Textdaten
>>>
Autor: Wilhelmine Heimburg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine unbedeutende Frau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1 bis 21, S. 1–6, 21–26,
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Nummern 1–21
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[1]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.


Und nun, alter Bursche, will ich Dir alle Deine Fragen beantworten, nachdem ich meiner Freude, von Dir nach fünf Jahren endlich wieder ein Lebenszeichen zu besitzen, auf zwei langen eng beschriebenen Seiten Ausdruck gegeben habe. Noch einmal, Du glaubst nicht, welch ein Jubel Dein Brief in mir hervorrief; doch das sagte ich ja schon.

Also, Du fragst zuerst: ‚Was ist aus Dir geworden?‘ - Lieber Wolf, ich habe ein neues Leben angefangen wie Du; ob aber ein besseres? Urtheile selbst!

Als Du mir damals in Berlin zum letzten Male die Hand drücktest, ehe Du in den Wagen dritter Klasse des Hamburger Zuges sprangst, der Dich dem nach Brasilien bestimmten Dampfboot entgegenführte, da blieb ich noch eine ganze Weile, nachdem der Zug längst verschwunden war, dort stehen mit dem Bewußtsein, daß ich am besten gethan hätte, mitzugehen, denn im lieben Vaterlande hatte ich eigentlich nichts mehr zu suchen. Du weißt ja - keinen Pfennig, oder doch nur noch recht wenig Geld in der Tasche, meine Bilder unverkauft, und dazu einen Vater, der mir vor kurzem zugeschworen hatte, er könne mir keine Unterstützung mehr gewähren aus dem einfachen Grunde, weil er seit seiner Pensionirung mit Frau und Tochter selbst am Hungertuche nage.

Warum ging ich eigentlich nicht mit Dir? Ich weiß es nicht mehr. Kurz und gut, ich blieb im Lande und fuhr am andern Tage mit meiner gesammten Habe, d. h. mit einigen Thalern, die mir ein Freund geliehen – Andreas, weißt Du - und mit meinem Malgeräth in den Harz. Du kennst das einsame Forsthaus in der Brockengegend, kennst die niedrige Stube über der Küche und die rothhaarige junge Förstersfrau mit dem blendend weißen Teint und den eigenthümlich rothbraunen Augen, ein schönes Weib. Erinnerst Du Dich noch, wie der launige Gesell, der Förster, uns an einem Sturmabend erzählte, sie sei eigentlich eine Hexe, die ihm am letzten April just um Mitternacht durch den Schlot in seine einsame Küche huschte, sie habe auf ihrem Besenstiel hoch oben in den Lüften das Gleichgewicht verloren und auf diese Weise einen anständigen Mann bekommen. Ich höre immer noch ihr Lachen dazu; eine Hexe war sie wirklich. Nun, also dort wollte ich malen wie schon manches Iahr und mein Schicksal abwarten; es mußte ja doch ein Bild verkauft werden in München oder Berlin.

Erlasse mir die Beschreibung jener Zeiten. Im Juni ging ich hinauf, der Herbst fand mich noch dort - ohne Mittel. Ich hatte nicht Lust, dem Rathe meines Vaters zu folgen, der mir vorschlug, Dekorationsmaler oder Tüncher zu werden, und eines Tages ging ich in schwer zu [2] beschreibender Seelenstimmung ziel- und planlos im Walde umher, hatte mir ein Gewehr des Försters geborgt, und als ich an einer, wie ich glaubte, sehr einsamen Stelle war, setzte ich den Lauf gegen die Brust und drückte ab. Ich schoß mich – nicht todt, wie ich gehofft hatte, aber doch recht krank.

Nun kommt die bekannte Geschichte von Bewußtlosigkeit, von Wiedererwachen in einer traulichen Stube, von einer holdseligen Pflegerin am Bette, in die man sich von rechtswegen verliebt und die man dann später heirathet. Und bis auf das Verlieben kam es auch wirklich so. Als ich nach langem Siechthum zum ersten Male – es war April geworden – in den Garten des Herrn Hüttenbesitzers Frey hinunter ging, fragte ich Fräulein Anna Frey oder ‚Antje‘, wie sie genannt wurde – die Mutter ist Holländerin von Geburt – ob sie mich armen Kerl wohl nehmen würde, und sie that es ohne Besinnen. Was sie dazu bewogen hat, ist mir bis heute noch nicht ganz klar geworden. Ich war dazumal, weiß Gott, kein irgend wie verlockender Freier, von Liebe habe ich ihr auch nichts vorgeredet, und dennoch sagte sie Ja, trotzdem beide Eltern unverkennbar lange Gesichter zu der Wahl ihres Kindes machten.

Wir waren kaum verheirathet, noch auf der Hochzeitsreise, als ihr Vater starb. Sie wäre nun am liebsten bei ihrer Mutter auf dem einsamen Hüttenwerk geblieben, wo Tag und Nacht die Hämmer pochten; sie meinte, die Mutter würde uns dort gern eine lauschige Villa in den Wald hinein bauen, von wo Antje in vier bis fünf Minuten das Vaterhaus erreichen könnte. Selbstverständlich wollte ich das nicht – es graute mir vor dieser schwiegermütterlichen Idylle, und so ließ sie denn die stattliche Mutter allein in der Heimath, denn diese hatte sofort nach dem Tode des Gemahls mit kräftiger Hand die Zügel des großen Geschäftes ergriffen und leitete dasselbe ebenso gewandt und sicher wie ihr Seliger. Antje aber zog mit mir aus, ein neues Heim zu suchen.

Wir fanden es hier in der nächsten Umgebung Dresdens. Es ist ein stattliches altes Gebäude am Fuße der Weinberge, doch immer noch hoch gelegen über der Elbniederung, inmitten eines großen parkartigen Gartens. August der Starke hat es einst erbaut, um einer seiner Damen ein Geschenk damit zu machen; ‚Sibyllenburg‘ heißt die Besitzung. In dem obern Saal – er war schuld, daß wir dieses Nest kauften - habe ich mir ein Atelier eingerichtet, das auch dem verwöhntesten Künstler genügen würde; es durchmißt die Tiefe des ganzen Hauses und ist getheilt durch einen großen Smyrnavorhang. Am Nordfenster steht meine Staffelei; an der offnen Balkonthür gen Süden mein Schreibtisch, und hebe ich den Blick, so sieht mein Auge über das terrassenförmig abfallende Vorland, über Landhäuser, Dörfer und grüne Felder hinweg zu den Bergen jenseit der Elbe; nach rechts bis dorthin, wo die Albrechtsburg sich über Meißen erhebt, nach links bis zu den Thürmen Dresdens. Will ich in die Residenz, so lasse ich anspannen oder fahre mit einem der Kurierzüge, die im Dorfe halten müssen, weil die Verbindung – –

Aber, mein Gott, ich vergesse Dein Hauptanliegen – ja, es ist dick unterstrichen in Deinem Briefe: ‚Vor allem erzähle mir von Deiner Frau!‘

Alter Junge, wie soll ich das anfangen, ohne, ehrlich gesagt, langweilig zu werden? Du fragst: ‚Ist sie eine von den schlanken, kapriciösen, temperamentvollen Frauen, die Du so sehr bevorzugtest, als wir noch Berlin unsicher machten?‘ Nein, Wolf, nein! Sie ist nicht brünett, sie ist blond, goldblond, wie Tizian das Frauenhaar so gern malte; sie ist groß, aber – ‚wie die Palme windgebogen?‘ O nein! Viel eher wie eine kraftvolle junge Buche in ihren heimathlichen Wäldern; man würde sie, ohne ihr zu schmeicheln, eine hübsche stattliche Frau nennen können. Sie hat zu ihrer Größe einen zierlichen runden Kopf, ein volles Gesicht mit kurzem geraden Näschen, einen rothen Mund, den sie sehr oft zu schließen vergißt, was ihr den Ausdruck kindlicher Verwunderung giebt, und ein Paar klarer grünlichbrauner Augen. ‚Nixenaugen‘ nennt man solche; sie können still und unergründlich unter den langen dunklen, etwas nach oben gebogenen Wimpern hervorsehen. Aber Wolf, Du bist mein ältester und bester Freund, Dir darf ich es sagen, diese Unergründlichkeit trügt – es ist nur seichtes Wasser. – – –

Ich mache da eine ganze Reihe Gedankenstriche, wie soll ich es nur aus der Feder bringen? Von Temperament, Wolf, nicht eine Spur! Ich muß es leider eingestehen, sie ist eine unbedeutende Frau.

Ich will Dir ein Pröbchen erzählen: Auf der Hochzeitsreise waren wir in Haarlem, dem Geburtsort ihrer Mutter. Antje strahlte vor Entzücken, das hochgieblige alte Haus am Markt, in dem die ehrenwerthe Dame das Licht der Welt erblickt hatte, nach der Beschreibung richtig gefunden zu haben. Sie wäre am liebsten hineingegangen und hätte die braven Leute, die dort innen beim Mittagessen saßen, gebeten, ihr die Besichtigung sämmtlicher Säle und Zimmer zu gestatten. Ich mußte fast Gewalt anwenden, um sie fortzubekommen, indem ich sagte: ‚Komm, Kind, mich zieht’s vor allem zu Franz Hals.‘ – Sie sah mich mit offenstehendem Mündchen an. ‚Franz Hals?‘ fragte sie endlich, ‚wer ist das? Wo wohnt er? Ich wußte gar nicht, daß Du hier einen Bekannten hast, Leo.‘

Ich kann Dir nicht beschreiben, Wolf, wie mir war in jenem Augenblicke! ‚Das ist die Frau eines Malers, deine Frau!‘ sagte ich mir. Ich glaube, ich wurde heftig, ich beschämte sie über ihre Unwissenheit, sagte ihr, ich begriffe nicht, daß sie den Namen eines der gottbegnadetsten niederländischen Künstler nicht kenne, da sie doch holländisches Blut in ihren Adern habe! Sie folgte mir stumm und niedergeschlagen und trat pflichtschuldigst ebenso stumm neben mir vor die wunderbaren Bilder, um mich hinterher leise zu fragen. ‚Sind sie wirklich so schön, diese Gemälde?‘

Barmherziger! Wolf, ich war ganz geknickt. Und so ist’s in allem. Ich rede sie an, bei Tische zum Beispiel – sie schlägt die unergründlichen Augen auf und fragt: ‚Wie sagtest Du, Leo?‘ Ich wiederhole meine Worte – ‚So? Das weiß ich nicht.‘ Oder ‚Ach!‘ oder, was noch schlimmer ist, sie will auf das angeregte Gespräch eingehen, wird roth, stottert, verwechselt die Begriffe und nöthigt mir endlich krampfhaft eine allerdings prächtig zubereitete Schüssel auf, denn Kochen und Haushalten, Freund, das versteht sie meisterhaft.

