Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Bei der deutschen Schneeschuhtruppe
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Hinten im Grunde eines kleinen Hochtales der Vogesen liegt, fernab vom Weltverkehr, rings von herrlichen Tannenwäldern umgeben, ein traulicher [237] Weiler. Dem steilen Hange einer tiefeingeschnittenen Waldschlucht entlang führt in vielen Schlingen ein gutes Fahrsträßchen hinauf. In dem Dörfchen liegt eine deutsche Schneeschuh-Truppe mit ihrem Kommando. Größere und kleinere Schneeschuhabteilungen sind jetzt, je nach Bedarf, auf alle Gebirgsabschnitte der deutschen Westfront verteilt. Kleinere Abteilungen von Schneeschuhläufern werden ablösungsweise auf die Vogesenkämme und darüber hinaus vorgeschoben, von wo sie als Aufklärungspatrouillen ins französische Operationsgebiet hinüberstreifen, oder wo sie zum Sicherungsdienst in den deutschen Stellungen verwendet werden. Die Haupttrupps sind, einige Kilometer hinter den Gefechtsstellungen, in Weilern und Gehöften untergebracht. Sie bilden gewissermaßen kleine vorgeschobene Garnisonen, die ihrer weiteren soldatischen und schneeschuhtechnischen Ausbildung obliegen, und in der Gefechtsfront zugleich als Bereitschafts- und Unterstützungstruppe der vorgeschobenen Aufklärungs- und Sicherungsabteilungen dienen.
In dieses abgelegene Hochtälchen bin ich heute mit Generalleutnant ... und den Offizieren seines Stabes hinaufgefahren. Der Kommandeur will den Ausbildungsstand der im erwähnten Weiler untergebrachten Schneeschuhabteilung besichtigen, und Ihr Berichterstatter hat den seltenen Vorzug, ihn auf seiner Fahrt begleiten zu dürfen. Bei hellem Sonnenschein geht es durch [238] das verschneite enge Waldtal. Tief hängen die Äste der hochstämmigen Fichten unter der Last der Schneedecke, auf der die Sonnenstrahlen ihr glitzerndes Spiel treiben. Wo das Sträßchen der Schattenseite entlang führt, umfängt uns das feierliche Düster des Tannenwaldes. Jetzt weitet sich das Tal. Wir treten aus dem Wald hinaus, und vor uns liegt im hellen Sonnenglanz ein breiter Grund, in dem der Weiler hingebettet ist. Ein Bataillonskommandeur, Major ..., und zwei Kompanieführer melden sich beim General, der mich ihnen vorstellt. Nach wenigen Worten wird man vertraut: Major ..., ein in der alpinistischen Forschung und Literatur wohlbewanderter und selbst schriftstellerisch tätiger Mann, gibt sich mir als Mitglied des Schweizerischen Alpenklubs zu erkennen, erkundigt sich, nachdem er vernommen, daß der Berichterstatter Berner ist, nach dem Befinden unseres schweizerischen Alpenforschers und Redakteurs des Jahrbuchs des Schweizerischen Alpenklubs, Herrn Dr. Dübi in Bern, an den er mir Grüße aufträgt, die ich auf diesem Wege übermittle. Hauptmann ... hat ebenfalls rege Beziehungen zu der Schweiz und ihren alpinistischen Bestrebungen und frägt nach einem gewissen festfrohen Berner Professor, der die Vornamen des Übersetzers