Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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t.t. im Rechtswesen
Band IV,2 (1901) S. 17481752
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Culpa bezeichnet die unentschuldbare Verletzung eines andern und die ihr zu Grunde liegende Gesinnung, d. i. die Verschuldung oder die Schuld. Ihr höchster Grad ist der dolus malus, Dig. L 16, 226, s. Dolus. Nach ihrer rechtlichen Bedeutung ist die C. sowohl Voraussetzung von Delictsklagen, insbesondere der actio legis Aquiliae (s. Damnum), als auch ein Haftungsgrund bei Schuldverhältnissen, namentlich aus Verträgen (culpa in contractu), im Gegensatze zu der culpa in contrahendo, die bei dem Entstehen des Vertrages, also während des Vertragsabschlusses begangen wird, z. B. durch schuldhafte Verwechslung von Personen oder Sachen). Die C. bei Schuldverhältnissen bezeichnet man vielfach unpassenderweise als ausseraquilische, indem man die C. als Voraussetzung einer Delictsklage nach ihrem erwähnten Hauptfalle aquilische nennt, doch ist diese Bezeichnung darum irreführend, weil eine und dieselbe Verschuldung, z. B. die Beschädigung einer gemieteten Sache, sowohl eine c. in contractu enthielt als auch mit der actio legis Aquiliae ohne Rücksicht auf den Mietscontract verfolgbar war. Die aussercontractliche Schuld [1749] begründet nicht wegen aller Schäden, die sie verursacht, Ersatzansprüche, sondern nur bei Sachbeschädigungen, was übrigens nicht ganz zweifellos ist, s. Damnum.

Auf den Grad der Schuld kommt es bei aussercontractlicher Schuld nicht an. In lege Aquilia et levissima culpa venit Dig. IX 2, 44 pr. Beides ist anders bei der C. aus Schuldverhältnissen. Hier haftet der Verpflichtete nicht bei jedem Schuldverhältnisse für jede Schuld. Es werden hier vielmehr c. lata und levis unterschieden, grobes und mässiges Versehen. C. lata ist nach Dig. L 16, 213, 2 (Ulpianus) nimia negligentia, i. e, non intelligere quod omnes intelligunt, wobei omnes nur so viel bedeutet wie fere omnes. C. lata ist hiernach ein Grad der Fahrlässigkeit, wie er von fast allen Menschen vermieden zu werden pflegt, also die Abwesenheit der fast überall vorhandenen Rücksicht auf die Mitmenschen. C. levis ist dagegen der Mangel einer diligentia diligentis patrisfamilias, wobei zu bedenken ist, dass paterfamilias (s. d.) weniger Hausvater bedeutet als Hausherr, Dig. XIII 6, 18 pr. (Gaius) in rebus commodatis talis diligentia praestanda est, qualem quisque diligentissimus paterfamilias suis rebus adhibet; vgl. aber auch Dig. IX 2, 25, 7 si omnia sunt, quae diligentissintus quisque observaturus fuisset. C. levis ist demnach die Abwesenheit derjenigen Sorgfalt, wie sie selbständige Verwalter des eigenen Vermögens zu zeigen pflegen im Gegensatze zu den unselbständigen und deshalb minder verantwortlichen, aber darum auch minder sorgfältigen Hauskindern.

Die c. lata steht in Vertragsverhältnissen dem dolus gleich, Dig. XI 6, 1, 1. XVIII 1, 29 pr. Zweifelhaft ist, ob dies auch sonst zutrifft (vgl. hierüber v. Jhering Dogm. Jahrb. IV 12ff. Mommsen über die Haftung der Contrahenten bei der Abschliessung von Schuldverträgen 1879, 175ff. Burckhard Sinn und Umfang der Gleichstellung von dolus und lata culpa im röm. Rechte, Göttingen 1885).