Du sagst vielleicht: ‚Das ist doch schon etwas, und zwar etwas Gutes.‘ Aber, von meiner Gefährtin verlange ich mehr. Sie soll mich in meinem Berufe verstehen, und doch ist, wie Du schon aus alledem ersehen kannst, keine Möglichkeit, mit ihr über Kunst zu reden. Das arme Kind ist ganz entschieden farbenblind, sie verwechselt van Eyck und van Dyck, spricht vom Lackiren der Oelbilder, ich bekomme Beängstigungen, werde unangenehm, sie weint und verläßt das Zimmer und wir versöhnen uns endlich an der Wiege unseres Töchterchens, das genau mit den nämlichen Augen in die Welt guckt, genau das Mündchen so aufsperrt und, leider, genau so ‚einfach konstruirt‘ zu sein scheint wie seine Mama.

Ich sagte vorhin, sie weint nach solcher Srene – sie weint aber auf ihre Art. Sie schließt dann den Mund, seine Winkel senken sich, zucken, und urplötzlich hängen an den krausen Wimpern zwei große Tropfen; man begreift gar nicht, wie dieselben so rasch dahingezaubert wurden. Kein Zug ihres Gesichtes verändert sich sonst, sie ringt nicht die Hände wie andere, sie schluchzt nicht laut, kein Taschentuch wird zum Auswinden naß, sie tritt nicht mit den Füßen auf, wirft sich nicht in einen Stuhl, sie stößt auch keine Vase vom Tisch – es geht alles mäuschenstill ab. Nie werden die Dienstboten etwas von einem Zwiste gewahr, aber – bei Gott, mir wäre etwas anderes lieber!

Mit einem Worte, Wolf, ich wählte sie ja in kopfloser Eile, um mich zu retten, ich bin in jeder Weise ihr Schuldner. Ich verkenne ihre guten Eigenschaften durchaus nicht, und doch – es ist schwer!

Du fragst mich, ob ich Maler geblieben sei? Ja! – Und ob ich glücklich dabei sei? – Das ist schwer zu beantworten. Ich bin gewiß, ich hätte meinen Weg gemacht, wenn nicht meine Frau – ich will es Dir erklären: Ich weiß ja, Wolf, Du hast immer nichts wissen wollen von meinem Beruf, Du hast mir einmal in einer ernsten Stunde, die fast das Band unserer Freundschaft zerrissen hätte, herbe Worte gesagt; Du meintest, ich würde es nie über einen gewissen Dilettantismus hinausbringen. Ich sollte mein Talent nur dazu verwerthen, um mir, neben einem andern soliden Beruf, der mich ernährte und befriedigte, Erholung zu suchen, das wäre das Rechte. – Ich weiß es noch so genau, hundertmal habe ich daran gedacht bei meinen Mißerfolgen. Aber glauben kann ich dennoch nicht daran, und so habe ich denn weiter gemalt. Einmal gelang mir auch ein glücklicher Wurf, ich verkaufte das Bild der rothhaarigen Wäldschönheit unter dem Titel: ‚Brockenhexe‘ und erlebte die Freude, es gut kritisirt zu sehen. Aber seitdem? Ich malte nach wie vor, ich malte Genrebilder und malte Landschaften, niemand wollte die armen Dinger kaufen, obgleich tausendfach geringere Leistungen an den Mann kommen. Niemand [3] besprach sie; nicht einmal einen Tadler fanden sie. In den Ausstellungen gab man ihnen die ungünstigsten Plätze; entweder hingen sie in den dunkelsten Ecken oder in gänzlich falscher Beleuchtung, sämmtlich aber kehrten sie mit rührender Anhänglichkeit in die Arme ihres Urhebers zurück. Glücklicherweise ist noch massenhaft Platz in unserem großen Hause, und wenn er im Laufe der Zeiten zu knapp wird, so kann ich Dich mit bemalter Leinwand versorgen, denn – aber nun höre:

Als unser Töchterchen ungefähr ein viertel Jahr alt war, trat ich eines Tages in die Wohnstube meiner Schwiegermutter – wir hatten damals noch kein eigenes Heim; diese Besitzung war zwar schon gekauft, aber noch nicht eingerichtet, und ich hielt mich nur meiner Frau und des Kindes wegen in dem stillen Waldthal auf – also, ich trete in die Wohnstube meiner Schwiegermutter und stehe plötzlich vor einem Bilde, das mich fesselt und begeistert. Es war, dank den alten hundertjährigen Lindenbäumen vor den Fenstern, ein wahrhaft Rembrandtsches Helldunkel in dem Raum, und nun denke Dir einen antiken Lehnstuhl inmitten der wunderlich holländisch ausstaffirten Wohnstube, an deren Wänden alte Fayenceteller und nachgedunkelte Familienbilder hängen. Denke Dir in diese Umgebung eine Frauengestalt, die ihren Kopf zu dem Kinde in ihrem Arme niederbeugt. Ein einzelner leuchtend goldener Sonnenstrahl umwebt das schimmernde Blondhaar genau mit dem Strahlenschein, wie ihn Raphael der Sixtinischen Madonna gegeben hat. Es war das erste Mal, Wolf, daß ich entzückt, ja hingerissen wurde von meiner Frau.

‚Antje,‘ sagte ich, ‚so will ich Dich malen!‘

Sie hob den Kopf und lächelte mich freundlich an. Am andern Tage begann ich. Es wurde ein schönes Bild, Wolf; die es gesehen haben, behaupten es alle. Es würde Aufsehen gemacht haben in der Kunstausstellung. Dabei war es sprechend ähnlich. Sie saß in dem wunderlichen Lehnstuhl, in dem weißen duftigen Morgenkleid, den Kopf hinuntergebeugt zu dem Kleinen, und der Sonnenstrahl umleuchtete das Blondhaar; kein Madonnenbild, und doch daran gemahnend, nur menschlicher, rührender, mehr zum Herzen sprechend.

Es klingt Dir lächerlich, Wolf, daß ich mein eigenes Werk lobe, ich kann Dir nicht einmal beweisen, daß es dieses Lob verdient, denn – das Bild existirt nicht mehr. Als ich es nämlich einpacken lassen wollte, um es nach Berlin zu schicken in die Ausstellung, da erklärte meine Schwiegermutter, sie wünsche nicht, daß ihre Tochter so ausgestellt werde, es sei unpassend, es sei unmoralisch, und sie begreife nicht, wie ich Antje im Morgenkleide so vielen fremden Blicken preisgeben möge.

Ich schaute sie völlig erstarrt an; da bat auch Antje, dunkelroth erglüht, ich möchte das Bild für mich behalten. Auch sie schien es als einen Mangel an Feingefühl zu empfinden, daß ich ein Porträt von ihr ausstellen wollte. Ich sah von der Lebenden auf die Gemalte und begann, geduldig ihr die Gründe auseinander zu setzen, die mich drängten, das Bild, gerade dies, öffentlich zu zeigen. Sie hörte mich mit niedergeschlagenen Augen an, und als ich am Schluß meiner langen Rede sie davon überzeugt zu haben glaubte, daß man nicht das Recht habe, ein Kunstwerk zu verstecken, daß es Pflicht für sie und für mich sei, mit diesem wirklich gut gemalten Bilde einen Schritt vorwärts zu thun in der Welt, daß fast alle großen Künstler ihre Frauen gemalt hätten zur Freude ihrer Mitmenschen, schüttelte sie den Kopf und wiederholte ihr flehendes: ‚Ach, bitte, thue es nicht, Leo!‘ zum hundertsten Male.

Noch gab ich den Kampf nicht auf, aber nach drei Tagen endloser Mühe von meiner und beharrlichen Weigerns von ihrer Seite riß mir die Geduld, ich wurde heftig und zerschnitt mit einem scharfen Federmesser ritsch ratsch die Leinwand kreuz und quer, beauftragte dann den Diener, Feuer im Kamin zu machen, und verbrannte sie eigenhändig. Antje stand dabei, bis das letzte Restchen verglimmte, sah kreideweiß aus und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Uebrigens habe ich unter der Geschichte mehr gelitten, als Du hier herauslesen kannst.

Seitdem habe ich meiner Frau zu verstehen gegeben, daß mir ihre Gegenwart in meinem Atelier nicht gerade erwünscht ist – und sie hat mich verstanden; sie hat den Raum, nachdem sie bei der Einrichtung desselben geholfen, nicht wieder betreten. Was kann sie denn da auch interessiren?

