« Buch V 5-9 Flavius Josephus
Juedischer Krieg
Buch VI 1-3 »
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[409]
Zehntes Capitel.
Ueberläufer. Hungerscenen in Jerusalem. Grausamkeiten der Gewalthaber.


420 (1.) Diese von Thränen begleitete laute Apostrophe des Josephus konnte die Rebellen weder zur Nachgiebigkeit bewegen noch auch zur Ueberzeugung bringen, dass sie bei einer Sinnesänderung von Seite der Römer nichts zu fürchten hätten, wohl aber vermehrte sie in starker Weise die Ueberläufer aus den Reihen der Bürger. 421 Um jeden Preis schlugen die einen ihre Besitzungen, die anderen ihre wertvolleren Kleinodien los, verschluckten die dafür erhaltenen Goldmünzen, damit sie nicht von den Banditen bei ihnen gefunden werden könnten, und liefen dann zu den Römern über. Sobald nun das Gold wieder abgieng, hatten sie wenigstens gleich die nöthigsten Mittel zum Leben. 422 Titus gab nämlich den meisten die Freiheit, wo nur ein jeder wollte, sich im Lande niederzulassen, und gerade das ermuthigte die Juden ganz besonders zur Flucht ins römische Lager, da ihnen die Hoffnung winkte, sowohl der Drangsale in der Stadt ledig zu werden, als auch der römischen Sclaverei zu entgehen. 423 Doch wachten die Leute des Johannes und des Simon fast noch ängstlicher darüber, dass kein solcher Bürger hinauskäme, als dass kein Römer hereinkäme, und wer nur den leisesten Verdacht erregte, ward auf der Stelle kalt gemacht.

424 (2.) Für die Vermöglichen war übrigens auch das Bleiben in der Stadt gleichbedeutend mit dem sicheren Untergang, da ein solcher schon um seines Vermögens willen unter dem Vorwand, er sei ein Ueberläufer, aus dem Wege geräumt wurde. Mit dem Hunger verschärfte sich auch die tolle Grausamkeit der Aufrührer, und die doppelte Qual ward von Tag zu Tag immer verzehrender. 425 Da die öffentlichen Getreidevorräthe allerorts vollständig geschwunden waren, überfielen die Banditen sogar die Privathäuser und suchten sie sorgfältig ab. Fanden sie dann etwas, so misshandelten sie die Hausbewohner, weil sie das Vorhandensein von Speisen weggeleugnet hatten, fanden sie nichts, so marterten sie dieselben erst recht in der Voraussetzung, dass sie die Vorräthe nur zu gut versteckt hätten. 426 Hiebei gab ihnen das leibliche Befinden der Unglücklichen einen Fingerzeig, ob sie wirklich [410] noch etwas hatten oder nicht: Waren sie noch ziemlich gut beisammen, so mussten sie wohl auch noch über Speisevorräthe verfügen, nur wer schon ganz abgezehrt war, den ließ man unbehelligt und hielt es auch für ganz überflüssig, einen solchen zu tödten, dem ohnehin gleich die Noth den Garaus machen musste. 427 Viele handelten sich heimlich um ihr ganzes Hab und Gut eine Maß Weizen ein, wenn sie reicher, eine Maß Gerste, wenn sie ärmer waren. Dann schlossen sie sich damit in den entlegensten Winkel des Hauses ein und aßen dort das Getreide in ihrem grimmigen Hunger manchmal sogar noch ganz roh, hie und da auch zubereitet, je nachdem der Hunger und die Furcht es rathsam erscheinen ließen. 428 Ein förmlicher Tisch wurde nirgends mehr angerichtet, und noch fast ungekocht riss man die Speisen aus dem Feuer, um sie mit wilder Gier zu verzehren.

429 (3.) So erbärmlich nun auch diese Nahrung schon war, so konnte man sich der Thränen nicht mehr enthalten, wenn man erst sehen musste, wie die kräftigeren Familienglieder die Speisen an sich rissen, während die Schwächeren wimmernd zusehen mussten. Wie der Hunger bekanntlich alle anderen Gefühle zurückdrängt, so löst er noch am stärksten die Bande frommer Scheu! Denn was einen sonst mit Beschämung erfüllen müsste, das achtet man im Hunger für gar nichts mehr, 430 und so rissen denn auch Frauen ihren Männern, Söhne ihrem Vater und, was selbst einen Stein hätte erweichen müssen, sogar Mütter ihren Kleinen die Nahrung aus dem Munde! Man hatte mit den theuersten Personen, wenn sie einem schon unter den Händen zu vergehen drohten, nicht einmal so viel Erbarmen, ihnen die letzten Tröpflein des verrinnenden Lebens zu gönnen. 431 Aber selbst diese klägliche Nahrung konnten sie nicht ungestört genießen, da die Aufrührer überall sogar auf solche elende Bissen noch Jagd machten. 432 Sahen sie irgendwo ein Haus abgesperrt, so war ihnen das ein Zeichen dass die Leute drinnen Speise zu sich nähmen, und sofort sprengten sie auch schon die Thüren auf, drangen hinein und würgten den Leuten fast den Bissen Brot wieder zum Schlunde heraus! 433 Hier schlug man einen Greis, der von seinem Vorrath nicht lassen wollte, dort schleifte man eine Frau bei den Haaren, weil sie, was sie eben in der Hand hielt, noch verstecken wollte. Weder das graue Haar des Alters, noch das kleine Kind fand Erbarmen: das Knäblein, das seinen Bissen krampfhaft in den Zähnen hielt, ward mit ihm aufgehoben und aus den Boden hingeschmettert. 434 War aber jemand doch noch schneller gewesen, als die Eindringlinge, und hatte er die Speise, die sie zu erbeuten gehofft hatten, schon vollständig verschlungen, so ward er von den Räubern nicht anders, als wäre er dadurch selbst an [411] ihnen zum Räuber geworden, noch grausamer gemartert. 435 Furchtbar waren die neuen Arten von Qualen, die sie ausheckten, um den Versteck eines Speisevorrathes aufzuspüren: mit Kichererbsen verstopften sie den Unglücklichen den Mastdarm und durchbohrten ihnen mit spitzigen Stäben das Gesäß! Peinen, die schon schauderhaft zum Anhören sind, mussten manche erdulden, bloß weil sie von einem einzigen Brot nichts sagen und eine Handvoll versteckter Gerstengraupen nicht verrathen wollten. 436 Und dies thaten die Peiniger nicht etwa darum, weil sie selbst Hunger gehabt hätten, in welchem Falle ja ihr Benehmen, weil von der Noth eingegeben, weniger grausam gewesen wäre, sondern nur zu dem Zwecke, um ihren Frevelmuth zu üben und für die folgenden Tage Lebensmittel aufzuspeichern. 437 Trafen sie auf Leute, welche sich des Nachts aus der Stadt hinaus und fast bis zur römischen Postenkette geschlichen hatten, nur um Feldgemüse und Kräuter zu sammeln, so entrissen sie ihnen in dem Augenblicke, wo die Armen sich bereits vor den Feinden in Sicherheit glaubten, alles, was sie trugen, 438 und gaben ihnen trotz ihres inständigen Bittens und Flehens, und trotzdem sie sie beim Namen des furchtbaren Richters beschworen, ihnen doch einen Theil von dem zu überlassen, was sie sich mit eigener Lebensgefahr gebrockt hätten, nicht das Geringste mehr zurück. Ja es hatte noch seine liebe Noth, dass die Geraubten nicht auch obendrein ums Leben gebracht wurden.

