche wird es nur förderlich sein, wenn sie ohne Kampf ein ihr notwendiges ähnliches Verhältnis erlangte. Es muß innerhalb der| geordneten Kirche eine freie Bewegung möglich sein, sonst erstickt das Gute, und das Böse macht sich doch Bahn.

 O daß Ihr hier hülfet! Es würde Bruch vermieden und die bayerische Landeskirche gienge mit Gutem voran. – Man kann zwar fürchten, daß die Scheidung angebahnt würde. Aber man darf froh sein, wenn so der Weg des Friedens gebahnt wird. Ich möchte hier eine Bemerkung anfügen, welche nicht gerade im strengsten Zusammenhang steht, aber doch auch die Freiheit des Beichtverhältnisses betrifft. Meine besseren Gemeindeglieder haben von mir Erlaubnis, in jeder rechtgläubigen Gemeinde das Abendmahl zu nehmen. Ich gebe ihnen gerne Zeugnisse. Meine Kirchenvorsteher haben schon mit denen einer anderen Gemeinde das Sakrament genommen. Sie sind nur desto treuer. Ich meine, auch das muß unter einer leichten und erleichternden Form geschehen dürfen. Bei einer Revision der Beichtordnung ließe sich das alles so gut ordnen und würde schwerlich Rumor machen. Es ist ja nur Regelung des freien Willens.

 Laß mich zu den Pfarrern kommen. Es ist richtig, daß sie für ihr persönliches Leben den andern Christen gleich stehen und auch für sie das oben Gesagte gilt. Auch ist es richtig, daß sie zur Ausübung der Zucht durch Gott und Menschen bereits bevollmächtigt sind, keine Ermächtigung bedürfen. Sie müssen ja freilich verklagt werden können, wenn sie ihre Befugnisse überschreiten, und es wäre dann nur zu wünschen, daß bei solchen Klagen Richter (Dekane und Konsistorialräte) da wären, die Erfahrung in der Sache hätten und statt juristisch, so entschieden, wie es das Seelenheil der Gemeindeglieder erfordert. Ich kenne Fälle genug, aus denen sich beweisen läßt, daß die Gemeindeglieder nach Form weltlicher Prozesse ihren Pfarrern gegenüber recht bekamen, zu ihrem großen Seelenschaden recht bekamen; während vor dem Auge derer, welche die Verhältnisse kannten, die Pfarrer vollkommen recht| hatten. Doch dieser Jammer liegt in dem Unverstande der Persönlichkeiten und wird samt der erbärmlichen Last der Schreiberei, welche aus Zuchtfällen kommen kann, zu dem Kreuz zu rechnen sein, welches wir Pfarrer nun einmal bei den gegenwärtigen Einrichtungen unvermeidlich haben und tragen müssen. Du siehst hieraus, daß wir uns der Aufsicht auch in Zuchtfällen nicht entziehen wollen. Andere denken wie ich.

 Aber damit sind wir nicht aus der Not. Ich will einige Beispiele geben. Zwei Knaben aus meiner Gemeinde sind Lehrlinge bei Meistern einer nahe liegenden Stadt. Andere sind in meiner Gemeinde Lehrlinge, kommen von auswärts. Der Dienstbotenwechsel bringt einen immerwährenden Verkehr der Gemeinden hervor. Bei Gemeinden wie z. B. die hiesige ist eine Art amerikanischen Kommens und Gehens. Eine Familie verkauft und zieht ab, die andere zieht her. Bei Verehelichung ist derselbe Verkehr. Aus diesen Beispielen ergiebt sich doch, daß kein Pfarrer einen abgeschlossenen Wirkungskreis hat; wir sind, wie es ist, in der That Pfarrer eines größeren Ganzen. Eine Gemeinde wirkt auf die andere.

 ....Was brauchen wir in solchen Verhältnissen, um in solchem Zusammenhang (εἷς ἄρτος, ἓν σῶμα οἱ πολλοί ἐσμεν 1 Kor. 10, 17) verharren zu können mit den armen Schafen, die wir nicht um des Elends willen verkommen und verderben lassen können? Act. 20, 26–28.

 Ich will es einfach sagen:

1) Geht mir ein Kind in Lehr und Dienst in eine andere Gemeinde, so kenne ich entweder die Pfarrer und Gemeinde, oder nicht. Im letzteren Falle warne ich und belehre, im ersteren handle ich nach Befund. Weiß ich, daß Pfarrer und Gemeinde so sind, daß man sich anschließen kann (ich mache die mildeste| Forderung, so weit zurück als das Wort Gottes es leidet) so rate ich zu; im umgekehrten Falle rate ich ab.
2) Kommt jemand aus einer anderen Gemeinde, so erkenne ich ihn nicht durch seine bloße Übersiedlung als meinen Abendmahlsgenossen, sondern er wird dies erst, wenn er auf den obigen Stellen des göttlichen Wortes mit mir eins geworden ist.
3) Kommt jemand, der mir nachweist, daß er um des Gewissens willen seinen Beichtvater aufgab und sonst Zeugnis der Unbescholtenheit hat, oder sich erbietet bis zum Abendmahlsgang erst nähere Bekanntschaft zu machen, so nehme ich ihn an.

