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„Industrie- oder Agrarstaat“. Damit ist das Thema zwar etwas verschoben worden, doch hat seine Behandlung eine grössere wissenschaftliche und aktuellere praktische Bedeutung erhalten. Oldenberg hat zuerst in umfassender Weise an Hand der Statistik der deutschen Berufszählungen die Frage aufgeworfen, ob es richtig sei, dass die grossen Kulturstaaten sich heute in die Bahnen des überwiegenden Industriestaates stürzen, die England seit 1840, Deutschland neuerdings verfolge. Er weist auf die rasch wachsende Bevölkerung der genannten Staaten hin, die immer mehr auf die Zufuhr auswärtiger Nahrungsmittel angewiesen seien und dadurch in steigendem Masse der Gefahr näher gerückt würden bei ungünstigen politischen Konstellationen, ausgehungert zu werden. Es müsse ferner damit gerechnet werden, dass die Nahrungsmittelstaaten über kurz oder lang einmal keinen Nahrungsüberschuss mehr haben, sich bald auch nicht mehr in Fabrikaten bezahlen lassen würden. Früher seien sie als Schuldnerstaaten in Abhängigkeit von den kapitalstarken, industriellen Gläubigerstaaten gewesen. Dieses Verhältnis werde sich mit der Zeit umkehren; unter Umständen würden die Agrarstaaten ihre Schulden gegen die Industriestaaten kassieren, zuletzt sie mit Abhängigkeit und Ruin bedrohen. Darum müssten Staaten wie Deutschland, ehe es dafür zu spät sei, der industriestaatlichen Entwickelung einen Riegel vorschieben, ihre Landwirtschaft schützen und ausdehnen und die übermässige Steigerung ihrer Exportindustrien Mass hemmen. – Diese Gedanken fanden bei A. Wagner, Bohle, P. Voigt, Ballot u. a. teils modifizierte Zustimmung, teils weitere Ausführung. Die praktische Folgerung, die Oldenberg übrigens ganz zurückgestellt hatte, war in der Hauptsache die Forderung ausgiebiger, ja hoher Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte, Hemmung der starken Industriezunahme und des Arbeitsabflusses nach den Städten bezw. Industriezentren. – Brentano, Dietzel, Huber, Helfferich, Alfred Weber, Fr. Naumann traten der Tatsachenschilderung wie den Folgerungen entgegen. Sie suchten darzulegen, dass die angeführten Gefahren nicht bestünden, dass in den nächsten Generationen die Industriestaaten Nahrungsmittel in beliebigen Quantitäten ohne Schwierigkeit aus dem Auslande beziehen könnten und dort auch Absatzmärkte für ihre Fabrikate finden würden. Ferner betonten sie, dass eine möglichste Steigerung der internationalen Arbeitsteilung nach der Richtung „Brod gegen Fabrikate“ den nationalen Reichtum der einzelnen Staaten am besten fördere und keine einseitige, sondern nur stets eine gegenseitige Abhängigkeit hervorbringe. – Der Streit „Industrie oder Agrarstaat“ hat zweifellos nach vielen Seiten hin aufklärend gewirkt und hat schliesslich auch die Parteien unter Verzichtleistung auf ihre extremen Forderungen in mancher Hinsicht einander näher gebracht. Jedenfalls kann sich theoretisch keine von den beiden den Sieg allein zuschreiben, denn es handelt sich bei diesem Streit letzten Endes doch um Zukunftsmöglichkeiten, um Entwickelungstendenzen, die in jedem Staate durch politische und wirtschaftliche Ursachen aller Art verschieden beeinflusst werden können. In Hinblick auf die moderne handelspolitische Entwickelung kann man Schmoller zustimmen, der bei seiner objektiven, historisch deduktiven Behandlung des „Agrar- und Industriestaat-Problems“ zu dem Ergebnis kommt, dass für die Sicherstellung der Ernährung der dicht bevölkerten Industriestaaten in näherer Zukunft die Schutzzölle eine weniger wichtige Rolle spielen dürften, als die Zollunionen, der Imperialismus und das Verhältnis des Mutterstaates zu den Kolonien. –

11. Die moderne Schutzzollpolitik a) in Deutschland, b) in Frankreich, c) in Russland, d) in Oesterreich-Ungarn, c) in den Vereinigten Staaten.

a) In dem jungen deutschen Reiche führte die schwere wirtschaftliche Depression, die 1873 einsetzte und fast ein halbes Jahrzehnt anhielt, dazu, dass weitere gewerbliche Kreise mit der freihändlerischen Handelspolitik unzufrieden zu werden begannen. Die Gegenmächte organisierten sich: 1876 entstand der Zentralverband deutscher Industrieller, in dem die schutzzöllnerischen Spinner und grossen Eisenhüttenleute vorherrschten. Der Rückgang des deutschen Lebensmittelexportes nach England und die fremde Getreidekonkurrenz machte die Mehrzahl der Agrarier zu Schutzzöllnern. – Das Nationalgefühl belebte und stärkte sich gewaltig; man wollte sich auch handelspolitisch vom Auslande nicht mehr so gängeln lassen wie in den Tagen des Zollvereins. Diese Stimmungen und Auffassungen griffen schliesslich auch auf die Reichsregierung über. Bei Bismarck führte die Missstimmung über die handelspolitischen Uebergriffe und Verstösse

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/264&oldid=- (Version vom 26.9.2021)