RE:Chaironeia
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Boiotische Stadt | |||
Band III,2 (1899) S. 2033–2036 | |||
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Chaironeia (Χαιρώνεια; Χηρώνια u. a. Formen s. im Ind. zu IGS I 765), boiotische Stadt, deren Name auf Chairon, Sohn des Apollon und der Thero, zurückgeführt wurde, Hes. eoe. frg. 83 Göttl. (148 Kink.). Paus. IX 40, 5. Hekat. frg. 87. Hellan. frg. 49. Aristoph. Boeot. frg. 2 (FHG IV 338). Steph. Byz. Plut. de curios 1; Sulla 17. Ch. war die letzte Stadt Boiotiens gegen Phokis hin, 20 Stadien von Panopeus entfernt, an dessen Gebiet sie grenzte, Hekat. bei Steph. Byz. Thuk. IV 76, 3. Paus. IX 40, 12. X 4, 1; deshalb war die Bevölkerung auch mit Phokern gemischt, Thuk. a. a. O. Sie lag auf der Nordseite des Höhenzuges Thurion unterhalb des steil aufsteigenden Burgfelsens Petrachos, der zur Erinnerung der Täuschung des Kronos durch Rheia ein Bild des Zeus trug, Paus. IX 41, 6. Plut. Sulla 17. Der Bach Haimon floss von hier dem (3 km. entfernten) Kephisos zu, Plut. Dem. 19. Strab. IX 407. Ursprünglich gegen Westen gelegen und den Strahlen der Nachmittagssonne sowie einem föhnartigen Winde ausgesetzt, gewann sie durch Verlegung auf die Ostseite des Stadthügels eine gesündere Lage, Plut. de cur. 1. Neumann-Partsch Phys. Geogr. 120, 2. Aus der Flora um Ch., welche Stoff zu heilkräftigen und wohlriechenden Salben und damit zu einer nicht unbeträchtlichen Localindustrie lieferte, giebt Paus. IX 41, 7 eine kleine Auslese (μύρα ἀπὸ ἀνθῶν ἕψουσι κρίνου καὶ ῥόδου καὶ ναρκίσσου καὶ ἴρεως); die Iris (φύεται ἐν ἕλεσι) lässt darauf schliessen, dass das Thal des Kephisos zum Teil versumpft war. Seiner Lage nach, zu welcher auch K. O. Müller Orchomenos² 79f. zu vergleichen ist, war Ch. die erste Stadt, welche von den einwandernden Boiotern besetzt wurde, Plut. Kim. 1; hiemit hängt wohl zusammen, dass sie von manchen für das homerische Arne (s. d. Nr. 2) erklärt wurde, Paus. IX 40, 5. Steph. Byz. Duncker Gesch. d. Alt. V 221f. Busolt Griech. Gesch. I² 255. Geschichtlich erscheint sie zuerst in den boiotischen Wirren des J. 447, welche zur Besetzung durch Tolmides führten, Thuk. I 113, 1. Diod. XII 6, 1. Duncker IX 57f. Busolt III 1, 421ff. Im peloponnesischen Kriege wird sie nur gelegentlich der demokratischen Umtriebe des J. 424 genannt, Thuk. IV 76, 3. 89, 2. Vgl. oben S. 646. 648. Diese seltene Erwähnung erklärt sich daraus, dass Ch. im 5. Jhdt. nicht selbständig war, sondern zu Orchomenos gehörte, Hellan. frg. 49. Thuk. IV 76, 3. Später war die Stadt ein selbständiges Glied des boiotischen [2034] Bundes (s. o. S. 651) und nahm als solches an der Feier der pamboiotischen Δαίδαλα (s. d.) teil, Paus. IX 3, 6. Ihr Gebiet grenzte im Süden an jenes von Lebadeia, Paus. IX 40, 5. Im phokischen Kriege 353 v. Chr. von Onomarchos vergeblich belagert, wurde sie gleichwohl im J. 351 von Phalaikos, der dort auch ein unglückliches Reitergefecht bestanden hatte, eingenommen, aber bald darauf wieder an die Thebaner verloren, Diod. XVI 33, 4. 38, 7. 39, 8. A. Schäfer Demosthenes I² 506. II 183. Weltberühmt ist der Name der Stadt durch die Schlacht vom 7. Metageitnion (2. Aug. oder 1. Sept., s. Schäfer II 561, 2. Curtius Gr. Gesch. III⁴ 813, 176) des J. 338[1] geworden, durch welche die makedonische Herrschaft über Griechenland entschieden wurde. Leider besitzen wir keinen ausführlichen zeitgenössischen Bericht, der uns gestattete, den Gang der gewaltigen Schlacht weiter als in allgemeinen Umrissen zu verfolgen. Was sich aus Diod. XVI 85, 5–86, 6, der relativ ausführlichsten Quelle, und den übrigen fragmentarischen Nachrichten ergiebt, ist in den Werken über die Geschichte des Zeitalters zusammengestellt, so bei Grote Gesch. Griech. VI 398–401 (362-365). Schäfer Demosthenes II² 561-66. Curtius Gr. Gesch. III⁴ 716f. 813f. Holm Gr. Gesch. III 309f. 318. Beloch Gr. Gesch. II 564ff. Göttling Ges. Abhandl. I 147–156. Köchly Opusc. philol. II 287–295. Egelhaaf Analekten zur Gesch. 