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Autor: Martin Weigert
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Titel: Schutzzoll und Freihandel
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aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Neuntes Hauptstück: Allgemeine Wirtschaftsfragen, 45. Abschnitt, S. 239−252
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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45. Abschnitt.


Schutzzoll und Freihandel.
Von
Dr. Martin Weigert
vom volkswirtschaftlichen Sekretariat der Ältesten der Kaufmannschaft, Berlin.


Inhalt:

1. Die merkantilistische Doktrin: Hochschutzzoll und Prohibitivsystem. – 2. Die merkantilistischen Schriftsteller a) in Italien, b) in England, c) in Frankreich, d) in Deutschland. – 3. Die merkantilistische Staatspraxis a) in England, b) in Frankreich, c) in Preussen. d) in anderen Staaten. – 4. Die wissenschaftliche Kritik und Opposition gegen die merkantilistische Lehre durch die Physiokraten. – 5. Adam Smith und die Freihandelslehre. – 6. Die Freihandelsschulen a) in England, b) in Frankreich, c) in Deutschland. – 7. Die Freihandelsaera in der Staatspraxis a) Englands, b) Deutschlands, c) Frankreichs, d) Russlands. – 8. Die Lehren Friedrich List’s. – 9. Die moderne wissenschaftliche Schutzzolllehre. – 10. Die wissenschaftliche Kontroverse Industrie- oder Agrarstaat. – 11. Die moderne Schutzpolitik a) in Deutschland, b) in Frankreich, c) in Russland, d) in Oesterreich-Ungarn, e) in den Vereinigten Staaten. – 12. Der Imperialismus in Grossbritannien. – 13. Würdigung der heutigen Schutzzollaera.

Literatur:

W. Lotz, „Die Ideen der deutschen Handelspolitik“ (von 1860–1891); –
K. Oldenberg, „Deutschland als Industriestaat“ 1897. –
Bretano „Das Freihandelsargument“ München 1901. –
H. Dietzel, „Sozialpolitik und Handelspolitik“, Berlin 1901. –
Karl Helfferich, „Handelspolitik“ Leipzig 1901. –
Grambow, „Die deutsche Freihandelspartei zur Zeit ihrer Blüte“, Jena 1903. –
von Schmoller, „Grundriss der Allgem. Volkswirtschaftslehre“, Teil II, Leipzig 1904, S. 558/652. –
J. Conrad, „Grundriss der polit. Oekonomie“, Jena 1905. §§ 88/94. –
K. Rathgen, „Die Ansichten über Freihandel und Schutzzoll in der deutschen Staatspraxis i. Festschrift für Schmoller 1908, II. Bd. 17“ –
Kerbel, „Ansichten über Freiheit und Beschränkung des inneren Handelsverkehrs“, ebendas., Bd. 28. –
E. Leser, „Freihandelsschule“ im Handwörterbuch d. Staatswis., Bd. 4, 1909. –
Grunzel, „Handelspolitik“, Leipzig 1910. –
Lexis, „Freihandelsschule“ i. Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre III. Aufl., Bd. I. Berlin 1911. –
Rathgen, „Schutzsystem“, ebendas., Bd. I, S. 743, ff. –

1. Die merkantilistische Doktrin.

Der Kampf der Ansichten über Freihandel und Schutzzoll, allgemeiner gefasst über die zweckmässigste Handelspolitik, hat gewissermassen erst die wissenschaftliche Betrachtung des Wirtschaftslebens, die Nationalökonomie, ins Leben gerufen. So befasst sich das älteste Kapitel der Volkswirtschaftslehre in erster Linie mit der theoretischen Erörterung der Frage, wie durch Regelung resp. durch Beschränkung von Ein- und Ausfuhr die Produktion und der Reichtum eines Volkes zu steigern sei.

Die reiche Literatur, die im 17. Jahrhundert über dieses Thema entstand, wird in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre unter dem Namen der merkantilistischen Literatur zusammengefasst. Der Merkantilismus, die Förderung des mercator, die Hebung der Commercien, der Verkehrswirtschaft sollte die wirtschaftliche Grundlage des Reichtums und damit die Macht der Staaten schaffen. Die Anschauungen, die die wissenschaftlichen Vertreter des Merkantilismus ihren Abhandlungen zu Grunde legen, wurzeln in den Grundsätzen der Handelspolitik der grossen Stadtrepubliken des Mittelalters mit ihrer planmässigen Marktförderung, ihren Taxen, Privilegien an die Gewerbetreibenden und ihrer Organisation der Verkehrswirtschaft. Das Neue in der Behandlung liegt nur darin, dass man nicht mehr die einzelne geschlossene Stadt mit ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen, sondern den Staat als wirtschaftliche Einheit zum Ausgangspunkte nimmt. Abgesehen jedoch hiervon haftet den Auffassungen der Merkantilisten der in der mittelalterlichen Handelspolitik zutage tretende privatwirtschaftliche Charakter in sehr starkem Masse an. Derselbe zeigt sich schon in der Art wie die Merkantilisten meinten, den Volkswohlstand heben zu können: Wie der Privatmann reicher wird, wenn er mehr Geld besitzt, so meinten sie auch ein Land am schnellsten reich machen zu können durch Vermehrung des Geldes, welches sie mit Edelmetall identifizierten. Da nun in den meisten europäischen Staaten das Edelmetall, besonders das Gold, nicht in den Mengen bergmännisch gewonnen wurde, als Bedarf vorlag, untersuchte man, [240] auf welche Weise der Staat dasselbe am zweckmässigsten gewinnen könnte. Nach dem Beispiel der mittelalterlichen Stadtrepubliken sah man als bestes Mittel hierzu den Handel mit günstiger Bilanz an, d. h. den internationalen Handel, welcher an das Ausland Waren in höherem Werte verkaufte als er von demselben kaufte, sodass das Inland die Differenz in barem Gelde ausgezahlt erhielt. Es schien daher notwendig viel zu produzieren, um viel ins Ausland verkaufen zu können. Auch hielt man es für wünschenswert die Herstellung möglichst kostbarer Gegenstände zu fördern, die leichter zu exportieren waren und höheren Gewinn in Aussicht stellten. Das Gewerbe glaubte man besonders begünstigen zu müssen, weil die Landwirtschaft bei der natürlichen Begrenzung des anbaufähigen Bodens nur wenig erweiterungsfähig schien. Nach aussen also sollte der Staat wie ein einzelner Kaufmann zwar möglichst wenig und billig kaufen, dagegen möglichst viel und teuer verkaufen. Zu diesem Zwecke wurde für den Aussenhandel die Förderung der Ausfuhr durch Prämien, und vor allem aber die Behinderung der Einfuhr durch hohe Schutzzölle und Verbote als die geeignetsten Mittel empfohlen. Ergänzt und unterstützt sollte diese Politik im Innern durch eine strenge Gewerbeordnung, durch finanzielle Beihilfen und Privilegien werden, mit denen man die Gewerbe künstlich zur Blüte bringen und in diejenigen Bahnen leiten zu können glaubte, die für eine günstige Handelsbilanz am zweckmässigsten schienen.

2. Die merkantilistischen Schriftsteller, a) in Italien, b) in England, c) in Frankreich, d) in Deutschland.

Aus der grossen Zahl der Schriftsteller, welche im 17. Jahrhundert in ihren volkswirtschaftlichen Werken die merkantilistischen Anschauungen vertreten haben, können hier nur die bedeutendsten erwähnt werden:

a) Vor allem sind von Italienern zu nennen Antonio Serra, (Breve tratato delle cause de possono far absondare li regni d’oro e d’argento, dove non sono miniere, Napoli 1613.) Er findet die Bedingungen des Volkswohlstandes in folgenden Quellen: Einmal in einer grossen Bodenfruchtbarkeit, die nicht nur den Bedarf des inländischen Konsums befriedigt, sondern sogar einen Ueberschuss an landwirtschaftlichen Produkten für den Export erzielt; ferner in einem umfassenden internationalen Handel mit freier Einfuhr der Rohmaterialien für die Gewerbe im Inlande, dagegen hohen Einfuhrzöllen auf fertige Waren, um deren Herstellung im Inlande zu begünstigen und zu verhindern, dass durch den Einkauf im Auslande Geld hinausgeschickt werde. Endlich in der Förderung der Industrie von Kunst und Luxuswaren, welche teuer an das Ausland verkauft werden können, um durch sie Gold und Silber in das Land zu bringen. – Die Grundlagen der merkantilistischen Handelsbilanzlehre finden sich ferner bei Antonio Broggia (Tratati dei Tributi e delle monete 1743) und schliesslich bei Antonio Genovesi (Legioni di Commerzio e di economia civile 1743), der sich jedoch schon von den stärksten Einseitigkeiten des Merkantilismus frei gemacht hat.

