CXXXII. Der Fall des Velino bei Terni Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
CXXXIII. Moskau, der Kreml
CXXXIV. St. Petersburg, die Alexandersäule
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DER KREML
in Moscau

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CXXXIII. Moskau, der Kreml.




Bisher entbehrte dieses Werk Bilder aus Rußland’s weitem Reiche. Dem vorliegenden werden wir eine Reihe der schönsten und merkwürdigsten folgen lassen.

Moskau, die Fackel, womit in unsern Tagen die Allmacht dem Welttheile zur Erlösung von einer Sklavenkette leuchtete, ist eine der merkwürdigsten, und, seitdem es wie ein Phönix aus der Asche sich neu erhob, eine der prachtvollsten Städte der Welt. Ihre Bauart, ihre Bevölkerung, die Sitten und Lebensweisen derselben vereinigen, so zu sagen, Europa und Asien. –

Man nennt Moskau, im Gegensatze zu Petersburg, die alte Kapitale Rußland’s. Es ist das eigentliche Herz des Reichs. Aus ihm, dem Mittelpunkt des innern Verkehrs, der Industrie und des Kunstfleißes, dem Lieblingsaufenthalt eines unermeßlich-reichen Adels, welcher hier freier, ungezwungener und unabhängiger leben kann, als in der Kaiserstadt, wo des Herrschers unumschränkte Gewalt und der Glanz seines Hofes Alles herab- und in den Schatten stellt, – strömt das Leben in alle Adern des Staats. Petersburg ist das Putzzimmer der Nation; ihre Wohnstube ist Moskau.

Obschon man Moskau die alte Hauptstadt heißt, so reicht seine Gründung doch nur zum Mittelalter hinan. Lange vorher hatten die sklavischen[WS 1] Völker andere Hauptstädte. Zuerst Nowogorod, das zur Zeit der Gründung der Hansa von fabelhafter Größe, Einwohnerzahl und Reichthum war. Seine Macht wurde sprüchwörtlich. „Wer kann wider Gott und Nowogorod?“ sagte der Russe, wenn er Unmögliches bezeichnen wollte.

Im 11ten Jahrhundert erhob sich Kioff zur Residenz der russischen Herrscher, denen es in dem, nach und nach zu republikanischer Freiheit gelangenden Nowogorod nicht mehr gefiel. Kioff wurde so groß, als jetzt Moskau ist; aber als die russische Monarchie, durch wiederholte Theilung unter die Zweige der herrschenden Dynastie, in eine Menge kleiner Fürstenthümer sich zersplitterte, mußte Kioff’s Bedeutung sinken. Die Uneinigkeit der kleinen Despoten erleichterte den einbrechenden Tartaren die Eroberung ganz Rußland’s, und seine Fürsten sanken zu Vasallen herab. In dieser Epoche, zu Ende des 11ten Jahrhunderts, galt Wladimir als die Hauptstadt. In die nämliche Zeit fällt auch Moskau’s Gründung durch Herzog Georg den Langhändigen, welcher sich (1147) auf der Stelle des [115] heutigen Kremlin eine Burg erbaute. Georg’s Nachfolger erweiterte dieselbe; er zog Colonisten herbei, und neben der fürstlichen Residenz entstand ein Flecken. Lange blieb er unbedeutend; denn 1303 zählte er erst 1500 Einwohner, obschon Iwan der Erste, der durch die Verwandtschaft mit dem Tartaren-Chan ein größeres Gebiet und den Großfürsten-Titel sich erwarb, Moskau zur bleibenden Residenz erhob, und viel auf dessen Erweiterung verwendete.