 Es ist allerdings ein Übelstand, daß man hiebei ganz seinem eigenen Auge, Urteil und Gewissen überlassen ist. Es wäre ja sehr zu wünschen, daß das nicht nötig wäre. Aber was kann das Kirchenregiment thun und helfen?.... Da wir uns aber bei aller Schwachheit und Mängeln doch nicht bloß, wie Luther sagt, in Gottes Wort „gefangen“ erkennen, sondern alle Tage mehr einsehen, daß ohne Anwendung jener Schriftstellen unser Amt zur Lüge, wir zu Heuchlern werden, so muß doch etwas gefunden werden, was uns bei unsern dem göttlichen Wort getreuen Überzeugungen und getreuen Handeln schützen kann.

„Wenn bei den eingetretenen Verhältnissen Pfarrer oder Gemeinden besonderer Vorsicht gebrauchen in Aufnahme neuer Beichtkinder; so soll ihnen ihr Amt und Gang nicht erschwert werden, sondern sie sollen ihr Gewissen wahren, aber ihren Oberen zur Verantwortung bereit sein.“

 Wie das zu formulieren wäre, kann man treuen Oberen wohl überlassen, sie werden es am ersten finden. Aber wie von Oben, so unchikaniert von Unter- oder Mittelstellen handeln zu dürfen, das muß unser sehnlich Begehren sein.

 Es beruht auch das nur auf einer Unterscheidung des Parochial- und Beichtverbandes. Mein Pfarrkind muß nicht mein| Beichtkind, mein Beichtkind muß nicht notwendig mein Pfarrkind sein. Schon vor etwa acht (?) Jahren wurden, damals ohne diesen Drang, auf einer von uns in Nürnberg gehaltenen Pastoralkonferenz diese Unterschiede abgehandelt. Die damals anwesenden und eingeladenen Nürnberger Pfarrer widersprachen nicht, aber giengen nicht recht ein, weil man nicht sah wozu? Rudelbach gab bald darauf ähnliches. Doch verhallte eine der für Landeskirchen notwendigsten Lehren fast spurlos. Mir wurde es immer klarer, daß friedliche Scheidung und Bau des Reiches Gottes innerhalb der Landeskirchen nur durch den Ausbau der oben unterstrichenen Sätze möglich wird.

 Die neuesten Ereignisse in Bayern beweisen dies – und wenn wir auch gar nicht nach Konsequenzen jener Sätze, sondern einfach nach Zwang und Drang der Umstände handeln wollen, wie wir denn thun, so finden wir doch nichts anderes.

 Mein geliebter Bruder! hilf uns doch! Macht es uns möglich, in Eurer Mitte zu leben und zu sterben! Es ist schon wahr, das Wenige, was wir brauchen, kann für die äußere Gestaltung des Kirchenwesens sehr folgenreich sein. Aber was sollen wir thun! Was könntest denn Du an unserer Stelle thun, wenn Dich obige Bibelstellen erfaßt hätten? Du bist in großen Nöten, aber auch wir, die wir das Heiligtum nicht vor die Hunde werfen sollen. Ich sags mit Jammer; denn ich bin ja selbst nichts wert und sage alle Tage: „Meine Seele liegt im Staube, erquicke mich nach Deinem Wort.“

 O mein teurer Bruder, wie gern komme ich zu Dir nach München, wenn ich auf meinen Grundlagen verhandeln kann; sonst hälfe es nichts. Welch seliger Gewinn, wenn ich an Deiner Hand und mit Dir Gottes Wege gehen dürfte bis ins Grab!

 Ich habe den HErrn gebeten, keine Aufregung zu haben: „Heiligen Mut, guten Rat, gerechte Werke“ erbitte ich Dir und| den teuern Brüdern in Deiner Nähe! Gottes Barmherzigkeit und Stärke sei mit Dir! Gibst Du mir vielleicht Rat, wie wir zu unserm Ziel durch eine bessere Eingabe kommen sollen, so will ich eine bessere nach Deinem Rat veranlassen.

 Friede mit Dir und Deinem treuen

W. Löhe, Pfr. 

 Neuendettelsau, den 7. Mai 1857.


 Harleß erwiderte Löhe am 6. Juni 1857 in einem ausführlichen Schreiben, in welchem er Löhe zunächst für seine eingehende Antwort dankt, weil er durch sie bestimmtere Einsicht in die Natur der von den Bittstellern gewünschten Abhilfe gewonnen habe, aber auch nicht verhehlt, daß seine schon in seinem vorigen Briefe erwähnten Hauptbedenken nicht gehoben seien, sondern ihr Gewicht sich für ihn nur verstärkt habe. Welcher Art diese Bedenken seien, legt er dann in einer umständlichen Auseinandersetzung dar, die um des daran sich knüpfenden sachlichen Interesses willen hier mitgeteilt zu werden verdient.