b) Als bedeutendste Schriftsteller der merkantilistischen Richtung in England sind Francis Baco von Verulam (Essays moral, economical and political, London 1597 bozw. 1625), und Thomas Mun (Englands treasure by foreign trade etc. 1664) zu nennen. Ersterer ist ein strenger Anhänger der Handelsbilanztheorie, lobt die vorhandenen Einfuhrverbote und gelangt zu der irrtümlichen Auffassung, dass im Güteraustausch der eine Kontrahent stets gewinne, was der andere verliere. – Thomas Mun empfiehlt in sehr eingehender Weise Regierungsmassregeln zur Herbeiführung einer günstigen Handelsbilanz und verteidigt das von König Heinrich VIII. im „Statut of employment“ erlassene Verbot der Geldausfuhr aus England. – Ferner haben sich in England Josiah Child (Observations concerning trade and interest of money 1668) und William Temple um die gleiche Zeit als merkantilistische Schriftsteller einen Namen gemacht.

c) In Frankreich fanden die merkantilistischen Anschauungen erst ca. ein Menschenalter später in der Wissenschaft Aufnahme und Befürwortung. François Mélon (Essays politiques sur le Commerce 1731) verlangt ein entschiedenes Hinarbeiten auf eine günstige Handelsbilanz. Als bestes Mittel hierfür erscheinen ihm die Kolonial- und Handelskompagnieen, also die Organisation des internationalen Grosshandels unter Ausbildung ausgedehnter Monopole. Am meisten tritt sein merkantilistischer Standpunkt in seiner einseitigen Ueberschätzung der Industrie hervor. – Louis Forbonnais (Elements du Commerce 1754) behandelt gleichfalls die bekannte Handelsbilanztheorie, [241] geht aber über Melon einen Schritt hinaus, indem er das Geld hauptsächlich als Zirkulationsmittel und weniger als Repräsentant des Reichtums schätzt.

d) Die deutschen Merkantilisten, wie Caspar Klock (Tractatus nomico-politicus, de contributionibus 1634 und Tract. de aerario 1651), Veit Ludwig von Seckendorf (Teutscher Fürstenstaat 1656), Johann Joachim Becher (Politischer Diskurs 1668) und Wilhelm von Schroeder wiederholen die von Serra in Italien und Thomas Mun in England gestellten obenerwähnten merkantilistischen Grundforderungen, ohne auf Orginalität der Anschauungen wesentlichen Anspruch erheben zu können. Sie sind hauptsächlich Staatsmänner, welche die augenblicklichen Staatsaufgaben ins Auge fassen und dabei vielfach über das Ziel hinausschiessen.

3. Die merkantilistische Staatspraxis a) in England, b) in Frankreich, c) in Preussen, d) in anderen Staaten.

a) In der Praxis der Staatsverwaltung entwickelte sich die merkantilistische Handelspolitik mit ihren Schutzzöllen, Ein- und Ausfuhrverboten, Prämien, Privilegien und Begünstigungen der Handelskonzerne am frühesten in Grossbritannien. Dort wurde schon frühzeitig die Ausfuhr von Wolle verboten und mit sehr strengen Strafen bedroht; die Ausfuhr von Seiden- und Leinenwaren wurde dagegen durch Prämien gefördert. In der Einfuhr begünstigte man den Bezug von Rohstoffen, z. B. den Bezug von Seide aus Asien, verbot jedoch die Einfuhr fertiger Seidenwaren und anderer Fabrikate. – Einen besonders folgenschweren Schritt zur Bekämpfung der holländischen Handelssuprematie unternahm Cromwell durch die Navigationsakte vom 9. Oktober 1651, welche von folgendem Prinzip ausging: Nach England dürfen aus den europäischen Staaten eine Anzahl der wichtigsten Waren nur in englischen Schiffen, oder in solchen des Ursprunglandes und in letzterem Fall mit doppeltem Zoll eingeführt werden; gewisse schwere Waren dürfen nur von dem Ursprungsland nach England kommen. (Damit wurde der holländische Zwischenhandel sehr eingeschränkt). Ferner war aller Küstenhandel den englischen Schiffen vorbehalten, für alle nicht von britischen Schiffen gefangenen und eingeführten Fische sollen doppelte Zölle gezahlt werden. Nach den britischen Kolonien dürfen nur englische Schiffe mit ¾ englischer Besatzung, in denselben nur englische Faktoren Handel treiben; die Kolonialwaren müssen direkt nach England oder anderen englischen Kolonien gebracht werden. Für aus England wieder ausgeführte Produkte wurden Rückzölle gewährt. – Dieses System führte eine schnelle und gewaltige Erstarkung der englischen Handelsmarine herbei und machte die Kolonien zu guten Absatzmärkten des Mutterlandes. Andrerseits verteuerte es jedoch den rasch forzierten Schiffsbau, die Frachten, die Matrosenlöhne, die europäischen Waren für die Kolonien und die Kolonialprodukte, die über England nach anderen Staaten gingen. Es schädigte den englischen Handel nach Norwegen, Russland, Frankreich und Schweden. Es war von Anfang an nur ausführbar durch zahlreiche Ausnahmen, die man in den folgenden Jahrzehnten nach Erlass der Akte bald für immer, bald für Zeit einführte. Nach einer Ueberspannung des Systems in den Jahren 1748–1763 wuchsen nach 1789 die zugelassenen Ausnahmen des Systems noch mehr als von 1660 bis 1748.

b) In Frankreich wurde die Einfuhr seit dem 16. Jahrhundert langsam mit einigen Zöllen belegt; zunächst noch mehr aus fiskalischen als aus Schutzzollgründen. Etwas erhöhte Einfuhrtarife von 1632 und 1644 mit Schutztendenz hatten keine grosse Bedeutung, da aller Handel damals stockte. Erst Colbert brachte die grosse hundertjährige Zollreformbewegung (1664) zum Abschluss. Er suchte die noch vorhandenen Fluss- und Lokalzölle zu beseitigen und umgab 1664 die 5 grosses fermes ( die vereinigten Steuerpachten) mit einer einheitlichen Aussenzolllinie, einheitlichen Ein- und Ausfuhrzöllen, die den zahlreichen bisher getrennten Zöllen entsprachen. Der Tarif von 1664 enthielt keine Verbote. Die Höhe der Zölle war mässig und betrug meist 5–10% des Wertes. – Der Zolltarif von 1667 schraubte jedoch die Eingangszölle so hoch, dass sie fast Einfuhrverboten gleich kamen; später wurden auch Einfuhrverbote erlassen. Im ganzen hat Frankreich von 1683–1786 die Colbert’sche Handelspolitik beibehalten. Der Handelsvertrag mit England 1786 (Edenvertrag) setzte an die Stelle der Einfuhrverbote mässige Zölle, war aber nicht lange Zeit in Geltung. Die durch die Kontinentalsperre von 1806 zunächst als Kriegsmassregel [242] gegen England erlassenen Einfuhrverbote wurden in dem Zolltarif vom 8. April 1816 beibehalten und auf Waren jeder Herkunft verallgemeinert.

c) In Preussen drangen die merkantilistischen Ideen zuerst unter Friedrich Wilhelm I. ein, jedoch war es Friedrich dem Grossen vorbehalten dieses System auszubauen. Friedrich Wilhelm I. verbot die Ausfuhr von Wolle 1723. Friedrich der Grosse beschränkte die Einfuhr von gewerblichen Erzeugnissen durch hohe Schutzzölle und suchte die Ausfuhr von Rohprodukten möglichst hintenanzuhalten. Die wirtschaftliche Zersplitterung des Landes durch zahllose Zolllinien bildete jedoch ein grosses Hindernis; das Verbotssystem gelangte denn auch nur in den östlichen Provinzen zur Anwendung, während im Westen französische und englische Waren gegen mässigen Zoll eingeführt werden konnten. Zu erwähnen sind aus der Zeit Friedrich des Grossen noch das Magdeburger Transito-Zollsystem (1765–1768), das den grossen Durchfuhrhandel von Hamburg und Lüneburg nach Schlesien, Sachsen, Thüringen aus einem Fremd- in einen eigenen Handel der Magdeburger und Berliner verwandeln sollte und zum Teil sein Ziel erreichte. Ferner das schlesische Transito-Zollsystem (von 1765), das den polnisch-sächsischen Durchfuhrhandel zu einem schlesisch-preussischen machte, sowie endlich die Schliessung der ganzen Ostgrenzen für die polnische Getreideausfuhr zum inneren Konsum. Friedrich Wilhelm II. hielt noch unerschütterlich an dem merkantilistischen Handelssystem fest, während Friedrich Wilhelm III. bei seinem Regierungsantritt von den neuen freihändlerischen Ideen bereits berührt war. In den ersten Jahren seiner Regierung stand er jedoch in handelspolitischer Beziehung noch stark unter dem Einflusse seines Ministers Graf Struensee, der seine merkantilistischen Ansichten voll zur Geltung brachte. (Exposé vom 13. Februar 1803).

d) In Russland wirkte Peter der Grosse (1689–1725) und Katharina II. (1762–1796) im Sinne des Merkantilismus. Spanien und Holland wandten die Lehren des Merkantilismus besonders auf ihr Verhältnis zu den Kolonien an.