Die große Zeit Moskau’s datirt sich erst von der Regierung Iwan des Dritten, mit dem Beinamen der Große. Dieser thatkräftige Fürst befreite ganz Rußland vom Joche der Tartaren und vereinigte es, als erster Czaar (Cäsar, Kaiser) aller Reußen, unter einer Krone. Durch Neubauten und Erweiterungen bekam der Kreml seine jetzige Gestalt. Iwan’s schlaue Politik zwang die Großen des Reichs Moskau zu ihrem Aufenthalt zu erkiesen, wo er sie beobachten und an sich ziehen, oder unschädlich machen konnte. Paläste stiegen nun empor, und prachtvolle Kirchen erhoben sich neben tausenden von hölzernen Häusern, meistens niederigen, dem Bedürfniß der gemeinen Russen zusagenden Wohnungen des Schmutzes, welche selbst jetzt noch in bedeutender Anzahl in Moskau vorhanden sind. Peter der Große, der Regenerator des Reichs, der Mann, der dem slavischen Volke die größte welthistorische Rolle zuwies, welche vielleicht je ein Volk vom Schicksal zu übernehmen hatte, (eine Rolle, die kaum begonnen ist!) baute sein Petersburg, dicht an des Reiches Marken, und, indem er es zur Metropole des Staats und zur Residenz seiner künftigen Beherrscher bestimmte, verkündigte er Europa, was es von Rußland zu erwarten hätte. Dieser Wechsel übte auf die alte Hauptstadt den nachtheiligen Einfluß nicht aus, den man gefürchtet. Zwar war er unstreitig der Zunahme Moskau’s nicht günstig; aber dessen, auf festeren Grundlagen, als auf dem Daseyn eines Hofes, ruhendes Gedeihen blieb im Wachsen, und, als Napoleon der erstaunten Welt anzeigte, er werde ihr, wie Jason einst das goldene Vließ aus Kolchis, das Glück des allgemeinen Friedens aus der alten Czaarenstadt holen, und als er zu dem Zwecke mit 1 Million Kriegern in Rußland eindrang (1812), zählte die Stadt mehr als 350,000 Einwohner und an 10,000 bewohnbare Häuser. Nie vorher war sie so groß, so reich, so blühend gewesen!

Nie auch hatte die Welt ein Heer gesehen, von physischer und moralischer Kraft so gewaltig als jenes, welches Napoleon in den verhängnißvollen russischen Krieg führte. Mit 575,000 Kriegern, der Blüthe aller Völker des westlichen Europa’s, und 1200 Kanonen überschritt er (22. Juni) den Niemen. An der Spitze des Centrums, das 200,000 Mann stark war, drang Napoleon dem Herzen des Reichs zu.

Gegen so überlegene, täglich sich verstärkende Macht, welche die berühmtesten, sieggewohnten Feldherrn des Jahrhunderts unter dem größten Kriegsmeister aller Zeiten leiteten, konnte Rußland sein Heil nur in jenem Vertheidigungssysteme finden, welches schon zur Zeit des Cäsar den Völkern dieser Landstriche (den Skythen) eigenthümlich gewesen war. Vermeidung der offenen Feldschlacht, Rückzug in die unermeßliche Wildniß, Ermüdung des Feindes [116] durch den kleinen Krieg, Zerstörung der Städte, Dörfer und Vorräthe, um den des Obdachs und der Erhaltungsmittel Beraubten, ohne schnellen Entscheidungskampf, und je weiter er vorrückte, desto sicherer durch die unvermeidliche Noth und durch die Naturkraft zu verderben: – das war der Plan, der Rußland Rettung verhieß und welcher im Rathe des Reichs und der Kriegshäupter von seinem Monarchen angenommen wurde.

Ein großer Plan! Er setzte die heldenmüthigste Selbstaufopferung im Volk voraus, und er ward mit wahrem Heroismus vollzogen. Napoleon, rasch vordringend ohne Hauptschlacht, welcher die Russen auswichen, kam nach Wilna (28. Juni), nach Smolensk (14. August). Rußland’s Heere (zusammen 300,000 Mann) zogen sich zum Theil nordostwärts nach Riga (zum Schutze der Ostseeprovinzen und Petersburg’s), zur größeren Hälfte aber nordöstlich auf Moskau zurück. In Smolensk begann ihr Zerstörungswerk. Sie gaben vor ihrem Abzuge die Stadt den Flammen preis. Dasselbe thaten sie mit den Städten zwischen Smolensk und der Moskwa. Napoleon konnte hieraus folgern, welches Schicksal der Hauptstadt beschieden war, im Fall ihm das Waffenglück solche in die Hände liefern sollte. An der Moskwa erwartete ihn das russische Heer. Die Ehre des Reichs, die Rettung des im unglücklichen Falle der Vernichtung geweiheten Moskau, schien das Wagniß einer Hauptschlacht gebieterisch zu fordern. Sie ward geschlagen am 7. September bei Borodino.

