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sozialen Verhältnisse, die Ungleichheit der Löhne, bei der Konkurrenzfähigkeit der Fabrikate eine beachtenswerte Rolle. Die Schutzzölle sollten hier gleichfalls einen Ausgleich herbeiführen und zugleich die Lebenshaltung der Arbeiter vor den niedrigen Löhnen des Auslandes bewahren. Ueberall betont List, dass zeitweilige Wertverluste durch Schutzzollverteuerung zurücktreten können, wenn dafür die produktiven Kräfte der Nation, die Intelligenz und Moralität der Menschen, die Geschicklichkeiten und technisch-wirtschaftlichen Kenntnisse, die ökonomisch gesellschaftlichen Gebilde und Einrichtungen an Kraft, Vollkommenheit und Wirksamkeit wachsen. Mit dieser „Theorie der Produktionskräfte“, die er in Gegensatz stellt zur Smith’schen „Theorie der Tauschwerte“, hat er, wie Schmoller (Grundriss Bd. II, S. 606) treffend sagt, „in der Tat den springenden Punkt für die Erkenntnis des Wirtschafts- und Handelskampfes der Völker gefunden“. Der grösste Teil aller Schutzzollpolitik des 19. Jahrhunderts hat aus dem List’schen Gedanken seine geistige Fundamentierung erhalten.

9. Die moderne wissenschaftliche Schutzzolllehre.

Die neueren deutschen Nationalökonomen der schutzzöllnerischen Richtung stehen zum grossen Teil mit ihren Grundanschauungen auf dem Boden der List’schen Lehre und üben eine wissenschaftliche Kritik an den Grundsätzen der modernen Freihandelsdoktrien: Gegen das Hauptargument der Freihändler „den Konsumentenstandpunkt“, die Klage, dass Schutzzölle die Waren verteuern, machen sie geltend, dass das Produzenteninteresse gleichberechtigt, ja, das Dringlichere das Akute sei, und dass die Betonung der momentanen Verteuerung durch Schutzzölle zu ihrer Widerlegung nicht ausreiche. Der Staat müsse immer, ebenso sehr oder mehr auf die nationale Zukunft, auf die Entwickelung des ganzen, als auf die augenblickliche Preis- und Marktlage sehen. Hinsichtlich des anderen Hauptarguments der Freihändler, nämlich des Vorteils der internationalen Arbeitsteilung, wie ihn Adam Smith entwickelt hat, betonen sie, dass es im nationalstaatlichen Interesse zeitweise mehr liegen kann, die vielfach auch heute noch fehlende und doch natürlich und politisch angezeigte nationale Arbeitsteilung stärker zu fördern; letztere sei, je grösser die Staaten werden, desto häufiger noch unvollkommen und doch die Voraussetzung des inneren festen Zusammenhaltes der Staaten. – Soweit die neuen Schutzzöllner in ihren Theorien zu einer blossen Verherrlichung der Autonomie und Autarkie, der absoluten wirtschaftlichen Selbständigkeit des einzelnen Staates gelangen, sind ihre Argumente schwach und anfechtbar: Kein Kulturstaat, und je kleiner er ist, desto weniger kann er heute den Verkehr mit anderen Staaten entbehren. Nur soweit es sich um unentbehrliche wirtschaftliche Güter, und um solche Produktionszweige und Produkte handelt, deren kürzere oder längere Entziehung den Staat tötlich treffen könnten, hat der Gedanke, sich unabhängig vom Auslande zu machen, eine Berechtigung. – Die Begründung der Schutzzölle mit der Formel, dass alle gewerblichen, landwirtschaftlichen und sonstigen wirtschaftlichen Interessen des Inlandes gleichberechtigt seien, und deshalb gerechterweise gleichen Schutz gemessen müssten (Schutz der nationalen Arbeit), steht ebenfalls auf keiner festen Grundlage: Sie enthält gewissermassen die Aufhebung des Zweckes selbst, denn, wenn jeder seine Arbeit oder Ware durch den Zoll gleich viel teurer verkauft, so gewinnt schliesslich keiner. – Von den amerikanischen Schutzzöllnern wie Patten, Gauton, Carey stammt die offenbar subjektive und widerspruchsvolle Behauptung, dass der Freihandel für alternde, stagnierende Staaten sei, während der Schutzzoll die Handelspolitik der aufstrebenden, dynamischen Industriestaaten charakterisiere; er beseitige bei letzteren die Grundrente und alle Monopole. (Patten.) Demgegenüber ist zu betonen, dass kaum ein anderes Land seit 1860 solche Grundrentenbildung und solche gewerblichen Monopole (Kartelle und Trusts) hervorgebracht hat wie die hochschutzzöllnerischen Vereinigten Staaten. Diese gewaltigen Monopolbildungen in der Union sind ja gerade eine der Ursachen, dass sich die europäischen Staaten, die keine in so starken Kartellen und Trusts organisierte Industrie besitzen, durch Zölle gegen die amerikanische Konkurrenz mit ihren Schleuderpreisen, ihren riesenhaften Spekulationen und Marktüberführungen schützen müssen.

10. Die wissenschaftliche Kontroverse „Industrie- oder Agrarstaat“.

Neuerdings ist in dem theoretischen Streit über die zweckmässigste Handelspolitik die Frage, ob Schutzzoll, oder Freihandel, mehr in den Hintergrund getreten gegenüber der Kontroverse

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/263&oldid=- (Version vom 26.9.2021)