439 (4.) Während die gewöhnlicheren Bürger diese Grausamkeiten von den Schergen der Gewaltherrscher erfuhren, wurden dagegen die in Würden und Reichthum stehenden vor die letzteren selbst geschleppt. Die einen davon wurden unter der erdichteten Anklage, entweder geheime Verschwörungen gegen die Tyrannen angezettelt zu haben oder die Auslieferung der Stadt an die Römer zu planen, hingerichtet. Wozu man aber am gewöhnlichsten griff, das war die Anstiftung eines falschen Zeugen, welcher sagen musste, die Betreffenden hätten zu den Römern überlaufen wollen. 440 Ohnehin schon von Simon ausgezogen, wurden sie noch zu Johannes hinaufgeschickt, und so bekam auch umgekehrt Simon seinen Theil am Raube derer, die zunächst von Johannes waren geplündert worden. Auf solche Art trank man sich gegenseitig das Blut der Bürger zu und theilte sich, sozusagen, in die Leichen der Bedauernswerten. 441 Nur im Punkte der Herrschaft bestand Streit, in den Ruchlosigkeiten vollkommene Einigkeit: denn den andern Theil bei der Quälerei des Nächsten nicht mithalten lassen, galt als eine ausnehmende Schurkerei, und wenn einmal jemand nicht dabei sein durfte, so that ihm dieser Ausschluss von dem grausamen Werke so weh, als hätte er ein Glück verscherzt.

[412] 442 (5.) Was nun die Einzelnheiten ihres ruchlosen Treibens anlangt, so ist es einfach unmöglich, dieselben genau zu verfolgen. Man kann nur kurz das eine sagen: Nie hat je eine andere Stadt solche entsetzliche Leiden erduldet, und nie war ein Geschlecht von Anbeginn der Welt fruchtbarer an Freveln. 443 Haben sie ja doch zuletzt selbst die hebräische Nation verhöhnt, um den Glauben zu erwecken, dass ihre Ruchlosigkeiten eigentlich gegen fremde Bürger gerichtet gewesen, in welchem Falle sie natürlich auch weniger abscheulich erschienen wären. Damit haben sie aber nur die schon anderweitig bekannte Thatsache zugegeben, dass sie selbst eigentlich nur Sclavengesindel, der Abschaum, die Bastarde und Auswürflinge der Nation waren. 444 Während im Grunde nur sie es waren, welche die Stadt ins Verderben stürzten, haben sie die Römer trotz ihres Widerstrebens dazu gezwungen, durch einen unseligen Sieg mit ihrem Namen dieses Zerstörungswerk zu decken, und sie haben die Brandfackel in des Feindes Hand, als sie noch zauderte, fast mit Gewalt an das Heiligthum herangezerrt. 445 So ist es auch sichere Thatsache, dass diese Menschen, als sie von der Oberstadt aus schon in die Flammen des Tempels hineinsahen, dafür weder einen Schmerz noch eine Thräne gehabt haben, während die Römer davon tief ergriffen waren. Doch wir werden darüber später, wenn von diesen Ereignissen die Rede sein wird, an gehöriger Stelle noch reden.


Eilftes Capitel.
Titus läßt viele Gefangene kreuzigen und verstümmeln. Antiochus Epiphanes von Kommagene. Vollendung der Dämme und Vernichtung derselben durch einen Doppelangriff der Juden.

446 (1.) Die von Titus angeordneten Belagerungsdämme schritten rüstig vorwärts, obwohl die Soldaten durch die Feinde von der Mauer herab großen Schaden litten. Er hatte auch einer Abtheilung Reiter den Befehl gegeben, jene Juden, die sich in die umliegenden Thalschluchten herauswagten, um essbare Kräuter zu sammeln, dabei zu überraschen. 447 Zu den letzteren gehörten auch einige bewaffnete Rebellen, die mit den geraubten Nahrungsmitteln nicht mehr das Auslangen finden konnten, aber zum größten Theil waren es arme Leute aus dem Volke, welche die Furcht für das Schicksal der Ihrigen von einem Uebergang zu den Römern zurückhielt. 448 Denn dass sie in Begleitung von Weib und Kindern die Flucht zu den Römern bewerkstelligen könnten, ohne von den Aufrührern bemerkt zu werden, durften sie keinesfalls hoffen; andererseits konnten sie es auch nicht übers Herz bringen, dieselben den Banditen zurückzulassen, von denen sie ja, wie sie wussten, ganz sicher aus Rache für sie selbst würden hingeschlachtet [413] werden. 449 Da nun der Hunger sie trotz ihrer Furcht aus der Stadt hinaustrieb, so mussten sie natürlich in die Gewalt der dort lauernden Feinde gerathen. Bei der Gefangennahme nun wehrten sie sich nothgedrungen aus Angst vor dem Tode, einmal aber überwältigt, meinten sie, es sei mit dem Bitten ohnehin vorbei. So wurden sie denn gegeißelt und mussten vor dem Tode noch allen Schimpf und alle Martern über sich ergehen lassen, bis sie endlich im Angesichte der Stadtmauer ans Kreuz geschlagen wurden! 450 Obschon dem Titus das Elend dieser Unglücklichen, von denen jeden Tag bei 500, manchmal auch noch mehr, in Gefangenschaft geriethen, zu Herzen gieng, so schien es ihm doch nicht geheuer, Leute, die mit Gewalt hatten überwältigt werden müssen, einfach wieder frei zu lassen; wollte man aber soviele bewachen lassen, so hätte im Grunde genommen die Wachmannschaft selbst eher einer Schar von Gefangenen gleich gesehen. Was Titus aber am meisten bestimmte, nicht einzugreifen, das war die Erwartung, es würden sich doch vielleicht die Juden durch diesen Anblick einschüchtern lassen, weil sie die gleiche Strafe für den Fall weiteren Widerstandes zu gewärtigen hatten. 451 In ihrem Grimm und Hass nagelten übrigens die Soldaten die Gefangenen zum Spotte jeden in einer anderen Stellung ans Kreuz, und ob ihrer Masse wurde der Raum für die Kreuze, die Kreuze aber für die Leiber der Opfer zu wenig.