 „Die angeführten Schriftstellen schreiben der Kirche wie dem einzelnen Christen ohne Zweifel eine Verpflichtung dar, welche beide wider grobe Sünder und Abtrünnige auszuüben haben. Aber eben das ist erst zu untersuchen, ob im gegebenen Falle der Einzelne den dort aufgestellten Kategorien angehöre, wo ferner unter Umständen das μὴ ὡς ἐχθρὸν ἡγεῖσθαι, ἀλλὰ νουθετεῖν ὡς ἀδελφόν, oder wo die gesteigerte Scheidung und Strafe anzuwenden, und wie und wann über eine Gemeinschaft, die hierin ihrer Pflicht nicht nachkommt, auszusprechen sei, daß sie überhaupt aufgehört habe, eine christliche zu sein. Die Gemeinde in Korinth z. B. war wegen ihrer Sünde in den Augen des Apostels noch nicht eine schlechthin auszuschließende. Ebenso wäre es ohne Zweifel kein schriftgemäßes Verfahren, wenn jemand ohne weiteres das Haus für unrein erklären wollte, in welchem sich Gefäße der Ehre neben Gefäßen der| Unehre befinden, oder das Netz zu zerreißen gedächte, welches gesunde und faule Fische umschließt. Und dennoch könnte das folgerichtig erscheinen, wenn die oberste und einzige Christenpflicht lautete: „Wir müssen uns von der Gemeinschaft der Feinde des Evangeliums frei machen und frei erhalten.“
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 In schweren Gewissenskämpfen hat die alte Kirche gerungen, Scheiden und Zusammenhalten recht zu verbinden. Die Angst vor dem contaminari communione sacramentorum hat sie bestanden und doch sich nicht beirren lassen. Ihr stand fest: unum atque idem sacrificium propter nomen Dei, quod invocatur, et semper sanctum est et tale cuique sit quali corde ad accipiendum accesserit: Qui enim manducat et bibit indigne, judicium sibi manducat et bibit. Non ait aliis, sed sibi. Hierüber wird auch zwischen uns nicht zwiespältige Meinung bestehen. Wenn aber Petilian sich auf 2 Kor. 6: Nolite jugum ducere cum infidelibus berief, so antwortete Augustin: Verba apostoli agnosco, sed quid te adjuvent omnino non video. Quis enim nostrum dicit esse participationem justitiae cum iniquitate, etiamsi justus et injustus, sicut Judas et Petrus, pariter sacramenta communicent? Ex una quippe re Judas sibi sumebat judicium, Petrus salutem, sicut tu, si dissimilis eras, cum optato sacramentum sumebas et raptor sicut ille non eras. An rapina iniquitas non est? Quis ita insaniat, ut hoc non dicat? quae ergo participatio justitiae tuae cum illius iniquitate, quando ad unum accedebatis altare? Und wider denselben bemerkt Augustin: Certe si putatis, apud nos esse similes Judae, haec verba (Joh. 14) nobis dicite: Mundi estis, sed non omnes. Non autem hoc dicitis, sed dicitis: Propter quosdam immundos immundi estis omnes. Es handelt sich jetzt nicht um die Sache Petilians oder Augustins, aber der Grundsatz, den Augustin ausspricht, möchte heute noch gelten. Auch jener andere,| welchen Augustin wider Parmenianus geltend macht: Nos amemus potestatem Christi, gaudeamus in unitate. Si quis mali sunt in ecclesia, nihil nobis possunt nocere. Si non possunt nobis cum esse, excludantur salva pace. Si non potuerunt excludi, excludantur vel de corde. Sic nec propter falsos fratres nos separemus a matre. – Indessen läßt sich mir entgegnen: Das sind eben allgemeine Grundsätze, angewendet auf besondere Fälle; es fragt sich, ob der gegenwärtige Fall der gleiche ist und jene Grundsätze im vorliegenden Falle Anwendung finden dürfen.

 Ich muß da sofort zugeben, daß es sich jetzt um separatio nicht handelt; kann auch zugeben, daß es mit den falsi fratres jener und unserer Zeit nicht ganz gleiche Bewandtnis habe. Aber das muß ich von vorn herein bekennen, daß ich in keinem Falle eine Maßnahme rechtfertigen könnte, welche den oben genannten allgemeinen Grundsätzen so oder anders zuwider liefe.

 Was Du nun zunächst vorschlägst, scheint diesen Grundsätzen nicht zu widersprechen. Es fragt sich nur, ob nicht andern, die ich nicht minder festhalten muß. Du verlangst „bei Stetigkeit Möglichkeit der Bewegung“, d. h. nach dem Satze: „Mein Pfarrkind muß nicht mein Beichtkind, mein Beichtkind nicht notwendig mein Pfarrkind sein“, Freizügigkeit in bezug auf Beichtverhältnis neben Fortbestehen des Parochialverbandes. Von der angeführten römischen Praxis glaube ich absehen zu dürfen. Abgesehen davon, daß sie in direktem Widerspruch mit der nach meiner Meinung wohl bemessenen Vorschrift Leo des Großen[1] steht, geht sie im Verlauf der Zeit Hand in Hand mit einer Geschichte der ärgerlichsten Streitigkeiten, die am wenigsten damit beseitigt werden| konnten, daß man (bezeichnend genug) die cura animarum den Mönchen freigab, die jura parochi aber in bezug auf die Geldbezüge reservierte. Was noch davon besteht, besteht wenigstens im größten Teil von Deutschland jetzt anders als früher. Was Wallfahrten und Missionen mit sich bringen, gehört nicht hierher. Die Exemptionen einzelner Mönchsorden haben fast überall der Verwaltung bestimmter Parochien oder gelegentlicher Aushülfe durch Ordensgeistliche Platz gemacht. Aber auch wo jene Exemptionen stattfanden oder noch stattfinden mögen, war eben die Vorbedingung die, daß neben der Parochialgeistlichkeit ein Ordensklerus bestand. Wo kein solcher besteht, fällt alle ratio sufficiens weg. Denn der oberste Grundsatz war und blieb der Cyprians: Singulis pastoribus portio gregis adscripta est, quam regat unus quisque et gubernet, rationem sui actus Deo redditurus.

