Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Erster Theil/Viertes Buch

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[208]
Viertes Buch.
Von der Freundschaft und von der Geschlechtszärtlichkeit. [1]


Erstes Kapitel.
Einleitung.

Ich darf es ohne Anmaßung behaupten: es hat uns niemand bis jetzt eine Erklärung von der Freundschaft gegeben, die dem Fehler der Unbestimmtheit auswiche, oder den Launen der Sprache des gemeinen Lebens begegnete, welche bald jede Einträchtigkeit bey vorübergehender Bekanntschaft, bald nur leidenschaftliche Aufopferung mit diesem Nahmen bezeichnet. Wenigstens hat man bis jetzt Freundschaft von Geschlechtszärtlichkeit nicht gehörig unterschieden. Man hat gesagt: Freundschaft sey ein schwächerer Grad der Liebe! Aber was heißt hier Liebe? und worin besteht ihre Stärke? Hat man nicht das Wort eines Freundes, der zu dem andern sprach: deine Liebe war mir mehr als Frauenliebe!

[209] Man hat gesagt: Freundschaft sey Gutthätigkeit gegen Personen, die wir uns verbinden wollen. Aber Freundschaft ist angewöhnte Stimmung, nicht ein einzelner Akt; Freundschaft ist nicht selbstisch, sie beglückt nicht um verbindlich zu machen. Wie! der Wollüstling, der das unerfahrne Mädchen, das künftige Opfer seiner Lüste durch Geschenke zu gewinnen sucht: der enthusiastische Liebhaber des Schönen, der den Virtuosen liebkoset; handeln die als Freunde?

Man hat gesagt: Freundschaft sey die Knüpfung zweyer Herzen zu einem gemeinschaftlichen Zweck; eine Verschränkung der Herzen und Hände in Leid und Freude, selbst unter Gefahren. – Schönes Bild einer angewöhnten oft liebenden, oft aber auch fein selbstischen Genossenschaft! Unterscheidest du den Gemeingeist der Sekten, der Parteyen, der Familien, der Mitbürger eines Staats, ja, sogar der Theilnehmer einer Lage, von der Freundschaft?

Man hat gesagt: Freundschaft sey Anhänglichkeit an Menschen, die durch ihre innere Vortrefflichkeit uns selbst Nutzen und Vergnügen zuführen, und den Wunsch in uns hervorbringen, sie wieder zu beglücken. Aber diese Anhänglichkeit, wenn sie auch der Liebe und nicht der Pflicht, nicht dem Beschauungshange und der feineren Selbstheit gehören sollte, unterscheidet Freundschaft weder von dem liebenden Patronat, noch von der liebenden Genossenschaft. Ja, es giebt unstreitig auch Freundschaften unter schlechten Menschen.

Man hat gesagt: Freundschaft sey die Zusammensetzung zweyer Personen zu einer. Richtig! Aber unterscheidet sie sich dadurch von Geschlechtszärtlichkeit?

[210] Endlich hat man gesagt: Freundschaft sey Liebe zwischen Personen von dem nehmlichen Geschlechte. Wahr! Aber wie vieldeutig sind die Worte: Liebe und Geschlecht, in dem Munde des großen Haufens!

Wir haben beydes bisher zu erklären gesucht, und ich hoffe, es wird uns nicht schwer werden, diesem letzten, an sich richtigen Begriffe die nähere Bestimmung zu geben.


Zweytes Kapitel.
Freundschaft ist eine Art von Zärtlichkeit.

Freundschaft ist keine vorübergehende Aufwallung; sie ist dauernde, angewöhnte Stimmung unsers Wesens zur Zuneigung gegen eine bestimmte Person. Wir lachen über das Kind, und über den kindisch gesinnten Menschen, die in einer Stunde, in einer Woche vielleicht, Freundschaften gestiftet zu haben glauben, die in der Stunde, in der Woche darauf, vergessen werden.

Freundschaft ist eine liebende Anhänglichkeit. Das wonnevolle Streben nach der Ueberzeugung, daß der Verbündete sich selbst glücklich fühle, muß unter den Affekten, welche er uns einflößt, die Oberhand behalten. Wir würden wieder über denjenigen lachen, der uns versichern wollte, er sey der Freund des verstorbenen Helden, dessen Vorzüge ihn begeistern; und wir würden denjenigen zugleich verachten, der sich den Freund des Reichen nennen wollte, dessen Schwächen er um seines Vortheils willen schmeichelt.

Freundschaft ist zärtliche Anhänglichkeit, angewöhntes Streben nach der Ueberzeugung, daß man sich durch Vereinigung der Naturen wechselseitig beglücke. Der [211] wohlwollendste Fürst, der von seinen Unterthanen angebetet wird, hat dennoch Mühe, einen Freund unter ihnen zu finden. Es wird zur Freundschaft nothwendig eine solche Uebereinstimmung des Geschmacks und der Verhältnisse vorausgesetzt, daß wir das Ganze der Person des Verbündeten auf die Art glücklich zu sehen wünschen, wie wir mit unserer Person im Ganzen es seyn möchten, und daß wir ihm eine ähnliche Gesinnung von seiner Seite zutrauen. Freunde müssen in ihrer Natur, in ihrer engsten Sinnlichkeit, in ihren herrschenden Trieben Aehnlichkeit mit einander haben, und in einerley Genuß zusammentreffen können. Wo dem anders ist, da bleiben die sogenannten Freunde nur treue Genossen.

Auch von der Zärtlichkeit der Kinder zu ihren Eltern, und dieser zu jenen, sondert sich Freundschaft ab. Ich verlor einen Freund an meinem Sohne! sagte der Vater, dem der Jüngling entrissen wurde, um den Genuß zu bestimmen, den er bereits von seinem Umgange hatte. Mein Vater war zugleich mein Freund! sagt die beraubte Waise, um die Art des Antheils zu bestimmen, den sie an dem Erzeuger nahm. Und diese Zeugnisse sind leider nur Ausnahmen.

Aber hier steh ich nun an der Grenze, welche Freundschaft von der Geschlechtszärtlichkeit absondert. O Freund! o traute selbstgewählte Schwester! daß das Bild des verschiedenen Antheils, den ich an euch nehme, in einem ruhigen Momente wie ein fernes Andenken vor meine Seele trete, damit mein Verstand die Gefühle entwickeln könne, die mein Herz gewöhnlich zu lebhaft empfindet, als daß ich ihre Eigenheiten nach deutlichen Merkmahlen unterscheiden könnte!

[212]
Drittes Kapitel.

Freundschaft beruht auf Sympathie mit dem Gleichartigen; Geschlechtszärtlichkeit auf Geschlechtssympathie.

Der wahre Unterschied zwischen Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit liegt meiner Ueberzeugung nach darin, daß jene die Sympathie mit dem Gleichartigen hauptsächlich zur Befriedigung liebender Affekte und einer zärtlichen Anhänglichkeit nutzt; diese hingegen die Geschlechtssympathie.

Wenn ein Mensch, in dessen Wesen Stärke prädominiert, mit einem Menschen von gleichem Wesen, d. h. Mann mit Mann, ihre männlichen Naturen vereinigen, um sich durch den gemeinschaftlichen Genuß der erhöheten Wirksamkeit ihres stärkeren männlichen Wesens wechselseitig zu beglücken; – so bilden sie ein Paar, das in Vergleichung mit allen einzelnen Individuen ihres Geschlechts als eine vollständigere Person der nehmlichen männlichen Art erscheint; und dieß ist – Freundschaft.