4. Die wissenschaftliche Kritik und Opposition gegen die merkantilistische Lehre durch die Physiokraten.

Schon im 17. Jahrhundert regte sich eine wissenschaftliche Kritik und Opposition gegen die merkantilistischen Anschauungen: Pierre Boisguillebert (Sur le regne présent 1697 u. Dissertation sur la nature des richesses) wendet sich energisch gegen die Ueberschätzung von Handel und Industrie gegenüber der Landwirtschaft. Ihm schloss sich der Marschall Vauban (Projet d’une dixme royal 1707) an. Der Hauptvertreter dieser Richtung, die in der Geschichte der Volkswirtschaft als „Physiokratismus“ bezeichnet wird, war François Quesnay, der besonders durch sein Tableau économique 1757 ein eigenes wissenschaftliches System aufstellte und methodisch begründete. Die Grundlage seiner Lehre ist die, dass nur die Gewerbe der Rohproduktion den Volkswohlstand zu heben vermögen. Die Tätigkeit des Handwerkers und Kaufmannes sei zwar nützlich und nicht zu entbehren, aber diese Gewerbetreibenden lieferten nicht neue Güter wie dies der Landmann vermöge der Naturkraft des Bodens könne; wohl erhöhten sie durch Arbeit den Wert der Gegenstände, aber sie verbrauchten dafür das Rohmaterial und verwendeten weitere Güter zum eigenen Unterhalt, wodurch der Wert ihrer Arbeit absorbiert werde; sie erlangten keinen Ueberschuss an Werten, keinen „produit net“, der der Landwirtschaft allein vorbehalten sei. Die Landwirtschaft aber könne nur gedeihen, wenn ihr der Vertrieb ihrer Produkte frei gegeben werde, damit sie den Preis erhielte, der den Verhältnissen entspräche. Der Kaufmann werde durch seinen eigenen Vorteil dazu gebracht die Waren dort zu kaufen, wo sie im Ueberfluss vorhanden und daher billig seien, um sie dorthin zu führen, wo Bedarf vorläge und er sie teuer verkaufen könne. Sein Privatinteresse stehe mit dem der Gesamtheit in Harmonie. Ebenso läge aber auch die Sache im internationalen Verkehr, in welchem die Staaten je nach ihren natürlichen Verhältnissen (Bodenbeschaffenheit, Klima, Grösse der anbaufähigen Fläche etc.) sich gegenseitig zu unterstützen bestimmt seien. Daher sei es die Aufgabe einer vernünftigen Regierung alle künstlichen Hemmnisse zu beseitigen, wirtschaftliche Freiheit herzustellen. Im Wirtschaftsleben walteten natürliche Gesetze genau so wie in der Entwickelung des [243] tierischen und menschlichen Organismus. Daher stammt der Name Physiokratie, und der Hauptsatz, durch den die Lehre nachhaltige Bedeutung gewonnen hat, liegt in dem Grundsatz „Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même“. – Dieses System fand in Frankreich bald eine verhältnismässig grosse Anhängerschaft: Auf dem Boden der Quenay’schen Lehre stand insbesondere der zeitweilige Finanzminister Turgot in seinen „Réflections sur la formation et la distribution des richesses“, der sich jedoch von den Uebertreibungen des Physiokratismus fernhielt in der Würdigung der Arbeitsteilung, des Geldes, des Kapitals und Lohnes, wo er vielfach schon Lehren aufstellte, die später erst durch Adam Smith und Ricardo allgemeine Verbreitung erlangt haben.

5. Adam Smith und die Freihandelslehre.

Adam Smith war es jedoch erst vergönnt der Freihandelslehre ihre siegreiche Formulierung zu geben. In seinem weltberühmten Werke „Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations“ 1773 lässt er zwar Zölle für Industrien, auch Retorsions- und Steuerausgleichszölle zu und spricht sich gegen die plötzliche Aufhebung der Schutzzölle für von Alters her geschützte, viele Menschen beschäftigende Gewerbe aus, aber alle übrigen Massnahmen des Merkantilismus erscheinen ihm unberechtigt, weil sie durch die Klassenherrschaft der Interessenten erschlichen seien. Die hohen Schutzzölle, die Aus- und Einfuhrverbote, das Kolonialsystem leiteten Kapital und Arbeit in falsche Bahnen, verursachten eine Verteuerung der Produkte und schafften ungerechte Monopole. Smith’s Hauptvorstellung ist folgende: Die einen Staaten können gewisse Waren billiger und besser als andere herstellen; wenn jede Nation das produziert, was sie billiger und besser machen kann, haben alle Nationen davon einen Vorteil; wenn jeder Staat dort verkauft, wo er einen höheren Preis erzielt und dort einkauft, wo die Ware billiger als in der Heimat ist, kann er nur gewinnen. Handele man nicht nach diesem Grundsatz, so verteure man das Leben und vermindere die Konsumtion. Die Schutzzölle könnten die Gesamtproduktion gar nicht erhöhen, da diese von der vorhandenen Kapitalmenge abhänge. Das Interesse der Konsumenten an der grösstmöglichsten Billigkeit der Waren solle allein für die Handelspolitik der Völker ausschlaggebend sein. Deshalb beruhe das Gedeihen eines Landes auch nicht auf der wirtschaftlichen Abschliessung, sondern auf dem freien Austausch der Güter, weil dann jedes Land in die Lage komme, gerade jene Waren zu produzieren, die es unter Aufwendung der geringsten Kosten hervorzubringen vermag.

6. Die Freihandelsschulen a) in England, b) in Frankreich, c) in Deutschland.

a) In England wurde der Smith’sche Gedanke, dass die Zollgesetzgebung tiefer Veränderungen in freihändlerischem Sinne dringend bedürfe, von wirkungsvollen Schriftstellern wie Perronet Thompson (Catechism on the cornlaws 1827), Ebenezer Elliot und Miss Martineau lebendig erhalten. 1836 bildete sich in London auf Anlass einer Anzahl fortgeschrittener Liberaler, wie Grote, Roebuck, Joseph Hume ein Verein zur Bekämpfung der Getreidezölle, eine Anti-corn-law-association, deren Mitglieder in Wort und Schrift für die freihändlerischen Grundsätze eintraten. Im September 1838 wurde die Anti-Corn-Law-League gegründet, die gleiche Tendenzen verfolgte und unter der Führung von John Bright und Richard Cobden den Anstoss zu den grossen handelspolitischen Reformen von 1842–1860 gab. Die Reformbewegung veranlasste wiederum einen festen Zusammenschluss der Schule, die neben wissenschaftlichen Vertretern wie Mac Culloch, James Mill, Senior Mocanlay u. a. auch zahlreiche bedeutende Tagesschriftsteller zu ihren Anhängern rechnete. Die neueren wissenschaftlichen Schriftsteller, wie z. B. Stanley Jevons blieben im allgemeinen der orthodoxen Freihandelslehre treu, nur dass sie in Bezug auf Arbeiterschutz und sonstiges sozialpolitisches Eingreifen des Staates – wie schon früher J. St. Mill – grössere Zugeständnisse machten. – Mit dem Jahre 1860 ist bekanntlich England ganz zum Freihandel übergegangen und diesem handelspolitischen System bis zum heutigen Tage treu geblieben.

b) In Frankreich führte J. B. Say die Smith’sche Freihandelslehre ein. Seine Nachfolger, wie Rossi, A. Blanqui, L. Faucher, Dunoyer, Bastiat, M. Chevalier, Samte Beuve, Garnier u. a. waren in ihren Schriften mit vereinten Kräften bemüht, das Freihandelsprinzip auch in der französischen Wirtschaftspolitik zur Geltung zu bringen. Die Gewerbefreiheit war allerdings schon seit der Revolution eingebürgert, aber der auswärtige Handel blieb trotz aller Bemühungen der Theoretiker durch [244] ein starres Hochschutzzollsystem beschränkt bis endlich Napoleon III. durch den Handelsvertrag mit England 1860 eine Tarifreform durchsetzte. Während unter der Republik die schutzzöllnerischen Tendenzen wieder die Oberhand gewannen, blieben die Vertreter der Wissenschaft, von denen namentlich P. Leroy-Beaulieu und die Herausgeber des „Journal des Economistes“ Molinari und Yves Guyot zu nennen sind, den Grundsätzen der Freihandelsschule treu.