Ich male nun weiter. Früher that ich es aus Ehrgeiz und aus Hunger, jetzt ist mir der Ehrgeiz geblieben, aber er brennt schlimmer, als er es jemals im Verein mit der Noth gethan hat. Ich suche nach einem Gegenstand, der mich begeistert, und ich finde nichts. Augenblicklich steht zwar wieder eine Leinwand auf meiner Staffelei, ein Frauenporträt. Ich male nämlich unsere Nachbarin, die Baronin Erlach, eine interessante Person, Witwe von zweiunddreißig Jahren. Sie nahm als achtzehnjähriges Mädchen einen Mann von Vierundsechzig, der naturgemäß starb, als sie eben sechsundzwanzig wurde. Ihre beiden Söhne hat sie im Kadettenhause; sie selbst ist, wenn nicht hier in ihrem alten prächtigen Landhause, überall und nirgends, etwa in Paris, London, Petersburg; weder das Nordkap noch die Pyramiden sind sicher vor ihr. Sie kennt die Welt durch und durch, ist heiter, witzig, mitunter ein klein wenig boshaft und besitzt das Aeußere einer Frau, die mehr im Kerzenschein als im Sonnenlicht lebt. Blaß, zart, schlank, hat sie große braune Augen mit jenem eigenthümlichen Ausdruck, wie starke Kurzsichtigkeit ihn zuweilen verleiht, und der oft von bestechender Wirkung ist, hilfesuchend, sanft, was zu dem sonst muthwilligen Gesichtchen kaum passen will. Ich male sie in der reichen spanischen Tracht einer Edeldame des sechzehnten Jahrhunderts, in der perlengeschmückten Stuarthaube, dem hochstehenden Spitzenkragen und im blutfarbenen Sammetkleid, das den Hals frei läßt. Sie kommt jeden Morgen um neun Uhr und bleibt gewöhnlich zum Mittagsmahl bei uns. Bevor das Bild in dem Dunkel seiner Bestimmung verschwindet – sie thut sehr geheimnißvoll mit dem Namen des künftigen Besitzers – will ich es in Dresden ausstellen, wohlgemerkt, lieber Wolf, wenn ich je dazu komme, es zu vollenden. Denn Antje – da ist wieder ein neues Hinderniß – besitzt außer vielen andern ehrbaren sittigen Eigenschaften auch noch die einer philiströsen Eifersucht. Sie liebt die Baronin nicht, zeigt es ihr auf alle Weise, und gestern setzte sie ihrer eiskalten Zurückhaltung die Krone auf, indem sie einfach während des Nachtischs verschwand, vertrieben durch ein paar Anekdoten, die ihre tugendhafte Anschauung verletzt zu haben scheinen. Es hatte zur Folge, daß das liebenswürdige Original der spanischen Edeldame sehr bald aufbrach und heute ihr Ausbleiben mit einem nervösen Kopfschmerz entschuldigte, der zwar gut erfunden ist, mich doch aber gründlich aufklärte darüber, daß ich als Ehemann unter den Unarten meiner Frau mit zu büßen habe.

So steht es, Wolf; Du siehst, ich bin noch immer der alte, der nämliche Phantast, der die nüchterne Wirklichkeit verabscheut, sie vergeblich zu vergolden sucht; der leidenschaftliche Mensch mit dem übervollen Herzen, der immer das Unglück hat, da, wo er sich ganz geben möchte, mit einem kalten Wasserstrahl begrüßt zu werden. Wolf, kannst Du mir nachfühlen, was es heißt, in kleinlicher Umgebung zu leben?

Sieh, ich bin gewiß, sie ist die bravste, die rechtschaffenste Frau; den Begriff ‚Leidenschaft‘ kennt sie nicht, sie wird nie einen Schritt vom Wege der Pflicht, der Ehre abweichen, aber sie wird auch einen solchen nie verzeihen und, was schlimmer ist, nie verstehen. Wir sind Feuer und Wasser zusammen.

Komm bald! Ich hole Dich von Dresden ab.
 Dein Leopold.“

Der Schreiber dieser Zeilen faltete die verschiedenen Bogen zusammen, steckte sie in einen Briefumschlag, adressirte, siegelte und saß dann einige Minuten, zurückgelehnt in seinem Armstuhl, völlig bewegungslos. Die herbstliche Abendsonne warf einen hochrothen Schimmer in den reich ausgestatteten vornehmen Raum, sie ließ die matten Farben in den Smyrnadecken, mit denen der Saal getheilt und das Parkett belegt war, glühend aufleuchten und bestrahlte die Gemälde in breiten funkelnden Goldrahmen an den Wänden hinter dem Rücken des Mannes. Es waren meistens Landschaften, aber auch einzelne Porträts, Studien, alles eigenthümlich gemalt. Leo Jussnitz huldigte der kernigen Pinselführung der modern realistischen Schule; skizzenhaft, aber keck waren sie hingeworfen, die knorrigen Eichen, die Wolken am Gewitterhimmel, der grell beleuchtete See. Die Schilfkolben im Vordergrund warfen fast Schatten, so dick war die Farbe aufgetragen. Man konnte nicht leugnen, es lag Stimmung in diesen Landschaften, aber das Dilettantenhafte war durchaus nicht zu verkennen.

Leo selbst blickte zu einem Gemälde hinüber, das sich hinter dem flachen Schreibtisch auf einer Staffelei erhob. Es war ein Frauenbildniß, lebensgroß; eine schlanke Gestalt in rothem Sammetgewand, lehnte sie an einer Säule und blickte mit schmachtenden [6] braunen Augen dem Beschauer entgegen. Mit dem braunen Haar, dem müden Lächeln um den Mund, der viel zu üppig geformt war für das schmale, krankhaft blasse Antlitz, ähnelte sie einer Makartschen Schöpfung.

Ein zufriedenes Lächeln glitt über das brünette Gesicht des Malers, dem ein wohlgepflegter Schnurrbart etwas soldatenhaft Flottes verlieh. Er erhob sich, schritt zu dem Nordfenster hinüber und trat vor die Staffelei, auf welcher das Bild der schönen Baronin stand. Dort tauchte er den Finger in eine Glasschale, die mit Wasser angefüllt auf einem Tischchen stand, und strich damit über das Haar, das unter dem Perlenrand des Stuarthäubchens hervorquoll. Die goldigen Reflexe in den kastanienbraunen Wellen traten jetzt noch deutlicher hervor, und ein Ausdruck der Befriedigung erhellte sein Gesicht. Er nickte dem schönen Frauenantlitz zu, trat zum Fenster, öffnete und rief hinunter: „Den Wagen in zehn Minuten!“ Dann verschwand er in einem Nebenzimmer und vertauschte in wenigen Augenblicken das braune Sammetjackett mit einem feinen Promenadenanzug, fragte den Diener, ob die gnädige Frau in ihrem Zimmer sei, und als dieser antwortete, er glaube, daß Frau Jussnitz sich im Souterrain befinde, zog er einen Augenblick die Stirn in verdrießliche Falten und befahl, der Gnädigen zu sagen, daß er zum Abend nicht daheim sein werde. Eine brennende Cigarette zwischen den Fingern, stieg er eilig die Treppe hinunter; um keinen Preis hätte er die Wirthschaftsräume betreten.

Im Flur, vor einem riesenhaften alterthümlichen Wäscheschrank, dicht hinter der breiten Treppe, stand eine junge Frau; sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid, darüber ein sehr kostbares Fichu von alten schönen Spitzen, auf die Art geknüpft, wie es einst die schöne Königin Marie Antoinette liebte. Am Arme hing ihr ein Schlüsselkörbchen und ihre Hände schienen planlos zwischen den Leinenschätzen zu tasten, denn sie schob und zerrte die mit peinlicher Sorgfalt geordneten Packete hin und her, ohne etwas herauszunehmen. Jetzt wandte sich dem Hausherrn ein junges blasses Antlitz zu, und ein Paar wunderbar klarer grünlicher Augen sah angstvoll fragend zu ihm hinüber.

„Leo,“ scholl es leise hinter ihm, „Leo, willst Du ausfahren?“ Er wandte sich rasch um. „Wie Du siehst, Antje,“ sagte er mit der Miene eines Menschen, der ärgerlich ist, aufgehalten zu werden.

Das bleiche Frauengesicht röthete sich bis unter das goldige zitternde Stirnhaar. „Heute, Leo?“

„Allerdings! Oder hattest Du andere Wünsche?“ Es klang sehr kühl und sehr ungeduldig.

Sie lehnte am geschnitzten Schrank und wand die zierlichen blauen Bänder, welche die blendende Wäsche zusammenhielten, verlegen zwischen den Fingern. Das zarte Rosa ihres Gesichtes hatte sich zu einer wahren Purpurröthe gesteigert.

„Ich dachte, Leo,“ begann sie, hielt aber inne vor dem Blick, der sie traf.

„Du wünschest, daß ich hier bleibe, Antje? Das hättest Du früher sagen sollen, ich würde dann abtelegraphirt haben. Jetzt ist es zu spät, ich werde erwartet.“

„Du wirst erwartet, Leo? Das ist etwas anderes!“ sagte sie. Es lag eine merkliche Veränderung in ihrer Stimme, so wie jemand redet, der heftige Schmerzen leidet. Ihm entging es wohl, denn er fragte: „Hast Du etwas zu besorgen in Dresden, Antje?“

„Nichts, Leo –“.

„Dann guten Abend!“ Er hatte ihre Hand flüchtig an die Lippen gedrückt und war gegangen.

„Diese verdammte Gelassenheit!“ flüsterte er beim Einsteigen; „wenn diese Frau auch nur einmal bitten wollte, einmal trotzen – immer und ewig dasselbe Einerlei; selbst ihre Art, eifersüchtig zu werden, ist von ausgesuchtester Langweiligkeit. Der Wäscheschrank und die Küche sind ihr A und O.“

Er sah im Fortfahren unwillkürlich hinauf zu ein paar Fenstern im ersten Stock; dort preßte sich ein Kindesgesicht, von blondem Haar umrahmt, an die Scheiben. Er warf eine Kußhand hinauf, aber die Kleine rührte sich nicht, auch nicht ein Zug des Erkennens glitt über die weichen Züge.

„Die ganze Mutter!“ murmelte er und fuhr in den rothdämmernden Herbstabend hinaus. „Die ganze Mutter!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 2, S. 21–26

[21] Frau Antje stand nach ein Weilchen an ihrem Wäschespind und versuchte, einen Knoten zu lösen, der sich durch das Spiel mit dem Bande verschlungen hatte, aber diese Bemühung schien eine rein mechanische zu sein, denn als jetzt ein Diener durch den Flur zum Speisesaal hinüber schritt, fuhr sie erschreckt zusammen, ordnete eilig die Wäschestöße und schloß den Schrank. Dann ging sie hinunter in das Souterrain, wo in blitzender Küche die alte Köchin, die schon zwanzig Jahre in Antjes Vaterhause als solche gedient hatte, vor dem blendend weißen Anrichtetisch stand und beschäftigt war, eine Anzahl Schüsseln mit kaltem Fleisch und andern appetitlichen Sachen zu belegen.