45–63. Die Leichen der Thebaner und ihrer Bundesgenossen nahm ein Massengrab (πολυάνδριον) auf, über welchem später ein colossaler Löwe, ohne Inschrift, errichtet wurde, Paus. IX 40, 10. Strab. IX 414. Plut. Al. 9. Letzteres Denkmal, aus grauem boiotischen Marmor, wurde erst während der Befreiungskriege zerstört, doch sind die Teile noch jetzt an Ort und Stelle vorhanden, wo bei Ausgrabungen der archaeologischen Gesellschaft (1879/1880) auch Überreste der Bestatteten aufgefunden wurden. Göttling a. a. O. Welcker Mon. ed Ann. d. Inst. 1856, 1–5, Taf. I und Alte Denkm. V 62–77, Taf. IV. Overbeck Gr. Plastik II³ 147. Ἀθήναιον IX 157f. 347–361 (dabei ein Grundriss der Grabstätte). Ch. wird in der Folge noch mehrfach genannt, so in den Kriegen des Antiochos (192/191) und Perseus (171), Liv. XXXV 46, 3. XXXVI 11, 5. XLII 43, 6; besonders aber knüpft sich an seinen Namen ein anderes bedeutendes Kriegsereignis, nämlich der Sieg des Sulla über des Mithradates Feldherrn Archelaos im J. 86 v. Chr., den uns Plut. Sulla 16–19. App. Mithr. 42–45 ausführlich beschreiben. Vgl. Mommsen R. G. II⁷ 293. Hertzberg Griechenl. unt. röm. Herrsch. I 373f. Leake North. Greece II 193–201. Göttling a. a. O. Auch an diese Schlacht erinnerten später noch zwei von den Römern errichtete Siegesdenkmale, Paus. IX 40, 7. Damals kämpften Bewohner von Ch. im römischen Heere (Plut. a. a. O.) und später (75/74?) finden wir dort eine römische Cohorte im Winterlager; persönliche Streitigkeiten, die sich aus letzterem Verhältnisse ergaben, führten zu einer Anklage der Stadt in Rom durch die Orchomenier, auf deren feindliches Verhältnis zu Ch. hiedurch ein Licht fällt; durch Lucullus verteidigt, wurde die Stadt freigesprochen und dem Retter dafür auf dem Markte ein Standbild errichtet, [2035] Plut. Kim. 1f. Hertzberg a. a. O. 413ff. Für das Fortbestehen der Stadt in der Kaiserzeit zeugen neben Paus. a. a. O. und Plutarchos, der dort um 46 n. Chr. geboren wurde und uns selbst wertvolle Nachrichten über seine Vaterstadt hinterlassen hat, wo auch sein Andenken noch lange in Ehren blieb (CIG I 1627. IGS I 3422. 3425; seinen Enkel Sextus aus Ch. nennt Eutr. VIII 12), Stellen römischer Schriftsteller, wie Plin. n. h. IV 26. XVI 169 (Chaeronia). Tab. Peut. VIII (Ceroni), Geogr. Rav. IV 10. V 13 (Cheronia). Guido 110 (Cheroni), zahlreiche Inschriften, welche man jetzt in IGS I 3287–3465 vereinigt findet; darunter findet sich eine Widmung an Vespasianus vom J. 73 (3418), an Antoninus Pius, den εὐεργέτης Χαιρωνέων vom J. 140 (3419), an Macrinus vom J. 217 (3420). In einer wahrscheinlich der ersten Hälfte des 3. Jhdts. angehörigen Inschrift (3426) wird Ch. λαμπροτάτη πόλις genannt. Endlich führt (vor 535) Hierokl. 643 Χερώνι unter den Städten der Provinz Achaia an. Die Geschichte von Ch. endet mit der Zerstörung der Stadt durch das grosse Erdbeben des J. 551, Prokop. Goth. IV 25. Neumann-Partsch 327. Jul. Schmidt Stud. üb. Erdbeben² 152ff. Die letzte Erwähnung von Ch. bei Const. Porph. them. II 5 stammt aus Hierokles (s. o.) und ist für die Zeit des Autors belanglos.