Wenn der Mensch, in dessen Wesen Zartheit prädominiert, mit dem Menschen von gleichem Wesen, Weib mit Weib, ihre weiblichen Naturen vereinigen, um sich im gemeinschaftlichen Genuß der erhöheten Wirksamkeit ihres zärteren weiblichen Wesens wechselseitig zu beglücken; – so bilden sie ein Paar, das in Vergleichung mit allen einzelnen Individuen ihres Geschlechts als eine vollständigere Person der nehmlichen weiblichen Art erscheint; und dieß ist wieder – Freundschaft.

Wenn hingegen der Mensch von stärkerem Wesen, der Mann, sich gegen einen Menschen von zärterem Wesen, das Weib, im Verhältnisse geschmeidiger Stärke [213] gegen hebende Zartheit fühlt, und beyde ihre so modificierten Naturen vereinigen, um sich durch den gemeinschaftlichen Genuß einer gespannten Zärtelung wechselseitig zu beglücken; – so bilden sie zusammen ein Paar, das in Vergleichung mit allen einzelnen Individuen eines jeden der beyden Geschlechter, und der gepaarten Personen von einerley Geschlecht, als eine vollkommnere Person der Gattung nach erscheint. Sie vereinigen Vorzüge, welche jene nicht an sich tragen, und welche doch einzeln bey den Individuen der beyden Geschlechter angetroffen werden. Diese, beyde beglückende Vereinigung ist – Geschlechtszärtlichkeit.

Geschlechtszärtlichkeit wird oft Freundschaft zu Personen vom andern Geschlechte genannt; ich würde sie selbst so nennen, wenn ich nicht Mißverständnisse befürchtete. Denn unstreitig hat diese Geschlechtszärtlichkeit alles mit der Freundschaft gemein, bis auf die Art der Sympathie, welche die Verbündeten hauptsächlich an einander zieht.

Auch hier wird eine gewisse Uebereinstimmung des Geschmacks und der äußeren Verhältnisse vorausgesetzt; damit die Verbündeten sich fühlen, sich verstehen, in einem Genuß des Lebens zusammentreffen können. Ich habe es bereits im zweyten Buche gesagt: Freundschaft unter Personen von verschiedenem Geschlechte, Geschlechtszärtlichkeit, kann nicht entstehen, wenn nicht der Mann die Frau so weit zu sich herauf hebt, und sie ihn so weit zu sich herabzieht, daß sie beyde wechselseitig an der Begünstigung ihrer herrschenden Triebe unmittelbar Theil nehmen können. Und zwar nicht bloß in einem oder dem andern Punkte, sondern in solcher Ausbreitung und [214] Allgemeinheit, daß bey beyden das Bewußtseyn entstehe, sie verbinden ihre Personen, ihr Ganzes.

Der Orientaler kann der Regel nach keine Geschlechtszärtlichkeit für seine Gattin empfinden. Er kann sie leidenschaftlich lieben, aber er kann sie nicht als die traute, selbst gewählte Schwester oder Freundin betrachten. Warum? Sie ist eingekerkert; sie theilt nicht die Befriedigung seiner herrschenden Triebe, die auf Macht, Ansehn, Vermögen und gesellige Unterhaltung gehen. Er theilt nicht ihre einsamen oder geselligen Vergnügungen. Zuweilen, aber nur selten, treffen sie im Genuß häuslicher Freuden zusammen. Aber diese Vereinigung geschieht zu einzeln, und das Vergnügen, das sie ihm giebt, ist bey ihm andern Wonnearten zu sehr untergeordnet, als daß das Bild einer Vereinigung im Ganzen daraus entstehen könnte. Der Mann im Orient schämt sich vielmehr eines zu häufigen und anhaltenden Aufenthalts in seinem Harem, und wenn er darin ist, so behandelt er seine Weiber und die Mutter seiner Kinder mit einem Stolze und einem Uebermuthe, die deutlich zeigen, daß er sie nur als Mittel betrachtet, ihm jene häuslichen Freuden zuzuführen. Dieß Verhältniß ist keine Vereinigung der Naturen, keine wahre Zusammensetzung der Personen; es ist eine bloße Anschließung des Persönlichen an die Person, höchstens ein liebendes Patronat auf der einen, und liebende Clientel auf der andern Seite; ein Verhältniß, das gleichfalls zwischen dem Herrn und seinem Sklaven Statt finden kann[WS 1].

Der Republikaner in den ältern griechischen Staaten ging vielleicht nur um einen Schritt weiter als jener Orientaler. Er war, wenn er seine Gattin liebte, der [215] Regel nach nur ihr treuer, liebender Genosse im Hause. Seine herrschenden Triebe gingen nach Bürgerruhm, nach öffentlicher Thätigkeit, nach geselliger Unterhaltung mit Männern. Freuden, die er in der Familie und in größeren gemischten Zirkeln einnehmen konnte, waren diesen theils untergeordnet, theils waren sie ihm unbekannt. Die Matrone nahm freylich an dem Ansehn, dessen der Mann bey seinen Mitbürgern genoß, Antheil. Sie legte Werth auf die Achtung, die ihr für ihre Person von dem Publiko bezeugt wurde; aber der Gelegenheiten waren wenige, worin sie diesen Genuß unmittelbar mit dem Manne hätte theilen können. Sie war beynahe ganz auf das Innere des Hauses beschränkt, dessen Führung ihr anvertrauet war. Der Gatte traf freylich hier in einem Genuß mit ihr zusammen; er freute sich mit ihr des Fortkommens ihrer gemeinschaftlichen Wirthschaft, der Fortschritte ihrer gemeinschaftlichen Kinder, und nahm mit ihr gleichen Antheil an sinnlichen Freuden. Aber alles dieß war doch nur Verbindung in einzelnen Punkten, die der Regel nach nicht hinreichte, das Bild einer Vereinigung im Ganzen bey dem griechischen Manne und seiner Gattin zu erwecken. Die Personen setzten sich nicht zusammen durch Vereinigung der Naturen.

In unsern heutigen moralischen Staaten findet Freundschaft unter beyden Geschlechtern, Geschlechtszärtlichkeit, viel eher Statt. Die Frau lebt mehr außer Hause; sie nimmt einen unmittelbareren und häufigern Antheil an den Auszeichnungen, die ihrem Manne widerfahren. Sie theilt seinen Rang, sein Ansehn im Staate. Sie theilt die Folgen, die dieß für ihn in den geselligen Zirkeln der örtlichen Gesellschaft hat, und sogar [216] die Wirkung, die seine persönliche Liebenswürdigkeit auf diese Zirkel zu seinem Vortheile hervorbringt. Der Mann glänzt dagegen oft durch seine Gattin: wird oft um ihretwillen gelitten und durch sie getragen. Bey vermindertem Reitze der öffentlichen Thätigkeit und des Bürgerruhms, wird höherer Werth auf allgemeine Sittlichkeit, geselligen Anstand, häusliche Tugend und Familienglück gesetzt, und beyde Geschlechter machen ungefähr gleichen Anspruch daran. Beyde Verbündete nehmen häufiger an einerley Unterhaltung Antheil. Kenntnisse, Künste, Gegenstände der Beobachtung, des Nachdenkens, der Beurtheilung, werden gemeinschaftlicher unter ihnen; kurz, die Verbindungspunkte vermehren sich durch eine größere Uebereinstimmung in den herrschenden Trieben beyder Geschlechter, und durch das Zusammentreffen in einerley Genuß ihrer Begünstigung. Der Mann schließt nunmehr nicht bloß Einiges von seinem Persönlichen an die Person des Weibes an: nein, er setzt seine Person mit der der Gattin zusammen, er vereinigt seine Natur mit der ihrigen, und empfindet für sie Freundschaft, oder besser, Geschlechtszärtlichkeit.