452 (2.) Weit entfernt aber, dass die eigentlichen Aufrührer wenigstens beim Anblick dieser Marter anderen Sinnes geworden wären, schlugen diese daraus auch noch Capital für die Verhetzung der übrigen Menge. 453 Sie schleppten nämlich die Familien der Ueberläufer und die für die Uebergabe eingenommenen Bürger auf die Stadtmauer und zeigten ihnen von dort, was für Qualen die Römer für jene hätten, die zu ihnen ihre Zuflucht nähmen. Dabei erklärten sie noch bestimmt, dass die an den Kreuzen schwebenden Opfer als hilfeflehende Ueberläufer zu den Römern gekommen wären, während sie factisch nur mit Anwendung von Gewalt waren ergriffen worden. 454 Diese Erklärung hielt viele, die sonst gerne zu den Römern übergelaufen wären, in der Stadt zurück, bis man endlich auf die Wahrheit kam. Einige aber suchten trotzdem gleich auf der Stelle das Weite, einem sicheren Tode durch Henkershand entgegen, wie sie glaubten, weil sie den Tod unter Feindeshand im Vergleich zu den Hungerqualen für eine wahre Erlösung ansahen. 455 Titus ließ auch vielen Aufgegriffenen die Hände abhauen, damit man sie nicht in der Stadt für Ueberläufer halten und der Aussage der Krüppel eher Glauben schenken möchte. In diesem Zustande schickte er sie dann zu Johannes und Simon hinein, um [414] sie in seinem Namen aufzufordern, 456 dass sie doch jetzt endlich einmal inne halten und ihn nicht zwingen sollten, die Stadt vom Erdboden zu vertilgen. „Möchtet ihr doch“, ließ er sagen, „wenigstens die letzten Stunden noch zur Umkehr benützen, um euer eigenes Leben und eure wundervolle Vaterstadt zu retten, wie auch den Tempel in seiner alten Unverletzlichkeit zu erhalten“. 457 Zu gleicher Zeit gieng er aber auch fleißig bei den Dämmen herum und trieb die Arbeiter zur Eile an, um jeden Zweifel zu zerstören, dass er über Kurzem dem Worte die That folgen lassen werde. 458 Diese Aufforderungen hatten indes bei den Juden auf der Mauer nur Lästerungen über den Cäsar selbst und seinen Vater zur Folge. „Wir verachten“, schrien sie, „den Tod, besser ihn wählen, als die Knechtschaft! Wir werden euch aber bis zum letzten Athemzuge zu schaden suchen, so viel wir nur können! Und was sollten sich Leute, die, wie du sagtest, ohnehin dem Tod geweiht sind, noch um ihre Vaterstadt kümmern? Was den Tempel betrifft, so hat Gott noch einen herrlicheren als diesen da, nämlich die ganze Welt. 459 Uebrigens wird auch dieser Tempel hier von dem, der ihn zu seinem Wohnsitz erwählt hat, sicher gerettet werden. An der Seite eines solchen Bundesgenossen spotten auch wir aller deiner Drohungen, die nothwendig leere bleiben müssen; denn das letzte Wort hat immer Gott!“ Diese und ähnliche Reden schleuderten sie unter einem Wust von Schmähungen den Römern zu.

460 (3.) Um diese Zeit traf im römischen Lager Antiochus Epiphanes ein, in dessen Gefolge sich außer zahlreichen anderen Bewaffneten auch eine sogenannte macedonische Truppe zu seiner persönlichen Sicherheit befand. Alle davon hatten das gleiche Alter und waren lauter schlanke, nur erst wenig über die Knabenjahre hinausgekommene junge Leute, die nach macedonischer Art bewaffnet und eingeübt waren, woher sie denn auch ihre Bezeichnung hatten, obschon die meisten darunter nicht gerade geborene Macedonier waren. 461 Der damalige Fürst von Kommagene war bis zu der Stunde, wo auch er die Laune des Schicksals verkosten musste, unter allen Vasallenkönigen der Römer vom Glücke am meisten begünstigt. Doch sollte auch er noch in seinem Greisenalter die Wahrheit des Satzes beleuchten, dass man niemand vor dem Tode glücklich preisen dürfe. 462 Zu unserer Zeit nun, wo derselbe noch auf der Höhe des Glückes stand, kam sein Sohn ins römische Lager und sprach sofort seine Verwunderung darüber aus, warum denn in aller Welt die Römer nicht frischweg gleich auf die Mauer losgiengen. Antiochus war nämlich ein tüchtiger Haudegen und verwegenes Blut, zugleich aber auch von einer so enormen Körperkraft, dass sein kühner Muth nur hie und [415] da sich verhaute. 463 Titus gab mit einem seinen Lächeln zur Antwort: „Das Schlachtfeld steht jedem offen“, worauf Antiochus, wie er war, mit seinen Macedoniern gegen die Mauer stürmte. 464 Während nun der Prinz für seine Person dank seiner Stärke und seiner Kriegserfahrung den Geschossen der Juden keine Blöße gab und ihnen selbst mit seinem Bogen zusetzte, holten sich dagegen die Jünglinge in seiner Begleitung alle, mit wenigen Ausnahmen, nur blutige Köpfe, zumal sie, aus Rücksicht auf ihr früheres Wort auch noch mit zähem Eifer im Kampfe aushalten wollten. 465 Endlich mussten sie sich mit vielen Verwundeten zurückziehen und nahmen dabei wenigstens die Ueberzeugung mit, dass selbst wirkliche Macedonier, wenn sie schon siegen sollten, nothwendig auch ein Alexanderglück haben müssen.

466 (4.) Die Römer brachten ihre am zwölften des Monates Artemisius eröffneten Dammarbeiten mit harter Noth erst am 29. desselben Monates, also nach einer siebzehntägigen ununterbrochenen Anstrengung, zustande. 467 Es waren aber auch vier außergewöhnlich große Dämme, die zu machen waren, und zwar wurde von den ersten zwei, die gegen die Antonia gerichtet waren, einer durch die fünfte Legion in der Mitte des sogenannten Struthionteiches angelegt, der zweite durch die zwölfte Legion in einem Abstand von etwa zwanzig Ellen. 468 Weit entfernt von beiden genannten Legionen, an der Nordseite der Stadt, wo der sogenannte Mandelteich liegt, war der zehnten Legion ihre Arbeit angewiesen, während die fünfzehnte Legion in einer Entfernung von dreißig Ellen beim Hohenpriesterdenkmal mit ihrem Damme eingesetzt hatte. 469 Schon standen die Römer im Begriffe, die Sturmmaschinen auf den Dämmen heranzuschieben, als Johannes, der unterdessen von innen heraus die ganze Strecke von der Antonia bis zum Ende der Wälle unterminiert, die Minengänge mit Stützbalken versetzt und auf diese Weise die Werke der Römer förmlich in die Luft gestellt hatte, mit Pech und Asphalt bestrichenes Holz in die Gänge bringen und Feuer daranlegen ließ. 470 Sowie nun die Stützbalken drunten verkohlt waren, gab der Minengang in seiner ganzen Ausdehnung nach und unter furchtbarem Dröhnen stürzten die Dämme in den Stollen hinein. 471 Eine Staubwolke, gemischt mit dichtem Rauchqualm, war das erste, was aus der Tiefe hervorquoll, da die zusammenbrechenden Dämme das Feuer beinahe erstickt hätten. Als aber die Glut das nachdrückende Holzwerk der Dämme durchfressen hatte, da brachen die hellen Flammen hervor. 472 Das alles geschah so plötzlich, dass die Römer zunächst eines Gedankens überhaupt nicht fähig waren. Dann aber, als sie die Hand des Feindes dahinter merkten, versanken sie in gänzliche Muthlosigkeit, und je sicherer sie [416] jetzt schon auf den Sieg gerechnet hatten, desto gewaltiger musste der Zwischenfall ihre Hoffnung auch für die Zukunft dämpfen. Sie hielten es auch nicht mehr der Mühe wert, das Feuer zu bekämpfen, weil selbst nach dem Gelingen der Löschungsversuche die Dämme ja doch ein- für allemal verschwunden blieben.