Von der Verfassung der Stadt wurden die äusseren Beziehungen zu Orchomenos und zum boiotischen Bunde bereits erwähnt. Die gesetzgebende Gewalt ruht nach den Inschriften bei Volk und Rat (dialektische Form δεδόχθη τῆ βωλῆ κὴ τῦ δάμυ IGS 3287), als ausführende Organe erscheinen ein ἄρχων (Plut. Sulla 18. Inschr.), 3 πολεμαρχοῦντες (IGS 3292–3299), ein γραμματεὺς τῶν πολεμάρχων) (IGS 3298), ein λογιστής (IGS 3426). Die Truppen befehligte (unter Sulla) ein χιλίαρχος (Plut. Sulla 17).
Kultus. Am meisten wurde in Ch. nach Paus. IX 40, 11f. ein Stück Holz (δόρυ) verehrt, welches für das Scepter galt, das (nach Il. II 100ff.) von Hephaistos für Zeus verfertigt und durch Pelops auf Agamemnon gekommen war; vgl. E. Meyer G. d. Alt. II 98. 187. Einen Dionysos auf dem Markte erwähnt Plut. Kim. 2, ein Herakleion (ausserhalb der Stadt am Haimon, wo die Griechen lagerten) Plut. Dem. 19, ein Heiligtum der Leukothea Plut. quaest. Rom. 16, ein Μουσεῖον Plut. Sulla 17 (zwischen Petrachos und Thurion). Aus Inschriften kennen wir Ἀπόλλων δαφναφόριος (CIG 1595. IGS 3407), Ἄρταμις Σοωδίνα (ebd.), Ἄρταμις Εἰλειθίη (CIG 1596f. 1609. IGS 3410–13), die Μήτηρ τῶν θεῶν bezw. Μάτηρ ἡ μεγάλη (IGS 3378f.). Besonders häufig wird Σαράπις in Freilassungsurkunden des 2. Jhdts. v. Chr. genannt (IGS 3301–3406, vgl. Dittenberger zu 3301ff.), daneben auch Isis und Anubis (3347. 3375. 3380. 3426).
Münzen aus der Zeit der Autonomie (seit dem Frieden des Antalkidas ?) mit der Aufschrift ΧΑΙ und ΧΑΙΡΩΝΕ, Head HN 292. Arch. Zeit. 1847, 148. 1849, 93. Denkschr. Akad. Wien I 331.
Die Stelle von Ch. bezeichnet jetzt das Dorf Káprena oder Kápurna (nach Ulrichs Κάπραινα = Wildsau; von Hertzberg Gesch. Griechenlands u. s. w. I 335 schwerlich mit Recht für slavisch erklärt), wo sich von der alten Stadt noch Reste [2036] der Ringmauer, besonders der Burgbefestigung, dann ein kleines Theater, zahlreiche kleinere Bautrümmer, Inschriften u. s. w. erhalten haben. Ein Plan der Örtlichkeit fehlt. Ältere Reiselitteratur (Dodwell, Gell, Clarke u. s. w.) bei Kruse Hellas II 1, 647–651. Leake North. Greece II 112–117. 192–201. 628f. Mure Tour in Greece I 212f. Ulrichs Reisen I 158–163. Brandis Mitteilungen I 248f. Vischer Erinnerungen 590–594. Bursian Geogr. I 205f. Bädeker Griechenl.³ 165f.
Anmerkung WS:
- ↑ Vorlage 538, siehe aber w:Schlacht von Chaironeia