Aber wie gesagt, die Natur, die er mit der des Weibes vereinigt, ist nicht die Natur, die er mit der des Freundes verbindet. Die Person die er mit ihr zusammensetzt, erweckt nicht den nehmlichen Begriff, den die Person zweyer Freunde begründet. Hier ist es ein Paar, das sich zusammen durch die erhöhete Wirksamkeit seiner Stärke, – oder wenn es Weiber sind, seiner Zartheit – so glücklich fühlt, wie es kein einzelnes Individuum der nehmlichen Art seyn würde; dort ist es das Paar, das sich durch die gleichzeitige Wirksamkeit seiner Stärke und Zartheit so glücklich fühlt, wie es die einzelne Person der [217] Gattung, oder die aus zwey Wesen gleicher Art gepaarte Person nie seyn könnte.


Viertes Kapitel.
Beweis.

Ich glaube den angegebenen Unterschied nicht besser rechtfertigen zu können, als wenn ich zu den Klassen von Menschen, bey denen sich die Begriffe über ihre geselligen Verhältnisse als bloße Ahndungen darstellen, herab, und dann zu den gebildeteren Klassen wieder hinaufsteige, bey denen mehr geläuterte Vorstellungen vorausgesetzt werden können. Finde ich bey allen die Idee, daß der Freund ein Mensch ist, der die herrschenden Triebe der prädominierenden Disposition zur Stärke oder zur Zartheit in ihrer Natur erhöhet, und daß sie dieß Verhältniß noch genau von demjenigen unterscheiden, worin sich ihre geschmeidige Stärke gegen die hebende Zartheit eines andern Menschen bey der genauesten Verbindung befindet, so wird wohl das Wahre meiner aufgestellten Sätze nicht bezweifelt werden können.

Was gehört zur engsten Sinnlichkeit des Mannes unter den Wilden, in so fern er sich von den Weibern seines Volks in dieser Rücksicht unterscheidet? Er strebt nach dem Bewußtseyn seiner physischen Kraft und nach gewaltsamer Spannung seines Gemüths, im Kriege, auf der Jagd, bey gefährlichen Unternehmungen jeder Art, bey lärmenden Gelagen, wo erhitzende Getränke und erschütternde Auftritte sein Blut in Wallung und seine Einbildungskraft in rege Schwingung versetzen. Das sind seine herrschenden Triebe von der stärkeren Art; das ist seine männliche Natur. Und wer [218] ist nun sein Freund? Derjenige, der ihm zur Seite ficht in der Schlacht und beym Angriff wilder Thiere: derjenige, der an seiner Seite den Schädel des erschlagenen Feindes am häufigsten ausleert und die stärkste Lache neben der seinigen aufschlägt; kurz, der Waffenbruder, der Genosse seiner Gefahren und Belustigungen.

Das Weib unter eben diesen rohen Völkern liebt dagegen das Gefühl physischer und geistiger Allmähligkeit; abwechselnde Beschäftigungen, Emsigkeit ohne Anstrengung. Daher der Geschmack dieses Geschlechts an Besorgung des wirthschaftlichen Details und des Putzes; daher sein Tändeln und Geschwätz bey geselligen Zusammenkünften zur Erheiterung. Daher auch zum Theil die Neigung der Weiber zur Wartung kleiner Kinder, und zum Kosen mit ihnen. Das ist ihre Natur, die engste Sinnlichkeit ihres Geschlechts. Und wen nennt nun die Frau unter den Wilden ihre Freundin? Diejenige, die eben so gefällig als gewandt ihr die häusliche Arbeit mit angreifend erleichtert, beym Geschwätz ihr das willigste Ohr und die geläufigste Zunge leihet, und bey ihren mütterlichen Sorgen und Freuden ihr ein theilnehmendes Herz darbietet.

Was liegt aber bey diesen Freundschaften zum Grunde? Offenbar dieß, daß die Vereinigten, wenn es Männer sind, wechselseitig fühlen, wie das Beyspiel eines ähnlich starken, abgehärteten, ausdauernden Wesens sie selbst stärker, abgehärteter, ausdauernder macht; wie der wilde Ausbruch der Freude des einen die Freude des andern verstärkt; und wie sie beyde bey ihren Vertraulichkeiten darauf rechnen können, daß der andere die Begünstigungen und Versagungen ihrer Lieblingstriebe ganz fühlen und verstehen werde, weil sie vermöge der [219] Gleichheit des Geschlechts auch die seinigen sind. Diese Waffenbrüder, diese Jagdgenossen, machen unstreitig eine vollständigere Person ihres Geschlechts mittelst ihrer Vereinigung aus, als jedes einzelne Mitglied des nehmlichen Volks und Geschlechts. Ihre zusammengesetzte Person vertheidigt sich gegen alle fremde Angriffe wie ein einzelner Mann, greift an wie ein einzelner Mann; aber beydes mit verstärkten Kräften, und wenn der eine fällt, so muß der andere ihn rächen oder sterben.

Unter Modificationen, die ein jeder selbst mit leichter Mühe hinzufügen wird, liegt bey den Freundschaften der Weiber unter den wilden Völkern das nehmliche Bewußtseyn zum Grunde: ein Paar von Weibern, zu einer Person zusammengesetzt, ist mehr und besser daran, als ein einzelnes Weib.

Völker auf dieser untersten Stufe der Cultur behandeln ihre Weiber gemeiniglich wie Sklavinnen. Sie kennen keine wahre Geschlechtszärtlichkeit. Aber einer sehr genauen Verbindung, einer liebenden Ergebenheit, sind sie gegen ihre Gattinnen hin und wieder fähig, und diese wird dann deutlich von der Freundschaft unterschieden. Der Mann vereinigt sich mit der Frau, und diese mit ihm, theils um körperlicher Freuden willen, die beyde der Geschlechtsverschiedenheit ihrer Naturen verdanken, theils zur Gründung einer Familie. Hier bringen sie ihr Eigenthum zusammen; hier erwirbt der Mann außer Hause, während das Weib daheim zusammenhält; hier findet er bessere Pflege und Fürsorge für seine Bequemlichkeit, sie sicherern Schutz und Schirm für sich und ihre Kinder, als jeder von ihnen es in Gesellschaft mit einer Person von seinem Geschlechte finden würde. Zuweilen treffen sie in gemeinschaftlichen [220] Belustigungen beym Tanze, bey Wechselgesängen, bey Mährchenerzählungen zusammen, und diese Unterhaltungen nehmen sogleich einen üppigeren Charakter an, als diejenigen haben, welche der Umgang mit Personen von einerley Geschlechte gewährt. Der Mann findet sie milder und geordneter, das Weib rascher und pikanter. So fühlt jedes Geschlecht, daß es dem Geschlechte des andern bey der Verbindung etwas schuldig ist, was es bey der Vereinigung mit seinem eigenen nicht erwarten kann: nehmlich gleichzeitige Wirksamkeit von Stärke und Zartheit; und diese giebt ihren engeren Verhältnissen einen ganz verschiedenen und bestimmten Charakter.