Nicht bei allen Schuldverhältnissen wird für omnis culpa gehaftet, sondern in der Regel nur von solchen Parteien, die aus dem Verhältnis Vorteile haben, während solche Parteien, die lediglich Vorteile gewähren, in der Regel nur für c. lata haften, Dig. XIII 6, 5, 2. Zu jenen gehören z. B. die Commodatare (s. Commodatum), Deponenten (s. Depositum) und alle Parteien aus gegenseitig verpflichtenden Verträgen, zu diesen die Commodanten und Depositarien. Die Mandatarien (s. Mandatum) haften für c. levis, obwohl sie eine Gefälligkeit erweisen, eine Ausnahme, die wohl aus der Unentbehrlichkeit einer Geschäftsführung für andere zu erklären ist und in der Regel auch bei auftragloser Geschäftsführung gilt. Paul. I 4 pr. Cod. IV 35. 11. 13. 21. Abweichend Coll. X 2, 3 und dazu Rudorff bei Puchta-Krüger Institutionen10 II 374 § 278 Anm. f. Eine eigenartige Haftung ist die Haftung für diligentia quam suis rebus adhibere solet, die nicht nach dem allgemeinen Verhalten der Mitmenschen, sondern nach den Gewohnheiten des Haftenden bestimmt wird (sog. diligentia oder culpa in concreto). So braucht z. B. ein Gesellschafter (socius) dem andern in Angelegenheiten der Gesellschaft nicht mehr Sorgfalt [1750] zu leisten, als wie er in seinen eigenen anzuwenden pflegt. Hier ist der concrete Massstab statt des abstracten offenbar eine Erleichterung der gewöhnlichen Haftung, Dig. XVII 2, 72. Doch kann er bei sehr sorgfältigen Verpflichteten auch als eine Erschwerung gemeint sein; vgl. Dig. XVI 3, 32. Vielleicht ist es so zu deuten, warum auch der Ehemann wegen der dos (s. d.) und der Vormund für diligentia quam suis rebus haften (s. Tutela), Dig. XXIII 3, 17. XXIV 3, 66 pr. XXVII 3, 1 pr. XXVI 7, 33 pr. Vielfach sieht man freilich auch hierin eine (schwer verständliche) Erleichterung der Haftpflicht. Über die Haftung für casus vgl. Leonhard Institutionen 390 und die o. B. III S. 1781 Angeführten.

Der Umfang der Haftung für C. hat im Laufe der römischen Rechtsgeschichte erhebliche Abänderungen erfahren. Eine Übertreibung liegt in der Behauptung, dass in der Urzeit die Verletzung haftbar gemacht habe ohne jede Rücksicht auf ihre Entschuldbarkeit. Das Recht der Notwehr ist vielmehr wohl immer anerkannt worden, Dig. IX 2, 4, 1, und uralt ist sicherlich die Regel: Qui iure suo utitur nemini facit iniuriam Dig. L 17, 55. 151. XLIII 29, 3, 2. Die Haftung für C. ist aber insofern erleichtert worden, als man die Entschuldbarkeit einer verletzenden Handlung in späterer Zeit nicht blos auf ein besonderes Verletzungsrecht zu gründen brauchte, sondern auf die blosse Unvorhersehbarkeit des verursachten Schadens gründen durfte. Dig. IX 2, 31 culpam autem esse, quod cum a dilgente provideri poterit, non esset provisum. Eine Verletzung, die von ihrem Urheber (ihrer Art nach) nicht vorhersehbar war, galt also schliesslich nicht als C. (auf die Vorhersehung der einzelnen Umstände der Verletzung, z. B. der Beschaffenheit einer Sache, die jemand durch einen Wurf aus dem Fenster zertrümmert hatte, kam es natürlich nicht an, nur die Art des Übels musste vorhersehbar sein). Während also nach dieser Seite der Umfang des unentschuldbaren Unrechts sich verengt hat, hat es sich nach anderer Richtung erweitert. Die ältere Zeit scheint eine Haftung nur dann angenommen zu haben, wenn die Verletzung der That unmittelbar folgte, d. h. kein Zeitraum dazwischen lag. So unterschied man z. B. das occidere von dem mortis causam praestare, nur zu dem letzteren rechnete man die Einsperrung eines Sclaven, die seinen Hungertod zur Folge hatte, Dig. IX 2, 7, 6. Erst die spätere Jurisprudenz stellte die mittelbare Schädigung der unmittelbaren gleich, vermutlich zunächst bei Verträgen, später auch bei aussercontractlichen Verletzungen, Dig. IX 2, 7, 6. Hiermit hängt jedenfalls zusammen, dass man für die Folgen von Unterlassungen ursprünglich gar nicht haftete, später freilich geschah es, jedoch nur unter Bedingungen, die streitig sind. Als Ausgangspunkt für die Aufklärung dieses Grundsatzes sind die Erwägungen zu betrachten, die sich an das Sprichwort knüpfen: imperitia culpae adnumeranda est; vgl. Dig. IX 2, 5 (Gaius) cum affectare quisque non debeat, in quo vel intellegere debet infirmitatem suam alicui periculosam futuram. Ein Kutscher, der die Pferde nicht zügeln kann, haftet weniger wegen seiner Unterlassung, sondern deshalb, weil er eine Aufgabe unternommen hat, von der er wissen [1751] musste, dass er ihr nicht gewachsen war. Dasselbe, was hier von der Geschicklichkeit gesagt ist, muss auch von der sittlichen Kraft gelten. Die Übernahme einer Aufgabe ohne das Bewusstsein der vollen sittlichen Kraft, die zu ihrer Durchführung nötig ist, ist culpos und macht für die Folgen haftbar. So, wenn der Arzt den kranken Sclaven schneidet und nachher nicht ordentlich verbindet, oder wenn der Wächter am Ofen einschläft und eine Feuersbrunst entstehen lässt, Dig. IX 2, 27, 9. Die Schuld ist hier vom Schaden durch einen Zeitraum getrennt, und aus diesem Grunde kann diese Haftung erst späterhin anerkannt worden sein. Hieraus erklärt sich auch die auffällige Erscheinung, dass bei den strengen verborum obligationes, in denen sich das alte Recht erhalten hatte, der Schuldner nur für eine culpa in facienda haftete, nicht für culpa in non faciendo. So wird Dig. XLV 1, 91, 3 mit Recht gedeutet von Hartmann Die Obligation, Erlangen 1875, 227ff. Aus der ursprünglichen Nichthaftung wegen blossen Unterlassens erklärt sich wohl auch die besondere Bedeutung des Wortes casus (s. d.) als eines nicht zu vertretenden Umstandes im Gegensalz zur menschlichen Thätigkeit, Dig. XL 5, 33. Alle Nichtthätigkeit fiel wahrscheinlich ursprünglich in den Begriff des casus und wurde erst später unter besondern Umständen der C. zugerechnet; s. überhaupt über das Verhältnis der Ausdrücke casus und c. Art. Casus.