 Nach diesem Grundsatz kann wenigstens kein Pastor dazu kommen, von sich aus, wenn er nicht ἀλλοτριοεπίσκοπος ist, nach einer cura alienarum ovicularum zu begehren, oder die Verantwortlichkeit für einen Teil der ihm Anvertrauten damit los zu werden, daß er andern Hirten diesen Teil zugewiesen wünscht. Daß übrigens in diesem Punkte die Praxis unserer Kirche von je strenger war, als die der spätern römischen, halte ich für einen besondern Vorzug. Wer die Art kennt, wie man dort das Beichten abmacht, wer, wie ich, von Katholiken selbst gehört hat, das Beichten falle ihm nicht schwer; er gehe zu einem Geistlichen, der ihn nicht weiter kenne, und hole eben seinen Beichtzettel, der wird mir recht geben.

 Welchen haltbaren Vorgang haben wir also für die gewünschte „Beweglichkeit“? Unsere Väter hielten den Grundsatz Cyprians, den Satz jenes Karthaginiensischen Konzils, dem Augustin beiwohnte, und der da lautet: A nullo episcopo usurpentur plebes alienae, nec aliquis episcopus supergrediatur in dioecesi suum collegam, strengstens aufrecht. Was Luther zum 82. Psalm, was| er zu Gal. 1, 2 sagt, ist bekannt. Die strengen Bestimmungen der sächsischen Generalartikel vom 1. Januar 1580 § 9 werden im Gutachten der Wittenberger Fakultät vom 13. Mai 1656 (bei Dedeken) wiederholt. Sarcerius, der nicht der letzte ist, den Verfall der Kirchenzucht zu tadeln, bleibt bei ihnen. Heshusius duldet deren Auflösung nicht und sagt: „Es muß alles an seinem Orte und durch die, denen es Amtswegen gebühret, richtig und ordentlich erwogen werden, damit nicht das Amt der Schlüssel, welches der heilige Geist in der Kirche Christi durch die Diener Gottes führet, zusamt dem heiligen Nachtmahl wissentlich profaniert, der sündlichen Welt Lizenz Thür und Fenster geöffnet und unverantwortliche Konfusion in der Gemeinde Christi gestiftet werde.“ Und obwohl Hartmann, unter Berufung auf diesen seinen Vorgänger, den Fall vor Augen hat, wo ein ministerium in loco illo, quem incolit ovis aliena, corruptum est, und da Vorsorge verlangt, – bleibt er doch bei der allgemeinen Regel: Nemini, sub quocunque praetextu etiam fiat, licitum et permissum, alienam oviculam vel inscio vel invito pastore ordinario ad se trahere et ad absolutionem vel coenam s. admittere. Secus qui fecerint, non solum gravissimam aliquando reddituri Deo rationem, sed et disciplina ecclesiastica coercendi sunt. Nach dieser Vorschrift handelst Du selbst, indem Du Deinen Gemeindegliedern zum ausnahmsweisen Empfang des heiligen Abendmals an andern Orten Deine Erlaubnis erteilst.
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 Was in Städten jetzt üblich und insofern neueren Datums ist, als es in unserer Kirche vor Ausgang des 17. Jahrhunderts nicht vorkam, scheint mir ebenfalls nicht erheblich. Ein äußerlicher Grund, nämlich die große Freizügigkeit in bezug auf die Wohnungen, war der erste Anlaß. In der alten Zeit suchte man in großen Städten die Einheitlichkeit der Leitung und die Verantwortlichkeit| des eigentlichen Hirten, wie mir scheint, besser dadurch zu sichern, daß die Presbyter an den einzelnen Kirchen als Delegierte des Bischofs dastanden und ihr Amt übten. Ich will von all den Übelständen schweigen, welche, gar nicht in Zusammenhang mit Glauben oder Unglauben, zu Wählerei aus Gründen persönlicher Beliebtheit und allerlei Affekten menschlicher Schwäche auch unter sonst gleichgesinnten geistlichen Kollegen führen, und alles eher als ein Bild der Ordnung und Wohlanständigkeit darbieten.
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 Von all dem abgesehen halte ich aber das Princip des Freigebens des Beichtverhältnisses neben dem Bestand des Parochialverbandes nicht bloß für unvereinbar mit allezeit und allgemein anerkannten kirchlichen Grundsätzen, sondern auch für rein illusorisch und jeder denkbaren kirchlichen Ordnung widerstrebend. Ich sage zuerst: Es ist illusorisch; denn es führt konsequent zu viel weiterem als zur bloßen Lösung des Beichtverhältnisses. Wenn ich glaube, meine eigene Seele diesem oder jenem Beichtvater nicht anvertrauen zu dürfen, wie soll es denn mit dem Konfirmandenunterricht meiner Kinder werden? Oder was kann man mit Fug entgegnen, wenn jemand auch diesen Unterricht einem andern anvertraut wünscht, als dem, welchen er für sich nicht zum Beichtvater haben will? Ich muß, wenn ich principiell d. h. nicht unter Beschränkung auf einen einzelnen konkreten Fall und unter Beschränkung auf das persönliche Verhältnis einzelner Konfitenten, die Wahl des Beichtvaters frei lasse, auch principiell frei geben, wem man die eigenen Kinder zum Konfirmandenunterricht überlassen wolle. Was für ein Grund besteht weiter dafür, daß dann ein Parochus noch verpflichtet sein soll, Taufen, Trauungen, vor allem Beerdigungen bei denen oder deren Angehörigen zu verrichten, welche geglaubt haben, die zartesten Bande gewissenshalber lösen zu müssen? Gesetzt auch, diese oder deren Angehörige begehrten es, wie kann man eine bindende Verpflichtung hiezu dem Parochus auferlegen? Gewiß| nicht bloß deshalb, weil man ihm etwa die Stolgebühren reserviert.