„Laß es gut sein, liebe Classen,“ sagte die junge Frau, „der Herr speist nicht daheim heute abend, er mußte ganz plötzlich nach Dresden.“

Das alte Gesicht unter der sauberen Haube starrte die Herrin mit einem Ausdruck von Erstaunen an, als habe diese soeben verkündet, morgen gehe die Welt unter, oder dergleichen. Antje hatte sich umgewandt und sah angelegentlich in die spielenden Flammen des Herdes; sie antwortete auch nicht auf die hastige Frage der Alten: „Heute - Ant - heute, Frau Jussnitz? Grad’ heute mußte er fort?“

„Ich trinke wie gewöhnlich meinen Thee -“ scholl es vom Herd zurück.

„Schon gut, gnä’ Frau – ja – aber – –“

„Und schicke den Diener zur Frau Baronin hinüber, liebe Classen, ich bedauerte sehr, daß aus unserer kleinen Ueberraschung nichts werden könne, der Herr habe plötzlich nach Dresden fahren müssen, und ich – mit mir allein – ich habe Kopfschmerzen. – Frau von Erlach möge uns ein andermal die Freude machen. Hast Du verstanden, liebe Classen? Oder soll ich es aufschreiben?“

Sie griff mit der Hand nach der Stirn, wartete eine Antwort nicht ab und verließ die Küche.

„Ja wohl, ich hab’s verstanden,“ murmelte die alte Frau, die ihr mit den Augen folgte, „freilich hab’ ich’s verstanden. O du lieber Himmel! Und heute sind’s just vier Jahre, daß sie Mann und Frau wurden! Ich hab’s gleich gesagt, als er sich in der Kirche so umgeschaut hat, während er mit dem Kinde zum Altar ging, ’s wird all mein Tag nichts Gutes daraus. – Warum hat sie ihn auch um jeden Preis haben wollen, konnte ’nen andern kriegen, als so einen, einen – !“

Sie stieß ingrimmig ein paar Schüsseln auseinander, und in dem Klirren ging die wenig schmeichelhafte Bezeichnung verloren, die sie dem Gatten ihrer angebeteten jungen Herrin gab.

„Nicht einmal eine Aussteuer hat er gehabt!“ schalt sie weiter, und dann trippelte [22] sie zum Sprachrohr und beorderte den Diener, um den Befehl ihrer Herrin ausführen zu lassen.

Die junge Frau war währenddem die breite Treppe hinauf gestiegen und hatte mit bitterem Lächeln ihr Zimmer betreten. Bis jetzt hatte er doch wenigstens nicht versäumt, sie durch irgend eine kleine Aufmerksamkeit an diesem Tage zu erfreuen; war er denn derartig erbittert, daß er sie so hart bestrafen mußte für etwas, was doch jedem Menschen zusteht als sein gutes Recht? Durfte sie allein keine Sympathien und keine Antipathien haben? Durfte sie allein nicht sagen: dieser Mensch ist mir lieb und jener weniger angenehm? Was konnte sie dafür, daß diese Baronin ihr in tiefster Seele so zuwider war, wie sie Leo aus tiefster Seele zu entzücken schien? Freilich, sie hätte schweigen sollen, aber das war Leo auch nicht recht –.

Sie seufzte und schritt zum Fenster hinüber, durch welches der letzte blasse Schimmer des Abendroths quoll. Die beiden großen Linden, deren Gezweig sich grell von dem blaßgoldenen dämmernden Himmel abhob, hatten kaum noch ein Blättchen, die sehnsüchtigen Frauenaugen konnten deutlich durch das Geäst der Bäume in die Ferne sehen; wie ein Miniaturbildchen in verschnörkeltem Rokokorahmen erblickte sie die im bläulichen Abendduft schimmernden Thürme Dresdens. Sie sah hinüber, bis ihr das klare Wasser in die Augen trat und die runde Kuppel der Frauenkirche in der rasch hereinbrechenden Dämmerung verschwamm. Ihre Hand strich mit dem Tuche über die Augen, aber sie blieb regungslos stehen, sie dachte, wie sie heute vor vier Jahren um dieselbe Zeit neben ihm durch den herbstlichen Wald gefahren war mit einem so dankbaren großen Glück im Herzen, einer wundervollen Zukunft entgegen – wie sie gemeint!

Wenn sie nur anders sein könnte, nicht so „schwerfällig“, nicht so „spießbürgerlich“, wie Leo gestern abend in vollster Heftigkeit gesagt hatte. Aber sie fühlte so deutlich, sie würde es nie lernen, jenes gefällige „sich gehen lassen“ in der Unterhaltung; nie begreifen, wie man es macht, zu lächeln über Sachen wie – nun, wie zum Beispiel über jene Geschichte, welche die Baronin gestern mit ihrer tiefen schönen Altstimme so gewissermaßen komisch dramatisch vortrug, die Geschichte zweier Eheleute, die sich gegenseitig schon seit Jahren betrügen, endlich in bester Freundschaft übereinkommen, sich scheiden zu lassen, und die sich nun nach erfolgter Trennung nie auf der Straße begegnen können, ohne ein paar freundliche Worte miteinander zu reden und sich höflich nach dem gegenseitigen Befinden zu fragen. – Sie hatte dabei gesessen mit erschrockenen Augen und nicht begriffen, wie Leo und die Baronin sich darüber todtlachen konnten, daß diese beiden auf dem letzten Ball beim Grafen L. sogar ein „Vielliebchen“ zusammen gegessen und sich ganz harmlos und gemüthlich allerhand Lustiges aus ihrem jetzigen Leben mitgetheilt haben sollten.

Antje fand alle ihre Ideale über die Ehe in den Schmutz getreten; sie wurde still und verstimmt und die Worte blieben ihr in der Kehle sitzen. Das hatte die Baronin gereizt, immer mehr und immer pikantere Geschichten zu erzählen, und schließlich war Antje aufgestanden und hatte sich, unter dem Vorwande, nach der Kleinen zu sehen, entfernt. Droben hatte sie an dem Bettchen gesessen und die zornigen Thränen waren ihr aus den Augen gedrungen. Dann war Leo heraufgekommen und hatte halb lachend, halb ärgerlich gesagt: „Du willst doch nicht etwa hier oben bleiben? Es ist unartig, uns allein sitzen zu lassen.“ Und als er die bewußten zwei Tropfen an ihren Wimpern entdeckte, hatte er gerufen: „So kannst Du natürlich nicht wieder erscheinen, aber es ist unglaublich, Antje, wie lächerlich Du Dich machst, einfach lächerlich!“

„Es ist möglich,“ hatte sie geantwortet. – Er war gegangen, und sie war ihm bis zum Treppengeländer gefolgt, aber er hatte sich nicht mehr umgesehen. Sie hörte, wie er mit den Worten in den Speisesaal trat: „Verzeihen Sie, Baronin, meine Frau hat heftiges Kopfweh.“ Dann ein langgezogenes bedauerliches „Ah!“ und bald darauf das reizende, ansteckende Lachen der schönen Frau. Antje hatte dann auf dem Flur gestanden, bis die Baronin fortfuhr; es war ihr gewesen, als seien die Wände von Glas, als sähe sie die junge Frau im Schaukelstuhl, den schönen Kopf an das Sammetpolster gelehnt, zwischen den hochrothen Lippen die Cigarette, und, wenn sie lachte, die Reihe blendender Zähne – Leo fand den Mund so besonders schön. – Als sie endlich fort war, half ein tiefer Seufzer ihre Seele von einer nie gekannten Spannung befreien.

Sie hatte ihren Mann auf der nämlichen Stelle erwartet und ihm die Hand entgegengestreckt; und drinnen im Zimmer hatte sie gesagt: „Sei nicht böse, Leo, sieh, wir waren doch auch vergnügt zu Hause, herzlich vergnügt sogar, aber an derartigen Sachen haben wir uns nie erheitern können.“

„O, ich kenne den ehrenfesten braven Humor Deiner Mama ja so gut, mein Kind,“ hatte er gähnend geantwortet.

Sie war verstummt, denn sie liebte ihre Mutter, und Leo wußte, er konnte ihr nicht weher thun als mit einer Bemerkung über die alte einfache Frau, die ihr lebenlang weiter nichts gethan hatte, als gesorgt und geschafft für Mann und Kind – ungeachtet ihres Reichthums. Aber in der langen schlaflosen Nacht hatte sie sich auch vergegenwärtigt, wie klug ihre Mutter es verstanden hatte, mit dem Vater umzugehen und unangenehme Dinge mit Freundlichkeit zu ertragen und zu übersehen, Dinge, die der Mutter vielleicht genau so zuwider waren wie ihr die freie Unterhaltung der Baronin. Und sie redete ernsthaft auf sich selber ein, daß sie doch einen Künstler geheirathet habe, daß es Unrecht sei, ihm eine so schöne Persönlichkeit verleiden zu wollen, die ein Malerauge ja entzücken müsse, und daß sie am Ende durch das Anhören des leichten Geschwätzes noch lange nicht in Gefahr sei, ihre Grundsätze zu ändern; um Leos willen wollte sie es künftig ertragen. Ewig konnte er ja doch an dem Bilde nicht malen, und diese häufigen Besuche mußten nach Vollendung des Gemäldes eines Tages aufhören oder doch seltener werden. Gegen Morgen war sie eingeschlafen mit dem festen Vorsatz, Leo zu versöhnen, indem sie für den Abend die schöne lustige Frau einlud, ihm so zugleich eine Ueberraschung für den Hochzeitstag bereitend.