Geht zu der Klasse unserer Ackersleute über, ihr findet die nehmliche Vorstellungsart aus den nehmlichen Gründen! Der Freund des Bauern ist derjenige, der am Werkeltage ihm am besten in die Hand arbeitet, und am Feyertage am besten den Humpen mit ihm leert und lärmt. Die Freundin der Bäuerin ist diejenige Nachbarin, die ihr am behülflichsten bey ihren wirthschaftlichen Sorgen ist und am besten mit ihr trätscht. Beyde Geschlechter unterscheiden aber diese Art von Verbindungen sehr genau von den engeren Verhältnissen, welche zwischen ihnen und dem andern Geschlechte Statt finden, wenn diese sich entweder zur Ehe, oder zu vorübergehenden Liebesverständnissen vereinigen. Ja, man findet zuweilen eine wahre Geschlechtszärtlichkeit unter dieser Klasse von Menschen, wenn die Aehnlichkeit der Geschäfte und der Lagen eine Uebereinstimmung der herrschenden Triebe befördert, und dennoch in der Art, wie sie befriedigt werden, sich Stärke zur Zartheit mischt. Mancher Bauer findet in seiner Gattin eine Rathgeberin in seinen Unternehmungen, eine Gehülfin bey seinen Arbeiten, [221] eine Gesellschafterin bey seinen Unterhaltungen auf eine Art, die ihm das Gefühl einflößt: sie sey die andere Hälfte seines Wesens. Und dennoch fühlt er, daß ein Freund von seinem Geschlechte neben jener Freundin bestehe; daß diese feiner, jener aber richtiger urtheile; daß diese emsiger, jener aber stärker ihm in die Hand arbeite, und daß die Unterhaltung des traulichen Kosens von der lärmender Gelage noch verschieden sey.

Merkwürdig, höchst merkwürdig ist es, wie schon Kinder die Nahmen des Freundes oder der Freundin denjenigen Gespielen beylegen, die ihnen bey der Befriedigung der Lieblingsneigungen ihres Geschlechts durch solche Kräfte und Neigungen wichtig werden, welche durch Gleichheit die ihrigen verstärken und unterstützen; daß sie hingegen den Unterschied der Empfindungen gar wohl fühlen, den das Kind von verschiedenem Geschlechte ihnen einflößt, wenn sie sich besonders an dasselbe hängen.

Die Lieblingsneigungen, (die Natur) des Knaben, sind rauschende, lärmende Spiele; Krieg, Jagd, Reiten, u. s. w. Wenn er die Wahl unter Knaben und Mädchen hat, wird er gewiß nicht eine der letztern zur Genossin jener Spiele nehmen. Er wählt dazu einen Knaben; dieser muß ihm helfen, diesem vertraut er seine kleinen Plane, Begünstigungen und Versagungen an, und derjenige, den er angewöhnt ist am liebsten zum Gespielen und zum Vertrauten bey seinen lärmenden Vergnügungen zu haben, weil er ungefähr gleiche Kräfte und einen gleichen Geschmack mit ihm theilt, der ist sein Freund.

Das junge Mädchen wählt ein junges Mädchen, um den Putz der Puppe und seinen eigenen mit ihm zu besorgen: um die kleinen Gewährungen und Beleidigungen [222] seiner Eitelkeit ihm mitzutheilen, und Plane auf Neckereyen und muntere Zerstreuung mit ihm zu entwerfen und auszuführen. Seine Freundin ist diejenige, bey der es diesen Genuß am liebsten aufsucht, weil sie ungefähr die nehmlichen Anlagen und den nehmlichen Geschmack mit ihm hat, und weil es an ihren Umgang gewöhnt ist.

Man wird den Hang zum Gleichartigen sehr deutlich bemerken, wenn Kinder von dem einen oder dem andern Geschlechte sich bey öffentlichen Gelegenheiten oder bey Spielen in Paare theilen sollen. Der Knabe sucht sich gewiß an den größten, stärksten, gewandtesten zu drängen, um mit ihm zugleich gesehen, und als gleichartig mit ihm beurtheilt zu werden. Das Mädchen sucht dagegen aus eben dieser Ursach sich neben der zierlichsten unter ihren Gespielinnen zu stellen.

Wenn aber die Kinder von zweyerley Geschlecht in gemischten Zirkeln zum Tanz oder zum Spielen des Witzes zusammenkommen; so lassen sich diese kleinen Menschen wohl einfallen, Liebhaber und Geliebte zu haben, und Symptome solcher Anhänglichkeiten, die auf Geschlechtssympathie beruhen, fangen an sich zu äußern. Und welches sind die Subjekte, die sich hier einander wählen? Diejenigen, welche fühlen, daß die Zartheit des andern mit ihrer Stärke, und umgekehrt, daß diese mit jener ins Wohlverhältniß zusammenkommen, und sich vereinigt wohlgefällig darstellen. Der rascheste Tänzer zeigt sich am liebsten an der Seite der Tänzerin, die sich am zierlichsten bewegt; der unternehmendste, lebhafteste Bube neben dem verschmitztesten Mädchen. Beyde fühlen, daß sie etwas von einander erhalten, was ihnen das Kind ihres Geschlechts nicht zu geben vermag. Dieß geht [223] hoch in die Jünglingsjahre hinauf, und mir sind mehrere sogenannte Freundschaften und Geschlechtszärtlichkeiten unter jungen Leuten bekannt, die auf dem einzigen Bande beruhen, daß der Springinsfeld am liebsten mit dem sogenannten Freunde reitet, und mit der sogenannten Geliebten tanzt; mit jenem, weil er ungefähr einen gleichen Geschmack und gleiche körperliche Gewandheit mit ihm theilt; mit dieser, weil ihre Zierlichkeit mit seinem raschen Wesen im Wohlverhältnisse steht, und beyde ein schönes Paar mit einander auszumachen glauben.

Wenden wir die Augen jetzt zu gebildeteren Völkern, Ständen und Stufen des Alters! Der Begriff ihrer Natur, ihrer engsten Sinnlichkeit nimmt unendliche Modificationen nach Verschiedenheit der Jahre, der bürgerlichen Bestimmungen, der Charaktere und Lagen an. Aber allemahl ist es die Summe der angeeignetesten Kräfte und Neigungen, welche der Staatsmann, der Krieger, der Gelehrte, die aufgeklärte Hausmutter, die gebildete Weltfrau, u. s. w. im zärtlicheren Verhältnisse mit Personen von dem einen oder dem andern Geschlechte vereinigen.

Und in welchen Fällen sucht nun unter allen diesen Verhältnissen der Mann den Mann, das Weib das Weib auf: in welchen andern suchen sich Personen von verschiedenem Geschlechte auf, wenn sie sich zärtlich lieben? Welche Natur vereinigen jene mit einander, welche diese?