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 Es kommt aber noch viel Ernsteres in betracht. Hält man die kirchliche Ordnung als Princip fest, so kann man jeden Ausnahmefall heilsam regeln. Hebe ich aber die Ordnung auf, so schaffe ich Zustände, die gleich zweischneidigen Messern nach entgegengesetzten Seiten hin durchschneiden. Die Sache wäre minder schlimm, wenn man einfach zwischen Gläubigen und Ungläubigen eine Scheidelinie ziehen könnte. Allein dazwischen gibt es ein Mittelgeschlecht Schwankender, Unentschiedener, Suchender. In dieser Region walten noch allerlei Gelüste, Sympathien oder Antipathieen vor. Sind diese Leute durch die Ordnung an ihren gläubigen Pastor gebunden, so schadet es ihnen nicht; noch weniger den gläubigen Geistlichen, welche in der Regel verkommen oder auf Abwege geraten, wenn sie verlernen, sich mit dem Herrn Christo auch der misera plebs anzunehmen. Erfahren aber diese Mittelschlächtigen vollends, daß sie keine Ordnung an ihren Pastor bindet, so werden sie alsbald das Joch, das ihnen mit der Zeit sanft werden könnte, abschütteln, und sich jene Lehrer aussuchen, nach welchen ihnen die Ohren jücken. Das könnte immerhin geschehen, wenn sie mit der Kirche förmlich gebrochen haben. Die Kirche selbst aber kann unmöglich die Hand dazu bieten, daß sie nach Belieben ihrer Weide nachgehen, so lange sie nicht sich selbst losgesagt haben oder in verdienter Weise ausgeschlossen worden sind. Sonst fürchte ich, daß, wenn man durch Ausscheidung bloß die Gläubigen sicher stellen will, das Wort Luthers eintreffe, wenn er sagt: „Du wirst es auch nicht dazu bringen, daß auf Erden solche Sonderung werde, da der Weizen von dem Unkraut ganz rein geschieden sei, das ist Sekten, Ketzer und falsche Christen von den rechtschaffenen; und ob Du gleich Dich wolltest des unterstehen, so richtest Du doch nichts aus, denn daß Du auch diejenigen, so noch zu belehren| sind und zu dem guten Weizen gehören, mit ausrottest.“ Gesetzt also auch, wir erfänden Maßnahmen, das Salz in der einen Lade wohl zu sichern, und in die andere das Fleisch zu legen, so käme doch nur auf unsere Rechnung, wenn durch unsere Fürsorge das letztere faul würde. Der Hauptpunkt aber bleibt immer der, daß keine Kirche als oberste Regel aufstellen kann und darf, sie gebe es den in ihr Getauften und Konfirmierten frei, sich nach Belieben diesen oder jenen, gläubigen oder ungläubigen orthodoxen oder heterodoxen Hirten anzuschließen. Das scheint aber als möglich gedacht; denn es ist ausdrücklich von rationalistischen Pfarrern und rationalistischen Gemeindegliedern die Rede, welche sich gegenseitig unter Genehmigung zusammenschließen mögen. Soll wirklich darin die Wahrung unserer Pflicht und die Heilung der bestehenden Schäden gefunden werden?
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 Was aber ist zu thun? Ich antworte zunächst: Man halte die Regel aufrecht, mache sie aber nicht zu einem Banne, der einesteils geängstete Gewissen unbedingt und falsch bände, andernteils verhinderte, daß geheime Schäden zu tage kommen und pflichtvergessene Geistliche zur Verantwortung gezogen werden. Es ist mir bis jetzt kein Fall bekannt, wo man durch Verbot, ein Beichtverhältnis zu lösen, beunruhigte Gewissen geschädigt hätte. Aber das könnte ich unter allen Umständen nicht gutheißen, daß man von vornherein jede Verpflichtung zur Ordnung aufhöbe und im Bestreben, Gläubigen und Wohlgesinnten die Wege leicht zu machen, zugleich den Übelgesinnten, Widerwilligen oder vielleicht auch nur Neuerungssüchtigen Zügel und Zaum abnähme. Anders aber läßt sich nicht die Wirkung eines allgemein gehaltenen Rescripts über freie Wahl des Beichtvaters denken. Denn wenn man dasselbe auch noch so sehr mit einschränkenden Bedingungen umgäbe, so trüge es doch, so man sich nicht für jeden einzelnen Fall höhere Entscheidung vorbehielte, die