Fünfzig Tausend Krieger fielen im mörderischen Würgen an diesem schrecklichen Tage. Die ungestüme Tapferkeit und größere Kriegskunst von Napoleon’s Heermassen erzwang über die kaltblütige Unerschrockenheit der Russen den Sieg. Diese gingen zurück, und Moskau, das unermeßliche, mit seinen unerschöpflichen Vorräthen, seinem Reichthum und seinen Genüssen glänzte mit seinen vergoldeten Kuppeln den Siegern als lachende Beute entgegen.

Erfassen, nicht festhalten sollten sie dieselbe! Schon vor der Schlacht waren in der ungeheuern Stadt Vorbereitungen getroffen worden, welche das ihr bestimmte Loos ahnen ließen, wenn man es auch nicht laut verkündigte. Gleich nach der Schlacht vollzog man das Vorbereitete, und die ganze Bevölkerung schien von der Nothwendigkeit, die Hauptstadt zu opfern, um das Reich zu retten, heroisch ergriffen. Die Einwohner, drei hundert und vierzig Tausend an der Zahl, zogen aus mit ihrer besten Habe. Die öffentlichen Schätze wurden nach Petersburg geschafft, 20,000 Verwundete in das Innere des Landes geflüchtet, die Gefängnisse geöffnet und 1400 Verbrecher in Ketten auf verschiedenen Wegen tiefer in’s Reich abgeführt. Die Kriegsvorräthe waren schon früher weggebracht worden. Alle Behörden räumten die Stadt. Im Innern der Häuser hing man Pechkränze, häufte man Brandmaterialien auf. Um eine schnelle Verbreitung der Brunst zu begünstigen, wurden in vielen Straßen die Zwischenwände der Häuser durchbrochen. Das russische Heer zog westlich nach Kaluga ab. Moskau war verlassen. Nur der Abschaum des Volks, eine verwegene Rotte, welche, in der Hoffnung auf Raub und Plünderung, die schreckliche Mission des Feueranlegens übernommen hatte, und einige Tausende, nicht fortzuschaffende, schwer Verwundete [117] und Kranke in Hospitälern und Bürgerhäusern, alte, schwache Greise auch, die sich, selbst auf Gefahr ihres Lebens, von ihrem geliebten Moskau nicht trennen mochten, – waren die Zurückbleibenden.

Am 15. September gedachte Napoleon in der Hauptstadt der Czaaren das grandiose, Heer-begeisternde Schauspiel zu wiederholen, welches ihm in Wien, in Berlin, in Mailand, als er, an der Spitze seiner siegbekränzten Garden als Eroberer einzog, so gut gelang. Von dem Vorgefallenen hatte er keine Ahnung und er harrte mit seinem Generalstabe ¼ Stunde lang vor den Thoren der Hauptstadt, deren vergoldete Kuppeln in der Morgensonne strahlten, um hier die Abgeordneten zu empfangen, welche ihm die Schlüssel zur Metropole des Reichs und zu den Pforten des Kaiserpallastes im Kreml überbringen sollten. Vergebens. Statt des Jubels eines gaffenden, gedankenlosen, nur den Erfolg bewundernden Volkes; statt der Huldigungen demüthig-bittender Behörden und Magistrate, empfing den stolzen Sieger das Schweigen des Todes. Die Thore fand er offen, die Häuser verschlossen, die Gassen menschenleer.