Und nun waren sie so kläglich ins Wasser gefallen, diese schönen Pläne. Leo hatte augenscheinlich vergessen, daß es jemals einen siebzehnten Oktober gegeben hatte, an dem er eine junge selige Braut vor den Altar geführt. Er war gleich nach dem Frühstück in sein Atelier gegangen, ohne der letzten champagnerfarbenen Rosen zu achten, die in brauner Majolikaschale den Tisch festlich schmückten, und ohne nur mit einem Blick seines Töchterchens weißes gesticktes Kleidchen zu streifen.

Antje Jussnitz fühlte plötzlich, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Gott sei Dank, daß sie es unterlassen hatte, das mattrosa Morgenkleid anzubehalten, welches sie sich heimlich für diesen Tag hatte machen lassen, weil Leo neulich einmal geäußert: „Meine Frau ist stets Motte oder Fledermaus, sie hat keine andere Toilette als Grau in Grau oder Schwarz.“ Und Antje wollte ihm doch gefallen! Sie wünschte das so leidenschaftlich, wie nur je eine Frau es gewünscht hat, die ihren Mann liebt. So bestellte sie sich denn ein farbiges Morgenkleid und legte es heimlich an heute früh; als sie aber in den Spiegel blickte, erschrak sie vor dem Bilde, das ihr entgegen strahlte. Sie mußte finden, daß sie schön aussah, aber sie erschien sich förmlich herausfordernd in dem spitzenbesetzten Gewande mit der langen Schleppe und in dem Händchen mit den rosa Bandschleifen; es erinnerte an die Morgentoilette einer Bühnenkünstlerin in irgend einem modernen Salonstück. Sie kam sich vor, als gehe sie drauf aus, mit ihrem Manne kokettieren zu wollen, unwürdig und unwerth einer Frau, die sich geliebt weiß auch ohne solchen Firlefanz. Gott sei Dank, sie war wieder in ihr einfaches graues Kleidchen geschlüpft, sie würde sich sonst auch noch nachträglich geschämt haben, wenn er sie fremd und verwundert angeschaut hätte – gerade heute, an dem Heute, das er vergessen hatte!

Sie preßte plötzlich die Hände gegen die Augen, es that ihr furchtbar weh; zum ersten Male empfand sie eine thatsächliche Vernachlässigung. An ein gewisses Uebersehen war sie ja von Anfang an gewöhnt worden, selbst als Bräutigam hatte er ihr nie, wie man so sagt, zu Füßen gelegen. Sie kannte nicht, was es heißt, eine vergötterte Frau sein, der man Wünsche an den Augen abliest, deren kleinen Launen man Zeit und Geld und mehr noch als das – die Bequemlichkeit opfert, um deren Thränen oder Lächeln Thorheiten begangen werden. Sie kannte es nicht und vermißte es nicht. Sie hatte immer nur das Eheleben der Eltern vor Augen, wo der Vater als Gebieter verehrt wurde, dem die Frau diente. Bei Tisch hatte er den Ehrenplatz und besondere Leckerbissen, das bequemste Eckchen auf dem Sofa oder im Wagen. „Wenn Du es so willst, lieber Frey,“ waren die Worte gewesen, die Antje am meisten aus dem Munde [23] ihrer Mutter gehört hatte; und der stattliche Hausherr schrieb Goethes Ausspruch: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung“ seinem einzigen Töchterchen in das Album, das es zur Konfirmation erhielt.

Nun, Leo dachte jedenfalls anders, er verstand ihr Bestreben nicht, ihm das Haus behaglich zu machen. Sie hatten ja Dienstboten, die den Thee eingossen, die das Abendbrot auftrugen, die Zimmer und Garderobe imstand hielten. Antje wußte mitunter nicht, was sie vornehmen sollte; glückselig erwartete sie das Kind, das ihr Leben ausfüllen würde. Als es geboren ward im mütterlichen Hause, da durfte sie zunächst noch ihm alles sein; dann aber, als sie hierher übersiedelten, ward es anders, da war es nur noch, als besitze Antje eine sehr kostbare Puppe, die sie etwa Sonntags einmal zum Spielen bekam. Leo fand es angemessen, daß Amme und Kinderfrau die Kleine warteten und daß diese, gleich einer jungen Prinzessin, nur alle Tage einige Male in reizendster Toilette der Mutter zugetragen wurde. Anfänglich war Antje geradezu trostlos darüber gewesen, indessen ihre Bitten, ihr stummes Flehen hatte Leo als Empfindelei abgewiesen; jetzt, wo das Kind größer geworden war, sie als Mutter kannte, erschien Antje diese Maßregel etwas erträglicher, wenn sie auch noch immer mit heimlich geballten Fäusten zusah, wie fremde Hände die kleinen rosigen Glieder badeten, sie in linde weiße Wäsche hüllten, und wie fremde Stimmen den Liebling in Schlaf sangen. – –

Die junge Frau lief plötzlich mit erhelltem Gesicht aus dem Zimmer und nach der Kinderstube. Die dicke Kinderfrau bereitete eben das Bad. Es roch nach feiner Seife und warmem Wasser, am Plafond brannte die Hängelampe und warf ihren Schein auf den großen bunten Teppich am Boden, der mit allerhand Spielzeug ubersät war und auf dem im Unterkleidchen ein blondes dreijähriges Kind saß. Die krausen Härchen woben sich wie ein Glorienschein um das zarte Gesichtchen.

„Maus!“ rief die junge Frau jubelnd und ungestüm vor der Kleinen niederkniend, „Goldmaus, die böse Mama hatte beinah Dein Bad versäumt!“ Und sie preßte ihre weinenden Augen in das Haar des Kindes und küßte es leidenschaftlich.

„Gute Christine, bitte, ach bitte, lassen Sie mich heute die Maus baden!“ rief sie nach einem Weilchen.

Die Alte zuckte die Achseln und brummte irgend etwas.

„Maus, wer soll Dich baden?“ fragte Antje so angstvoll, als hinge von dieser Entscheidung ihres Lebens ganzes Wohl und Wehe ab.

„Mama!“ sagte das Kind.

„Ist recht,“ gab Christine zur Antwort, „habe so wie so eine Bitte an die Gnädige. Meine Minna ist heute ins Krankenhaus geschafft worden – die Angst läßt mich alles verkehrt machen – darf ich wohl einmal nachfragen heute abend drunten im Dorfe?“

„Aber freilich, Christine! Gehen Sie nur und schicken Sie mir die Classen herauf!“

Die alte Köchin kam mit verdrießlicher Miene und fand Frau Antje lächelnd und glücklich mit dem Kinde beschäftigt, das im Wasser jauchzte und lachte. Aber sie ließ sich nicht täuschen, die langen Wimpern waren ja noch naß von Thränen. Sie hatte ihr Antje einst ebenso gewartet, sie kannte sie durch alle die Jahre ihres jungen Lebens, wie sonst nur die eigene Mutter sie kannte, und, zu der Wanne tretend, sagte sie halblaut: „Es lohnt doch nicht der Mühe, gnädige Frau, daß Sie darum weinen, in der Ehe ist ein Tag wie der andere, das ist alles dummes Zeug mit solchen Erinnerungsgeschichten.“

„Du siehst Gespenster, gute Classen; das Badewasser ist’s, das mir die Maus in die Augen gespritzt hat,“ war die Antwort.

„Jawohl, ich seh’s schon –“ murmelte die alte Frau, „es ist das Badewasser.“ Und sie nahm die Wärmflasche von dem ausgebreiteten Flanelltuch.

Und während Frau Antje das Kind abtrocknete, sagte sie über die Schulter: „Der Herr hat wichtige Geschäfte in Dresden, Classen, sonst wär er wohl gern zu Haus geblieben, bei mir und der Maus – gelt, Maus?“

„Ja freilich, wichtige Geschäfte, das ist’s ja,“ erwiderte Frau Classen, „und er dauert mich eben, daß er heute gerade –“ Das Weitere blieb unverständlich, denn sie war schon aus der Thür und konnte nicht sehen, daß mitten auf die kleine Stirn des Kindes ein paar klare Tropfen fielen, die diesmal mit dem besten Willen nicht als Badewasser erklärt werden konnten.

Antje blieb in der Kinderstube an dem Bettchen sitzen, bis die Wärterin heimkehrte. Dann ging sie hinunter in den Eßsaal, der, wie das Atelier oben, die ganze Tiefe des Hauses durchmaß. Man hatte ihm den Charakter eines altdeutschen Bankettsaales gegeben, nur mit Zuthaten von hunderterlei modernen Luxusgegenständen, die ihm etwas ungemein Wohnliches verliehen. Das Lampenlicht spiegelte sich in silbernen und Bronzegefäßen, mit denen der riesige Kredenztisch geschmückt war; vornehm reihten sich die lederbezogenen, mit goldgepreßten Künstlerwappen gezierten Stühle um den massiven Speisetisch; das Gebälk, die Täfelung zeigten prächtige Schnitzereien. Vor dem Kamin, nahe den spielenden Flammen, stand ein Tischchen gedeckt für zwei Personen – die Dienerschaft wußte, daß der Herr stets noch eine Kleinigkeit genoß, mochte er noch so spät heimkehren, und daß Frau Antje ihm Gesellschaft dabei zu leisten pflegte – mit all jenen zierlichen Tellerchen, Untersetzern, Schalen und Löffelchen, die so unnütz und doch so reizend sind. Und mitten dazwischen standen die Rosen und gaben diesem einladenden traulichen Plätzchen etwas Festliches, als wollten sie sagen: Wir blühen für zwei Glückliche!

Antje nahm die Blumen und trug sie auf ein Tischchen in den entferntesten Winkel des großen Gemaches, und dann wußte sie wieder nichts Besseres zu thun, als an das Fenster zu treten und dort hinüber zu starren, wo ein heller Schein am Horizont die große Stadt mit ihren Tausenden von Gasflammen verrieth. Die alterthümliche Standuhr im Zimmer schwang unverdrossen ihren Pendel, und Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; Antje wußte, sie werde heute noch lange hier stehen müssen und warten, denn der letzte Zug lief erst gegen zwölf Uhr drunten im Dorfe ein, und vorher würde er nicht kommen; sie kannte die Verabredungen, die Leo zu treffen pflegte, und deren Ausdehnung.

