Asylon (ἄσυλον, unverletzlich), war eigentlich jedes Heiligtum mit allem, was zu ihm gehörte, den Altären, Götterbildern, Kostbarkeiten u. s. w. Selbst bei feindlichen Einfällen wagte nicht leicht jemand sich daran zu vergreifen, wenigstens nicht wo Hellenen mit Hellenen kämpften (Thuk. IV 97. Polyb. V 9ff. Hermann Griech. Staatsalt. § 10, 9). Deshalb finden wir die Staatsschätze in Tempeln aufbewahrt, und auch Privatleute deponierten hier ihre Vermögen (Le Bas-Waddington As. min. III 56 nr. 136a). Wichtiger aber war, dass sie auch Personen ihren Schutz liehen. Bedrängte und Verfolgte, ja selbst Verbrecher, die in einen Tempel geflohen waren, ohne weiteres vom Altar oder Götterbilde wegzureissen, galt für Frevel; ganz besonders aber forderte es die Rache der Götter heraus, wenn man sich an ihren heiligen Stätten an einem Unschuldigen vergriff (Xen. hell. IV 4, 3. Thuk. III 81. Herod. VI 91; vgl. Leop. Schmidt Ethik II 20; andere Fälle Thuk. IV 98. Lys. XII 98. Dio Chrysost. XXXI 88. Plut. de superstit. 4; von römischen Schriftstellern vgl. Cic. de nat. deor. III 10; pro Q. Roscio 11; de domo 41. (Ovid. trist. V 2, 43f.). Eine Ausnahme wagte man höchstens mit solchen zu machen, denen infolge über sie verhängter Atimie das Betreten heiliger Orte verboten war, oder die bereits zum Tode verurteilt waren (Lyk. Leokr. 93. Matthiae Eurip. IX p. 372), in Sparta schonte man selbst diese (Polyb. IV 35). Jeder andere Flüchtling war sicher, auch wenn es ein Sclave war (Eur. [1882] Hiket. 267. Diod. XI 89. Plut. de superstit. 4), solange er sich am Altar (Eur. Ion 1402) oder innerhalb des Tempelbezirks (Strab. XIV 641) aufhielt. Die Kyloniden in Athen knüpften, als sie das Asyl verliessen, ein Seil an das Götterbild und blieben unangetastet, solange dies hielt (Plut. Sol. 12). Einzelne Ausnahmen, wo man Schutzflehende gewaltsam aus den Asylen fortführte (Herod. V 16. VI 91. Thuk. I 126. 128. III 81. Paus. I 20, 7. VII 24, 6. 25, 3. Ael. var. hist. VI 7. Polyaen. VIII 46. App. Mithr. 23; bell. civ. V 9. Iust. XX 2. XXVIII 3) heben die Regel natürlich nicht auf, und wenn die Gesetze gegen solche Verletzungen des heiligen Rechtes nicht einschritten, so war man der Strafe der beleidigten Gottheit desto sicherer. Nicht viel anders wird man es beurteilt haben, wenn jemand aus Scheu vor unmittelbarer Antastung der Schützlinge des Gottes sie durch Anwendung anderer gewaltsamer Mittel zum Verlassen des Heiligtums nötigte. Man konnte Feuer in der Nähe anzünden (Eur. Andr. 297; Herakl. fur. 240ff.; vgl. Plaut. Most. V 1, 65; Rud. III 4, 63) oder sie aushungern (Herod. III 48 Thuk. I 134). Auch war es möglich, ihnen den Zugang zum Asyl zu versperren (Athen. Inschr. Bull. hell. XIV 177 mit Foucarts Bemerkung ebd. 178f.). Andrerseits konnte man in der Milde so weit gehen, dem Flüchtling für einige Zeit zu gestatten, den Asylraum zu verlassen, ohne dass dies den Verlust des Asylrechts zur Folge hatte (Plut. Agis 18f.). Eur. Ion 1315 wird darüber geklagt, dass die Asyle Gerechten und Ungerechten in gleicher Weise zu gute kämen. Einen wirklich praktischen Wert konnte das Asylrecht, das jedes Heiligtum gewährte, nur dann haben, wenn der schützende Raum so gross war, dass er dem Flüchtigen die Lebensbedingungen dauernd gewährte, oder wenn man als Folge des glücklichen Erreichens eines Altars ansah, dass nun die Verfolgung einzustellen sei. Das erste war selten, das zweite nicht immer der Fall. So stellte sich das Bedürfnis heraus, bestimmten Heiligtümern ein besonderes Asylrecht zu geben, das dann auch respectiert wurde. Wann dies geschehen ist, wissen wir nicht genau (vgl. Wachsmuth Hellen. Altertumskunde² I 335, 31. Förster De asyl. Graec. 