c) In Deutschland standen die wissenschaftlichen Vertreter der Volkswirtschaftslehre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Kraus, E. Lotz, Rau, Herrmann, Roscher meistens auf den Boden der Smith’schen Lehre, ohne indessen den Freihandel zu dem eigentlichen entscheidenden Schulprinzip zu machen. Als in den 50er Jahren durch die aufsehenerregende List’sche Theorie der Schutz- resp. Erziehungszölle der Streit der Meinungen um die handelspolitischen Grundsätze heftiger entbrannte, bildete sich auch in Deutschland eine Freihandelsschule, die hauptsächlich aus Publizisten und Politikern bestand. Zu diesen gehörten Männer, wie Prince Smith, Michaelis, K. Braun, Max Will, L. Bamberger, Böhmert, Emminghaus, Soetbeer, Max Wirth u. a. Auch Abhandlungen von Wappäus, Otto Hübner, Schmidlin bekämpften den Schutzzoll. Seit 1854 fand die Richtung im Bremer Handelsblatt zuerst unter dem Redakteur Klauhold ein einflussreiches periodisches Organ. Seit 1856 erschien in Heidelberg die von Böhmert begründete „Germania“, die dann auf Pickford überging und unter ihm noch strenger freihändlerischen Charakter annahm. Eine ganz Deutschland umspannende Organisation erhielt dann die erstarkte Partei in dem „volkswirtschaftlichen Kongress“, der sich zum ersten Male 1858 in Gotha vereinigte, von da an alljährlich abwechselnd in den verschiedensten Städten zusammentrat und unter der Führung von Karl Braun, Präsident Lette und später Prince Smith mit seinen Verhandlungen und Beschlüssen in den gewerblichen Kreisen, sowie bei den Staatsregierungen grosse Beachtung fand. Der 1861 begründete deutsche Handelstag und auch die Landwirtschaft unterstützte bis in die zweite Hälfte der 70. Jahre hinein die Bestrebungen des Kongresses, um dann jedoch in das schutzzöllnerische Lager mehr und mehr überzugehen. Die 1863 von Julius Faucher begründete Zeitschrift „Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ enthält wissenschaftlich bedeutende Beiträge der obengenannten begabtesten Anhänger der Freihandelslehre. Auch das im Jahre 1866 von Rentsch herausgegebene Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre ist von einer Anzahl namhafter Freihändler verfasst und vertritt ihren Standpunkt. – Grossen Abbruch tat der Schule seit dem Antrag der 70er Jahre ihre einseitig freihändlerische Stellungnahme zu der Arbeiterfrage, die teilweise so weit ging in Abrede zu stellen, dass es überhaupt einen besonderen Arbeiterstand gebe, und es für undenkbar hielt, dass dessen Interessen erheblich von denen anderer Klassen abweichen könnten. Sie fusste auf der Bastiat’schen Harmonielehre und hielt ein staatliches Eingreifen zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen nicht für angebracht, als infolge der jungen grossindustriellen Entwickelung mit ihren anfangs noch unbehobenen sozialen Schädigungen die Arbeiterbewegung bereits in vollem Gange war. Angesichts der Gestaltung der sozialen Verhältnisse wuchs denn auch von Jahr zu Jahr der Zweifel, ob die so bequeme Lösung des „laissez faire, laissez passer“ allen wirtschaftlichen Problemen gerecht werden könne und liess die Freihändler schliesslich einen grossen Teil der Autorität einbüssen, die sie bis gegen Ende der 70er Jahre bei den Massen, sowie in den akademischen Kreisen besessen hat. Während die Arbeiterschaft in die Gefolgschaft der von Marx, Lasalle, F. A. Lange und Rodertus entwickelten Grundanschauungen trat und sich den Dogmen des Sozialismus zuwandte, vereinigte sich eine Anzahl hervorragender Universitätslehrer (die Kathedersozialisten) im Verein für Sozialpolitik, der mit vollem Erfolge die geistige Führung in der sozialpolitischen Reformbewegung übernahm. Auch hinsichtlich der Handelspolitik haben sich in den letzten 35 Jahren die Anschauungen der Nationalökonomen erheblich gewandelt: Zum Teil hat die Schutzzolltheorie wieder Anhänger gefunden. Gelehrte wie Ohlenberg traten für die Autarkie, die Unabhängigkeit der Volkswirtschaft vom Auslande, ein. Adolf Wagner, Pohle, v. Mayr fordern eine Begünstigung der ihrer Meinung nach wichtigeren Landwirtschaft vor der Industrie. Bei wieder anderen hervorragenden Universitätslehrern, wie z. B. bei Schmoller und seinen Schülern, herrscht die Ansicht vor, dass die Frage, ob Freihandel oder Schutzzoll nicht nach einem prinzipiellen Axiom, sondern nach den gegebenen konkreten Umständen mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl, nicht aber mit Konivenz gegen einseitige Interessen zu entscheiden sei. Doch besitzt auch heute noch die wissenschaftliche Freihandelstheorie [245] entschiedene Verfechter in bedeutenden Nationalökonomen, wie L. Brentano, Dietzel, Lotz, Alfred Weber und Karl Hellferich.

7. Die Freihandelsaera in der Staatspraxis a) Englands, b) Deutschlands, c) Frankreichs, d) Russlands.

a) In der Staatspraxis der europäischen Mächte hat das Freihandelsprinzip am frühesten in England Anklang gefunden. Dies erklärt sich ohne weiteres daraus, dass England’s Industrie bereits zur hohen Blüte gelangt war, als die Industrien der anderen europäischen Mächte ihre ersten Gehversuche machten. Zu einer Zeit, da England’s Industrieprodukte ihren Eroberungszug durch die Welt antraten, und eine fremde Konkurrenz nicht zu fürchten hatten, erschienen Einfuhrverbote nicht von Nöten. Auch musste es das Bestreben der Regierung sein, offene Märkte in anderen Ländern zu gewinnen und die eigenen Produktionskosten niedrig zu halten. In den Produktionskosten der Industrie spielt aber die Lebenshaltung der Arbeiter eine wichtige Rolle, und deshalb richtete sich die Freihandelsbewegung in England zunächst hauptsächlich gegen die Kornzölle. Unter dem ausgezeichneten Staatsmann Sir Robert Peel wurden gelegentlich der sogenannten „Peel’schen Reformen“ die Getreidezölle in den Jahren 1843 und 1845 wesentlich herabgesetzt. Die Differenzialzölle zu Gunsten des westindischen Zuckers wurden 1848, die Navigationsakte 1850 aufgehoben. Von Februar 1849 an wurde für Weizen nur noch eine statistische Gebühr erhoben, die schliesslich 1869 ebenfalls fortfiel. In der Zeit, als Gladstone die englischen Finanzen leitete, wurde der Zolltarif für 133 Warengattungen stark ermässigt, und 123 andere Warengattungen wurden für zollfrei erklärt. Die letzten Reste des Schutzzolles wurden im Wege der Kompensation im Handelsverträge mit Frankreich vom 23. Februar 1860 und in den folgenden Verträgen geopfert; auch die früher bestandenen Begünstigungen für einzelne Kolonialprodukte wurden aufgehoben. Seit jener Zeit enthält der englische Zolltarif nur noch sogenannte Finanzzölle (auf Kaffee, Thee, Tabak, Bier, Wein, Spirituosen etc.), welche nicht durch ein Schutzbedürfnis, sondern durch fiskalische Motive bedingt sind.

b) In Preussen bedeutete das Zollgesetz vom 21. Mai 1816, das neben Finanzzöllen nur noch mässige Abgaben auf Getreide und Fabrikate enthielt und alle Verbote beseitigte, die Abkehr vom Merkantilismus. Diese gemässigte schutzzöllnerische Politik setzte Preussen auch in dem seit 1834 bestehenden preussisch-deutschen Zollverein fort, z. T. mit der Absicht, das hochschutzzöllnerische Oesterreich am Beitritt zu verhindern. Die eigentliche freihändlerische Tarifreform wurde durch den preussisch-französischen Handelsvertrag vom 29. März 1862 eingeleitet. In Deutschland schloss der deutsche Zollverein im Jahre 1865 Tarif- und Meistbegünstigungsverträge mit Belgien, England und Italien ab. Nach seiner Neukonstituierung im Jahre 1866 wurde durch die Tarifvorlagen von 1868 und 1870 die Absicht kundgegeben, eine systematische Herabsetzung und schliessliche Beseitigung der Zölle herbeizuführen. Es ist bekannt, dass die deutsche Freihandelspolitik unter der Aera Delbrück in dem Gesetz von 1873 über die Aufhebung der Eisenzölle gipfelte. Auch Bismarck trat bis Anfang 1877 für die Ausgestaltung des Zolltarifs in der Richtung reiner Finanzzölle ein. Mit diesem Jahre, welches eine nochmalige Herabsetzung der Eisenzölle brachte, erreichten die freihändlerischen Reformen ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende.

c) In Frankreich kam erst mit Napoleon III. ein überzeugter Freihändler auf den Thron. Trotz heftiger Opposition im Lande schloss er auf Grund des ihm von der französischen Verfassung gewährten Rechts ohne Mitwirkung der Volksvertretung, den bereits erwähnten Handelsvertrag mit England von 1860 ab, in welchem sich die französische Regierung verpflichtete, die Einfuhrverbote aufzuheben und Schutzzölle einzuführen, deren Höhe 30%, und vom 1. Oktober 1864 ab 25% vom Warenwerte nicht übersteigen sollten. Durch das Gesetz vom 19. Mai 1866 wurden schliesslich zahlreiche Privilegien abgeschafft, welche die französische Handelsmarine durch das Monopol auf die Küstenschiffahrt und durch die für Schiffe fremder Flaggen geltenden Zuschläge genoss. Unter der Republik gewannen dann die protektionistischen Tendenzen wieder mehr und mehr die Oberhand.

d) In Russland begann sich in den 60er Jahren in den gebildeten Kreisen eine freihändlerische Richtung bemerkbar zu machen, die nicht ohne Einfluss auf die Regierung blieb und diese zu der Tarifreform von 1868 veranlasste. Der fragliche Zolltarif setzte an Stelle des bisherigen starren Hochschutzzoll- und Prohibitivsystems Schutzzölle von mässigerer Höhe. –

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8. Die Lehren Friedrich List’s.