Schauerlich schallte wieder der Paradeschritt des einziehenden Heeres in den verödeten Straßen, und ernst und schweigend führte es der Kaiser durch die labyrintische Häusermasse auf die Esplanade des Kremlins, dessen heilige Pforten der Fußtritt eines Eroberers noch nie entweiht hatte. – Hier erst zeigte sich Widerstand. Ueber dem goldenen Thor, das kein Russe, sein Kaiser selbst nicht, ohne Entblößung des Hauptes betritt, hatte sich ein Häuflein Fanatiker versammelt, entschlossen, in Vertheidigung des Heiligthums zu sterben. Ihre Flintenschüsse streckten einige Garden nieder. So schwacher Versuch einer Hand voll Rasender hielt die Sieger keinen Augenblick auf. Kanonen öffnen die Thore, Napoleon steht am Ziele seines heißesten Wunsches. Die Pracht-Wohnung der Czaaren nimmt ihn als Eroberer auf.

Aus den Fenstern des Kaiserpallastes im Kreml übersah er die herrliche Stadt, prangend mit tausend Denkmälern der Vergangenheit. Moskau mit den seit Jahrhunderten aufgehäuften Reichthümern war sein und dem mit ihm ziehenden Heere.

Nicht zu berechnen war die Beute, unerschöpflich schien sie. Wohl mochte er sich jetzt, im Besitz der Hülfsquellen, welche ihm Moskau versprach, – Moskau, der Mittelpunkt und das Herz des Reichs, – unüberwindlich fühlen und der Traum eines Weltgebieters ihm Wirklichkeit dünken. Aber wie wunderbar! Dieser nämliche Moment, welcher ihm das berauschende Gefühl der Allmacht spendete, wendete verrätherisch das Rad seines Geschickes. Mit dem Betreten des Kreml’s, ging sein Glücksstern unter.

Schon bei’m Einzuge waren, in undeutlicher Ferne, über entlegenen Häusermassen Rauchsäulen bemerkt worden. Doch achtete man nicht viel darauf, sondern beruhigte sich mit der Vorstellung, es seyen Magazine in den Vorstädten, welche die abziehenden Russen, nach ihrer Gewohnheit, in Brand gesteckt hätten. Der nämlichen Ursache [118] schrieb man einen erstickenden Brandgeruch bei, welcher in allen Straßen auffiel. – Aber gegen Abend erhob sich in einem der vornehmsten Stadtviertel eine mächtige Feuersäule. Im Augenblick darauf wirbelten zwanzig auf, bald hundert und an hundert Orten. Ein Blick enthüllte, zum Erstarren des aus der Betrachtung seines Glückes schrecklich erwachenden Kaisers, die entsetzliche Wehranstalt eines verzweifelnden Feindes. Mit Eintritt der Nacht brannte Moskau an fünfhundert Enden.

Vergeblich waren die Befehle Napoleon’s zum Löschen, erfolglos alle Anstrengungen, diese Befehle zu vollziehen. Die Spritzen waren von den Russen weggeführt, Feuereimer, Haken und Leitern vernichtet worden. Selbst das Eindringen in die brennenden Häuser war erschwert, in vielen Fällen sogar unmöglich gemacht; denn die Feueranlegenden hatten alle Eingänge vorsichtig verrammt. – Man versuchte, sie mit Kanonen zu öffnen, und sprengte vergeblich, um der um sich greifenden Brunst Einhalt zu thun, halbe Straßen in die Luft. Bald wogte weithin in dem engen Gassenlabyrinthe ein unendliches Rauch- und Flammenmeer; Rettende und Brandstifter verzehrte oft die nämliche Glut. Als die mit dem Befehl zu löschen in die Stadt vertheilten französischen Heerhaufen die Vergeblichkeit aller Anstrengungen einsahen, ergriff sie die Wuth der Habsucht und sie kämpften nur noch mit den Flammen um den Besitz der Schätze, welche jene zu verzehren drohten. Viele hunderte von Franzosen fanden in diesem Bestreben schon in der ersten Nacht den Tod.