Laßt uns vorerst alle Begierden nach Vereinigung der Körper bey Seite setzen: laßt uns an jene Verhältnisse zwischen Brüdern und Schwestern, an jene Freundschaften zwischen Personen von verschiedenem Geschlechte denken, die sich unter den gebildeteren Ständen häufiger [224] antreffen lassen, und die wir zur Vermeidung aller Mißverständnisse: die Vereinigung des selbstgewählten Bruders mit der selbstgewählten Schwester nennen wollen. – Gesetzt nun, wir haben einen Freund, einen zärtlich Geliebten von einerley Geschlechte mit dem unsrigen, wir sind aber auch mit einer zärtlich Geliebten von verschiedenem Geschlechte, mit einer Schwester unserer Wahl verbunden, welche keine körperlichen Begierden deutlich in uns aufregt; wie? werden wir die Natur, die engste Sinnlichkeit unsrer Seele, in den nehmlichen Fällen mit dem Freunde und mit der Schwester zu vereinigen suchen? Wird es uns einerley seyn, ob diese oder jener uns den Genuß der Mitfreude, des Mitleidens, der Mittheilung, des Raths, der Hülfe, u. s. w. bereite? Ich sage: keinesweges!

Ist es eine Vereitelung ehrgeitziger Plane, wie nur Männer sie bilden, welche uns Männer niederdrückt; so hoffen wir eher von dem Manne verstanden zu werden, und wenden uns an den Freund. Ist es Versagung kleiner häuslichen Vortheile, geselliger Auszeichnungen, so suchen wir eher Trost bey der Schwester. Der Freund würde sie weniger achten. Verlangen wir Aufforderung zur Stärke von der vordringenden Art, so giebt sie uns das Beyspiel und der Zuspruch des Freundes: Ermunterung zur Geduld giebt das Wort und das Beyspiel der Schwester. Fühlen wir den Uebermuth des geistigen Stolzes, so rechnen wir auf die Theilnahme des Freundes, und auf die Milderung desselben durch den Zuspruch der Schwester. Ist es Niederwürfigkeit die wir im schmelzenden Enthusiasmus fühlen; so rechnen wir auf die Theilnahme der Schwester, und suchen Aufrichtung bey dem Freunde. Erröthen wir vor Fehlern, zu denen [225] Stärke verführt, so hüllen wir uns an der Brust des Freundes vor uns selbst ein: sind es aber Schwächen, zu denen Zartheit einladet; so suchen wir unser Antlitz im Schooße der Schwester zu verbergen. Wer mag dem Freunde die Verirrungen der Eitelkeit gestehen, wer der Schwester die Folgen der Unmäßigkeit und Hitze?

Wie sehr lassen sich noch die Beyspiele der Fälle häufen, in denen sich die Seelen der Freunde, und wieder die der Trauten von verschiedenem Geschlechte vereinigen! Wenn unser Herz angefüllt wird mit Freude über das Gelingen solcher Plane, wogegen sich der Eigennutz des großen Haufens auflehnt, so hat der Freund den ersten Anspruch auf unsre Mittheilung; ist unser Glück nur gemacht, den Neid der Nachbarn und des geselligen Zirkels zu erwecken, so wird unser Frohsinn gegen die Schwester geschwätzig. Verlangen wir eine Unterhaltung, welche die Erörterung der Wahrheit eines wissenschaftlichen Gegenstandes, eines gründlichen Geschmacksurtheils mit sich führt; so wenden wir uns an den Freund. Von der Schwester erwarten wir dagegen gefällige Behandlung alles dessen, was zur Philosophie des geselligen und häuslichen Lebens gehört: Feinheit in den Bemerkungen über die Begebenheiten des Tages, über die Charaktere der Personen mit denen wir umgehen, u. s. w. Wir suchen hier üppige Unterhaltung der Seele, nicht Gewinn an allgemein nützlichen Kenntnissen auf!

Eben so wird das gebildete Weib den Unterschied zwischen Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit fühlen. Wie behutsam ist es, dem trauten Bruder seine Weiblichkeiten, die übertriebenen Aeußerungen seiner Zartheit zu gestehen! Es verbirgt sich vor ihm, wenn es vor einer [226] fernen Gefahr für das geliebte Kind zittert, von deren Unwahrscheinlichkeit sein Verstand überführt ist, ohne sein Herz beruhigen zu können! Wie viel lieber schwatzt es darüber mit der Freundin aus! Wie viel lieber schüttet es in den Busen dieser letzten seinen Schmerz über mißlungene häusliche oder gesellige Einrichtungen, und sucht bey ihr Hülfe und Rath! Wie ungern gesteht es dem trauten Bruder seine Schwäche für Putz und Schmeicheley der Kinder und Dienstbothen, und wie gern zeigt es sich vor ihm in der Gestalt einer strengen Hausfrau und gerechten Mutter! So hebt sich die Zartheit der Frau der Stärke des Mannes entgegen, während sie sich ganz zur Zartheit im Mitgefühl ähnlicher Anlagen, bey der Freundin hingiebt. Wo sie aber Hülfe, Rath, Trost in ihren Verhältnissen zur größern bürgerlichen Gesellschaft braucht, wo sie Anspruch auf Kenntnisse und gründliche Ausbildung des Geschmacks macht; wo sie überhaupt Wahrheit, Richtigkeit mit Schönheit und gefälliger Behandlung zu paaren sucht; da ist der Beystand, der Beyfall, die Mittheilung des trauten Bruders von einem Werthe, den ihr die Freundin nicht ersetzen kann.

So geben wir denn der zärtlich geliebten Person von verschiedenem Geschlechte, auch ohne Rücksicht auf den Körper zu nehmen, von der Natur unserer Seele ganz etwas anders hin, als der zärtlich geliebten Person von dem nehmlichen. So empfängt das Weib ganz etwas anders von der Natur der Seele des trauten Bruders; der Mann ganz etwas anders von der Natur der Seele der trauten Schwester, als dieser von der des Freundes und jenes von der der Freundin!

[227] Die männliche Seele sucht in der Vereinigung mit der männlichen Vervollständigung ihrer gemeinschaftlichen Männlichkeit: die weibliche in der Vereinigung mit der weiblichen Vervollständigung ihrer gemeinschaftlichen Weiblichkeit. Dagegen sucht die männliche Seele in der Vereinigung mit der weiblichen, und umgekehrt, diese in der Vereinigung mit jener, das Bewußtseyn eines vollkommneren, aus beyden zusammengesetzten Wesens, das noch der Gattung, nicht aber dem Geschlechte weiter angehört.

Beyde, Mann und Weib, suchen beydes Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit, unter ganz verschiedenen Verhältnissen auf; sie nehmen ihre Personen wechselseitig in ganz verschiedene persönliche Lagen ein. An den Neigungen, Beschäftigungen, Planen des Mannes, welche unmittelbare Beziehung auf das Gefühl körperlicher und geistiger Stärke haben, kann und soll die weibliche Seele der Regel nach, weder durch Mitgefühl, noch durch Mithandeln, unmittelbaren Antheil nehmen. Umgekehrt, nicht der Mann an solchen Neigungen, Planen und Beschäftigungen, welche mit der Zartheit des Weibes in unmittelbarer Beziehung stehen. In den stärkeren Verhältnissen sucht daher die männliche Seele Freundschaft bey dem Manne; in den zärteren die weibliche bey dem Weibe. Wo aber stärkere und zärtere Verhältnisse zusammentreffen, und den Begriff einer erhöheten Sanftheit bilden; da binden sich die Seelen von verschiedenen Geschlechtsanlagen zur Geschlechtszärtlichkeit zusammen.

[228]
Fünftes Kapitel.
Endlicher Begriff der Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit.

Freundschaft ist angewöhntes, wonnevolles Streben nach beglückender Zusammensetzung zweyer Personen zu einer, durch Vermengung gleichartiger Naturen.