In der nationalökonomischen Wissenschaft machte sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderte eine Kritik, und, wie erwähnt, zum Teil auch eine Opposition gegen die Extreme bezw. Einseitigkeiten des Smith’schen Systems bemerkbar. Der Oesterreicher Adam Müller suchte in seiner Schrift „Vorlesungen über die Elemente der Staatskunst“ darzulegen, dass die Smithsche Lehre für einen Handelsstaat mit mehr städtischem Charakter, wie England, passe, während der kontinentale Staat, dessen Grundlage zurzeit noch die Landwirtschaft bilde, andere Bedürfnisse habe. Die gleichen Anschauungen vertrat von Haller, der jedoch mit seinen Forderungen wieder in dem Boden des extremen Merkantilismus wurzelte. – Hoch über den Darlegungen dieser beiden Männer steht hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Begründung die Kritik, die Friedrich List der Smith’schen Lehre angedeihen liess. Auch er trat dem Smith’schen Kosmopolitismus entgegen und verlangte im Angesicht des zersplitterten und geschwächten Vaterlandes den Ausbau der einzelnen Nationen zu selbständigen Organismen, mit eigener Geschichte und besonderer Eigentümlichkeit. Daher bezeichnet er auch sein 1841 erschienenes Hauptwerk als „Das nationale System der politischen Oekonomie“. Er entfernt sich dadurch von Adam Smith, dass er dem Staat andere wirtschaftliche Aufgaben stellt. Hatte Smith den Wohlstand hauptsächlich in den Befriedigungsmitteln gesehen, so List in den Produktionskräften des Landes, die allseitig zu entfalten und in ihrer nachhaltigen Leistungsfähigkeit zu erhalten die Aufgabe des Staates sei. Auch er hat den Eindruck, dass die Smith’sche Lehre hauptsächlich auf die industriestaatlichen Verhältnisse England’s zugeschnitten und auf englischem Boden erwachsen sei, aber er sieht sie auch für verwertbar an, um zu beurteilen, wie die Volkswirtschaft des Kontinente entwickelt werden müsse, um die englische Vorherrschaft zu brechen. Seinem System legt er die Auffassung zugrunde, dass sich die Entwickelung der Volkswirtschaft überall in gleicher Weise vollzieht, und zwar in 4 Hauptstufen: Die erste Stufe ist das Jäger- und Hirtenleben, die zweite der Agrarstaat, die dritte der Agrar-Manufakturstaat, die vierte der Agrar-Manufaktur und Handelsstaat. Jede bedeutende Nation müsse danach streben auf die letzte und höchste Entwickelungsstufe zu gelangen, auf der sich – nach List’s damals zutreffender Ansicht – nur England befand. Deutschland, ebenso wie die Vereinigten Staaten und Frankreich sah er noch in der vorletzten, Spanien und Italien noch in der Ackerbauperiode stehen. List untersucht nun, wie vor allem Deutschland sich auf die höchste Stufe emporschwingen könnte. Der Staatsgewalt weist er die Aufgabe zu, den Gewerbetreibenden bei dem schwierigen Uebergang behilflich zu sein. Das zweckmässigste Hilfsmittel hierfür sieht er in einem mässigen Zollsystem, welches die aufkeimenden Industrien gegen die übermässige Konkurrenz schützen soll. Erst wenn die Nation die letzte Stufe, auf der sich nur England befindet, erreicht hat und keinen überlegenen Gegner zu fürchten braucht, sei als Endziel der Freihandel gerechtfertigt. Der Schutzzoll ist also, seiner Ansicht nach, nur als Erziehungsmittel anzusehen, das der Volkswirtschaft zu einer höheren Stufe der Entwickelung verhelfen und mit der Erreichung dieses Zieles wieder wegfallen soll. Die günstigste Wirkung versprach er sich von dem Schutzzoll auf fertige Fabrikate, während er sich als Gegner der Getreidezölle bekennt. Die Schutzzölle hält er für umso wirksamer, je grösser das von ihnen umschlossene Territorium ist, und je manigfaltiger sich die Produktionsverhältnisse und die Produktionszweige innerhalb dieses geschützten Kreises gestalten; nur dort können sie sich richtig ergänzen und alle natürlichen Hilfsquellen des Landes zur Verwertung bringen. Aufgabe jeder Volkswirtschaft ist es, den Bedarf der Nation, soweit als möglich, mit Gütern der eigenen Produktion zu decken, weil die Steigerung der Produktivkräfte eine Vorbedingung jedes materiellen und kulturellen Fortschrittes ist. Bei der vielfachen natürlichen, technischen und sozialen Differenzierung der Produktionsverhältnisse in den einzelnen Ländern könne eine solche Steigerung nur durch den „Schutz der nationalen Arbeit“ bewirkt werden. Die Höhe des Schutzzolles ergibt sich aus seiner Aufgabe, diejenigen Nachteile auszugleichen, in denen sich die Produktion der Heimat infolge natürlicher Verhältnisse (geringere Fruchtbarkeit, Mangel an wichtigen Rohstoffen etc.) gegenüber der ausländischen Konkurrenz befindet. Ferner begründet höhere technische Entwickelung in den industriellen Methoden häufig eine Ueberlegenheit des Auslandes, doch wird in dieser Hinsicht Vorsicht am Platze sein, um den Schutzzoll nicht zu einer Prämie für technische Stagnation zu machen. Endlich spielen auch die [247] sozialen Verhältnisse, die Ungleichheit der Löhne, bei der Konkurrenzfähigkeit der Fabrikate eine beachtenswerte Rolle. Die Schutzzölle sollten hier gleichfalls einen Ausgleich herbeiführen und zugleich die Lebenshaltung der Arbeiter vor den niedrigen Löhnen des Auslandes bewahren. Ueberall betont List, dass zeitweilige Wertverluste durch Schutzzollverteuerung zurücktreten können, wenn dafür die produktiven Kräfte der Nation, die Intelligenz und Moralität der Menschen, die Geschicklichkeiten und technisch-wirtschaftlichen Kenntnisse, die ökonomisch gesellschaftlichen Gebilde und Einrichtungen an Kraft, Vollkommenheit und Wirksamkeit wachsen. Mit dieser „Theorie der Produktionskräfte“, die er in Gegensatz stellt zur Smith’schen „Theorie der Tauschwerte“, hat er, wie Schmoller (Grundriss Bd. II, S. 606) treffend sagt, „in der Tat den springenden Punkt für die Erkenntnis des Wirtschafts- und Handelskampfes der Völker gefunden“. Der grösste Teil aller Schutzzollpolitik des 19. Jahrhunderts hat aus dem List’schen Gedanken seine geistige Fundamentierung erhalten.