Am folgenden Tage erhob sich ein Sturm, und die drohende Rettungslosigkeit der Stadt wurde bald zur fürchterlichen Gewißheit. Wie die Wogen des Oceans, den der Orkan peitscht, braußten die Flammen um den durch Gärten, Festungswerke und breite Wassergräben von der Stadt geschiedenen Kreml. Von der unerträglichen Hitze sprangen die Scheiben, schmolzen in Napoleon’s Zimmern die Bleieinfassungen der Fenster. Im Kremel selbst brannte es mehrmals; ob durch Ansteckung, ob durch die auf ihn niederregnenden glühenden Trümmer, hat nicht ermittelt werden können. Die Rettung des Kaisers selbst schien in Frage gestellt. Dennoch wich er nicht von der Stelle: – wie festgezaubert hielt ihn der Anblick der Brunst, welche den Preis so großer Anstrengung, so blutiger Siege, so kühnen Wagnisses unaufhaltsam fraß. Endlich, als die Gefahr auf’s Aeußerste gewachsen war und Entsetzen sich eines Jeden in seiner Umgebung bemächtigt hatte, gab er, mehr dem fremden als dem eigenen Willen folgend, das Zeichen zum Aufbruch. – Mit Gefahr des Lebens und nicht ohne den Verlust Mehrerer seines Gefolges, welche von den herabstürzenden Mauern und Gebälken in den brennenden Straßen, die sie durchreiten mußten, erschlagen wurden, erreichte er ein, außerhalb der Stadt, im Freien liegendes, kaiserliches Lustschloß. Aber Moskau, das lodernde, übergab der Erzürnte der Plünderung. „Raubt, da ihr nicht retten könnt!“ – waren seine letzten Worte. Es folgten nun Gräuel auf Gräuel, und von den unglücklichen Zurückgebliebenen, etwa 20,000, zum Theil Kranken, Verwundeten und Greisen, starb die größere Zahl theils in den Flammen, theils unter den Händen ihrer Peiniger, welche alle Martern an sie [119] verschwendeten, um ihnen das Geständniß, wo Schätze verborgen seyen, abzupressen. – Noch 6 Tage herrschten die Flammen. Endlich (am 21. Sept.) hatten sie ausgetobt, und auch die Plünderer waren müde. Mit dem 1. Oktober stellte sich wieder Ordnung her. Napoleon ritt zur Stätte: – das einst so herrliche Moskau mit den Wohnungen von 350,000 Menschen, 500 christlichen Tempeln und eben so vielen Pallästen, das unermeßliche Vorrathshaus von Lebens- und Kriegsbedarf, von tausendfachen Genußmitteln, war bis auf einen kleinen ärmlichen Rest verzehrt von dem fürchterlichsten der Elemente; und der Eroberer sah sich, statt in einer prachtvollen Stadt, auf einem dampfenden Schutthaufen ohne Ruhestätte, ohne Erquickung, ohne Stützpunkt des Voranschreitens für sich und sein Heer. Dieses, durch die Plünderung demoralisirt, war beladen mit Schätzen; aber mitten unter denselben fehlte es ihm an den nothwendigsten Bedürfnissen des Lebens. Was keine Niederlage vermocht hätte, bewirkte der Metropole Aufopferung. Schreckliche Niedergeschlagenheit bemächtigte sich der Gemüther und weissagete Unglück. Viele Tausende vergeudeten ihre Schätze um den Genuß des Augenblicks und starben in Folge ihrer Ausschweifungen. Der fünfwöchentliche Aufenthalt auf Moskau’s Trümmern kostete Napoleon mehr als die verwüstendste Schlacht, – über 40,000 seiner besten Krieger.