der Odyssee trägt und der ihm als Organisator skisportlicher Veranstaltungen bekannt ist. Wie klein doch diese Welt ist, überall in fremden Landen knüpft sich das Band persönlicher Beziehungen! [239] Die Truppenabteilung, deren heutige Übung der General besichtigen will, ist, wie die deutsche Schneeschuhtruppe überhaupt, eine während des Krieges geschaffene Neubildung. In den technischen Hilfsmitteln und in der Ausbildung besonderer Truppen für den Gebirgskrieg hatten die Franzosen vor den Deutschen einen Vorsprung. In den Alpenjäger-Bataillonen, die anerkanntermaßen zu den besten französischen Truppen gehören, besitzen sie eine für den Gebirgskrieg ausgebildete und ausgerüstete Truppe. Für einen Winterfeldzug im Gebirge hatten die Franzosen ebenfalls schon vor dem Kriege durch Ausbildung von militärischen Schneeschuhläufern vorgesorgt. In Deutschland war etwas Ähnliches beim Ausbruch des Krieges noch nicht geschaffen. Zwar haben die im Oberelsaß garnisonierenden Truppen des 15. Armeekorps in den letzten Jahren, besonders seitdem dieses Korps von General v. Deimling befehligt wird, öfter Übungen in den Vogesen abgehalten. Aber von der Bildung eigentlicher Gebirgstruppen war vor dem Kriege keine Rede. Dazu ist man geschritten, als der Winter nahte. Mit der den Deutschen eigenen Anpassungsfähigkeit und Gestaltungskraft hat es die deutsche Heeresverwaltung verstanden, in kurzer Zeit die erforderlichen Formationen neu zu schaffen und so auszubilden, daß sie im Gebirgskriege des Vogesen-Abschnittes Hervorragendes zu leisten vermögen. Davon hat mich der heutige Besuch bei einer deutschen Schneeschuhtruppe überzeugt. [240] Beim Beginne des Winters wurde mit der Organisation und Ausbildung der Schneeschuhtruppen begonnen. Sie wurden zumeist aus Kriegsfreiwilligen, die bereits des Schneeschuhfahrens kundig waren, rekrutiert. Ihre soldatische und militärtechnische Ausbildung erhielten sie in verschiedenen deutschen Garnisonen und sodann in den deutschen Mittel- und Hochgebirgsgegenden, die schon seit Anfang November verschneit waren, so daß Schneeschuhübungen in ihren Gebieten möglich waren. Als dann im Laufe des Januars der Winter auch im ganzen Gebiete der Vogesen seinen Einzug hielt, erfolgte der Abtransport der Schneeschuhtruppen und ihre Verwendung an der Front. Die Mannschaft macht einen vorzüglichen Eindruck. Unter den Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften befinden sich die in der deutschen Sportwelt wohlbekannten, besten Schneeschuhläufer, darunter manche Akademiker süddeutscher Universitäten und technischer Hochschulen. Aber auch die Bevölkerung des Hochgebirges hat ihren Anteil dazu gestellt. So dient zum Beispiel der Christus des Oberammergauer Passionsspieles als Schneeschuhläufer einer Schneeschuhabteilung. Beiläufig mag hier erwähnt werden, daß sämtliche Darsteller des Oberammergauer Passionsspieles an der deutschen Westfront stehen.