9. Die moderne wissenschaftliche Schutzzolllehre.

Die neueren deutschen Nationalökonomen der schutzzöllnerischen Richtung stehen zum grossen Teil mit ihren Grundanschauungen auf dem Boden der List’schen Lehre und üben eine wissenschaftliche Kritik an den Grundsätzen der modernen Freihandelsdoktrien: Gegen das Hauptargument der Freihändler „den Konsumentenstandpunkt“, die Klage, dass Schutzzölle die Waren verteuern, machen sie geltend, dass das Produzenteninteresse gleichberechtigt, ja, das Dringlichere das Akute sei, und dass die Betonung der momentanen Verteuerung durch Schutzzölle zu ihrer Widerlegung nicht ausreiche. Der Staat müsse immer, ebenso sehr oder mehr auf die nationale Zukunft, auf die Entwickelung des ganzen, als auf die augenblickliche Preis- und Marktlage sehen. Hinsichtlich des anderen Hauptarguments der Freihändler, nämlich des Vorteils der internationalen Arbeitsteilung, wie ihn Adam Smith entwickelt hat, betonen sie, dass es im nationalstaatlichen Interesse zeitweise mehr liegen kann, die vielfach auch heute noch fehlende und doch natürlich und politisch angezeigte nationale Arbeitsteilung stärker zu fördern; letztere sei, je grösser die Staaten werden, desto häufiger noch unvollkommen und doch die Voraussetzung des inneren festen Zusammenhaltes der Staaten. – Soweit die neuen Schutzzöllner in ihren Theorien zu einer blossen Verherrlichung der Autonomie und Autarkie, der absoluten wirtschaftlichen Selbständigkeit des einzelnen Staates gelangen, sind ihre Argumente schwach und anfechtbar: Kein Kulturstaat, und je kleiner er ist, desto weniger kann er heute den Verkehr mit anderen Staaten entbehren. Nur soweit es sich um unentbehrliche wirtschaftliche Güter, und um solche Produktionszweige und Produkte handelt, deren kürzere oder längere Entziehung den Staat tötlich treffen könnten, hat der Gedanke, sich unabhängig vom Auslande zu machen, eine Berechtigung. – Die Begründung der Schutzzölle mit der Formel, dass alle gewerblichen, landwirtschaftlichen und sonstigen wirtschaftlichen Interessen des Inlandes gleichberechtigt seien, und deshalb gerechterweise gleichen Schutz gemessen müssten (Schutz der nationalen Arbeit), steht ebenfalls auf keiner festen Grundlage: Sie enthält gewissermassen die Aufhebung des Zweckes selbst, denn, wenn jeder seine Arbeit oder Ware durch den Zoll gleich viel teurer verkauft, so gewinnt schliesslich keiner. – Von den amerikanischen Schutzzöllnern wie Patten, Gauton, Carey stammt die offenbar subjektive und widerspruchsvolle Behauptung, dass der Freihandel für alternde, stagnierende Staaten sei, während der Schutzzoll die Handelspolitik der aufstrebenden, dynamischen Industriestaaten charakterisiere; er beseitige bei letzteren die Grundrente und alle Monopole. (Patten.) Demgegenüber ist zu betonen, dass kaum ein anderes Land seit 1860 solche Grundrentenbildung und solche gewerblichen Monopole (Kartelle und Trusts) hervorgebracht hat wie die hochschutzzöllnerischen Vereinigten Staaten. Diese gewaltigen Monopolbildungen in der Union sind ja gerade eine der Ursachen, dass sich die europäischen Staaten, die keine in so starken Kartellen und Trusts organisierte Industrie besitzen, durch Zölle gegen die amerikanische Konkurrenz mit ihren Schleuderpreisen, ihren riesenhaften Spekulationen und Marktüberführungen schützen müssen.

10. Die wissenschaftliche Kontroverse „Industrie- oder Agrarstaat“.

Neuerdings ist in dem theoretischen Streit über die zweckmässigste Handelspolitik die Frage, ob Schutzzoll, oder Freihandel, mehr in den Hintergrund getreten gegenüber der Kontroverse [248] „Industrie- oder Agrarstaat“. Damit ist das Thema zwar etwas verschoben worden, doch hat seine Behandlung eine grössere wissenschaftliche und aktuellere praktische Bedeutung erhalten. Oldenberg hat zuerst in umfassender Weise an Hand der Statistik der deutschen Berufszählungen die Frage aufgeworfen, ob es richtig sei, dass die grossen Kulturstaaten sich heute in die Bahnen des überwiegenden Industriestaates stürzen, die England seit 1840, Deutschland neuerdings verfolge. Er weist auf die rasch wachsende Bevölkerung der genannten Staaten hin, die immer mehr auf die Zufuhr auswärtiger Nahrungsmittel angewiesen seien und dadurch in steigendem Masse der Gefahr näher gerückt würden bei ungünstigen politischen Konstellationen, ausgehungert zu werden. Es müsse ferner damit gerechnet werden, dass die Nahrungsmittelstaaten über kurz oder lang einmal keinen Nahrungsüberschuss mehr haben, sich bald auch nicht mehr in Fabrikaten bezahlen lassen würden. Früher seien sie als Schuldnerstaaten in Abhängigkeit von den kapitalstarken, industriellen Gläubigerstaaten gewesen. Dieses Verhältnis werde sich mit der Zeit umkehren; unter Umständen würden die Agrarstaaten ihre Schulden gegen die Industriestaaten kassieren, zuletzt sie mit Abhängigkeit und Ruin bedrohen. Darum müssten Staaten wie Deutschland, ehe es dafür zu spät sei, der industriestaatlichen Entwickelung einen Riegel vorschieben, ihre Landwirtschaft schützen und ausdehnen und die übermässige Steigerung ihrer Exportindustrien Mass hemmen. – Diese Gedanken fanden bei A. Wagner, Bohle, P. Voigt, Ballot u. a. teils modifizierte Zustimmung, teils weitere Ausführung. Die praktische Folgerung, die Oldenberg übrigens ganz zurückgestellt hatte, war in der Hauptsache die Forderung ausgiebiger, ja hoher Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte, Hemmung der starken Industriezunahme und des Arbeitsabflusses nach den Städten bezw. Industriezentren. – Brentano, Dietzel, Huber, Helfferich, Alfred Weber, Fr. Naumann traten der Tatsachenschilderung wie den Folgerungen entgegen. Sie suchten darzulegen, dass die angeführten Gefahren nicht bestünden, dass in den nächsten Generationen die Industriestaaten Nahrungsmittel in beliebigen Quantitäten ohne Schwierigkeit aus dem Auslande beziehen könnten und dort auch Absatzmärkte für ihre Fabrikate finden würden. Ferner betonten sie, dass eine möglichste Steigerung der internationalen Arbeitsteilung nach der Richtung „Brod gegen Fabrikate“ den nationalen Reichtum der einzelnen Staaten am besten fördere und keine einseitige, sondern nur stets eine gegenseitige Abhängigkeit hervorbringe. – Der Streit „Industrie oder Agrarstaat“ hat zweifellos nach vielen Seiten hin aufklärend gewirkt und hat schliesslich auch die Parteien unter Verzichtleistung auf ihre extremen Forderungen in mancher Hinsicht einander näher gebracht. Jedenfalls kann sich theoretisch keine von den beiden den Sieg allein zuschreiben, denn es handelt sich bei diesem Streit letzten Endes doch um Zukunftsmöglichkeiten, um Entwickelungstendenzen, die in jedem Staate durch politische und wirtschaftliche Ursachen aller Art verschieden beeinflusst werden können. In Hinblick auf die moderne handelspolitische Entwickelung kann man Schmoller zustimmen, der bei seiner objektiven, historisch deduktiven Behandlung des „Agrar- und Industriestaat-Problems“ zu dem Ergebnis kommt, dass für die Sicherstellung der Ernährung der dicht bevölkerten Industriestaaten in näherer Zukunft die Schutzzölle eine weniger wichtige Rolle spielen dürften, als die Zollunionen, der Imperialismus und das Verhältnis des Mutterstaates zu den Kolonien. –

11. Die moderne Schutzzollpolitik a) in Deutschland, b) in Frankreich, c) in Russland, d) in Oesterreich-Ungarn, c) in den Vereinigten Staaten.