Natur eines Freipasses an sich, aus| welchem auch völlig unberechtigte ein jus quaesitum machen und der besonderen Untersuchung und Entscheidung ihrer Anliegen sich entziehen könnten. Auch könnte ich nicht billigen, wollte man, selbst wenn es möglich wäre, die treuen Gemeindeglieder von ihrer Pflicht, wider untreue Lehrer zu zeugen, deswegen dispensieren, weil es ihnen schwer falle ihre Pfarrer anzuklagen. Denn den Zeugenmut möchte ich nicht mit Dispensation von Anklage und Zeugnis in Versuchung führen, zu schweigen. Ebenso wenig ließe sich endlich rechtfertigen, wenn man eine bestehende gerechtfertigte Ordnung deshalb aufheben wollte, weil da und dort die nächsten Träger derselben in deren Vollzug sich übel verhalten, unbegründete Schwierigkeiten erheben und aus der Ordnung ein unbedingt zwingendes Gesetz machen könnten. Es wäre vielmehr in höchster Instanz zu überwachen, daß dem nicht so geschähe, und wenn doch, dann gegen Zuwiderhandelnde einzuschreiten. Denn kein lutherisches Kirchenregiment, und ebensowenig das gegenwärtige bayerische, kann und darf den Parochialverband in der Art als bindend und unverletzlich ansehen, daß es nicht in besondern, das Beichtverhältnis angehenden und sich darauf beschränkenden Beschwerden auf Abhülfe bedacht sein und dieselbe gewähren müßte. Dergleichen Fälle sind allezeit vorgekommen und Gegenstand amtlicher Gutachten und Entscheidung geworden.
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 So und nicht anders müßte nach meinem Dafürhalten auch jetzt geschehen. Es wären die Fälle zu bezeichnen und zur Kenntnis zu bringen, in welchen bezüglich des Beichtverhältnisses eine Exemtion vom Parochialverband gewünscht wird. Da könnte und müßte das Kirchenregiment nach allgemeinen, anerkannten und in der lutherischen Kirchenpraxis bereits gehandhabten Principien entscheiden und abhelfen. Denn um diese allein handelt es sich hier, nicht um bei uns bestehende, mir wenigstens unbekannte Verordnungen. Wenigstens bezieht sich die Oberkonsistorialverfügung| vom 26. Februar 1830 nur auf Städte oder solche größere Gemeinden, an welchen mehr als ein Geistlicher steht. Von ihr aus läßt sich direkt keine weitere Anwendung machen.“
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 In Erwiderung auf diesen Brief entgegnete Löhe (anknüpfend an eine inzwischen gepflogene mündliche Besprechung mit Harleß), daß er von dem Vorschlag des letzteren, die Sache sich an einzelnen Fällen abwickeln zu lassen, nicht viel hoffen könne. Er meint, es werde sich an den einzelnen Fällen nicht bloß recht intensive Leidenschaft entwickeln, sondern die Sache selbst könne sich daran nur noch mehr verwickeln. Die einzelnen Fälle würden nur in der Darstellung und Beleuchtung, welche ihnen die Unterbehörden gäben, und infolge dessen häufig entstellt zur Bescheidung des Oberkonsistoriums gelangen und an den verderbten und entstellten Fällen werde sich schwer eine gute allgemeine Regel entwickeln lassen. Zur Entscheidung von Fällen gehörten Grundsätze, aus denen die rechten Entscheidungen kommen könnten – und ein wohlwollendes Herz gehöre auch dazu. Löhe weist hierauf an einigen eben vorliegenden instruktiven Fällen nach, in welche Not gewissenhafte Geistliche und Laien bei den gegenwärtigen kirchlichen Zuständen in den Gemeinden geraten könnten, und kommt dann wiederholt auf seinen früheren Vorschlag zu sprechen, dieser Not durch Ordnung des Beichtverhältnisses im Sinne größerer Freiheit Abhülfe zu schaffen. „Es war – sagt er – schon im Jahre 1852 meine entschiedene Überzeugung, daß durch Regelung des Beichtverhältnisses im Sinne der Ordnung und bei freierer Bewegung Herde des Lebens in der Landeskirche möglich würden, welche ebenso Sammel- und Rettungspunkte der Besseren, als Belebungs- und Anziehungspunkte für andere werden könnten. Ich bin der Überzeugung noch – bei einer Praxis, welche seit 1852 so sehr zugenommen hat, die mich aber nichts anders gelehrt hat. Gegenwärtig aber hilft die so notwendige Regelung des Beichtverhältnisses nicht,| wenn sie bloß einseitig geschieht; ich meine, wenn bloß die Frommen die Erlaubnis bekommen, ihres gleichen Beichtväter zu suchen. Es müssen die Gegner auch zu solchen Leuten gehen dürfen und gewiesen werden können, die ihres gleichen sind. Diese Massen werden durch die Zucht nicht besser; man kann ihnen damit kaum nahen; sonst machen sies wie der Ochse, den der Knabe reizt, welcher ihn treibt; sie wenden sich gegen die Treiber.