Zur Bewaffnung und Ausrüstung des deutschen Kriegsschneeschuhläufers gehören der Karabiner, die Schneeschuhe (so werden die Skiers durchweg [241] genannt, zum Zeichen, dass die durch den Krieg mächtig angeregte deutsche Sprachreinigungsbewegung ihr Recht auch im Heere geltend macht), sodann Schneestöcke und Rucksack. Als Bindung wird ausschließlich die Bilgeri-Bindung verwendet, weil nach dem Urteil der Berufenen nur sie ein bequemes Kniend- und Liegendschießen gestattet und den Übergang aus der Fahr- in die Schießstellung rascher und besser als irgend eine andere Bindung ermöglicht. Eine Anzahl Leute sind nebst den Schneeschuhen noch mit Schneereifen ausgerüstet, die bei schwerer Belastung des Mannes und bei weichem, tiefem Schnee besser als die Schneeschuhe gegen das Einsinken schützen. Die Bekleidung der Schneeschuhläufer ist das Feldgrau des übrigen Feldheeres. Selbstverständlich ist die Schneeschuhtruppe so ausgebildet, daß sie mit abgelegten Schneeschuhen, als gewöhnliche Gebirgstruppe, verwendet werden kann. So findet man nun diese mitten im Kriege improvisierte, trefflich geschulte, junge Winter- und Gebirgstruppe vom Südfuße der Hochvogesen bis an ihre nördlichen Ausläufer im lothringischen Grenzgebiet, tatenfreudig und unternehmungslustig. Eine hervorragende Neuschöpfung der deutschen Heeresverwaltung und Heeresleitung und ein glänzendes Zeugnis ihrer Fähigkeit, sich neuen Verhältnissen und neuen Bedürfnissen anzupassen und die dafür geeigneten Kriegsmittel zu schaffen. [242] In schweren, von der Truppe selbst gezimmerten sechsspännigen Schlitten werden wir aus dem Weiler im Talgrunde zum Übungsfelde einer Schneeschuhkompanie hinaufgeführt. Zwei Reiter eröffnen als Bedeckung den Zug, auf den großen, starken Leitpferden sitzen als Lenker Soldaten. So geht es den Berg hinan bis an einen schönen weiten Schneehang, wo die Übung stattfindet. Auf einer ebenen Terrasse des Abhanges sind einige Unterkunftsräume erstellt. Zunächst besuchen wir eine Schneehütte, die Schutz für etwa acht Mann in sitzender oder zwei Mann in liegender Stellung bietet. Der Eingang ist mit Zelttuch verhängt. Die Schneewände sind mit Tannengrün verkleidet, die Schneebänke mit Schneeschuhen und Wolldecken, der Boden mit Brettern und Tannenreis belegt, in die Schneemauern sind kleine Nischen eingehauen, in denen Öllämpchen und Berglaternen stehen und den Raum beleuchten. Eine Notwohnung, die im Bedarfsfalle ihrem Zwecke als Schutzhütte durchaus entspricht.
Unweit davon ist ein schwedisches Zelt errichtet, auf dem — zu Ehren des Gastes aus dem neutralen Schweizerlande — heute ein Schweizerfähnchen gehißt ist. Luftig flattert das weiße Kreuz im roten Feld im Winde und leuchtet in die Schneelandschaft der Vogesen. Die liebenswürdige Aufmerksamkeit geht dem Schweizer zu Herzen. [243] Das Übungsfeld liegt geschützt an einer Waldhöhe, hinter der die Vogesenkämme emporragen. Dort, einige Kilometer vom Übungsfeld entfernt, stehen sich die deutschen und französischen Posten, Schützengräben und Batterien gegenüber. Während hier hinter der Front die Friedensübung abgehalten wird, donnern beständig die Geschütze der deutschen und französischen Feld- und Gebirgsbatterien, hin und wieder hört man auch das Gewehrgeknatter vorgeschobener Schneeschuhläuferpatrouillen oder einer Schützengrabenbesatzung. Die Übung beginnt mit dem Marsch eines Zuges in der Einerkolonne und eines anderen Zuges in der Zweierkolonne. Regel ist die Einerreihe. Nur ausnahmsweise unter besonderen taktischen und Geländeverhältnissen kann zur Verkürzung der Marschkolonne die Zweierreihe angewendet werden. Es folgen Übungen im Einzelfahren und Spurfahren. Der Ausbildung im Spurfahren wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Leute sollen sich dabei gewöhnen, in möglichst genauen Abständen von zehn bis fünfzehn Metern hintereinander in der gleichen Spur zu fahren. So kann der Offizier seine Abteilung in der Hand behalten, während sie im Einzelfahren nur zu leicht seinem Befehlsbereiche entgleitet. Nun bezieht der erste Zug eine Gefechtsstellung. Der Zugführer stellt eine kurze einfache Gefechtsaufgabe und befiehlt den Aufmarsch aus der Marschkolonne in die Stellung. Der Feind wird unten im Grund am Dorfrande angenommen, so daß [244] die Leute sich bergabwärts hinlegen müssen. Rasch werfen sie sich vornüber und bringen das Gewehr in Anschlag. Die Bilgeri-Bindung bewährt sich dabei ausgezeichnet. Der Zugführer gibt die Zielbezeichnung und befiehlt die Feuereröffnung. Jetzt schwärmt auch der zweite Zug weiter oben am Hang aus, so daß eine doppelte stockwerkmäßige Feuerstellung entsteht. Gefechtspatrouillen und Horchposten werden ausgeschickt. Eine neue Annahme wird gegeben: Der Feind steht oben am Hange und soll von unten angegriffen werden. Äußerst beschwerlich und anstrengend ist das Kriechend-Vorrücken den Berg hinan mit den Schneeschuhen an den Füßen. So leicht beweglich eine Schneeschuhtruppe auf dem Marsche ist, so schwerfällig ist sie im Gefecht. Sie wird daher in der Regel wohl nur in kleineren Verbänden als Gefechtstruppe verwendet werden. Ihre taktische Einheit ist der Zug. Ihre Hauptaufgabe liegt im Aufklärungs- und Sicherungsdienst.
Zur Ausrüstung einer Schneeschuhkompanie gehört schließlich die uns vorgezeigte Verwundetentragbahre, die mittels Tragspangen sehr einfach und rasch aus zwei Schneeschuhen, zwei Schneestöcken und einem Zelttuch zusammengesetzt wird. Die Übung wurde beschlossen durch einige von den besten Fahrern ausgeführte Sprünge an der Sprungschanze, durch Telemark- und Christiania-Schwünge und durch die Vorführung eines zum Aufsuchen von Verwundeten abgerichteten Kriegshundes. Zwei Mann wurden als [245] Verwundete im dichten Ginstergebüsch verborgen. Der Führer läßt den Hund von der Leine los und befiehlt: Revier! Apport! Such’ den Kerl! Der Hund wittert die Spur, schnüffelt, bellt, steht stille, reckt den Kopf in die Höhe, rennt hin und her, wittert wieder und verschwindet dann im Gebüsch. Nach kurzer Zeit springt er in Sätzen daher, trägt eine Soldatenmütze in der Schnauze und bringt sie seinem Meister. Der befiehlt: Geh hin! Sag wo! und läßt sich von dem Hunde zum Verwundeten hinführen. In gleicher Weise wird auch der zweite Verwundete aufgesucht, gefunden und geborgen. Der Führer und Abrichter des Kriegshundes ist — ein berühmter Wagnersänger eines deutschen Hoftheaters. Beim Ausbruch des Krieges hatte sich der Vierzigjährige als Kriegsfreiwilliger gemeldet, war — vermutlich wegen Kurzsichtigkeit, der Mann ist Brillenträger — zurückgestellt worden und hat schließlich als Sanitäter und Kriegshundführer beim Schneeschuhbataillon Verwendung gefunden. Selbst dem Höchstgestellten ist heute keine Arbeit im Dienste des großen Ganzen zu gering.
Nachdem uns in dem mit der Schweizerflagge geschmückten Zelte ein wärmender Punsch gereicht worden war, traten wir hochbefriedigt von der Übung den Abstieg in das Bergdörfchen an, wo uns der gastfreundliche Bataillonskommandeur ein einfaches, aber vortreffliches Mahl bot, bei dem der frohgemut stimmende Moselwein nicht fehlte. [246] Die Tafelmusik aber spielten die Kanonen, die fortwährend am Vogesenkamm dröhnten.
Ich habe den Eindruck mitgenommen, daß die deutsche Schneeschuhtruppe einen Ausbildungsstand aufweist, der sie befähigt, die von ihr geforderte Arbeit im Winterkrieg in den Vogesen nach jeder Hinsicht vollwertig zu leisten.