a) In dem jungen deutschen Reiche führte die schwere wirtschaftliche Depression, die 1873 einsetzte und fast ein halbes Jahrzehnt anhielt, dazu, dass weitere gewerbliche Kreise mit der freihändlerischen Handelspolitik unzufrieden zu werden begannen. Die Gegenmächte organisierten sich: 1876 entstand der Zentralverband deutscher Industrieller, in dem die schutzzöllnerischen Spinner und grossen Eisenhüttenleute vorherrschten. Der Rückgang des deutschen Lebensmittelexportes nach England und die fremde Getreidekonkurrenz machte die Mehrzahl der Agrarier zu Schutzzöllnern. – Das Nationalgefühl belebte und stärkte sich gewaltig; man wollte sich auch handelspolitisch vom Auslande nicht mehr so gängeln lassen wie in den Tagen des Zollvereins. Diese Stimmungen und Auffassungen griffen schliesslich auch auf die Reichsregierung über. Bei Bismarck führte die Missstimmung über die handelspolitischen Uebergriffe und Verstösse [249] Österreichs, Frankreichs, Russlands zunächst zum Wunsche nach gewissen Handhaben der Retorsion, doch schlug zunächst der Reichstag kurzsichtigerweise einen Gesetzentwurf über Ausgleichsabgaben, sowie die Vertagung der Eisenzollaufhebung ab. Der Rücktritt Delbrücks (1876), des überzeugtesten Freihändlers in der Regierung, der Bismarck nötigte, seine Aufmerksamkeit mehr als bisher der Handels- und Finanzpolitik zuzuwenden, sodann die für die deutsche Eisenindustrie nahezu verhängnisvolle Aufhebung der Eisenzölle, und endlich ein neuer Reichstag, in welchem die Schutzzöllner sehr verstärkt waren, brachten es nach und nach dahin, dass Bismarck aus einem Retorsions- zu einem Schutzzöllner wurde. Die Umkehr von der freihändlerischen Richtung erfolgte dann schliesslich durch den Zolltarif von 1879, der, trotz seiner Neigung zu allgemeiner Zollpflicht, keine Zölle auf die Rohstoffe Baumwolle, Flachs, Hanf, Wolle, Kohle, Häute, und nur sehr geringe Getreidezölle (1 Mk. für 100 kg Weizen und Roggen), massige Viehzölle, einen Roheisenzoll von Mk. 1, etwas höhere Zölle auf Eisenhalbfabrikate, Zölle von Mk. 7,50 bis Mk. 15 auf Eisenwaren etc. enthielt. Wenn auch die Freihändler, und noch mehr das Ausland, diese Veränderung der deutschen Handelspolitik heftig befehdeten, so war sie doch das Richtige: Sie sicherte der deutschen Produktion den damals bedrohten inneren Markt; sie hob die deutschen Zolleinnahmen (1877–1890) von 103 auf 357 Mill. Mk. und hat, wie Schmoller treffend sagt, „eine günstige, erziehende, kompensierende, Krisen mildernde Wirkung gehabt“. – In dem nächsten Jahrzehnt wurde der Zollschutz für Industrie und Landwirtschaft weiter ausgebaut, besonders durch die Tarifreformen von 1885 und 1887, die z. T. Antworten auf die österreich-ungarischen und russischen Erhöhungen waren. Die hohen Zollsätze wurden in der Folgezeit durch Handelsverträge ermässigt. Eine grössere Spezialisierung der Industriezölle, und eine weitere Verschärfung des Agrarschutzes durch Einstellung von Minimalsätzen für Getreide brachte endlich der Zolltarif vom 25. Dezember 1902. Obwohl dieser Tarif gegen die Obstruktion der Sozialdemokratie und der freis. Vereinigung nur in der verschlechterten und gesteigerten Form der Kommission, nicht in der der Regierung zustande kam, gelang es immerhin der geschickten diplomatischen Tätigkeit der Reichsregierung auch mit diesem Zolltarif im ganzen günstige Handelsverträge, und damit einen in der Hauptsache nicht zu hohen Vertragstarif zustande zu bringen. Obwohl auch heute gewisse Interessentenkreise die befriedigende Wirkung dieser Handelsverträge lebhaft bestreiten, kann doch die Tatsache nicht abgeleugnet werden, dass unter ihrer Geltung der deutsche Aussenhandel sich von Jahr zu Jahr in sehr beträchtlichem Masse gehoben hat. –

b) Frankreich erhöhte nach dem deutsch-französischen Kriege zunächst die Finanzzölle. Durch Gesetz vom 26. Juli 1872 wurden sogar Rohstoffzölle eingeführt, die aber 1874 wieder beseitigt wurden. Unter der Präsidentenschaft von Mac Mahon (1873–1879) hatte die Regierung keinen festen Standpunkt. Man machte Russland 1874, Spanien 1877 auf dem Vertragswege Konzessionen, suchte die Handelsabkommen mit anderen Staaten zu verlängern. Die entscheidende Wendung zum Schutzzollsystem machte Frankreich durch das Zollgesetz vom 7. Mai 1881, das einen Generaltarif für die Staaten ohne Vertrag statuierte, der 24% im Durchschnitt höher war als der bisherige Vertragstarif. Die Sätze für Industrieprodukte und Eisen waren z. T. nicht unbeträchtlich höher als die im deutschen Tarif von 1879. Eine neue Kette von Meistbegünstigungs- und Tarifverträgen mit Belgien, Italien, Portugal, Schweden, Norwegen, Spanien, Schweiz und Österreich knüpfte sich an das Zollgesetz an. England behielt seine Meistbegünstigung durch ein besonderes französisches Gesetz, Deutschland infolge des Friedensvertrages von 1871. Durch zwei Gesetze in den Jahren 1885 und 1887 wurden die Getreide- und Viehzölle, die seit 1861 auf einer massigen Höhe geblieben waren, erhöht. Nach dem Abgang Tirards erstrebte man in Frankreich die Beseitigung des ganzen Vertragssystems, sowie die Herstellung eines Maximal- und Minimaltarifs. Die einschlägigen Bestrebungen hatten schliesslich Erfolg: Das Zollgesetz vom 1. Januar 1892 brachte einen schutzzöllnerischen Maximaltarif für die Staaten ohne, einen Minimaltarif für die Staaten mit Handelsabkommen; Handelsverträge sollten nicht mehr geschlossen werden, sondern um Handelsabkommen über Annahme oder Ablehnung des Minimaltarifs. Der letztere wurde etwa 40%, der Maximaltarif ca. 60% gegen den bisherigen Tarif erhöht. Der hochschutzzöllnerische Tarif von 1892 hat wohl den französischen Aussenhandel nicht gerade gelähmt, aber ihn – wie die Statistik des französischen Aussenhandels zeigt, – auch nicht gehoben. Durch ein neues hochschutzzöllnerisches [250] Gesetz vom 1. April 1910 ist der Tarif von 1892 abgelöst worden. Ein grosser Teil der Positionen ist wiederum nicht unbeträchtlich erhöht worden, doch haben die von den verschiedensten Seiten übermittelten Wünsche und Anträge immerhin den Erfolg gehabt, dass die Sätze einiger der wichtigsten Importartikel gegen den ursprünglichen Tarifentwurf etwas gemildert wurden.

c) In Russland bestand seit dem Tarif von 1866 ein gemässigter Schutzzoll. Aber der türkische Krieg steigerte die Finanznot und leitete Russland in die Bahnen einer bedenklichen Papiergeldwirtschaft. Da die Zahlungsbilanz sich überdies infolge der teuren Eisenbahnanleihen mit ausländischem Kapital sehr verschlechterte, und die Zolleinnahmen zu gering schienen, verfügte man 1878, dass alle Zölle in Gold gezahlt werden müssten, eine Massnahme, die mit einer Zollerhöhung von ca. 33% gleichbedeutend war. Hiermit war der erste Schritt zu einer schutzzöllnerischen Handelspolitik getan, die dann durch die Zollgesetze vom 11. Juni 1891 und vom 13. Juli 1903 einen ausgesprochen hochschutzzöllnerischen Charakter annahm. Unter der altmerkantilistischen Handels- und Finanzpolitik Witte’s konnte nichts destoweniger die russische Industrie einen erheblichen Aufschwung verzeichnen, vielleicht allerdings unter Schädigung des Bauernstandes. Als grösster Getreideproduzent Europas hat Russland einen Agrarschutz bislang nicht nötig gehabt. –

d) In Oesterreich-Ungarn wurde die schutzzöllnerische Handelspolitik durch den Zolltarif vom 27. Juni 1878 eingeleitet. In den folgenden Jahren wurde der Zollschutz für Industrie und Landwirtschaft weiter ausgebaut, besonders durch die Tarifreformen von 1885 und 1887, doch wurden die Zollsätze durch zahlreiche Handelsverträge ermässigt. Der Zolltarif vom 25. Dezember 1902 brachte eine grössere Spezialisierung der Industriezölle und eine erhebliche Verschärfung des Agrarschutzes durch Einstellung von Minimalsätzen für Getreide.