 Du wirst sagen: Dann aber ist ja der Parochialverband nur mehr etwas äußerliches; die Scheidung ist da. Meine Antwort: Es ist dennoch der friedlichste Weg der unvermeidlichen von Gottes Wort gebotenen Scheidung. Durch das Zusammenbleiben verdirbt alles, auch was lebt; exempla trahunt. Durch Auseinandergehen werden viele gerettet; auch der abscheidende schlechte Teil kann seiner Nichtigkeit müde und besser werden. Die Kirchengeschichte zeigt hiefür Beispiele.

 „Also willst Du eben doch die Scheidung?“ wirst Du fragen. Meine Antwort ist die: Ich will keine Scheidung, wenn sie vermieden werden kann. Es handelt sich aber ums Leben. Die besseren Glieder der Landeskirche und ihre gleichgesinnten Diener, denen man doch wahrlich auch das Recht zu leben und zu gedeihen in einer lutherischen Landeskirche zugestehen muß, müssen nach Christi und seiner Apostel Worten leben können und dürfen. Kann ihnen das werden, so mag die äußerliche Scheidung eintreten oder nicht; sie werden zufrieden sein. Jedenfalls scheiden sie nicht aus, weil sie sich das Recht zu leben zuschreiben müssen; sondern, wenn es nicht anders ist, lassen sie sich eben ausstoßen.“

 Löhe verhehlte sich freilich nicht, daß die von ihm gewünschte Loslösung des Beichtverhältnisses vom Parochialverhältnis in der Ausführung auf große Schwierigkeiten stoßen würde, da „beide so nah an einander grenzen“. Es ist allerdings die Frage, ob die Übel der Landeskirchen eines solchen Remediums überhaupt nur| fähig sind. Harleß glaubte diese Frage verneinen zu müssen. So gab er denn Löhe zur Überlegung anheim, ob er nicht die Zurückziehung der Eingabe vom 22. April oder wenigstens die Substituierung einer anderen Eingabe veranlassen wolle. Etwas was in seinen Folgen zu einer chaotischen Auflösung ohne gleichen führen würde, könne vom Oberkonsistorium nicht gut geheißen werden. Nach dieser Seite könne eine abschlägige Antwort dem Kirchenregiment nicht schwer fallen. Er aber würde bei der jetzigen Lage der Dinge nichts tiefer beklagen, als wenn entweder vor dem Zusammentritt der Generalsynode oder auf ihr verlautbarte: Löhe und die Seinigen seien nun auch in Differenz mit den Kirchenbehörden. Ihn persönlich würde das beim Gedanken an die Sache schwerer drücken als alle Adressen des städtischen Janhagels zusammengenommen.
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 Löhe erwiderte hierauf in einem Briefe vom 29. Juli 1857, daß er und seine Gesinnungsgenossen in der Absicht bei bevorstehender Eröffnung der Generalsynode dem Oberkonsistorium und Harleß insbesondere den Gang nicht zu erschweren, die Eingabe vom 22. April beruhen lassen wollten. Sei auch die Eingabe bisher nicht zur offiziellen Vorlage vor dem Kollegium gekommen, so sei doch durch die privaten Verhandlungen ein gewisses Resultat erreicht. Die Unterzeichner der Eingabe hätten durch die offene Aussprache der Grundsätze, nach denen sie entschlossen seien zu handeln, ihr Gewissen erleichtert; andrerseits sei ihnen die Einsicht verschafft worden, daß auf kirchenregimentlichem Wege eine Möglichkeit der Hilfe nicht abzusehen sei. Es handle sich eben nicht um Abhilfe in einzelnen Fällen, sondern um Abstellung von Zuständen, die allerdings ein anderes Vorgehen erheischten, als das welches nach den bestehenden Verordnungen möglich sei. Er für seine Person sehe übrigens weder Unordnung noch Chaos, wenn unter einem Oberkonsistorium neben einem reformierten Dekanat etc. auch eine lutherische Synode der strengeren Observanz bestände. Käme es| nicht zu einer derartigen friedlichen Auseinandersetzung, so – fürchte er – würden nichts als Scheinzustände erreicht, falls die Feinde des HErrn sich es nämlich noch länger gefallen ließen mit den Gläubigen zusammen eine Landeskirche zu bilden. Im weiteren verwahrt sich Löhe gegen die ihm von manchen Seiten imputierte Absicht: er habe Unmögliches verlangt, um etwas anderes als einen Abschlag zu bekommen. Er stellt diese Absicht aufs entschiedenste in Abrede und fährt dann fort: „Wir alle, denke ich, sind überzeugt, daß man in einer Landeskirche sein kann, und so lang man kann und zumal das Recht auf seiner Seite hat, bleiben soll. Alle wünschen, daß man möge kirchlich und schriftmäßig handeln können.... Vor allem aber muß man ein gutes Gewissen haben, welches man eben nicht haben kann, wenn man sich der Mitschuld nicht erwehrt, die andere auf sich laden, indem sie tragen was so wenig nach Augustini und der von Dir angezogenen Auktoritäten Sinn zu tragen ist als nach unserm. Wir können nicht weniger als zeugen. – Laß mich einfach reden und dulde meine Rede, ich rede in herzlicher Liebe. Ich würde nie geraten haben, daß die letzten Reskripte, welche den Bodensatz des Gefäßes aufrührten, so hinaus giengen. Aber da sie kamen, waren ich und meines gleichen dafür.... Wir waren aufrichtigst mit dem Kirchenregiment. Wir waren jahrelang still und freuten uns, wenn auch vielfach doch mit Schmerzen. Es gibt aber Zeiten, wo der HErr spricht: „Wenn diese schweigen, müssen die Steine schreien.“ – Es handelt sich bei mir um nichts als um gut Gewissen. Daher das wiederbegonnene Zeugnis. Ich bete, daß es Dir auf der Synode gelinge und bin stille; man lege es aus wie man will. Ich habe an diesen Landeskirchen keine Freude, ich finde die Principien des Regiments insgemein papistisch, (sollen doch die Pfarrer Organe der Kirchenregimente sein); ich wünsche anderes, sage unverholen meine Meinung, aber das alles hindert mich nicht, wenn| Wahrheit und Zucht, Konfession und rechte Sakramentsverwaltung emporkommen, der gehorsamste Landpfarrer zu sein, den Du hast, und wie bisher, Gott auch für die bestehende Ordnung zu preisen.“[2]
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|  So zog denn Löhe im Namen seiner Mitunterzeichner die Eingabe vom 22. April zurück, und zwar mit der oben erwähnten Motivierung, daß die Unterzeichner, wiewohl ihr Sinn inzwischen kein andrer geworden sei, dennoch unter den gegenwärtigen Umständen dem Oberkonsistorium den vielleicht ohnehin nicht leichten Weg ihrerseits nicht noch erschweren wollten.