Sehr zweifelhaft ist, inwieweit bei Schuldverträgen der Geschäftsherr für die Gehülfen bei der Vertragserfüllung haftet. Während die herrschende Lehre, sofern der Vertrag die Annahme von Gehülfen gestattet, nur für eigenes schuldhaftes Verhalten des Herren, namentlich bei der Auswahl der Gehülfen und ihrer Bewachung haften lässt, sog. culpa in eligendo et custodiendo (vgl. z. B. Windscheid Pand.⁷ 461 § 401), nimmt eine andere, richtige Ansicht auch schon nach römischem Rechte die unbedingte Haftung des Herrn für das Verschulden seiner Gehülfen bei der Vertragserfüllung an. Die Litteratur vgl. bei Windscheid Pandekten⁷ II 461 § 401 Anm. 5. Dernburg Pandekten⁵ II 105. 107 § 38 Anm. 1 u. 8 und die von Leonhard Gutachten in den Verhandlungen des 17. deutschen Juristentags 353ff. Angeführten. Dig. VII 1, 65 pr. XIII 6, 10, 1. 11. 20. XIV 1, 1. 18. XIV 3, 5, 10. XVII 2. 41. 62. XIX 5, 20. 2. 2. 19. 21. 23 pr. XIX 2. 13, 5. 25, 7. 30, 2. 40.

Unter compensatio culpae versteht man den Fall einer Verletzung, die nicht blos von einem andern, sondern daneben auch von dem Verletzten selbst durch dessen eigene Unvorsichtigkeit verschuldet ist. Dig. L 17, 203 quod quis ex sua culpa damnum sentit, non videtur damnum sentire; vgl. hierüber Pernice Labeo II² 89ff. Priester Compensatio culpae, Würzburg 1896 und die dort Angeführten; s. auch Compensatio.

Litteratur über C. v. Löhr Theorie der culpa, Giessen 1806. Hasse Die culpa des röm. Rechts 1815, 2. Ausg. 1838. Göschen Vorlesungen über das gem. Civilrecht II 2, 1839, 51ff. ferner die bei Windscheid Pand.⁷ I 285 § 101, 5 Angeführten, insbesondere Pernice Labeo II² 1895, 1ff. und Chironi La colpa nel diritto civile odierno 1884. 1887, ferner Pernice Zur [1752] Lehre von den Sachbeschädigungen nach röm. Rechte, 1867. Mommsen Über die Haftung der Contrahenten bei der Abschliessung von Schuldverträgen, Braunschweig 1879 und dazu Leonhard Ztschr. f. Hdlsr. XXVI 284ff. Puchta-Krüger Institutionen10 II 366. 373ff. Leonhard Institutionen 390. 393. 429. 438.