Es war windig geworden draußen; Antje dachte, ob er wohl den Wagen an die Bahn bestellt habe. Und von dem Wagen kamen ihre Gedanken auf den Brief der Mutter, den sie heute erhalten hatte. Sie nahm ihn aus dem Schlüsselkörbchen, das sie vor sich auf das Fenstersims gestellt hatte. Zu lesen brauchte sie ihn nicht, sie wußte jedes Wort daraus. Zuerst herzliche Glückwünsche zu dem heutigen Tage, daß es der Tochter gehen möge wie der Mutter, die mit jedem Jahre inniger ihren Mann geliebt, immer mehr erkannt habe, wie er ihr Stab und Stütze sei. Dann Erinnerungen an Antjes Hochzeitstag, an die Rede des Geistlichen, an den launigen Toast des Bergraths, an den Fackelzug der Hüttenleute. Antje meinte, das Lächeln der alten Frau zu sehen: „Dochtertje, als ich heirathete, war’s doch lustiger, da gab’s Musik und Tanz, und ich mußte mit allen Gästen walzen, und das waren nicht wenige. Aber, sieh, Hochzeitsreisen kannten wir dazumal noch nicht da oben bei uns.“

Zuletzt stand noch eine Nachschrift: „Du weißt, Antje, ich mische mich ungern in Eure Angelegenheiten, aber ich möchte nicht versäumen, Euch darauf aufmerksam zu machen, daß ich es über Eure Verhältnisse finde, wenn Ihr eine zweite Equipage anschafft. Ihr könntet doch in einem Wagen ausfahren, und wenn Leo ihn allein gebraucht, bist Du doch vernünftig genug, an dem Tage spazieren zu gehen. Nichts für ungut – ich meine nur so.“

Antje fiel es schwer aufs Herz. Sie hatte dieselbe Ansicht gehabt, aber Leo wollte es so, und um die Welt hätte sie nicht sagen können wie manche Frau, die das Vermögen in die Ehe gebracht hat: „Sei sparsamer mit meinem Gelde!“ – Was ihr gehörte, gehörte ihm, er war der Herr. –

Was der Vater wohl gesagt hätte zu diesem Luxus? dachte sie mitunter, und wenn sie sich das ernsthafte ehrliche Gesicht des Verstorbenen in Erinnerung rief, dann war es ihr, als müsse sie sich für den Mann schämen, der das mit harter Arbeit Erworbene so funkelnd und flitternd in die Luft fliegen ließ für „Allotria“, des Vaters Lieblingsausdruck für unnütze Dinge. – Aber Leo ist Künstler, anders wie die andern, und sie liebte sein leichtes sorgloses Lachen, liebte sein Entzücken an allem Schönen, seine blitzenden Augen; sie gönnte ihm alle Vollblutpferde der Welt – wenn er nur zufrieden war.

Auf einmal fuhr sie empor. Ueber den Kies draußen waren Schritte geeilt, Schritte, die sie so gut kannte. Alles Blut stieg ihr zum Herzen, sie stand zitternd und blaß vor Freude mitten im Saale. „Leo!“ sagte sie leise, und ihre Augen umfaßten den Mann, der da hastig eingetreten war, das Haar feucht auf der Stirn, wie vom raschen Gehen, den Hut in der Hand, in der [24] andern einen Veilchenstrauß, einen Strauß, wie man ihn fertig im Laden kauft, arme welke Dinger. die so gern ihre Köpfchen senken würden, wenn der Draht es ihnen nur erlauben wollte.

Antje sah nicht den halb verlegenen, halb ärgerlichen Ausdruck in ihres Mannes Auge, nicht die fast verwelkten Blüthen; sie sah nur, daß er gekommen war, daß er ihr Blumen brachte, daß er den heutigen Tag doch nicht vergessen hatte.




Leo Jussnitz war an diesem Nachmittage gerade noch zur rechten Zeit auf dem Bahnhof angelangt, um in den ersten besten Wagen zu springen; die Pfeife des Zugführers schrillte bereits das Signal zur Abfahrt, da riß der Schaffner noch eine Thür auf und schob ihn hinein. Sein Jahresabonnement galt für die erste Klasse, er befand sich in der dritten, und zwar in dieser Abtheilung allein mit einer Dame. Zunächst hatte er ihrer nicht acht; es war so eine abscheuliche Luft hier innen, und er trat ans Fenster, um es zu öffnen. Ehe er es aber that, wandte er sich, den Hut lüftend, um: „Sie gestatten, mein Fräulein?“

Der Kopf unter dem breitrandigen Filzhut hob sich ein wenig. „Bitte sehr!“ antwortete eine klare Stimme.

Leo Jussnitz warf einen flüchtigen Blick unter den schattenden Hutrand und erblickte zwei dunkle, fast unnatürlich große Augen. Das Fenster ward zur Hälfte geöffnet, und er nahm Platz ihr gegenüber und betrachtete sie. Er sah einen kleinen Mund, brennendrothe Lippen und ein zierlich geformtes Kinn. Das kurze Näschen und die zwei brennenden Augen blieben im Schatten des Rembrandthutes. Wo, um Gotteswillen, hatte er dieses Gesicht schon gesehen?

Sie senkte den Blick unter seinem Anschauen; es waren auffallend lange dunkle Wimpern, die jetzt auf der blassen Wange ruhten. Er hatte das alles schon gesehen, gerade so, und plötzlich stand vor seiner Seele das Bild des väterlichen Gartens in der kleinen märkischen Stadt, und über den Zaun aus Weißdorn, der das Nachbargrundstück von dem eigenen schied, sah ein blasses Mädchengesicht mit großen dunklen Augen, und diese Augen winkten und lockten und zogen ihn, den achtzehnjährigen Gymnasiasten, bis er an der Hecke stand und zwei schmale Hände erfaßte, die sich wie Schnee von dem dunklen Grün der Blätter abhoben. Und der Mond schien dazu, und über dem Flüßchen drüben im Schloßgarten sang die Nachtigall, und er küßte die rothen Lippen.

Aber sie konnte es nicht sein, es lagen sechzehn Jahre zwischen jener Zeit seiner ersten Liebe und heute. Und dieses junge Geschöpf da vor ihm zählte vielleicht zwanzig Jahre. Wieder sah er sie an, die Erinnerung war so lebhaft, daß sie ihn förmlich verwirrte.

„Toni von Zweidorf!“ sagte er halblaut.

Ein leises Lachen antwortete ihm. „Kennen Sie mich denn?“ fragte das Mädchen. „Aber die Toni bin ich doch nicht – ach, die gute Toni! Ich bin ja die Jüngste, die Hilde.“

„Hildegard von Zweidorf – aus Altwedel?“

Sie nickte. „Und Sie, mein Herr?“

Er nahm den Hut ab und murmelte seinen Namen.

„Sie haben die Toni wohl früher gekannt?“ fragte das junge Mädchen und drückte ihre schlanke Gestalt so behaglich wie es anging an die harte Holzwand des Wagens.

„Ja, mein Fräulein.“

„Aber dann müssen Sie mich doch auch gesehen haben!“

„Sie waren damals noch ein Kind, Fräulein von Zweidorf, und werden sich schwerlich auf den großen Gymnasiasten besinnen, der mit Fräulein Toni in die Tanzstunde ging.“

„In der That, nein! Sie sind wohl schon lange fort von Altwedel?“

„Sehr lange! Mein Vater wurde von dort nach Schlesien versetzt, und ich – –. Wohnen Sie noch immer in dem kleinen Hause an der ‚Alte‘?“

„Ja. Es ist ein so drolliges altes Haus.“

„Ach, ich fand es entzückend damals; wir wohnten nebenan.“

„Da ist jetzt eine Wollspinnerei, ein häßliches rothes Ziegelsteingebäude mit hohem Schornstein und vielen Fabrikmädchen und einer grellen Glocke, die zur Arbeit läutet.“

„Wie schade! Und wie geht es Ihren Eltern?“

„O, ich danke! Papa ist manchmal sehr kränklich und beständig verstimmt, und Mama –“ sie zuckte die Schultern - „leidet natürlich darunter; es ist immer dasselbe bei uns, mein Herr.“

„Und Fräulein Toni? Tanzt sie noch immer so gern?“

„Ach, mein Herr, tanzen, die Toni tanzen! Toni ist still und traurig geworden; überhaupt, es ist öde und langweilig bei uns,“ erwiderte sie mit einem Seufzer.

Er antwortete nicht; er sah sein Gegenüber an mit einem mitleidigen, gerührten Blick; welch trostloses Bild entrollten ihm ihre Worte! Er kannte jeden Winkel in dem kleinen Hause, das die Familie bewohnte, und er kannte in jedem dieser Winkel die Spuren von Entbehrung, Armuth und Unzufriedenheit. Der Steuereinnehmer v. Zweidorf, ehemals Offizier, hatte im Hause eines Kameraden seine jetzige Frau, die kleine Madermoiselle Bergére, kennen gelernt; sie stammte aus der französischen Schweiz und bekleidete die Stellung einer Bonne. Natürlich hatte er die Beziehungen zu dem bildschönen Mädchen anfänglich nicht ernst nehmen wollen, aber dann war doch der Augenblick da, wo er als Ehrenmann nicht mehr anders konnte. als sie zu heirathen. Der Regimentskommandeur, die Kameraden hatten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn von diesem Schritt zurückzuhalten – er war fest geblieben, die Hand, die das Abschiedsgesuch schrieb, hatte nicht gezittert. Wie schwer es ihm wurde, das sagte er nie, nur sein verkümmertes Aussehen erzählte es, sein niedergedrücktes Wesen, seine Menschenscheu; und die Frau neben ihm litt nicht weniger. Die Aelteste, die Toni, ein bildschönes Kind, hatte wohl anfangs etwas Versöhnendes in das Herz des Mannes geschmeichelt, aber dann waren mehr Kinder gekommen, lauter Mädchen, arme Mädchen, die Sorgen wuchsen und wuchsen und die Töchter verblühten ungesehen und unbegehrt und wurden verbittert in ihrem armseligen Leben. Und sie hatten den Stolz des Vaters, sie wollten nicht heirathen unter ihrem Stande, die armen Fräulein von Zweidorf.