473 (5.) Zwei Tage später wurden auch die anderen Dämme und zwar durch die Leute des Simon angegriffen, nachdem die Römer an diesem Punkte schon die Widdermaschinen hatten auffahren lassen und damit bereits die Mauer bearbeiteten. 474 Es waren nun ein gewisser Tephthäus von der galiläischen Stadt Garis und ein ehemaliger königlicher Bedienter der Mariamne, namens Megassarus, wie auch ein Adiabener, Sohn des Nabatäus, der, man weiß nicht warum, den Namen Chagiras, d. h. der Krüppel, führte, diese Männer also waren es, welche zuerst, mit Brandfackeln bewaffnet, auf die Maschinen hinausstürzten. 475 Es gab wohl in der ganzen Stadt Jerusalem keinen Mann mehr, der in diesem Kriege durch seine Waghalsigkeit und gefürchtete Tapferkeit jene Männer noch übertroffen hätte. 476 Denn gerade so, als wären es nur liebe Freunde, und nicht vielmehr ein feindlicher Haufe, sprangen sie ohne Furcht und Zögern unaufhaltsam mitten durch den feindlichen Knäuel, um die Maschinen anzuzünden. 477 Von allen Seiten mit Pfeilen überschüttet und mit Schwertklingen zurückgestoßen, wichen sie nicht aus dem blutigen Getümmel, bis die Widder wirklich Feuer gefangen hatten. 478 Schon züngelten die Flammen hoch empor, als erst die anderen Römer aus dem Lager zur Rettung herbeiliefen. Doch die Juden suchten jede Hilfe von der Mauer aus zu vereiteln und rangen sogar, ganz unbekümmert um Tod und Wunden, Leib an Leib mit den Soldaten, die das Feuer löschen wollten. 479 Die Römer versuchten die Widder, über denen die Schutzdecken schon lichterloh brannten, aus dem Feuer herauszureißen, aber die Juden griffen selbst durch die Flammen noch nach ihnen, packten das fast schon glühend heiße Eisen und ließen den Sturmbock nicht los. Da sprang das Feuer auch auf die Dämme selbst über und zwar mit einer Schnelligkeit, dass jede Hilfe umsonst war. 480 Jetzt, da die Römer mitten im Feuer standen, mussten sie allerdings an der Rettung ihrer Werke verzweifeln und zogen sich gegen das Lager zurück. 481 Die Juden, die unterdessen durch Succurs aus der Stadt immer zahlreicher geworden waren, drängten ihnen nach und stürzten, kühn gemacht durch ihren Sieg, wie Rasende vorwärts, bis sie die Lagerwälle erreichten und nun sogar mit den Lagerwachen den Kampf aufnahmen. 482 Es steht nämlich vor dem römischen Lager abwechselnd immer eine Wacheabtheilung unter [417] Waffen, welche nach dem strengen römischen Kriegsgesetz das Leben verwirkt hat, wenn sie aus was immer für einem Grunde vom Platze weicht. 483 Darum blieben auch diese Männer, die lieber den Tod der Tapferen leiden wollten, als den Henkertod, fest auf ihrem Posten, was zur Folge hatte, dass viele fliehende Römer sich schämten, ihre Kameraden in solches Gedränge gebracht zu haben, und sich wieder gegen den Feind wandten. 484 Man stellte auch auf verschiedenen Punkten der Lagermauern Katapulten auf und suchte damit die aus der Stadt heranstürmende Menge zum Stehen zu bringen, die sich übrigens nicht im geringsten um ihre körperliche Sicherheit oder eine Deckung kümmerte. Denn sie packte vielmehr jeden, wie er ihr gerade in den Wurf kam, und stürzte, wie blind, geradewegs in die Lanzenspitzen, so dass die Juden oft erst, den Spieß im eigenen Leibe, die Feinde mit sich niederrissen, 485 wie denn überhaupt ihr Sieg weit weniger ein Ausfluss ihrer Tüchtigkeit, als ihrer Verwegenheit war, und das Zurückweichen der Römer mehr in der Tollheit der Feinde, als in wirklichen Verlusten seinen Grund hatte.

486 (6.) Mittlerweile war auch Titus von der Antonia herübergeeilt, wohin er sich zu dem Ende entfernt hatte, um für neue Dämme einen geeigneten Platz ausfindig zu machen. Unter vielen Vorwürfen gegen seine Soldaten, dass sie, bereits hinter den feindlichen Mauern stehend, jetzt gar für die eigenen Lagermauern noch fürchten müssten und aus Belagerern auf einmal Belagerte würden, nachdem sie mit eigener Hand sozusagen den Juden die Kerkerthüre aufgemacht und den Feind sich selbst auf den Leib gehetzt hätten, machte er mit seinen Garden eine Schwenkung und griff in Person die Feinde in der Flanke an. 487 Obwohl nun die Juden ohnehin in der Front zu thun hatten, so nahmen sie es doch auch mit Titus auf und blieben unerschüttert. Es war ein furchtbares Gewühl. Das Auge sah nichts mehr als Staub, auch das Ohr vernahm nur ein wirres Getöse, so dass man weder hüben noch drüben mehr Feind oder Freund erkennen konnte. 488 Es war jetzt nicht so sehr das Vertrauen auf die eigene Kraft, was die Juden noch aufrecht hielt, als vielmehr die Verzweiflung an ihrer Rettung. Die Sehnen der Römer aber stählte der Blick auf ihren Ruhm, auf die römischen Waffen und den Cäsar an ihrer Spitze in einer Weise, 489 dass sie wohl zuletzt, wie mich bedünken will, in ihrer furchtbaren Kampfeswuth die ganze feindliche Masse vernichtet haben würden, wenn die Juden nicht durch einen raschen Rückzug in die Stadt noch dieser Wendung des Gefechtes zuvorgekommen wären. 490 Doch blieben die Dämme ruiniert, und musste der Gedanke, ein so langwieriges Werk im Verlaufe einer einzigen Stunde verloren zu [418] haben, die Römer muthlos machen. Viele gaben überhaupt die Hoffnung auf, dass die Stadt mit den damals bekannten Belagerungsmaschinen je erobert werden könnte.


Zwölftes Capitel.
Der Kriegsrath des Titus beschließt die Umwallung der Stadt. Die Hungersnoth steigt immer höher. Die Leichen werden über die Mauern geworfen. Titus lässt die Dämme an der Antonia erneuern.