 Eine praktische Folge hatte somit die Eingabe nicht gehabt. Doch war eine kirchliche Frage von nicht geringer Wichtigkeit angeregt und von zwei allerdings sehr verschiednen Standpunkten aus beleuchtet worden. Harleß vertrat vom Standpunkt des Kirchenregiments aus das Interesse der Ordnung, Löhe vom pastoralen Standpunkt aus das Interesse des individuellen Heilsbedürfnisses und das Recht der persönlichen Freiheit des Christen. Ob eine befriedigende Ausgleichung beider Interessen in einer Landeskirche überhaupt möglich ist, steht freilich dahin.




 In Folge der Zurückziehung dieser Eingabe hatte sich die Generalsynode von 1857 ausnahmsweise nicht mit Verhandlungen über Löhesche Beschwerden und Anträge zu befassen. Aus Rücksicht auf das Kirchenregiment und dessen noch nicht wieder hinlänglich befestigte Stellung hielt er sein ceterum censeo diesmal zurück. Die Generalsynode verlief übrigens doch friedlicher als man vorher gedacht hatte, sei es, daß der Sturm des vergangenen Jahres weniger ein naturwüchsiger Ausbruch, als eine künstliche Aufregung des Unwillens verständnisloser, unkirchlicher Massen gewesen war, oder daß die Opposition gegen das Kirchenregiment, weil sie ihr Ziel nicht im ersten Anlauf erreicht hatte, bereits ermüdet und in | sich zusammengesunken war. Wir haben übrigens hier keine Veranlassung, auf die Verhandlungen dieser Generalsynode näher einzugehn.





  1. Ep. ad Maximum Antiochenum episc. wider das Predigen von Mönchen in den Parochialkirchen.
  2. Diese Aussprache Löhes über seine innere Stellung zu den Landeskirchen glauben wir durch eine andere Äußerung bei einer Versammlung der Gesellschaft für innere Mission im Jahre 1856 ergänzen zu sollen. Er sagte dort unter anderm: „Ich bin kein Lobredner der Landeskirchen, ich sehe in ihren Gestaltungen nicht das beste was es geben könnte: ich verwerfe sie aber auch nicht, ich erkenne das konservierende und pädagogische Element in ihnen, gönne es den Gemeinden, so wie sie sind, und wünsche vor allem eins, daß sie von den Sonderkirchen den rechten Ausbau der einzelnen Gemeinde, deren Hebung und Förderung möchten lernen und wenn es sein kann, hierin die Sonderkirchen übertreffen.“ Speziell auf sein Verhältnis zur bayerischen Landeskirche übergehend fährt er dann fort: Ich bin ein bayerischer landeskirchlicher Pfarrer, aber ich bin ein solcher landeskirchlicher Pfarrer, der von Anfang seines Amtslebens an bis hieher und von hiean bis an das Ende seiner Tage nicht zufrieden sein kann und wird, wenn die von ihm geliebte Landeskirche, die Kirche seiner süßen Heimat sich nicht losringt von den Schäden, welche die vergangene Zeit ihr angehängt hat, nicht entgegenringt den besseren Zuständen, welche sie haben kann. Ich weiß, daß gewisse Übelstände, namentlich die verfassungsmäßigen, bisher nicht gewichen sind und am Ende auch nur dann weichen können, wenn die innern Zustände der Landeskirche besser werden, und ein neuer Wein sich neue Schläuche schafft. Ich weiß aber auch, daß die Verfassung einer Kirche nicht die Hauptsache ist, daß sie aufhören kann für die Lebenden ein Unrecht zu sein, daß sie zum Kreuz und Leiden werden kann. Ich sehe ferner, daß es anders steht als früher. Diejenigen, welche durch Gottes Vorsehung an die Spitze unsrer Landeskirche gerufen sind, können durch meine Äußerungen an dieser Stelle nicht einmal berührt werden. Aber ich freue mich doch, sagen zu dürfen, daß ich oft schon mit Rührung und Freude die Früchte ihrer Verwaltung betrachtet, ihre Befehle und Anordnungen gelesen, mit Freuden vollzogen und die Überzeugung gewonnen habe, daß ihnen das Heil und die Wohlfahrt der lutherischen Kirche tief zu Herzen geht. Ein Mann kann keine größere Freude haben als da zu gehorchen, wo so wohl regiert wird. Ich sehe, daß hier eine andere Zeit gekommen ist... Einen Punkt aber, der aus dem Erbe voriger Zeiten mir weitaus am wehsten thut, darf ich hier ohne Heuchelei nicht verschweigen: „es ist die Abendmahlsgemeinschaft [467] mit Andersgläubigen“ etc. Daß diese Erklärung Löhes über seine Stellung zur bayerischen Landeskirche vor den Stürmen des Jahres 1856 abgegeben worden ist, benimmt ihr ihre Bedeutung nicht.


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