Leo Jussnitz kannte das ganze Elend ja aus dem eigenen Vaterhause. Und die Jüngste saß vor ihm, so schön wie einst ihre Schwester, und sah in die Zukunft mit ebenso sehnsüchtigen glückverlangenden Augen, wie diese es gethan hatte, und das nämliche Lächeln lag um den lieblichen kleinen Mund. Etwas Holdes, längst nicht mehr Gefühltes tauchte vor ihm auf, die ganze Seligkeit der ersten Jugend mit ihren stolzen Hoffnungen und ihrer thörichten, genügsamen und doch so seligen Liebesleidenschaft.

„Was willst Du denn in der weiten Welt, Toni?“ – Er hatte es laut gesprochen und wurde erst wach durch ihr herzliches Lachen.

„Ich heiße Hildegard und will zu meiner Tante nach Dresden und will –“ sie setzte sich stolz in die Höhe – „und will Malerin werden.“

„Malerin?“ fragte er lächelnd. „Lassen Sie ab davon, Fräulein Hilde, es bringt eitel Enttäuschung und Bitterkeit.“

„Aber ich habe Talent, mein Herr!“

„Ich zweifle ja nicht eine Minute daran, aber dennoch –“

„Sie können doch nicht wissen, wie meine Zukunft wird!“ schmollte sie.

„Nein; ich kenne nur meine eigenen Erfahrungen. Wenn ein Mann um die Gunst des Schicksals ringt und fast unterliegt, wie soll es da ein schwaches zartes Mädchen durchhalten? Und das Leben eines Künstlers ist und bleibt einmal ein dornenvolles.“

„Ach!“ lachte sie. „ich lasse mir nicht bange machen, denn ich will es zwar nicht berufen, aber wirklich, mein Herr, ich habe Glück, ich muß unter einem guten Stern geboren sein. Passen Sie auf, wie es wird mit mir! Ich suche einen Lehrer, einen tüchtigen, und dann bin ich unermüdlich fleißig, und dann werde ich den ersten Auftrag erhalten, vielleicht noch halb aus Mitleid, und dann setze ich all mein Können daran, das Bild gelingt, es macht Aufsehen, und eines Morgens wache ich auf und bin berühmt! – Nein, nein,“ fuhr sie fort, „ich will nichts wissen, ich will an mein Glück glauben, Unkenrufe habe ich zu Hause genug gehört. Mir kann es so nicht gehen wie den Schwestern, denn ich selbst bin anders. Bitte, bitte,“ schloß sie und legte flehend die schöngeformten Hände, von denen sie die Handschuhe abgestreift hatte, ineinander, „sagen Sie nichts, nehmen Sie mir nicht mein Vertrauen auf eine bessere Zukunft, als man sie mir bis jetzt täglich ausgemalt hat.“

Ihr blasses Gesicht hatte sich geröthet, die Augen leuchteten in einem wunderbaren Feuer.

[26] „Nein,“ sagte er, ganz hingerissen von dieser Begeisterung, „nein, gewiß nicht! Möge Ihnen alles gelingen, was Sie sich erträumen; und wenn ich Ihnen behilflich sein kann – ich bin selbst Künstler und bekannt in Malerkreisen – zählen Sie auf mich!“

„Aber habe ich es nicht gesagt?“ rief sie. „Wenn das nicht Glück ist! Noch heute früh dachte ich, wie wirst Du es anfangen, Hilde, um in das Atelier irgend eines Berühmten zu dringen – da finde ich einen alten Bekannten von der Toni, und die Pforten stehen offen.“

„Hoffentlich nehmen Sie auch mit minder Berühmten vorlieb?“

„Sie sind Maler? Sie sind wohl derselbe Jussnitz, der die Brockenhexe gemalt hat. Ich habe das Bild in einer illustrirten Zeitung gesehen – nicht wahr? Und die Hexe hat im Original rothes Haar; die wunderbarsten Farbeneffekte, wie in der Beschreibung stand. Das sind Sie wirklich?“ Sie staunte ihn an mit weit geöffneten Augen.

„Das bin ich,“ sagte er leise, ihren Blick erwidernd.

So fuhren sie stumm ein Weilchen dahin. Welche Schönheit, welche Rasse, dachte er und studierte jede Linie des erregten Mädchenantlitzes. Ein langsameres Fahren und das Pfeifen der Lokomotive zeigten jetzt an, daß der Zug sich seinem Ziele näherte.

„Wo wohnt Ihre Frau Tante?“ erkundigte er sich hastig.

„In der Friedrichstadt, Xstraße – ist es weit?“ Sie hatte sich in ihrer schlanken Höhe aufgerichtet und langte ein Handkofferchen aus dem Gepäckraum über der Bank.

„Sehr weit!“ antwortete er.

„O weh!“ sagte sie.

Er hatte den Koffer ergriffen. „Werden Sie abgeholt?“

„Nein! Tante glaubt, ich komme erst morgen, aber ich hatte keine Ruhe mehr daheim und mochte die Seufzer und Unglücksprophezeiungen nicht mehr hören; da ging ich heute früh heimlich und ohne Lebewohl fort – ich kann so schlecht Abschied nehmen.“

Er lächelte. „Erlauben Sie mir den Koffer, ich trage ihn zur Droschke.“

„Danke, mein Herr, ich gehe, ich nehme einen Dienstmann.“

„Es ist unmöglich, Fräulein von Zweidorf, Sie müssen fahren. Auch ich habe in der Friedrichstadt zu thun; gestatten Sie mir, Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten – ich –“

„Ich danke,“ sagte sie kühl und mit der Haltung einer jungen Prinzessin.

„Ich bitte Sie darum,“ redete er zu in ehrlicher Besorgniß. „Sie haben keine Ahnung, wie weit es ist, Sie können wirklich nicht in Dresden so bei Nacht und Nebel allein umherirren. Bedenken Sie, ich bin ein alter Bekannter Ihrer Familie und darf Ihnen etwas mit Rath und That zur Seite stehen.“

Sie lachte unbefangen. „Ja freilich, wir sind Nachbarskinder, wenn ich auch nichts von Ihnen weiß. Aber ich werde Toni fragen nach Ihren Personalien – also – wenn Sie mich mitnehmen wollen!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 3, S. 38–43

[38] Jussnitz und Hilde suchten eine Droschke und fuhren miteinander dahin; er saß ganz stumm an ihrer Seite und kam sich wunderlich vor neben dieser fremden und doch so altvertrauten Persönlichkeit; die Vergangenheit war lebendig in ihm geworden. Was hatten die Jahre, besonders die letzten, für einen Philister aus ihm gemacht! Die Zeit des Jugendübermuthes, der Schwärmerei, der Begeisterung und der tollen Streiche zog vor seinem Auge vorüber in verlockenden Bildern. Toni von Zweidorf! Es lag etwas Veilchenduftiges in der Erinnerung an diese erste Liebe, und die weiche Frühlingsstimmung überkam ihn wieder mächtig in diesem Augenblick.

Seine Begleiterin war entzückt von dem Elbstrom, den vielen Lichtern, die sich in dem dunklen Wasser spiegelten, von dem ganzen Leben und Treiben der Großstadt. Sie hatte hundert Fragen, die er beantworten mußte. Als endlich die Straßen stiller, die Beleuchtung mangelhafter wurde, sagte sie enttäuscht: „Ich fürchte, Tante wohnt am Ende der Welt!“

In diesem Augenblick hielt der Wagen vor einem einstöckigen kleinen Hause, das zwischen großen, drei und vier Stockwerke messenden Gebäuden wie ein Zwerglein stand. Im Erdgeschoß war ein Verkaufslokal, das sich bei näherem Hinzutreten als ein sogenanntes „Büdchen“ auswies, das heißt als ein Laden, wo Gemüse, Eier, Butter, Käse und saure Gurken zu haben sind, und dem nicht gerade verführerische Düfte entströmten, als Jussnitz die Thür öffnete, um zu fragen, ob in diesem Hause Frau Sekretär Berger wohne.

Eine ungeheuer dicke Frau, die aus einer so kleinen Thür getreten war, daß man gar nicht begriff, wie sie hatte durch schlüpfen können, trocknete sich die Hände an der Schürze und fragte: „Sie seien wohl gar schon die Nichte von der Bergern? Ih! Das thut mir aber sehre leid, die is Sie zum Dheekränzchen, ich weeß aber werklich nich, bei wem das heite is.“

Hilde von Zweidorf lachte belustigt auf. „Was soll ich denn aber anfangen bis dahin?“ rief sie. „Kommt Tante sehr spät nach Hause?“

„Mehrschendeels erst um elf herum, Freileinchen; aber Sie können ja bei mir warten, oder erlauben Sie, die Frau Bergern legt manchmal den Schlüssel unter die Strohdecke vor der Stubenthür, ich will Sie doch gleich mal nachsehen.“

Der gefällige Koloß verschwand, man hörte ihn eine ächzende Treppe hinauf- und nach einem Weilchen wieder herunterkeuchen. „Es thut mir sehre leid, diesmal hat sie ihn wo anders hingethan, aber wenn Sie bei mir warten wollen –“

„Verwahren Sie den Koffer des Fräuleins,“ unterbrach sie Jussnitz, auf dessen Gesicht ein unbehaglicher Ausdruck lag, „und kommen Sie indeß mit mir, Fräulein von Zweidorf. Sie müssen wenigstens etwas essen, und dann ist ein Gang durch die Straßen immer noch besser, als hier in diesem Duft zu warten.“

Er fügte das letzte in französischer Sprache hinzu, und sie antwortete ebenso mit tadelloser Aussprache:

„Allerdings! Der Eintritt in meine Zukunft scheint nicht glänzend, mein Herr; ich erlebe die erste Enttäuschung. Tante schrieb von einer freundlichen Vorstadtwohnung, und ich dachte an eine Allee alter Bäume und an ein Gärtchen vor der Thür – o Wirklichkeit, wie häßlich bist Du!“

Sie nahm seinen Arm, den er ihr bot, und schritt mit ihm durch die Straßen.