39). Solch ein Recht konnte z. B. von den Amphiktyonen verliehen werden (Tac. ann. IV 14, vgl. III 60f.), wie denn auch die Orte, wo sie selbst ihre Zusammenkünfte hatten, sich dieses Vorzugs erfreut zu haben scheinen (Paus. VII 24, 5. Polyaen. VIII 46. Strab. VIII 373. Liv. XLIV 29 und mehr bei Barth De asyl. Graec. 4f.), ebenso wie die berühmten Orakelstätten (Aischin. II 115). Aber freilich fanden solche Bestimmungen nicht immer allgemeine Anerkennung. Bisweilen scheint diese überhaupt gar nicht beansprucht zu sein. So wenn die Phoker aus Dankbarkeit gegen die Tenier den Tempel des Poseidon und der Amphitrite auf Tenos (Bull. hell. XI 333), die Aitoler das Heiligtum der Athena Nikephoros in Pergamos wegen der Sympathien des Eumenes für Griechenland für ein Asyl erklären (Bull. hell. V 300ff.) und der Insel Keos das Asylrecht verleihen (CIG 2350), oder die Kreter an die Anaphioten (vgl. Bull. hell. XVI 146 nr. 35). Überhaupt haben wir zu unterscheiden zwischen blos localen und zwischen vorzugsweise [1883] berechtigten, in weiten Kreisen oder allgemein anerkannten Asylen, ein Unterschied, der sich im einzelnen freilich nicht überall mit Bestimmtheit nachweisen lässt. Die bekanntesten Asyle der letzteren Art sind in Griechenland das Heiligtum der Athena Alea zu Tegea (Plut. Lys. 28ff. Xen. hell. III 5, 25. Paus. II 17, 7. III 5, 6. 7, 10. Herod. I 66), des Poseidon zu Kalauria (Strab. VIII 373. Plut. Demosth. 28f.; Pomp. 24. Paus. II 33, 3. Luk. enc. Dem. 46), auch das der Athena Chalkioikos in Sparta (Polyb. IV 35, 3. Thuk. I 128. 134. Diod. XI 45. Plut. Agis 16. 19. Paus. III 17, 7. Polyaen. VIII 51. Corn. Nep. Paus. 5; vgl. Schoemann Griech. Alt.³ II 211, 2, und Junghahn Agossühne als polit. Forderg., Progr. des Luisenstädt. Gymnasiums Berlin 1890, 6ff.), des Zeus Lykaios in Arkadien (Thuk. V 16. Paus. VIII 38, 6. Ael. nat. an. XI 6f.), der Ganymede oder Hebe zu Phlius (Thuk. IV 133. Paus. II 13, 4), wahrscheinlich auch das des Poseidon zu Tainaron (Thuk. I 128. 133. Corn. Nep. Paus. 4. Paus. VII 25, 3. Ael. var. hist. VI 7. Plut. Pomp. 24) und zu Helike in Achaia (Paus. VII 24, 5. Polyaen. VIII 46), des Amphiaraos zu Oropos (Diog. Laert. II 142), des Apollon zu Delos (Liv. XXXV 51. XLIV 29), des Asklepios zu Kos (Tac. ann. IV 14), sowie die nach Plutarch Pomp. 24 im 1. Jhdt. v. Chr. von den kilikischen Seeräubern beraubten und zerstörten ἄσυλα καὶ ἄβατα ἱερά der Hera zu Argos, Samos und auf dem Vorgebirge Lacinium in Grossgriechenland, der Demeter Chthonia zu Hermione (Phot. lex. s. Ἑρμιόνη. Zenob. prov. II 22), des Poseidon auf dem Isthmos von Korinth, des Asklepios zu Epidauros, des Apollon zu Aktion und Leukas, und das Σαμοθρᾴκιον (Diod. III 55, 9. Liv. XLV 5. Plut. Aem. Paul. 23. 26). Sicherlich blos locale Bedeutung hatten die nur gelegentlich als Zufluchtsorte benutzten Tempel der Athena Itonia bei Koroneia in Boiotien (Plut. Ages. 19. Xen. hell. IV 3, 20; Ages. XI 1), der Artemis Hegemone in Ambrakia (Polyaen. VIII 52. Iust. XXVIII 3), der Artemis in Samos (Herod. III 48), der Artemis zu Lusoi in Arkadien (Polyb. IV 18), des Apollon zu Delion in Boiotien (Liv. XXXV 51. Thuk. IV 97ff.), des Apollon Ptoios in Akraiphia in Boiotien (Bull. hell. XIV 21), der Hera in Kerkyra (Thuk. III 81), der Athena zu Siris in Grossgriechenland (Iust. XX 2) u. s. w. In Athen war von besonderer Wichtigkeit der Tempel des Theseus, welcher Sclaven, die ihren Herren wegen grausamer Behandlung entflohen waren, Schutz gewährte (Plut. Thes. 36. Poll. VII 13. Aristoph. Equ. 1311 mit Schol. Suid. u. Etym. M. s. Θησεῖον; über andere Sclavenasyle s. Daremberg et Saglio Dict. I 507. Gilbert Griech. Staatsalt. II 288. Bull. hell. XIV 177ff.). Sonst scheint häufiger als Asyl nur noch das Heiligtum der Eumeniden gedient zu haben (Thuk. I 126. Paus. VII 25, 2. Schol. Aristoph. Equ. 1312; Thesm. 