491 (1.) Nun hielt Titus mit seinen Generälen Kriegsrath. Die Heißblütigeren darunter meinten, man möge einmal die gesammte Heeresmacht auf die Stadt werfen und die Mauer kurzweg im Sturme zu nehmen versuchen; 492 denn bis zur Stunde hätten nur immer einzelne Abtheilungen in den Kampf eingegriffen: würden aber die Römer alle auf einmal der Stadt zu Leibe rücken, so könnten die Juden nicht einmal den ersten Vorstoß aushalten, da sie schon unter der Wolke von Geschossen begraben werden müssten. 493 Die Vorsichtigeren dagegen riethen theils zur Wiederherstellung der Dämme, theils schlugen sie vor, man möge ohne Dämme einfach vor der Stadt sitzen bleiben und sich darauf beschränken, auf jene, die aus der Stadt herauskämen, und auf die Zufuhr von Lebensmitteln ein scharfes Auge zu haben, kurz, man solle die Bezwingung der Stadt dem Hunger überlassen, ohne mit den Feinden selbst handgemein zu werden. 494 Mit der Verzweiflung sei ja kein Kampf möglich, da die Juden ohnehin nur den Wunsch hätten, unter dem Schwerte zu fallen, und überdies eine noch schrecklichere Qual, falls sie vom Schwerte verschont blieben, vor sich sähen. 495 Die Meinung des Titus gieng dahin, dass es den Römern doch nicht gut anstehe, mit einer so ungeheuren Heeresmacht völlig unthätig zu bleiben, dass aber andererseits auch der Kampf mit solchen Leuten, die sich gegenseitig noch aufzehren würden, keinen Zweck habe. 496 Das Aufwerfen von Dämmen, äußerte er sich, sei wegen Mangels an Holz schwer ausführbar, das Bewachen der Ausgänge aber eine noch schwierigere Sache, da es bei dem großen Umfange und der ungünstigen Terraingestaltung der Stadt nicht leicht angehe, sie durch das Heer vollständig einschließen zu lassen, was übrigens auch bei einem Ausfalle von Seite der Juden verhängnisvoll werden könnte. 497 Würde man aber bloß die auffälligeren Wege überwachen lassen, so würden die Juden sicher in ihrer Bedrängnis und bei ihrer Ortskenntnis Schleichwege ausfindig machen, auf denen dann die Lebensmittel ganz und gar unbemerkt hineingeschmuggelt würden, was natürlich für die Belagerung eine noch größere Verzögerung bedeuten müsste. 498 Nun besorge er ohnehin schon, es möchte die Länge [419] der aufgewendeten Zeit ihm den Glanz seiner Waffenthat verkümmern, da man mit der Zeit schließlich Alles zu Ende bringen könne, während der Ruhm auch Schnelligkeit fordere. 499 Wolle man nun sowohl rasch als auch sicher zu Werke gehen, so müsste man wenigstens um die ganze Stadt eine Mauer ziehen, weil man nur auf diese Weise alle Ausgänge abschneiden und das erreichen könnte, dass die Juden entweder in heller Verzweiflung an einer Hilfe die Stadt selbst übergeben oder, vom Hunger ausgemergelt, leicht bewältigt würden. 500 Er beabsichtige im Uebrigen ja gar nicht, sich völlig unthätig zu verhalten, sondern werde später auch auf die Errichtung von Dämmen wieder Bedacht nehmen, weil dann die Juden infolge ihrer wachsenden Entkräftigung die Römer weniger stören könnten. 501 Sollte aber einem dieses Unterfangen zu gewaltig und schwer durchführbar scheinen, so dürfe er nicht übersehen, dass es unter der Würde der Römer sei, sich mit Spielereien abzugeben, und dass nicht leicht Jemand sonder Müh’ etwas Großes zuwege bringen könnte, es wäre denn Gott selbst.

502 (2.) Diese Vorschläge wurden von den Generälen beifällig aufgenommen, und sofort ergieng der Befehl, die Streitkräfte auf die einzelnen Arbeitsstrecken zu vertheilen. Wie eine höhere Begeisterung kam es nun über die Soldaten, und auf die Vertheilung der Mauerstrecken hin entstand ein wahrer Wettstreit in der Arbeit, nicht bloß zwischen den einzelnen Legionen, sondern selbst unter allen ihren Abtheilungen. 503 Der Gemeine trachtete das Auge des Decurio, dieser das Auge des Hauptmanns, und der Hauptmann das des Obristen auf sich zu ziehen, während der Ehrgeiz der Obristen auf die Anerkennung von Seite der Generäle zielte, und der Wettkampf der Generäle untereinander wieder den Cäsar selbst zum Preisrichter hatte, der da jeden Tag öfter die Strecke abgieng, um das Werk zu inspirieren. 504 Von dem Assyrerlager, wo sein eigenes Hauptquartier war, zog er nun die Mauer gegen die untere Neustadt und von da über den Kedronbach auf den Oelberg. 505 Dann gab er der Mauer eine Wendung nach Süden und umzog den Berg bis zum sogenannten Taubenschlagfelsen, wie auch den folgenden Hügel, welcher an die Schlucht bei der Siloahquelle stößt. Von da ließ er die Mauer wieder westlich verlaufen und zwar zunächst in die genannte Quellschlucht hinab, 506 führte sie dann wieder aufwärts, bei dem Grabmal des Hohenpriesters Ananus vorüber und umsäumte damit den Berg, auf dem früher Pompejus sein Lager aufgeschlagen hatte, worauf er den Mauerlauf nach Norden richtete. 507 Nachdem er damit zu einem Dorfe, namens Erbsenhausen, gelangt war und hinter demselben das Herodesdenkmal umgangen hatte, gab er ihr nach Osten hin wieder den Anschluss an [420] sein Hauptquartier, von wo er auch ausgegangen war. 508 Der ganzen Mauerlänge fehlte zu vierzig Stadien nur ein einziges Stadium. An ihre Außenseite wurden noch dreizehn Castelle angebaut, deren gesammter Umfang allein wieder die Zahl von zehn Stadien ergab. 509 Und diese ganze Mauer ward innerhalb dreier Tage gebaut, eine Schnelligkeit, die bei dem Umstand, dass auch ihre Güte einer Arbeit von Monaten gleichkam, geradezu fabelhaft erscheint. 510 Sobald die Umwallung der Stadt vollendet war, und die Castelle vom römischen Militär besetzt waren, übernahm Titus persönlich die erste Nachtwache, um auf seinem Rundgange von der Mauer herab die Stadt zu beobachten, die zweite hatte Alexander zu nehmen, während um die dritte die Legaten losen mussten. 511 Außerdem musste auch die Besatzung der Castelle ihre Ruhestunden durch das Los vertheilen und schritt während der ganzen Nacht von Thurm zu Thurm ihre betreffende Runde ab.

512 (3.) Mit der Absperrung aller Auswege war den Juden auch jede Hoffnung auf Rettung abgeschnitten, und die immer tiefer greifende Hungersnoth frass jetzt ganze Häuser und Familien weg. 513 Voll waren die Dächer von Frauen und kleinen Kindern, die der Auflösung entgegengiengen, voll die Straßen von verschmachteten Greisen. Gleich blutlosen Schatten drängten sich Knaben und Jünglinge, bis zur Unförmlichkeit aufgedunsen, auf den Plätzen zusammen und sanken zu Boden, wo einen jeden eben sein letztes Schicksal traf. 514 Einen Verstorbenen zu begraben, waren die Verwandten oft nicht mehr imstande vor Erschöpfung, und jene, die noch dazu die Kraft gehabt hätten, zauderten wegen der Menge von Leichen und beim Gedanken an die Unsicherheit der eigenen Kraft. Denn oft geschah es, dass diese Todtengräber noch auf dem frischen Grabe selbst sterbend zusammenbrachen. Viele wankten, noch ehe das Verhängnis an sie herantrat, zu ihrem eigenen Grabe. 515 Keine Todtenklage, kein Jammerlaut erhob sich bei diesen Trauerscenen, da der Hunger alle anderen Regungen niederhielt. Vertrockneten Auges und mit grinsend verzogenem Munde starrten sie, die selbst fast mit dem Tode schon rangen, auf die anderen, die ihnen zur ewigen Ruhe vorausgegangen. Tiefes Schweigen umfieng die Stadt, immer dichter umzogen sie die schwarzen Schatten des Todes. Aber noch grauenhafter war das Wüthen der Banditen, 516 die sogar als Leichenräuber in die Häuser eindrangen, die Todten ausplünderten und, nachdem sie ihnen selbst die Hüllen heruntergerissen, unter rohem Gelächter sich wieder entfernten. An den Leichnamen probierten sie auch die Schneide ihrer Schwerter, ja einigen Opfern des Hungers schnitten sie sogar noch ins lebendige Fleisch, [421] bloß um die Schärfe ihrer Klingen zu prüfen. 517 Wenn aber manche sie flehentlich baten, ihnen doch mit derselben Hand und Klinge barmherzig den Rest zu geben, so überließen sie dieselben aus Uebermuth sicher dem Hunger zur Beute, und wenn der Sterbende seine brechenden Augen zuletzt noch auf dem Tempel ruhen lassen wollte, so musste er gerade dort die Aufrührer wieder schauen, die trotz ihrer Frevel ihn überlebten. 518 Während die Gewalthaber in der ersten Zeit die Leichen auf Kosten der Stadt begraben ließen, warf man später, als man damit nicht mehr das Auslangen fand, die Leichen einfach von den Mauern in die Schluchten hinab.