Also entschwand dem neuen Alexander die heißersehnte Siegesfrucht im Augenblick, da er sie erfaßte. Ein Rückzug schien dem Stolzen schimpflich; darum wurde es den Russen leicht, ihn durch Friedensunterhandlungen so lange zu täuschen und so lange zum Bleiben zu verlocken, bis Bleiben und Rückzug gleich unmöglich geworden waren, und beide gleich sicheres Verderben ihm bereiteten. Schon hatte der Winter mit seiner Kälte und seinen Schrecken sich genaht; da brachen die Russen die Friedensunterhandlungen ab, Napoleon die Wahl stellend, auf Moskau’s Aschenhaufen zu verhungern, oder auf denselben Wegen, von wannen er gekommen, durch lauter unwirthbares, verwüstetes und menschenleeres Land, in der schlimmsten Jahreszeit, die Rückkehr zu wagen. Am 19. Oktober (an dem nämlichen Tage, an dem er ein Jahr später den verhängnißvollen Rückzug von Leipzig antrat) setzte sich sein, von Mangel an Lebensmitteln bereits geängstigtes Heer in Bewegung. Mit 180,000 Mann war er eingerückt in der Czaaren Hauptstadt, – nur 120,000 führte er hinaus; demoralisirt, die Bande der Disciplin gelockert, völlig muthlos. Auf 20,000 Wägen schleppten sie die Beute der Plünderung mit fort. Die letzten Colonnen der Armee verließen den Kreml am 25. October. Napoleon hatte befohlen, ihn in die Luft zu sprengen; aber von den schlecht und eilig angelegten Minen zündeten nur wenige, und diese waren zu schwach gegen das riesenstarke Gemäuer. Blos einige Nebengebäude litten oder stürzten ein, Zeugen den nacheilenden Russen von dem bösen Willen der Fliehenden, und zum Racheeifer sie spornend.

Nicht weiter leuchtete Napoleon das Glück. Was aber ferner geschehen, ihm und seinen Armeen, nach dem Abzug aus Moskau, – die Schilderung des furchtbarsten aller Rückzüge und der entsetzlichsten [120] Noth, welche je ein Heer erduldet, die endlich vollkommene Vernichtung dieses Heers, gehört nicht hieher. Ohne Gefolge, mit einem einzigen Diener, in einem schlechten Schlitten, gleichsam als wäre er nur um die Rettung des eigenen Lebens besorgt, floh er über den Niemen zurück, der Gewaltige, der diesen Grenzstrom Rußland’s vor 5 Monaten an der Spitze einer Kriegsmacht überschritten hatte, größer, als sie seit Xerxes die Welt gesehen. Von dieser fürchterlichen Macht sahen einige Tausende kaum, siech, ohne Waffen und ohne Gepäck, die befreundete Erde wieder. 300,000 Leichen und 150,000 todte Pferde, grausende Ueberbleibsel des Napoleonszugs, in welchem die Blüthe aller Nationen seiner Herrschaft aufgegangen, wurden im nächsten Frühjahr auf russischem Boden gefunden und verscharrt, und 100,000 Krieger, die man, gefangen, im rauhesten Winter nach Sibirien schleppte, kamen um durch Kälte, Elend und harte Arbeit. So sah die erstaunte Menschheit den Spruch der rächenden Allmacht, von der Moskau’s heldenmüthige Aufopferung die erste Andeutung gegeben hatte, schauerlich vollzogen.