224. Suid. s. Θησεῖον; vgl. Köhler Herm. VI 102f. Meier-Schoemann Att. Process² 626), gelegentlich das der Athena auf der Burg (Paus. I 20, 7. Plut. Sol. 12. Herod. V 71. Thuk. I 126. Schol. Aristoph. Equ. 445; vgl. aber auch Förster a. a. O. 31ff.), die Altäre der zwölf Götter (Herod. VI 108. Lyk. Leokr. 93), des Eleos (Apollod. II 8, 1. Philostr. epist. 39. Zenob. prov. [1884] II 61. Schol. Aristoph. Equ. 1151), des Zeus Bulaios und der Athena Bulaia im Rathaus, die sogen. ἑστία βουλαία (Xen. hell. II 3, 52. Andok. I 44. II 15. Plut. vit. dec. orat. 836 F) und der Altar der Artemis zu Munichia (Lys. XIII 24. Demosth. XVIII 107).
Natürlich blieb das Ansehen all dieser Asyle im Lauf der Zeiten sich nicht immer gleich. In der hellenistischen Zeit war eines der bedeutendsten das Kabirenheiligtum in Samothrake (Plut. Pomp. 24. Liv. XLV 5; vgl. Conze Archaeol. Unters. auf Samothr. II 110f.). Besonders gross war, seit der römischen Occupation wenigstens, die Zahl der griechischen Städte Kleinasiens, die für gewisse Heiligtümer in ihrem Gebiet das Asylrecht in Anspruch nahmen. Die Römer sahen das anfangs nicht ungern, denn wiederholt fanden Bürger hier Schutz gegen aufsässige Provinciale; als aber diese Stätten mehr und mehr zu Sammelplätzen und Herbergen liederlichen Gesindels wurden, von wo aus meuterische Sclaven, insolvente Schuldner (Plut. de vit. aere alieno 3. Cic. in Verr. II 1, 33. App. bell. Mithr. 23; bell. civ. V 4) und offenkundige Verbrecher ungefährdet den Gesetzen Hohn sprechen durften, ordnete der Kaiser Tiberius im J. 22 n. Chr. eine Revision der von den einzelnen Städten behaupteten Rechte durch den Senat an. Die Städte wurden angewiesen, Gesandte nach Rom zu schicken und ihre Statuten einzureichen. Einige, die den Beweis nicht führen konnten, verzichteten freiwillig auf die angemassten Rechte, die anderen leisteten Folge. Es entspannen sich weitläufige Verhandlungen, die bis ins nächste Jahr dauerten, und deren Resultat zwar Anerkennung der verbrieften Rechte war (Suet. Tib. 37: abolevit et vim moremque asylorum quae usque erant erweist sich Tac. ann. III 60ff. gegenüber als unrichtig; vgl. Barth a. a. O. Anf.), jedoch mit der Verwarnung, sich streng innerhalb der statutenmässigen Grenzen zu halten. Tacitus a. a. O. führt folgende Städte und Heiligtümer auf: Ephesos mit dem Tempel der Artemis, dessen Asylrecht sich auf uralte Tradition gründete und fortwährend unter persischer, makedonischer und römischer Herrschaft anerkannt war (vgl. Strab. XIV 641), Magnesia mit dem Tempel der Artemis Leukophryene, von L. Scipio und L. Sulla nach der Besiegung des Antiochos und Mithridates zur Freistatt erklärt; Aphrodisias mit dem Tempel der Aphrodite (vgl. CIG 2737b); Stratonikeia mit dem Tempel des Zeus Panhemeros und der Hekate (vgl. CIG 2715a. Newton Discoveries II 794. Strab. XV 660); Hierocaesarea mit dem Tempel der Artemis, dem M. Perpenna, P. Servilius Isauricus und andere Feldherren das gleiche Recht verliehen hatten; Kypros mit den Heiligtümern der Aphrodite zu Paphos und Amathus und des Zeus zu Salamis; Pergamos mit dem Tempel des Asklepios (vgl. App. bell. Mithr. 