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8. Die Lehren Friedrich List’s.

In der nationalökonomischen Wissenschaft machte sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderte eine Kritik, und, wie erwähnt, zum Teil auch eine Opposition gegen die Extreme bezw. Einseitigkeiten des Smith’schen Systems bemerkbar. Der Oesterreicher Adam Müller suchte in seiner Schrift „Vorlesungen über die Elemente der Staatskunst“ darzulegen, dass die Smithsche Lehre für einen Handelsstaat mit mehr städtischem Charakter, wie England, passe, während der kontinentale Staat, dessen Grundlage zurzeit noch die Landwirtschaft bilde, andere Bedürfnisse habe. Die gleichen Anschauungen vertrat von Haller, der jedoch mit seinen Forderungen wieder in dem Boden des extremen Merkantilismus wurzelte. – Hoch über den Darlegungen dieser beiden Männer steht hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Begründung die Kritik, die Friedrich List der Smith’schen Lehre angedeihen liess. Auch er trat dem Smith’schen Kosmopolitismus entgegen und verlangte im Angesicht des zersplitterten und geschwächten Vaterlandes den Ausbau der einzelnen Nationen zu selbständigen Organismen, mit eigener Geschichte und besonderer Eigentümlichkeit. Daher bezeichnet er auch sein 1841 erschienenes Hauptwerk als „Das nationale System der politischen Oekonomie“. Er entfernt sich dadurch von Adam Smith, dass er dem Staat andere wirtschaftliche Aufgaben stellt. Hatte Smith den Wohlstand hauptsächlich in den Befriedigungsmitteln gesehen, so List in den Produktionskräften des Landes, die allseitig zu entfalten und in ihrer nachhaltigen Leistungsfähigkeit zu erhalten die Aufgabe des Staates sei. Auch er hat den Eindruck, dass die Smith’sche Lehre hauptsächlich auf die industriestaatlichen Verhältnisse England’s zugeschnitten und auf englischem Boden erwachsen sei, aber er sieht sie auch für verwertbar an, um zu beurteilen, wie die Volkswirtschaft des Kontinente entwickelt werden müsse, um die englische Vorherrschaft zu brechen. Seinem System legt er die Auffassung zugrunde, dass sich die Entwickelung der Volkswirtschaft überall in gleicher Weise vollzieht, und zwar in 4 Hauptstufen: Die erste Stufe ist das Jäger- und Hirtenleben, die zweite der Agrarstaat, die dritte der Agrar-Manufakturstaat, die vierte der Agrar-Manufaktur und Handelsstaat. Jede bedeutende Nation müsse danach streben auf die letzte und höchste Entwickelungsstufe zu gelangen, auf der sich – nach List’s damals zutreffender Ansicht – nur England befand. Deutschland, ebenso wie die Vereinigten Staaten und Frankreich sah er noch in der vorletzten, Spanien und Italien noch in der Ackerbauperiode stehen. List untersucht nun, wie vor allem Deutschland sich auf die höchste Stufe emporschwingen könnte. Der Staatsgewalt weist er die Aufgabe zu, den Gewerbetreibenden bei dem schwierigen Uebergang behilflich zu sein. Das zweckmässigste Hilfsmittel hierfür sieht er in einem mässigen Zollsystem, welches die aufkeimenden Industrien gegen die übermässige Konkurrenz schützen soll. Erst wenn die Nation die letzte Stufe, auf der sich nur England befindet, erreicht hat und keinen überlegenen Gegner zu fürchten braucht, sei als Endziel der Freihandel gerechtfertigt. Der Schutzzoll ist also, seiner Ansicht nach, nur als Erziehungsmittel anzusehen, das der Volkswirtschaft zu einer höheren Stufe der Entwickelung verhelfen und mit der Erreichung dieses Zieles wieder wegfallen soll. Die günstigste Wirkung versprach er sich von dem Schutzzoll auf fertige Fabrikate, während er sich als Gegner der Getreidezölle bekennt. Die Schutzzölle hält er für umso wirksamer, je grösser das von ihnen umschlossene Territorium ist, und je manigfaltiger sich die Produktionsverhältnisse und die Produktionszweige innerhalb dieses geschützten Kreises gestalten; nur dort können sie sich richtig ergänzen und alle natürlichen Hilfsquellen des Landes zur Verwertung bringen. Aufgabe jeder Volkswirtschaft ist es, den Bedarf der Nation, soweit als möglich, mit Gütern der eigenen Produktion zu decken, weil die Steigerung der Produktivkräfte eine Vorbedingung jedes materiellen und kulturellen Fortschrittes ist. Bei der vielfachen natürlichen, technischen und sozialen Differenzierung der Produktionsverhältnisse in den einzelnen Ländern könne eine solche Steigerung nur durch den „Schutz der nationalen Arbeit“ bewirkt werden. Die Höhe des Schutzzolles ergibt sich aus seiner Aufgabe, diejenigen Nachteile auszugleichen, in denen sich die Produktion der Heimat infolge natürlicher Verhältnisse (geringere Fruchtbarkeit, Mangel an wichtigen Rohstoffen etc.) gegenüber der ausländischen Konkurrenz befindet. Ferner begründet höhere technische Entwickelung in den industriellen Methoden häufig eine Ueberlegenheit des Auslandes, doch wird in dieser Hinsicht Vorsicht am Platze sein, um den Schutzzoll nicht zu einer Prämie für technische Stagnation zu machen. Endlich spielen auch die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/262&oldid=- (Version vom 26.9.2021)