Geschlechtszärtlichkeit ist angewöhntes, wonnevolles Streben nach beglückender Zusammensetzung zweyer Personen zu einer durch Vermählung geschlechtsverschiedener Naturen.


Sechstes Kapitel.
Weder die Geschlechtszärtlichkeit noch die Freundschaft bestehen aus lauter Affekten einerley Art. Die prädominierenden allein geben dem Verhältnisse im Ganzen den Charakter.

Alle Anhänglichkeit besteht aus Affekten von sehr verschiedener Art. Dieß ist schon gesagt worden, es kann aber nicht genug wiederholt werden. Auch die liebende besteht nicht aus lauter Liebe. Gefühle des Beschauungshanges und der Selbstheit, der Wonne und des Bedürfnisses, mischen sich immer mit ein. Die Geschlechtszärtlichkeit beruht nicht auf bloßer Geschlechtssympathie; die Freundschaft nicht auf bloßer Sympathie mit dem Gleichartigen. Der Freund erhält manches von dem Freunde, was ihm die Geliebte gleichfalls geben könnte: der Liebhaber von der Geliebten manches, was [229] er auch von dem Freunde nehmen möchte. Aber diejenige Art von Affekten, welche hervorsticht und herrscht, giebt dem Verhältnisse im Ganzen den Charakter von Freundschaft oder Geschlechtszärtlichkeit.


Siebentes Kapitel.
Semiotik, Zeichenlehre, zur Unterscheidung der Freundschaft von der Geschlechtszärtlichkeit.

Ein zweydeutiges Zeichen, um Freundschaft von der Geschlechtszärtlichkeit abzusondern, ist der Umstand, daß die Personen, welche zärtlich an einander hängen, den äußern Kennzeichen nach nicht zu verschiedenen Geschlechtern gezählt werden, und den unnennbaren Trieb nicht vollständig mit einander würden befriedigen können. Dieß beweiset nicht einmahl etwas für die Abwesenheit der körperlichen Ueppigkeit und Lüsternheit, viel weniger für den Mangel an Mitwirkung der Geschlechtssympathie der Seele.

Es ist freylich gewöhnlicher, daß Personen, die ihren äußern Formen und Verhältnissen nach zu einerley Geschlecht gerechnet werden, Freundschaft als Geschlechtszärtlichkeit für einander empfinden. Denn diese Formen und Verhältnisse wirken sehr viel auf die innere Organisation, und die Seele der Person, die sie an sich trägt, zurück; härten beyde ab, wenn sie stärkerer Art sind, und erweichen, wenn sie von zärterer Art sind. Trifft eine Person, die sich selbst als stark, oder als zart fühlt, weil ihre Formen und Verhältnisse ihr diesen Begriff [230] von sich selbst erwecken, auf eine Person mit ähnlichen Formen unter ähnlichen Verhältnissen; so ist es natürlich, daß die Sympathie mit dem Gleichartigen eher bey ihr entstehe, als die Geschlechtssympathie.

Allein sehr oft ist die innere Organisation des Körpers, und der Charakter der Seele verschieden von den äußern Formen, und im Streite mit den äußern Verhältnissen: oft überwiegt das Innere das Aeußere. Die Beyspiele von Mannspersonen, deren körperliche Konstitution eben so weichlich, als ihre Seele weibisch ist, sind häufig genug. Frauenspersonen von abgehärteten Konstitutionen, vordringenden starken Seelen, werden gleichfalls oft gefunden. Dieß hat freylich auf die äußern Formen einigen Einfluß, aber er entgeht gewöhnlichen Beobachtern, und ist nicht hinreichend, um darnach die Classification der beyden Geschlechter in ihren bürgerlichen Verhältnissen gegen einander für den großen Haufen zu bestimmen. Dazu werden auffallendere äußere Unterscheidungszeichen verlangt, die aber, wie gesagt, oft mit dem Innern im Widerspruche sind. Eben so wenig entscheiden die äußern Verhältnisse, welche nicht immer von der Wahl der Personen abhängen. Selbst die Zeugungskräfte werden nicht unbedingt durch den Mangel der innern positiven oder negativen Natur gehindert. So kann es denn geschehen, daß Personen, die ihrem Aeußern nach völlig zu verschiedenen Geschlechtern zu gehören scheinen, ja, als Gatte und Gattin, als Zeuger und Zeugerin zu einander stehen, dennoch nur Freunde sind, und keine Geschlechtszärtlichkeit für einander empfinden. Es giebt der Fälle genug, worin der Ehemann mit seiner Frau häuslich emsig, d. h. weiblich, oder sie mit ihm öffentlich thätig, d. h. männlich wird. Ich [231] habe Ehen gekannt, worin beyde Gatten Putz, Küche und Hausreinigung zum einzigen Zweck ihres Zusammenseyns machten. Mehrere Gelehrte haben mit ihren Weibern Bücher geschrieben, mehrere Staatsmänner haben mit ihren Weibern regiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben diese Personen mehr Freundschaft als Geschlechtszärtlichkeit für einander empfunden, wenn anders eine wahre Vereinigung der Naturen unter ihnen Statt gefunden hat. Wenn auch zuweilen Anfälle von Geschlechtssympathie, besonders der körperlichen, bey solchen Verbindungen mit unterlaufen, wenn der unnennbare Trieb zuweilen erwacht, und dessen vollständige Befriedigung die gewöhnlichen Zwecke der Ehe erfüllt; so sind doch diese Aufwallungen zu selten, um der Verbindung im Ganzen den Charakter einer auf Geschlechtssympathie gegründeten Verbindung zu geben. Die Sympathie mit dem Gleichartigen wird darin prädominieren.

Auf der andern Seite giebt es Fälle genug, worin sogenannte Freunde und Freundinnen wahre Geschlechtszärtlichkeit für einander empfinden. Und daran braucht der Körper keinen merklichen Antheil zu nehmen. Aber die Symptome der Ueppigkeit und Lüsternheit der Seele sind hinreichend, die wahre Gattung von Empfindungen zu charakterisieren, welche bey ihrer Vereinigung zum Grunde liegt. Inzwischen nimmt auch sehr oft der Körper einen großen Antheil an dieser Geschlechtszärtlichkeit unter Personen, welche äußern Kennzeichen nach zu einerley Geschlechte gehören. Doch darüber mehr im achten Buche dieses Werks.

Ein noch zweydeutigeres Merkmahl von dem Daseyn der bloßen Freundschaft und [232] von der Abwesenheit der Geschlechtszärtlichkeit, wird von dem Schweigen der Begierden des unnennbaren Triebes hergenommen. Dieß trügliche Kennzeichen ist zugleich äußerst gefährlich, und es verdient daher dessen Unzulänglichkeit besonders dargethan zu werden. Ich verspare aber die Ausführung dieser Materie auf das achte Buch dieses Werks, und führe hier nur an, daß selbst leidenschaftliche Geschlechtsliebe, und noch häufiger körperliche Ueppigkeit und Lüsternheit vorhanden seyn können, ohne daß der unnennbare Trieb sich mittelst deutlicher Begierden und in die Sinne fallender Symptome äußert.