Nach der Befreiung des Landes wurde ein Riesenwerk – der Wiederaufbau nämlich der zerstörten alten, und in der Volksmeinung, heiligen Hauptstadt von der Nation wie von der Regierung mit jenem Eifer betrieben, den nur die Begeisterung verleiht. Das ganze Reich übernahm die Entschädigung der durch Brand, Zerstörung und Plünderung zu Verlust gekommenen Bewohner als eine heilige Verpflichtung, und der Betrag bezahlter Vergütungen überstieg 400 Millionen Rubel. Doch Viele auch verschmähten jeden Ersatz und erhöhten dadurch den Ruhm so patriotischer Aufopferung. Mehrere von diesen hatten Millionen verloren! – In den ersten Jahren nach hergestelltem Weltfrieden waren stets bei 160,000 Handwerker und Handlanger mit dem Aufräumen des Schuttes und der Herstellung der neuen Gebäude beschäftigt; ungerechnet die 25–30,000 Arbeiter, welche die Regierung für den Bau öffentlicher Werke unterhielt. Unter der Wirkung so gigantesker Mittel erstand das neue Moskau wie durch Zauberkraft, und schon 1824, also 12 Jahre nach der Zerstörung, hatte es sich, prächtiger und herrlicher als zuvor, größtentheils aus der Asche erhoben. Es hatte wieder 300,000 Bewohner in 11,000 Häusern, unter denen sich 400 Palläste befinden. Gegenwärtig ist der Aufbau der Stadt vollendet und in einem Umfange von 11 Stunden zählt man über 14,000 Gebäude in 850 Straßen, und mehr als 300, zum Theil überaus prachtvolle Kirchen. 350 großartige Fabrikanstalten in pallastähnlichen Localen beschäftigen dort über 110,000 Menschen, nicht Moskauer allein, sondern auch, und zum größern Theil, Bewohner der Umgegend. Viele dieser Fabriken sind (wie die meisten Rußland’s) militärisch organisirt. Das Nämliche ist der Fall mit den verschiedenen Anstalten [121] zum öffentlichen Nutzen; z. B. mit denen zur Reinigung der Straßen, zur Begegnung und Verhütung von Brandunglück, der Rettung in Wassernoth etc. etc.

Das neue Universitätsgebäude hat 2 Mill. Rubel gekostet, und das Institut selbst ist ausgestattet mit kaiserlicher Munifizenz. Die Zahl der Professoren ist 30; die der gegenwärtig lesenden[WS 2] Lehrer überhaupt fast 100. Die Frequenz der Studirenden wechselt zwischen 1200 und 2000. Daß Moskau der Hauptsitz des russischen Manufaktur- und Fabrikwesens ist, auch der des Binnenhandels eines unermeßlichen Reichs, ist schon früher erwähnt worden. Der jährliche Kapitalumsatz durch den Handel übersteigt 300 Millionen Rubel. – Moskau ist auch der Centralpunkt der National-Literatur und russischer Bildung; mehr so, als Petersburg, wo durch den Einfluß der vielen dort wohnenden fremden Gelehrten das Cosmopolitische[WS 3] in der Literatur vorherrschend bleibt. Die Hauptwerke in russischer Sprache werden in Moskau gedruckt. Darum ist auch der Buchhandel blühend und die Buchdruckereien sind sehr bedeutend. Sie beschäftigen über 140 Pressen. – Unter den wohlthätigen Anstalten (ihre Anzahl erreicht achtzig), welche die alte Czaarenstadt schmücken, verdient das Findelhaus, wegen seiner Größe und musterhaften Einrichtung, eine besondere Erwähnung. Die meisten der Kinder werden auf das Land an Ammen gegeben, deren Interesse mit der Erhaltung des Lebens der armen Pfleglinge auf das innigste verknüpft wird. Gemeinlich versorgt die Anstalt 33–34000 Kinder, und der jährliche Zuwachs ist zwischen 3 und 4000. Im Hause selbst haben 6000 Kinder Pflege und Unterricht. Zwei Säle und eine Reihe Zellen dienen zur Aufnahme von armen, hülflosen, schwangern Personen. Sie können hier ihre Entbindung abwarten, und für ihre Kinder sorgt dann die Anstalt. So ist schon für die Ungebornen Erbarmen da und Vorsorge getroffen. Den Müttern ist an die Hand gegeben, sich der Anstalt als Amme ihrer – eigenen Kinder zu vermiethen. Darum ist auch die Sterblichkeit unter den Zöglingen dieses Instituts weit geringer, als unter den Zöglingen irgend eines andern ähnlichen in Europa.