519 (4.) Als nun Titus auf seiner Runde diese Thalschluchten mit Todten angefüllt und die tiefen Lachen von Blutwasser sehen musste, die sich unter den modernden Leichen gebildet hatten, da hob er seufzend die Hände zum Himmel und rief Gott zum Zeugen an, dass er an all dem keine Schuld habe. 520 Während es nun in der Stadt so entsetzlich aussah, herrschte bei den Römern froher Muth, da sie nunmehr von den Ausfällen der Rebellen, die jetzt selbst auch den Zahn der Verzweiflung und des Hungers zu spüren bekamen, verschont waren und andererseits auch Getreide und andere Lebensmittel, die ihnen aus Syrien und den umliegenden Provinzen zukamen, in Hülle und Fülle besaßen. 521 Viele Römer stellten sich auch in die Nähe der Mauer und zeigten die große Menge ihrer Esswaren her, um durch den Anblick des bei ihnen herrschenden Ueberflusses den Heißhunger der Feinde erst recht zu entflammen. 522 Da aber das entsetzliche Elend ohne jeden Eindruck auf die Rebellen blieb, so machte sich Titus aus Erbarmen mit den Trümmern des Volkes und in der Absicht, wenigstens den Rest noch den Klauen derselben zu entreißen, aufs neue an die Erbauung von Dämmen, obschon er sich das Holz dazu nur mit großer Mühe verschaffen konnte. 523 Das ganze Holz in der Umgebung der Stadt war bereits für die früheren Dammarbeiten geschlagen worden, und so mussten denn die Soldaten aus einer Entfernung von neunzig Stadien neues Bauholz zusammenbringen, womit sie zunächst nur bei der Antonia an vier Stellen Dämme von noch weit größeren Dimensionen, wie die früheren, aufwarfen. 524 Ueberall war der Cäsar unter den arbeitenden Legionen zu sehen und spornte sie zum Fleiße an, um so den Banditen immer klarer zu machen, dass sie geliefert seien. 525 Aber in denen war ja, und zwar in ihnen ganz allein, jedes Reuegefühl über ihre Unthaten völlig erstorben. Seele und Leib schienen bei ihnen wie voneinander getrennt, und sie waren damit in einer Weise thätig, wie man mit einem fremden Stück hantieren würde. 526 Keine milde Regung berührte ihre Seele, wie auch kein Schmerz [422] ihren Leib: waren es doch dieselben Leute, die sogar die Leichen der Bürger noch wie Hunde zerrissen und die Gefängnisse noch mit halbverhungerten Leuten vollpfropften.


Dreizehntes Capitel.
Simon lässt den Matthias mit seinen Söhnen hinrichten. Andere Executionen. Misslungener Verrath des Judas. Josephus in Gefahr. Entsetzliches Schicksal der Ueberläufer, trotz Einschreitens des Titus. Die Zeloten vergreifen sich an den heiligen Vorräthen. Zahl der Todten in Jerusalem.

527 (1.) Unter anderem ersparte Simon nicht einmal dem Matthias, durch den er doch in den Besitz der Stadt gekommen war, eine martervolle Hinrichtung. Letzterer war der Sohn des Boëthus, aus hohepriesterlichem Geschlechte, und besaß, wie nur einer, das Vertrauen und die Achtung des Volkes. 528 Er hatte zur Zeit, als die Zeloten, bereits mit Johannes im Bunde, das Volk unter ihr tyrannisches Joch beugten, die Bürger bewogen, den Simon als Bundesgenossen in die Stadt hereinzulassen, und zwar ohne ihn an irgend eine Vereinbarung zu binden oder etwas Schlimmes von ihm zu gewärtigen. 529 Sobald sich jedoch Simon nach seinem Einzuge der Stadt versichert hatte, so betrachtete er auch den ihm so wohlwollenden Rathgeber genau so, wie die anderen Bürger, als seinen Feind, weil nach seiner Meinung beim Rathe des Matthias mehr die dumme Einfalt, als das Wohlwollen mitgespielt hatte. 530 Er ließ ihn nun um diese Zeit verhaften, unter die Anklage, dass er ein Römerfreund sei, stellen und verurtheilte ihn, ohne eine Vertheidigung zuzulassen, mit dreien seiner Söhne zum Tode. Der vierte Sohn hatte sich noch rechtzeitig zu Titus flüchten können. Matthias bat noch flehentlich, dass man ihn wenigstens vor seinen Kindern hinrichten möchte; es war das die einzige Gnade, die er sich für die Aufnahme des Simon in die Stadt von ihm ausbat. Und Simon befahl – mit seiner Hinrichtung bis zuletzt zu warten. 531 So wurden nun denn vor den Augen des Vaters zuerst die Kinder hingemordet, und dann über ihren Leibern der Vater geschlachtet. Im Auftrage des Simon hatte sein grausamster Scherge Ananus, Sohn des Bamadus, die Marterstätte gerade dem römischen Lager gegenüber wählen müssen, um den Matthias noch mit bitterem Spotte zu fragen, ob ihm denn wohl die Römer, zu denen er hätte übergehen wollen, zu Hilfe kommen würden. 532 Selbst die Beerdigung versagte Simon den Leichen. Nach ihnen kam ein Priester, namens Ananias, ein Sohn des Masambalus, aus bekanntem Geschlechte, und der Rathsschreiber Aristeus, gebürtig von Emmaus, mit noch fünfzehn anderen erlauchten Männern der [423] Volkspartei ans Messer. 533 Auch den Vater des Josephus hatten die Schreckensmänner in den Kerker geworfen und ließen ihn streng bewachen. Eine öffentliche Kundmachung verbot sogar den Stadtbewohnern allen Verkehr untereinander, wie auch jede Ansammlung, weil man überall Verrath witterte. Selbst bloße Gruppen von Trauernden wurden ohne Process sofort niedergehauen.