Freylich, wo dieser unnennbare Trieb während der Dauer der Verbindung eine merkliche Rolle mitspielt, da wird an dem Daseyn der Geschlechtssympathie, und wenn diese mit liebender Anhänglichkeit zusammengeht, an dem Daseyn der Geschlechtszärtlichkeit nicht gezweifelt werden dürfen. Denn so viel ist gewiß, daß in der Freundschaft der Zug der Körper zu einander zu schwach ist, um ein körperliches Selbstgefühl eines veränderten physischen Zustandes in uns hervorzubringen. Wir nennen dieß: die Körper ruhen.

Allein, die Körper können in starker Bewegung seyn und der körperlichen Geschlechtssympathie huldigen, ohne gerade ihre Unruhe mittelst des unnennbaren Triebes anzukündigen. –

Das Daseyn und die Abwesenheit der Begeisterung sind eben so zweydeutige Unterscheidungszeichen der Freundschaft von der Geschlechtszärtlichkeit. Der wackere, rüstige Enthusiasmus besteht sehr wohl mit der männlichen, [233] der schmelzende sehr wohl mit der weiblichen Freundschaft. Die Wirksamkeit des schwärmerischen Aneignungstriebes, welche ich Besessenheit genannt habe, gehört freylich der Geschlechtssympathie an: allein er findet sich nicht immer in Gesellschaft der Geschlechtszärtlichkeit, und verwandelt diese bereits in Leidenschaft.

Man sieht hieraus, wie schwer der Unterschied zwischen Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit nach äußeren Merkmahlen zu bestimmen ist. Demohngeachtet bin ich überzeugt, daß weder die Vereinigten selbst, die sich ehrlich prüfen wollen, noch Fremde, welche das Band länger zu beobachten Gelegenheit finden, sich über die wahre Natur des Verhältnisses betriegen werden. Folgende Bestimmungen dienen ihnen vielleicht zu näheren Wegweisern.

Die Geschlechtszärtlichkeit zeichnet sich durch Ueppigkeit aus: durch das Gefühl einer gezärtelten Spannung des Körpers, einer sanften Erhöhung des Geistes, welche die Freundschaft nicht mit sich führt. Ein unruhiges Sehnen nach körperlicher Annäherung, ein beklemmtes Herz in der Abwesenheit des Verbündeten, ein ungeduldiges Erwarten seiner Ankunft, ein extatisches Entzücken über seine Erscheinung, die sich sogar durch Veränderung der Gesichtsfarbe nach kurzen Trennungen ankündigt; ein schmachtender Blick, verbunden mit lebhaftem Glanze des Auges, ein schmelzender, üppiger Ausdruck des Wunsches, zu gefallen, der sich im Ton und Geberden und Reden äußert; das unverwandte Hängen an der Form und den Worten des Geliebten, die stets rege Begierde, abgesondert von andern mit ihm zusammen zu wohnen und immer ungetrennt von ihm zu bleiben; üppige Eitelkeit, Stolz auf [234] den Besitz der angeeigneten Person, ängstliche Eifersucht; dieß sind, meinen Erfahrungen nach, Symptome, die mehr oder weniger in jeder noch so geistigen Geschlechtszärtlichkeit angetroffen werden, und gewiß in sehr grobe Erscheinungen übergehen werden, sobald die Vereinigten sich auf eine unbehutsame Art ihrer Bestrebung nach Vereinigung überlassen, oder auf eine eben so unbehutsame Art darin gehemmet werden.

Der Freund begehrt allerdings die Gegenwart des Freundes, aber nicht so anhaltend, nicht mit so vieler Unruhe: seine An- und Abwesenheit haben keinen so unmittelbaren Einfluß auf seinen physischen Zustand. In der Freundschaft findet kein Herzklopfen, finden keine gepreßten Seufzer, keine Wallung des Bluts, kein Wechsel der Farbe Statt. Das Bild des Freundes und des ununterbrochenen Zusammenlebens mit ihm ist nicht unser unzertrennlicher Gefährte. Gesetzt aber, diese Symptome gehörten bereits der Leidenschaft, so zeichnet sich doch die ruhigste Geschlechtszärtlichkeit durch die sanfte Erhöhung aus, worein wir unsere eigene Seele bey der Vorstellung der Person der gewählten Schwester, und unserer traulichen Verbindung mit ihr, versetzt fühlen, und worein wir sie durch die Aeußerungen unserer Zärtlichkeit zu versetzen suchen. Unsre Vertraulichkeiten, unsre Liebkosungen, unsre Aufmerksamkeiten, unsre zarten Behandlungen haben einen schmelzenden und zugleich pikanten Reitz, den die bloße Freundschaft nicht mit sich führt. Eben so empfindet das Weib für den gewählten Bruder.

Kurz, üppige Gefühle, üppige Aeußerungen, unterscheiden die Geschlechtszärtlichkeit von der Freundschaft, wenn diese auch nicht bis zur Lüsternheit, oder bis zu [235] den Begierden des unnennbaren Triebes, nicht bis zur Leidenschaft fortschreitet.

Mehrere Beobachter haben diesen Charakter gefühlt, ohne ihn bestimmt genug anzugeben.

Madame de Lambert sagt in ihrem Aufsatze über die Freundschaft. In der Freundschaft zwischen Personen von verschiedenem Geschlechte bemerkt man einen Grad von Lebhaftigkeit, der unter Personen von dem nehmlichen nicht angetroffen wird. [2]

Ich kenne, sagt Rousseau, eine Empfindung, die süßer als die Liebe ist. Sie ist nicht so ungestüm als diese, aber tausendmahl köstlicher. Sie verbindet sich oft mit der Liebe, oft ist sie von ihr getrennt. Diese Empfindung ist auch nicht bloße Freundschaft, sie hat etwas wollüstigeres, zärtlicheres an sich, und ich zweifle, daß eine Person vom nehmlichen Geschlechte sie in uns aufregen werde. [3]

Man sieht deutlich, daß in beyden Stellen von der Geschlechtszärtlichkeit die Rede ist, und daß diese der Freundschaft so wohl als der Leidenschaft, ja, vielleicht auch der Zärtlichkeit im Bande mit Symptomen körperlicher [236] Begierde entgegen gesetzt wird. Die Lebhaftigkeit, die süße wollüstige Zärtlichkeit, worin der unterscheidende Charakter der sogenannten Freundschaft unter Personen von verschiedenem Geschlechte hier gesucht wird, ist weiter nichts als die Ueppigkeit des Körpers und der Seele; die feinere Geschlechtssympathie, welche mit ins Spiel kommt. [4]


Achtes Kapitel.
Unter welchen Personen Geschlechtszärtlichkeit und Freundschaft Statt finde.

Geschlechtszärtlichkeit findet Statt zwischen Vater und Tochter, zwischen Sohn und Mutter, zwischen Bruder und Schwester; und dabey brauchen der unnennbare Trieb oder die Lüsternheit des Körpers sich nicht deutlich zu melden. Die Empfindungen, die Aeußerungen der Zärtlichkeit zwischen diesen Personen, sind demohngeachtet sehr verschieden von der Zärtlichkeit zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Bruder und Bruder, Schwester und Schwester.

Geschlechtszärtlichkeit findet Statt zwischen Ehegatten, die nicht mehr leidenschaftlich lieben; zwischen allen Personen, welche die völlige Befriedigung der Geschlechtssympathie zärtlich, aber ohne Gefühl der Unentbehrlichkeit genießen.

[237] Geschlechtszärtlichkeit findet endlich Statt zwischen Personen, die im gemeinen Leben beyde für Männer oder beyde für Weiber gelten, wenn Geschlechtssympathie, oft gröber oder feiner, der prädominierende Trieb ist, der sie an einander kettet.

