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geringen Masse die Zölle auf die entsprechenden Halbfabrikate. Dagegen enthält er eine Reihe von beträchtlichen Zollerhöhungen für die noch als schutzbedürftig anerkannten Industrien, so z. B. für die Papier-, Postkarten-, Lederindustrie, für einzelne Branchen der Textilindustrie sowie für die Industrien der Luxus- und Genussartikel. Er erinnert in gewisser Hinsicht an den französischen Doppeltarif dadurch, dass er zu den Sätzen des Mindesttarifs einen Zuschlag von 25% des Warenwerts gegenüber denjenigen Ländern vorsieht, die die Einfuhr aus den Vereinigten Staaten durch Zollsätze oder sonstige Massnahmen ungünstiger behandeln als die Einfuhr aus anderen Ländern.

12. Der Imperialismus in Grossbritannien.

Grossbritannien, das Mutterland des Freihandels, hat sich bis heute der Schutzzollpolitik fern gehalten und besitzt der Hauptsache nach nur Finanzzölle. Jedoch lag der Merchandise Marks Act von 1887 und der Patent and Designs Act von 1907 bereits die Nebenabsicht zugrunde, die fremde Konkurrenz zu behindern. Auch haben die Vorzugszölle, die Grossbritannien in seinen Kolonien geniesst, ihm indirekt zu einem Zollschutz in den wichtigsten Absatzgebieten verholfen.

Erst in den letzten Jahren hat ein kräftiger Ansturm gegen die bisher anscheinend unverletzbare Grundlage der auswärtigen Handelspolitik, gegen den Freihandel begonnen. Sein Urheber und bedeutendster Führer ist der Politiker Joseph Chamberlain. Nachdem Chamberlain aus dem von ihm beherrschten Kabinett ausgetreten war, um als eifriger Agitator für seine schutzzöllnerischen und imperialistischen Ideen zu wirken, fand er bald wichtige Interessentengruppen, mächtige politische Parteien, Tagesschriftsteller und nationalökonomische Gelehrte, die sich seinen Anschauungen und Vorschlägen zuneigten. Durch Zölle will er die steigende Eisen- und Stahleinfuhr aus Amerika eindämmen; mittels eines Reichszollvereins soll das die ganzen Kolonien umfassende, von Disraeli geschaffene Empire, das „Greater Britain“, vollendet werden. Dieser Reichszollverein soll die Ernährung sicherer gestalten, die Angst vor amerikanischen und russischen Kornsperren beseitigen, der englischen Industrie Luft für ihren Absatz machen, die Einfuhr anderer Staaten in die Kolonien durch ein Differenzialsystem zwischen letzteren und dem Mutterlande etwas verringern und überhaupt eine handelspolitische und militärische Zusammenfassung der weit zerstreut liegenden Teile herbeiführen. – Die grosse Mehrheit des englischen Volkes hält jedoch – nach den Erfahrungen bei den Parlamentswahlen von 1906 und 1910, in denen die eine Tarifreform fordernden Unionisten eine grosse Niederlage erlitten, zu urteilen – an der bisherigen Freihandelspolitik fest. –

Uebrigens ist auch in Deutschland der Gedanke, mittels Zollunionen die Ernährung der ständig wachsenden Bevölkerung gegen evtl. Nahrungssperren des Auslandes sicher zu stellen, zeitweilig aufgetaucht. Insbesondere ist der Vorschlag Schmoller’s lebhaft erörtert worden, der die Gründung eines mitteleuropäischen Zollvereins für Deutschland anregt. Ein solcher hätte Ungarn, Rumänien, und vielleicht weitere Kreise der Balkanhalbinsel zu umfassen, und würde für Deutschland in erheblichem Masse die nötigen Mehrgetreidezufuhren erleichtern. –

13. Würdigung der heutigen Schutzzollaera.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Handelspolitik der einzelnen Staaten im wesentlichen abhängt von ihren natürlichen Grundlagen (geographische Lage, Grösse, Boden, Klima etc.), von der wirtschaftshistorischen Stufe der Entwickelung, von der Handelspolitik der Konkurrenzstaaten und dem Verhältnis zu diesen, von dem Mass, in dem die einzelnen handelspolitischen Ideenströmungen in das Volk eingedrungen sind, von den inneren Parteikonstellationen und Verfassungszuständen, von den Anschauungen der leitenden Staatsmänner, und nicht zuletzt von der wirtschaftspolitischen Macht, die der einzelne Staat über andere schwächere Staaten auszuüben fähig oder gewillt ist. Hieraus erhellt schon, dass heute Schutzzoll und Freihandel nicht mehr reine Prinzipienfragen sind, sondern dass sie nur wechselnde Mittel für die Handelspolitik der Staaten darstellen. Man sieht im Schutzzoll nicht mehr ein sicheres Bereicherungsmittel, aber ebensowenig eine unbedingt schädliche Einmischung in die Harmonie der volks- und weltwirtschaftlichen Prozesse. Je nachdem die Staaten und Volkswirtschaften sich in einer aufsteigenden, stagnierenden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/267&oldid=- (Version vom 26.9.2021)