Auch die Mehrzahl der anderen kleineren europäischen Staaten verfolgte im letzten Dezennium eine mehr oder minder lebhafte schutzzöllnerische Richtung in ihrer Handelspolitik. Von aussereuropäischen Industriestaaten besitzen in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika und sodann Japan und Australien hochschutzzöllnerische Tarife.

e) In den Vereinigten Staaten, die ja neben England und den europäischen Mächten für den deutschen Aussenhandel von besonderer Wichtigkeit geworden sind, hatte schon der Morill-Tarif von 1860 die Woll- und Eisenindustrie durch Zölle geschützt. Diese Zölle wurden 1862 und 1864 nach und nach um ca. 47% erhöht. Einzelne Herabsetzungen bis 1882 waren unerheblich; im Jahre 1883 machten die Zölle 38% im Durchschnitt aus. In den achtziger Jahren trat ein gewisser Rückschlag der amerikanischen Ausfuhr ein. Es entstand eine ausgedehnte Geschäftsflauheit, die lange Zeit nicht weichen wollte; Trusts begannen sich zu bilden; man suchte in hohen Zöllen das Mittel rascher industrieller Entwickelung. Der Kampf zwischen den Demokraten, die für mässigen Zoll eintraten, und den Republikanern, die Hochschutzzölle verlangten, wurde von nun an zum Mittelpunkt der inneren Politik. Es gelang jedoch den Republikanern die Tarifreform des nach langer Zeit wieder ersten demokratischen Präsidenten Cleveland (1887) zu verhindern. In der MacKinley-Bill von 1890 wussten sie dem extremen Hochschutzzoll den Sieg zu verschaffen. Als dieser Tarif aber mit seinem wenig günstigen Erfolge die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschte, die Preise im Inlande andauernd stiegen, die angeblich lohnsteigernden Folgen des Schutzzolles ausblieben, und der Missmut über das Treiben der Trusts wuchs, siegten wieder die Demokraten. Aber sie konnten nur eine mässige Milderung des Tarifs (Wilson-Tarif von 1897) durchsetzen. Die Republikaner kehrten unter Mac Kinley in ihre Aemter zurück und setzten im Dingley-Tarif (1896) die Rückkehr zum Hochschutzzoll von 1890 durch. Die Union suchte ihre Meistbegünstigungen in den Staaten mit mässigen Tarifen fest zu halten, ohne jedoch selbst in ihren Handelsabkommen irgend nennenswerte Zollermässigungen auf die Tarifsätze zu konzedieren. Am 5. August 1909 ist ein neuer Zolltarif (die Payne-Aldrich Bill) angenommen worden, der durch weitere Erhöhung der Zollsätze die Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten noch mehr als bisher erschwert hat. Die insbesondere von den deutschen Interessenten gehegten Befürchtungen über den Inhalt des neuen Zolltarifs fanden nach dessen Bekanntwerden ihre volle Bestätigung. Der Tarif verfolgt den Zweck, einmal die amerikanische Industrie noch mehr zu kräftigen und ausserdem dem Staat mehr Einnahmequellen zuzuführen. Er ermässigt oder beseitigt deshalb im allgemeinen die Zölle auf Rohmaterialien und reduziert im [251] geringen Masse die Zölle auf die entsprechenden Halbfabrikate. Dagegen enthält er eine Reihe von beträchtlichen Zollerhöhungen für die noch als schutzbedürftig anerkannten Industrien, so z. B. für die Papier-, Postkarten-, Lederindustrie, für einzelne Branchen der Textilindustrie sowie für die Industrien der Luxus- und Genussartikel. Er erinnert in gewisser Hinsicht an den französischen Doppeltarif dadurch, dass er zu den Sätzen des Mindesttarifs einen Zuschlag von 25% des Warenwerts gegenüber denjenigen Ländern vorsieht, die die Einfuhr aus den Vereinigten Staaten durch Zollsätze oder sonstige Massnahmen ungünstiger behandeln als die Einfuhr aus anderen Ländern.

12. Der Imperialismus in Grossbritannien.

Grossbritannien, das Mutterland des Freihandels, hat sich bis heute der Schutzzollpolitik fern gehalten und besitzt der Hauptsache nach nur Finanzzölle. Jedoch lag der Merchandise Marks Act von 1887 und der Patent and Designs Act von 1907 bereits die Nebenabsicht zugrunde, die fremde Konkurrenz zu behindern. Auch haben die Vorzugszölle, die Grossbritannien in seinen Kolonien geniesst, ihm indirekt zu einem Zollschutz in den wichtigsten Absatzgebieten verholfen.

Erst in den letzten Jahren hat ein kräftiger Ansturm gegen die bisher anscheinend unverletzbare Grundlage der auswärtigen Handelspolitik, gegen den Freihandel begonnen. Sein Urheber und bedeutendster Führer ist der Politiker Joseph Chamberlain. Nachdem Chamberlain aus dem von ihm beherrschten Kabinett ausgetreten war, um als eifriger Agitator für seine schutzzöllnerischen und imperialistischen Ideen zu wirken, fand er bald wichtige Interessentengruppen, mächtige politische Parteien, Tagesschriftsteller und nationalökonomische Gelehrte, die sich seinen Anschauungen und Vorschlägen zuneigten. Durch Zölle will er die steigende Eisen- und Stahleinfuhr aus Amerika eindämmen; mittels eines Reichszollvereins soll das die ganzen Kolonien umfassende, von Disraeli geschaffene Empire, das „Greater Britain“, vollendet werden. Dieser Reichszollverein soll die Ernährung sicherer gestalten, die Angst vor amerikanischen und russischen Kornsperren beseitigen, der englischen Industrie Luft für ihren Absatz machen, die Einfuhr anderer Staaten in die Kolonien durch ein Differenzialsystem zwischen letzteren und dem Mutterlande etwas verringern und überhaupt eine handelspolitische und militärische Zusammenfassung der weit zerstreut liegenden Teile herbeiführen. – Die grosse Mehrheit des englischen Volkes hält jedoch – nach den Erfahrungen bei den Parlamentswahlen von 1906 und 1910, in denen die eine Tarifreform fordernden Unionisten eine grosse Niederlage erlitten, zu urteilen – an der bisherigen Freihandelspolitik fest. –

Uebrigens ist auch in Deutschland der Gedanke, mittels Zollunionen die Ernährung der ständig wachsenden Bevölkerung gegen evtl. Nahrungssperren des Auslandes sicher zu stellen, zeitweilig aufgetaucht. Insbesondere ist der Vorschlag Schmoller’s lebhaft erörtert worden, der die Gründung eines mitteleuropäischen Zollvereins für Deutschland anregt. Ein solcher hätte Ungarn, Rumänien, und vielleicht weitere Kreise der Balkanhalbinsel zu umfassen, und würde für Deutschland in erheblichem Masse die nötigen Mehrgetreidezufuhren erleichtern. –

13. Würdigung der heutigen Schutzzollaera.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Handelspolitik der einzelnen Staaten im wesentlichen abhängt von ihren natürlichen Grundlagen (geographische Lage, Grösse, Boden, Klima etc.), von der wirtschaftshistorischen Stufe der Entwickelung, von der Handelspolitik der Konkurrenzstaaten und dem Verhältnis zu diesen, von dem Mass, in dem die einzelnen handelspolitischen Ideenströmungen in das Volk eingedrungen sind, von den inneren Parteikonstellationen und Verfassungszuständen, von den Anschauungen der leitenden Staatsmänner, und nicht zuletzt von der wirtschaftspolitischen Macht, die der einzelne Staat über andere schwächere Staaten auszuüben fähig oder gewillt ist. Hieraus erhellt schon, dass heute Schutzzoll und Freihandel nicht mehr reine Prinzipienfragen sind, sondern dass sie nur wechselnde Mittel für die Handelspolitik der Staaten darstellen. Man sieht im Schutzzoll nicht mehr ein sicheres Bereicherungsmittel, aber ebensowenig eine unbedingt schädliche Einmischung in die Harmonie der volks- und weltwirtschaftlichen Prozesse. Je nachdem die Staaten und Volkswirtschaften sich in einer aufsteigenden, stagnierenden [252] oder niedergehenden Phase der Entwickelung befinden, werden verschiedene handelspolitische Massnahmen angezeigt sein: Eine schutzzöllnerische, neumerkantilistische Handelspolitik wird voraussichtlich dann auf Erfolg rechnen können, wenn sie als Glied eines politischen, geistigen, technisch-wirtschaftlichen Aufschwunges einsetzt. Eine freiere Handelspolitik erscheint dann angebracht, wenn die Industrie und die Welthandelsbeziehungen eines Staates so hoch entwickelt sind, dass er sich den anderen Nationen gegenüber gleich oder überlegen fühlt, wenn er des ferneren durch den freien Verkehr weniger wirtschaftliche Abhängigkeit als anspornenden Wettbewerb zu erwarten hat, wenn er für den Überschuss seiner hochentwickelten Produktion grosser auswärtiger Absatzgebiete bedarf und andererseits auf die Versorgung gewisser wichtiger Waren von aussen angewiesen ist.

Die heutige Ära der schutzzöllnerischen, imperialistischen Handelspolitik wird wohl noch geraume Zeit andauern. Erst dann, wenn sich die grossen Kulturstaaten auf annährend gleicher wirtschaftlicher Entwickelungsstufe befinden werden, wenn sich ihre Staatssysteme befestigt, ihre Absatzverhältnisse, ihre Einflussphäre und ihr Verhältnis zu ihren Kolonien geregelt und geklärt haben werden, kann vielleicht ein beruhigter Zustand internationaler Beziehungen, eine mehr freihändlerische Epoche der Welthandelspolitik anbrechen. Jedenfalls setzt aber heute schon eine gute Handelspolitik im wachsenden Masse voraus, dass die einzelnen Nationen nicht kurzsichtig nur das nächstliegende Eigeninteresse wahrzunehmen suchen, sondern sich als Glieder der grossen Staatengesellschaft fühlen, aus deren friedlichem Verkehr auch die einzelne Volkswirtschaft beträchtlichen Nutzen ziehen kann. –