Unter jungen Leuten giebt es viele sogenannte Freundschaften, welche eher verdienten zur Geschlechtszärtlichkeit gerechnet zu werden, so unschuldig und edel auch die schmelzende Lebhaftigkeit ist, mit der sie an einander hängen.

Freundschaft kann dagegen auch Statt finden unter Personen, die zu verschiedenem Geschlechte äußern Kennzeichen nach gerechnet werden, wenn ihre innern Dispositionen dem Geschlechte nach ähnlich sind, und Sympathie mit dem Gleichartigen in ihrer Verbindung prädominiert. Doch darüber mehr im achten Buche.


Neuntes Kapitel.
Absonderung der Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit von andern liebenden und nicht liebenden Verhältnissen, mittelst Hinweisung auf die folgenden Bücher.

Die einzelne Aufwallung der Sympathie mit dem Gleichartigen oder der Geschlechtssympathie, begründen weder Liebe noch Anhänglichkeit. Nicht jede Anhänglichkeit, welche die eine oder die andere Sympathie zum Grunde hat, ist liebend. Nicht jede liebende Anhänglichkeit ist Vereinigung gleichartiger, oder Vermählung geschlechtsverschiedener Naturen. Endlich hat die Zärtlichkeit mehrere Grade von Wärme und Kälte, aber sie [238] bleibt immer noch von Leidenschaft unterschieden. – Alles dieß ist theils schon deutlich durch dasjenige, was vorangegangen ist; theils wird es durch die folgenden Bücher mehr erklärt werden.


Zehntes Kapitel.
Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit setzen immer einen strebenden Zustand zum Voraus, wenn gleich die Verbündeten sich wechselseitig vereinigt glauben.

Ich habe vorhin Freundschaft und Geschlechtszärtlichkeit für ein Streben erklärt, gleichartige oder verschiedene Naturen zu vereinigen. Inzwischen werden oft beyde Nahmen von denjenigen Verbindungen gebraucht, worin die Liebenden von ihrer wechselseitigen Zärtlichkeit überzeugt sind, sich selbst als wirklich vereinigt ansehen, und in dieser Vereinigung auch von andern als eine zusammengesetzte Person betrachtet werden.

Der Zustand und die Verhältnisse einer solchen wirklich gelungenen Vereinigung verdienen noch eine besondre Bemerkung, theils um meine vorhin angegebene Erklärung zu rechtfertigen, theils um die Eigenheiten dieser Lage der beyden Liebenden unter einander, und gegen jeden dritten, etwas näher zu bestimmen.

Es scheint schon den Plato in Verlegenheit gesetzt zu haben, wie die Liebe den Charakter der Bestrebung beybehalten, und doch den Gegenstand derselben besitzen [239] könne. Dem ersten Anblick nach sollte man auch wirklich glauben, daß der Charakter des Strebens bey dem erwachenden Gefühle der gelungenen Vereinigung wegfallen müsse, und daß daher die von mir gegebene Erklärung der Zärtlichkeit unrichtig sey, oder wenigstens nur so lange zutreffe, als der Liebende das Herz des Geliebten noch nicht gewonnen hat.

Allein der Charakter der geselligen Gefühle überhaupt besteht bereits in dem verweilenden Bestreben nach fortschreitender Ausbildung des Genusses eines gemeinschaftlichen Daseyns und Wohls mit einem uns angenäherten, aber von uns noch getrennten Wesen. In der Zärtlichkeit tritt die Ungenügsamkeit der Selbstheit hinzu. Das Streben nach immer engerer Vereinigung der Personen wird eben so wenig gesättigt, als das Streben nach immer wachsender Glückseligkeit unserer einzelnen Personen. Die Idee, daß der Gegenstand unserer Zärtlichkeit diese ganz theilt, daß unsere Schicksale aufs genaueste verkettet sind, daß wir in einem Genuß des Glücks zusammentreffen; diese Idee, sage ich, mag unser Bestreben nach Zusammensetzung der Personen noch so sehr begünstigen; – es kann nie völlig befriedigt werden, weil der Zweck, den wir vor Augen haben, keine Grenzen hat, und so weit ausgedehnt werden kann, als die Verhältnisse reichen, unter denen zwey Personen sich vereinigt und glücklich denken können. Die zusammengesetzte Person, das Paar der beyden zärtlich Verbündeten, hat eben den Umfang von Wünschen, eben die Ungenügsamkeit, wie der einzelne Mensch. Wann sagt sich dieser: ich wünsche nichts mehr? wie selten sagt er sich nur: mein Zustand genügt mir!

[240] Es bleibt daher die von mir gegebene Erklärung der Zärtlichkeit auch dann stehen, wenn wir sie auf den Zustand und die Verhältnisse wirklich durch Zärtlichkeit vereinter Menschen, der zusammengesetzten Person, des Paars der Freunde, und der des Liebhabers mit der Geliebten, anwenden. Dieser Zustand ist immer Bestrebung, theils das erworbene Bewußtseyn ihrer vereinigten und wechselseitig beglückten Naturen zu bewahren; theils eine immer wachsende Ueberzeugung ihrer Vereinigung und ihres Glücks zu erhalten.

In so fern wir jedoch auf den Genuß, die Rechte und Pflichten der zärtlichen Liebe, so wie auf ihre Veredlung und Verschönerung Rücksicht nehmen, muß der Zustand und die Lage der einseitig zärtlichen, und der durch wechselseitige Zärtlichkeit zusammengesetzten Person, wohl unterschieden werden. Eine nähere Verkettung persönlicher Verhältnisse, ein ruhigerer Genuß von Wonne charakterisieren die begünstigte Zärtlichkeit, und die beyden Liebenden werden nun auch von jedem Dritten in manchen Rücksichten als eine Person angesehen, als ein Paar, das sich von allen Mitgesellschaftern und Mitbürgern absondert. Die Folgen, welche dieß nach sich zieht, werden im zweyten Theile dieses Werks näher entwickelt werden.


  1. Φιλία, amicitia im engeren Sinne. Ob die Alten einen Begriff von der Geschlechtszärtlichkeit gehabt haben, das wird im dritten Theile dieses Werks untersucht werden. Einen besondern Nahmen scheinen sie wenigstens für das Verhältniß nicht gehabt zu haben.
  2. Il y a toujours dans l’ amitié entre les personnes d’un Sexe different un degré de vivacité, qui ne se trouve pas entre les personnes d’un même Sexe.
  3. Je connois un sentiment plus doux que l’amour, moins impetueux, mais plus delicieux mille fois, qui quelquefois est joint à l’amour, et qui souvent en est séparé. Ce sentiment n’est pas non plus l’amitié seule; il est plus voluptueux, plus tendre, je n’imagine pas, qu’il puisse agir pour quelqu’un du même Sexe: du moins je fus ami si jamais homme le fût, et je ne l’éprouvai jamais prês d’aucun de mes amis. Confessions T. I. Liv. III.
  4. Wichtig in eben dieser Rücksicht sind auch einige Stellen bey den Alten, worin sie diese Freundschaft von der Liebe zu unterscheiden gesucht haben. Man vergleiche das dreyzehnte Buch dieses Werks, worin die hieher gehörigen Stellen aus dem Xenophon, Plato, Cicero, u. s. w. angeführt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: kaun