534 (2.) Unter den Führern des Simon befand sich auch ein gewisser Judas, Sohn des Judas, dem der Tyrann die Bewachung eines Thurmes anvertraut hatte. War es nun vielleicht das Mitleid mit den so grausam geopferten oder noch mehr die Sorge um die eigene Sicherheit, was ihn antrieb, kurz, er ließ angesichts dieser Greuelthaten die zehn ihm ergebensten Krieger seines Commandos zu sich kommen und sprach zu ihnen: 535 „Wie lange wollen wir denn noch unseren Jammer fortschleppen? Oder was haben wir denn überhaupt für Aussichten auf Rettung, wenn wir einem solchen Schurken treu bleiben? Wüthet nicht schon der Hunger in unseren Reihen? 536 Sind nicht die Römer schon mit einem Fuße in der Stadt herinnen? Und müssen wir denn nicht bei der Treulosigkeit, die Simon sogar gegen seine Wohlthäter bewiesen, uns selbst schon von seiner Seite auf das Schlimmste gefasst machen, während der von den Römern versprochene Pardon auch ganz sicher gehalten wird. 537 Wohlan, so lasset uns durch die Uebergabe der Festungsmauer mit dem eigenen Leben auch unsere Vaterstadt retten! Dem Simon aber geschieht kein Unrecht, wenn er, der ohnehin sich selbst schon aufgegeben hat, ein wenig früher zur Strafe gezogen wird.“ 538 Da die zehn damit einverstanden waren, so schickte Judas beim Morgengrauen die übrigen Leute unter seinem Befehle den einen dahin, den anderen dorthin, damit vom ganzen Plane ja nichts aufkommen könnte. Um die dritte Stunde rief er dann selbst von seinem Thurme herab nach den Römern. 539 Doch von den letzteren waren die einen zu stolz, um auf den Juden zu hören, andere glaubten ihm nicht, während die Mehrzahl sich schon darum bedachte, weil sie über ein Kleines die Stadt auch ohne ein solches Wagnis einzunehmen hoffte. 540 Bis aber endlich Titus sich anschickte, mit Bewaffneten an die Mauer heranzukommen, hatte schon Simon davon Wind bekommen. In aller Eile bemächtigte er sich noch früh genug des Thurmes, tödtete im Angesichte der Römer die überwältigte Mannschaft und schleuderte die schrecklich entstellten Leichen vorn über die Mauer hinab.

541 (3.) Um diese Zeit wurde auch Josephus auf einem seiner Rundgänge, die er noch immer zu dem Zwecke anstellte, die Einwohner zur Uebergabe zu bewegen, von einem Steine am Kopfe getroffen [424] und sank gleich ohnmächtig zu Boden. Seinem Sturz folgte sofort auch ein Ausfall der Juden, die ihn unfehlbar in die Stadt hineingeschleift haben würden, wenn nicht der Cäsar schleunigst die nöthigen Leute zu seiner Deckung hingeschickt hätte. 542 Während sich nun diese den Juden entgegenwerfen, trägt man den Josephus, der vom ganzen Vorfall nur mehr ein dumpfes Getöse vernimmt, vom Platze. Die Rebellen aber sandten ihm, in der Ueberzeugung, dass sie dem Mann, auf den sie es am allermeisten abgesehen hatten, endlich einmal den Garaus gemacht hätten, ein Freudengeheul nach. 543 Dieselbe Kunde durchlief auch die Stadt und rief unter der noch übrig gebliebenen Bürgerschaft große Muthlosigkeit hervor, weil man ja den Tod eines Mannes für sicher hielt, auf den bis jetzt noch alle Ueberläufer ihre Hoffnung gesetzt hatten. 544 Als die Mutter des Josephus im Gefängnis die Nachricht von seinem Tode vernahm, sprach sie zu den Wächtern: „Das habe ich schon seit dem Falle von Jotapata gewusst; denn wenn er auch das leibliche Leben noch haben würde, so hätte ich doch daran kein Interesse mehr“. 545 Sobald sie aber mit ihren Dienerinnen allein war, schüttete sie vor ihnen ihren Jammer mit der Klage aus: „Das also ist das Ende meines Muttersegens, dass ich nicht einmal den Sohn begraben darf, von dem ich selbst begraben zu werden wünschte!“ 546 Aber freilich sollte diese unbegründete Nachricht nicht lange ihr Mutterherz martern und auch nicht lange den Banditen Vergnügen bereiten. Rasch hatte sich nämlich Josephus von seiner Wunde erholt und zeigte sich bald darauf wieder den Juden mit der lauten Drohung, sie würden ihm über Kurzem für die Verletzung büßen müssen. An das Volk aber richtete er aufs neue seine Aufforderungen, 547 sich auf Gnade zu ergeben, und bei seinem Anblick schöpfte auch das Volk wieder Muth, während die Aufrührer von Schrecken befallen wurden.

548 (4.) Manche Ueberläufer sprangen jetzt, da sie sich nicht anders helfen konnten, von der Stadtmauer herab. Andere gaben sich den Schein, als ob sie mit Wurfsteinen durch die Thore hinaus den Römern zu Leibe rücken wollten, und flohen dann ins römische Lager. Doch verfolgte sie dort ein Missgeschick, das an Härte noch das Elend der Zurückgebliebenen übertraf, indem gerade die Sättigung, die ihnen bei den Römern zutheil ward, eine noch furchtbarere Zerstörungskraft an ihnen offenbarte, als sie der drinnen herrschende Hunger besaß. 549 Sie kamen nämlich infolge der ausgestandenen Noth ganz aufgelaufen und wie wassersüchtig ins Lager. Wenn sie dann nun ihren ausgemergelten Leib auf einmal mit Speisen anschoppten, barsten ihre Eingeweide, während andere, die gewitzigter waren, ihre Hungergier regelten und ihrem Magen, der vor lauter Entbehrung nichts [425] mehr vertragen konnte, die Nahrung nur kleinweis beibrachten. 550 Aber glücklich einer Gefahr entgangen, wurden die letzteren von einem anderen Unheil ereilt. Im Lager der Syrer überraschte man nämlich einen von den Ueberläufern in dem Augenblicke, wie er eben aus seinen Excrementen Goldstücke heraussuchte. Wie wir schon früher gesagt haben, verschluckten die Ausreißer, weil die Rebellen jeden genau durchsuchten, ihre Goldmünzen, von denen damals eine große Menge in der Stadt circulierte, so dass man ein solches Goldstück, das vordem 25 attische Drachmen (Attiken) galt, jetzt um 12 einwechseln konnte. 551 Da man nun aber einmal bei einem wenigstens auf den Kniff gekommen war, so drang das Gerücht von einem Lager zum andern, dass die Ueberläufer bei ihrer Ankunft den Leib voll Gold hätten, und infolgedessen wurden von da an den Schutzflehenden vom Schwarm der Araber und von den Syrern der Leib aufgeschnitten und der Magen durchsucht, 552 nach meiner Meinung wohl noch das grauenhafteste Schicksal, das die Juden ereilt hat: wurde doch in einer einzigen Nacht bei 2000 Menschen der Bauch aufgeschlitzt!