23); Smyrna mit dem Tempel der Aphrodite Stratonikis (vgl. CIG 3137); Tenos mit dem Tempel des Poseidon (vgl. Bull. hell. XI 333); Sardes und Milet mit den Tempeln des Apollon und der Artemis, von denen jener durch Alexander, dieser durch Dareios zum Asyl erklärt war (ein Asyl der Artemis Leukophryene zu Milet erwähnt auch Appian bell. civ. V 9, und Plutarch [1885] Pomp. 24 nennt unter den von den Piraten ausgeraubten Asylen auch das Didymaion und das apollinische Klarion unweit Kolophon); Kreta mit dem Bild des Augustus. Auch Daphne in Syrien mit dem Tempel des Apollon und der Artemis (Strab. XVI 750) und Tralles mit dem des Dionysos (CIG 2919) werden als Asyle genannt. Dazu kommt noch eine Reihe anderer Orte, die auf Münzen als asylberechtigt bezeichnet werden (s. Eckhel 47. 72. 271. 324. IV 307 u. s. w. Mionnet III 660. V 217; Suppl. VIII 325. 366 u. s. w., jetzt am übersichtlichsten nach Landschaften in alphabetischer Ordnung zusammengestellt bei Barth a. a. O.). In der Kaiserzeit endlich war jeder Tempel und jede Kapelle des regierenden Kaisers in Italien wie in den Provinzen ein schützendes Asyl (Dio Cass. XLVII 19. Sen. de clem. I 18. Tac. ann. III 36; vgl. auch Liv. XXIII 10. Plut. Pomp. 24. Phot. lex. s. Ἑρμιόνη). Es hing dies zusammen mit dem kaiserlichen Begnadigungsrecht. Dass dem Missbrauch auch später durch Gesetze gesteuert werden musste, geht aus Apul. met. VI 4 hervor.
In Rom soll sich in der älteren Zeit nur ein angeblich von Romulus gestiftetes Asyl befunden haben und zwar zwischen den beiden Gipfeln des capitolinischen Hügels. Die Sage erzählt, er habe es eingerichtet, um die Bevölkerung schnell zu vermehren (Liv. I 8. II 1. Verg. Aen. VIII 342. Tac. hist. III 71. Dion. Hal. II 15. Plut. Rom. 9. Dio Cass. XLVII 19; vgl. auch Iuven. VIII 272. Vell. I 8. Gell. V 12. Varro bei Nonn. I 209; s. aber auch Ihne Classical Mus. VIII 190ff. Schoemann Opusc. acad. I 19f. Jaenisch De Graec. asyl. 6f.). Dazu kam später durch Augustus ein anderes im Tempel des Iulius Caesar (Dio Cass. XLVII 19. Drumann Gesch. Roms I 133, 97).
Das Asylrecht der heidnischen Tempel ging auf die christlichen Kirchen über (Zos. IV 40. V 8. 18. 23. 35. Amm. Marc. XXVI 3. Malal. chron. XIV 373. XV 390. XVI 396f. Dind. Cassiod. var. II 11).
Zum Schluss mag nochmals darauf hingewiesen werden, dass nicht alle Asyle die gleiche Ausdehnung hatten. Manche waren so gross, dass Flüchtlinge viele Jahre dort leben konnten. So verbrachte der Spartanerkönig Pleistoanax im Asyl des Zeus Lykaios bei Megalopolis neunzehn Jahre (Thuk. V 16), und Pausanias, der wegen seines schimpflichen Vertrages nach der Schlacht bei Haliartos verurteilt worden war, lebte in der Freistatt der Athena Alea zu Tegea bis an sein Ende (Xen. hell. III 5, 25. Plut. Lys. 28. Paus. III 5, 6f.). Der Tempel der Artemis in Hierocaesarea besass das Asylrecht für den Raum von zwei römischen Meilen im Umkreis (Tac. ann. III 62), und in Ephesos hatten wiederholt Alexander und Mithridates den Asylbezirk erweitert, Antonius sogar verdoppelt und auf einen Teil der Stadt ausgedehnt, Augustus dann wieder auf sein altes Mass beschränkt (Strab. XIV 641).
Litteratur: Ausser älteren Werken: Wallon Du droit d’asyle, Paris 1837. Egger Études hist. sur les traités publ.² 287ff. Schoemann Griech. Altt.³ II 210ff. Förster De asylis Graec., Breslau 1847. Jaenisch De Graec. asylis, Göttingen 1868. Barth De asylis Graecis, Strassburg 1888. [1886] Bötticher Tektonik IV 23. Daremberg et Saglio Dict. I 505ff.