Die Moskauer Lebensweise in den höheren Ständen, denen des Adels und der reichen Kaufleute, streift an orientalische Pracht, und ist weit luxuriöser, als in Petersburg. Der gemeine Mann lebt ebenfalls gut; denn der Russe ist arbeitsam, Verdienst ist leicht, Beschäftigung ist reichlich da, und die Lebensmittel sind in mäßigerm Preise, als in den meisten andern Hauptstädten Europa’s. Dennoch klagt man über Theuerung, weil man früher an eine auffallende Wohlfeilheit der alltäglichen Bedürfnisse gewöhnt war. Der so sehr gesteigerte allgemeine Wohlstand (der in der Entschädigung, welche das Reich nach der Zerstörung zahlte, eine Hauptquelle gefunden hat,) und der dadurch veranlaßte größere Luxus haben dieß geändert.

Das Klima ist gesund. Moskau’s Lage auf einer Hochebene ist in dieser Beziehung eine sehr günstige. Die Fruchtbarkeit der Gegend wird gerühmt, und es gedeihen alle Getreide- und Obstarten so gut wie im mittlern Deutschland. Selten sind die Winter strenger als in Berlin.

[122] Die Bevölkerung besteht der Hauptmasse nach aus Russen, alten unvermischten Stammes, den ächten Moskowitern. Bauern, Handwerker, vornehme Bürger und Adeliche unterscheiden sich durch ihre Trachten, und das Pittoreske des Lebens und Treibens auf den Straßen wird gesteigert durch die zahlreichen orientalischen Kostüme, welche einem bei jedem Schritte begegnen. Ihre Mannichfaltigkeit und ihre Menge wird durch die Thatsache erklärlich, daß fast alle Nationen Asiens hier ihre Repräsentanten haben, hergelockt durch den Trieb nach Gewinn. Ueber die Hälfte der hiesigen Kaufleute sind Ausländer; meistens Orientalen. Sie sind in Gemeinden vereinigt, und jede Religion genießt hier das Recht freier Uebung. Selbst die Hindus haben ihre Pagode und die Methodisten Neuenglands verehren nahe dabei den alleinigen Gott. Die Britten sind nicht zahlreich; zahlreicher die Deutschen. Jene, wie diese, haben eigene Prediger und Kapellen.

Der Kreml liegt, etwas über die andern Stadttheile erhaben, im Centrum Moskau’s. Mit andern europäischen Herrscherpallästen ist er nicht zu vergleichen; mehr ist er den Residenzen (Serails) der asiatischen Sultane ähnlich; wie diese hat er die Bestimmung zugleich Citadelle und Königsburg, Archiv und Schatzkammer, Zeughaus und Staatsgefängniß zu seyn. Seine Mauern umschließen drei der herrlichsten und heiligsten Tempel der griechischen Christenheit, und zwei Klöster. An Umfang mißt er eine halbe Stunde und seine Größe ist die einer bedeutenden Stadt. Hohe, krenellirte Mauern von erstaunenswürdiger Stärke und Festigkeit umgürten ihn, und durch zahlreiche, Thürme von wunderlicher Form, fest wie Felsen, und voll bombensicherer Gewölbe, wird er vertheidigt. Alle Mauern sind von weißem Gestein; alle Thurmkuppeln vergoldet. Das Innere ist, in viele Höfe getheilt, unregelmäßig, aber durchaus prachtvoll und imponirend.

Eine sonderbare Figur diesem großartigen Verein von Bauwerken des Byzantinisch-Gothischen Geschmacks, macht ein neuer Palast in neu-italischem Styl, die prächtige Wohnung des Kaisers. Wenn das magnifike Gebäude in passender Umgebung stünde, oder für sich und allein, so würde es bewundernswerth seyn; hier wirkt’s blos durch den schneidenden Kontrast zu dem es beherrschenden Ganzen und verletzend und störend auf dessen Einheit und Harmonie.


Unser vortrefflicher Stahlstich gibt von der Hauptfronte des Kremls eine getreue Ansicht. Früher umfloß, in tiefen und breiten Gräben, die Moskwa die ganze Burg; jetzt ist von 3 Seiten her der Strom zugewölbt, und über denselben grünt und blüht ein herrlicher Park, die Lieblingspromenade der Moskauer.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist wohl: slavischen
  2. Vorlage: esenden
  3. Vorlage: Comopolitische