553 (5.) Als dem Titus diese Ruchlosigkeit zu Ohren kam, fehlte nicht viel, dass er die Schuldigen durch seine Reiterei hätte sofort in die Mitte nehmen und niederschießen lassen. Aber es waren zu viele in die Greuelthat verwickelt, so dass die Zahl derer, die man hätte hinrichten müssen, die Menge der Hingeschlachteten um ein Vielfaches überstieg. 554 So beschränkte sich denn Titus darauf, die Befehlshaber der Hilfstruppen, wie auch die der Legionen, unter denen ebenfalls einige Soldaten in diese Anklage einbezogen worden waren, zusammenzurufen, um beiden Theilen des Heeres eine Strafrede zu halten. 555 Er sei empört, ließ er die Römer an, wie sogar einige unter seinem unmittelbaren Befehle stehende Soldaten um eines zweifelhaften Gewinnes willen sich zu einer solchen Schandthat herbeilassen und so wenig die Ehre ihrer Waffen, die doch selbst mit Silber und Gold ausgelegt wären, respectieren konnten! 556 Dann wandte er sich an die Araber und Syrer mit der zornigen Frage, wie sie sich denn fürs erste unterstehen könnten, in einem Kriege, den sie bloß unter dem Commando der Römer als Bundesgenossen mitmachten, ihren Leidenschaften in einer Weise zu fröhnen, als wären sie selbst die Herren, und wie sie dann noch ihre grausame Mordlust und ihren Judenhass unter dem Namen der Römer verstecken könnten, indem man wirklich bereits einige Römer mit dem schändlichen Gerüchte in Verbindung bringe. 557 Zuletzt drohte Titus den Arabern und den Syrern, jeden zum Tode führen zu lassen, der noch einmal bei einer solchen Unthat betroffen würde. Die Legionssoldaten hingegen erhielten von ihm den Befehl, [426] die verdächtigen Kameraden auszuforschen und zu ihm zu bringen. 558 Aber, wie gerade unser Fall wieder zeigt, setzt sich die Habsucht über jede Strafe hinweg, da eine gar wilde Gier nach Gewinn im Herzen des Menschen lodert, und keine Leidenschaft soviel wagt, wie eben die Habgier, 559 während doch sonst die anderen ein Maß und Ziel haben und sich wenigstens von der Furcht beherrschen lassen. Im Grunde genommen war es jedoch derselbe Gott, der das ganze Volk zum Untergang verurtheilt hatte, welcher ihnen auch jeden Rettungsweg in einen Weg des Verderbens verkehrte. 560 Denn was der Cäsar unter strenger Strafe untersagt hatte, das wagte man wenigstens heimlich noch gegen die Ueberläufer, indem jetzt die Barbaren den aus der Stadt fliehenden Juden, ehe sie völlig in den Gesichtskreis des Lagers kamen, entgegenliefen und sie ums Leben brachten. Dann sahen sie sich vorsichtig um, ob sie nicht von einem Römer beobachtet würden, und schlitzten dem Getödteten den Leib auf, um den blutbefleckten Gewinn aus den Eingeweiden herauszureißen. 561 Nur in wenigen fand man etwas; die Mehrzahl wurde ganz nutzlos um einer trügerischen Hoffnung willen hingeschlachtet. Dieses traurige Schicksal bestimmte natürlich viele Ueberläufer zum Bleiben.

562 (6.) Als die Vorräthe, die Johannes dem Volke abgenommen hatte, ausgiengen, warf er sich auf den Tempelraub. Unter anderen ließ er viele Weihegeschenke aus dem Heiligthum, wie auch viele zum Gottesdienst erforderliche Gefäße, z. B. Mischkrüge, Teller und Tische einschmelzen und legte seine Hand sogar auf die von Augustus und seiner Gemahlin gewidmeten Weingefäße. 563 Also, die römischen Kaiser ehrten jederzeit den Tempel und bereicherten ihn mit Schmuckgegenständen, und der Jude von damals riss selbst die von anderen Nationen gewidmeten Weihegaben herunter, 564 indem er zu seinen Spießgesellen noch zu sagen sich erfrechte, man dürfe ohne Scheu für Gott auch Gottes Eigenthum verwenden, und die Vertheidiger des Tempels müssten auch vom Tempel aus erhalten werden. 565 Deshalb leerte er auch den heiligen Wein und das Oel aus, welche die Priester für die Besprengung der Brandopfer, und zwar im inneren Raume des Heiligthums, noch aufbewahrt hatten, und vertheilte den Vorrath unter seine Schar, von der nun ein jeder ohne das mindeste Grauen mehr als ein Hin an seinem Leibe verschmierte und davon auch trank. 566 Ich möchte hier nicht länger mit einem Bekenntnis zurückhalten, das mir das gepresste Herz auf die Lippen drängt: Ich glaube nämlich, dass, wenn die Römer noch länger gezaudert hätten, die Frevler zu zerschmettern, die Erde sich hätte aufthun müssen, um die Stadt zu verschlingen, oder dass eine Sündflut sie hätte austränken oder die Blitze [427] von Sodom auch Jerusalem hätten treffen müssen. Denn Jerusalems Hügel trugen damals ein noch weit gottloseres Geschlecht, als das gewesen, über welches jene entsetzlichen Strafen verhängt worden sind, und eben dieses Geschlecht war es auch, dessen Wahnwitz das ganze Volk in sein Verderben mit hinein gerissen hat.

567 (7.) Was soll ich das ganze Jammerbild noch in seinen Einzelnheiten ausmalen? Erzählte doch der in jenen Tagen zu den Römern übergelaufene Mannäus, Sohn des Lazarus, dem Titus, dass von dem Tage an, da er sein Lager vor der Stadt bezogen, d. i. vom 14. des Monates Xanthikus an bis zum Neumond des Panemus bei dem Thore, das ihm, dem Mannäus, anvertraut gewesen, allein 115.880 Leichen hinausgeschafft worden seien. 568 Und das war nur die Zahl der Armenleichen! Denn Mannäus hatte sich nicht etwa zu Fleiß aufgestellt, um alle Leichen zu zählen, sondern nur solche gezählt, die er schon wegen der Auszahlung der Beerdigungskosten aus den öffentlichen Geldern genau zählen musste. Für das Begräbnis der anderen mussten ja die Verwandten sorgen. Diese Bestattung bestand übrigens nur darin, dass die Träger die Leiche zur Stadt hinausschafften und einfach irgendwo hinwarfen. 569 Dem Mannäus folgten viele angesehene Flüchtlinge, welche die Angabe machten, dass die Zahl der Armenleichen, die bei sämmtlichen Thoren vor die Stadt hinausgeworfen worden seien, alles in allem 600.000 betrage, ungerechnet die Menge der anderen Leichen, die man überhaupt nicht mehr constatieren könne. 570 Als man dann, erzählten sie weiter, vor Schwäche die verstorbenen Armen nicht mehr hinausschaffen konnte, hätte man angefangen, ihre Leichen in den geräumigsten Häusern, die später verschlossen wurden, aufzuhäufen. 571 Ein einziges Maß Weizen wäre um ein Talent verkauft worden, und als hierauf die Umwallung der Stadt selbst das Sammeln von Kräutern fürder unmöglich machte, wären manche in eine solche Bedrängnis gerathen, dass sie die Abzugscanäle und alten Rindermist durchwühlen mussten, um die erbärmlichsten Abfälle daraus zum Essen zu bekommen. Was man früher ohne Ekel nicht einmal habe ansehen können, das müsse man jetzt sogar zum Munde führen. 572 Die bloße Schilderung dieser Noth erweckte selbst bei den Römern Mitleid, aber die Aufrührer wurden nicht einmal durch den unmittelbaren Anblick derselben erschüttert, sondern sie ließen alles an sich herankommen, geblendet vom Verhängnis, das bereits über der Stadt und ihrem eigenen Nacken schwebte.

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