Einen Augenblick hatte er die Idee, irgend ein vornehmes Restaurant aufzusuchen, dann aber trat er mit ihr in ein ihm unbekanntes Lokal der Friedrichstadt; es war völlig menschenleer. Sie saßen sich dort gegenüber am sauber gedeckten Tischchen und konnten sich bei heller Gasbeleuchtung endlich ganz deutlich betrachten.

Hilde gewann nur noch, als sie den Hut abgenommen hatte und die schön geformte Stirn sichtbar ward; man sah ihr an, daß die Lage ihr Freude machte. „Bitte, erzählen Sie mir,“ bat sie und nahm ein wenig kaltes Fleisch, „wohnen Sie in Dresden oder außerhalb der Stadt?“

„Außerhalb,“ erwiderte er.

„O, ich glaube, ich würde die Stadt selbst vorziehen. – Ist Ihr Atelier schön, darf ich es sehen?“

Es flog etwas wie ein Schatten über seine Stirn. „Sie dürfen es sehen, natürlich, und ich hoffe, recht oft! Vielleicht versuchen Sie es, bis Sie einen besseren finden, mit mir als Lehrer?“

Sie legte Messer und Gabel hin und reichte ihm die Hand über den Tisch. „Wie liebenswürdig Sie sind, aber – ich landschaftere ja!“

„Ich auch nebenbei; auch sage ich ja nur: bis Sie einen besseren finden. Und dann habe ich zugleich einen Wunsch: ich möchte Sie malen, Fräulein Hilde – ich darf doch Hilde sagen als alter Nachbarssohn?“

„Versteht sich! Und wissen Sie, daß ich mich jetzt ganz deutlich Ihrer erinnere? Sie haben ja alle Tage der Toni Fensterparade gemacht! Ich saß mit den Schwestern auf der Schwelle unserer Hausthür, und dann grüßten Sie hinauf, wo Toni am Fenster stand.“

„Aber, ich bitte Sie,“ wehrte er ernsthaft, „mein Weg führte dort vorüber, und als Tanzstundenherr hat man doch die Verpflichtung, zu grüßen.“

„Ah so! Das ist richtig!“ Sie lachte wieder. „Und malen wollen Sie mich?“ Es klang ein mühsam unterdrückter Jubel aus ihrer Stimme.

„Wenn Sie gestatten –“

„Warum nicht?“

„Aber Sie müssen mir erlauben, das Bild in die Ausstellung zu schicken,“ sagte er hastig.

Sie erröthete vor Freude. „Wirklich?“ fragte sie.

„Ist es Ihnen unangenehm?“

„O bewahre! Auf der Straße sehen mich die Leute ja auch an!“

„Schön! Ich komme in den nächsten Tagen zu Ihrer Frau Tante.“

Hilde war fertig mit Essen. „Was beginnen wir nun?“ erkundigte sie sich und setzte den Hut mit der alten geknickten Straußenfeder, der ihr gleichwohl außerordentlich gut stand, vor dem Spiegel auf.

„Wir sehen uns die Schaufenster vielleicht ein wenig an, wenn Sie nicht zu müde sind.“

Nein, sie war nicht zu müde, gar nicht! Sie zog die schwarzen gewobenen Handschuhe an, aus denen hier und da eine rosige Fingerspitze hervorguckte, und ließ sich von Herrn Jussnitz den eng anschließenden Mantel aus billigem Lodenstoff, der in seiner Neuheit gar nicht so übel aussah, anziehen und nahm den Muff. Er war von schwarzer Katze oder gefärbtem Kaninchen. Dann erklärte sie sich bereit.

Sie benutzten die Pferdebahn bis zum Postplatz und drängten sich dann durch die Menschen auf dem hell erleuchteten Trottoir. Er ward nicht müde. mit ihr vor den Schaufenstern stehen zu bleiben, deren jedes sie in Entzücken versetzte. Sie hatte ja noch nie eine größere Stadt gesehen. Vor einem Juwelierladen, in dem Edelsteine von allen Farben leuchteten, da war sie mit ihren bewundernden Ausrufen am Ende; sie stand mit großen Augen und halb geöffneten Lippen da. Jussnitz kam es vor, als lege sich über das kindlich schöne Gesicht ein verlangender sehnsüchtiger Ausdruck.

„Was kostet wohl so ein Ding?“ fragte sie endlich und deutete mit dem Finger auf eine kleine Brillantbrosche.

„O, ein paar tausend Mark!“ antwortete er.

„Ein paar tausend Mark? Unmöglich!“

Das war viel mehr, als das Jahresgehalt ihres Vaters betrug, von welchem eine große Familie leben mußte.

„Aber, sagen Sie,“ fuhr sie fort, wieder neben ihm gehend, „wieviel bekommt man für ein Bild, wenn man ‚berühmt‘ ist?“

Er lächelte ein wenig; ihre Augen sahen so fieberhaft erregt aus. „Wenn man ‚berühmt‘ ist, so viel man will, Fräulein Hilde.“

„Mehr, als solch eine Brosche kostet, viel mehr?“ fragte sie.

„Gewiß!“

Sie seufzte tief auf.

„Ich muß Sie jetzt nach Hause begleiten,“ begann er nach langem Schweigen; er hatte plötzlich Eile. Sie folgte ihm ohne [39] Antwort zur nächsten Droschke, und stumm fuhren sie zurück bis nach dem kleinen Hause der Tante.

„Ich warte bei der Frau, oben ist noch alles dunkel,“ sagte Hilde. „Haben Sie Dank, Herr Jussnitz, und – bitte, bitte –“

Er stand, den Hut in der Hand, neben ihr vor dem Eingang zum Gemüseladen. „Befehlen Sie über mich, Fräulein Hilde.“

„Bitte, bitte, vergessen Sie Ihr Versprechen nicht und kommen Sie zu uns wegen – wegen des Unterrichts.“

„In drei Tagen komme ich.“

Er fühlte noch einen dankbaren Druck der kleinen Hand, dann war sie in der Thür verschwunden, und Jussnitz sah durch die Glasscheiben, wie die dicke Frau das schöne Mädchen in das hinter dem Laden befindliche Stübchen nöthigte.

Die Droschke hatte gewartet. „Fahren Sie in die Z.Straße Nummer dreizehn,“ rief er, „aber rasch, wenn Sie sich ein gutes Trinkgeld verdienen wollen!“

Der Kutscher brummte irgend etwas, denn die Z.Straße befand sich so ziemlich am entgegengesetzten Ende der Stadt. Dann hieb er auf sein Thier ein und das Gefährt holperte davon. Nach einer halben Stunde fuhr der Wagen nicht mehr auf dem Pflaster, die vereinzelten Gaslaternen strahlten ihr Licht gegen die Bäume einer alten prächtigen Allee, und hinter herbstlichen Bosketten tauchten einzelne Villen auf. Am Ende dieser Gartenstraße hielt der Wagen, Jussnitz sprang heraus und berührte die elektrische Klingel an der schmiedeeisernen Thür, und während er wartete, bis man ihm öffnete, suchte er das Haus dieses Grundstückes zu erspähen. Es mußte sehr tief im Garten liegen, denn er vermochte nur ein Wirrniß von blattlosen Bäumen, von Sträuchern und grünen Edeltannen zu sehen, zwischen denen sich der Weg verlor. Endlich kam ein Laternchen daher geschwankt in der Hand einer alten Frau.

„Wer ist denn da?“ scholl es schon von weitem ziemlich verdrießlich.

„Hier ist ein Atelier zu vermiethen?“ antwortete Jussnitz.

„Jawohl, aber es ist nur von morgens neun Uhr bis nachmittags fünf Uhr zu besehen.“

„Ich will es nicht sehen, ich will es miethen.“

Die Alte, die jetzt erst die Thür aufgeschlossen hatte, hielt die Laterne hoch und leuchtete dem Fremden ins Gesicht, den sie für halb verrückt hielt.

„Sind Nebenräume dabei?“ fragte er.

„Ein Wohn-, ein Schlafzimmer und noch ein Kämmerchen.“

„Schön! – Wer wohnt sonst im Haus?“

„Niemand; höchstens im Sommer das Fräulein Brandt ein paar Wochen.“

„Gehört ihr die Villa?“

„Ja! Aber sie hat noch ein Haus in Strehlen, und alt ist sie auch schon.“

„Sie sind die Hausmannsfrau?“

„Ja, wenn Sie so wollen, aber einen Mann habe ich nicht mehr.“

„Uebernehmen Sie die Bedienung?“

„Ja, mein Herr.“

„Also, ich miethe das Atelier; in drei Tagen schicke ich Leute zum Einrichten. Hier ist meine Karte, und das für Sie.“

„Ohne hineinzukommen? Mein Herr, wenn Sie das Quartier sehen wollen –“ Die alte Person war plötzlich die Höflichkeit selbst.

„Ich sehe es in drei Tagen,“ antwortete er. „Gute Nacht!“

„Schönen guten Abend, mein Herr!“

Jussnitz sprang wieder in die Droschke und nannte den Namen eines bekannten Restaurants, während sich die kopfschüttelnde Alte mit ihrem Laternchen in dem einsamen Garten verlor.

Der Dahinfahrende nahm plötzlich den Hut von der Stirn, es war ihm heiß geworden. Was wollte er denn eigentlich? Er lächelte über seinen Feuereifer. Das Fieber, etwas Großes zu leisten, die alte freudige Schaffenskraft waren angesichts dieses schönen Mädchens so stark und jugendkräftig erwacht, wie er sie lange nicht gekannt hatte. Er kam sich vor wie ein Kranker, der zum ersten Male fühlt, daß er genesen kann. Malen wollte er sie, Aufsehen erregen mit seinem Bilde, und dazu brauchte er ein Losgelöstsein von allem, was ihn quälte. Er mußte dieses stille Atelier haben, denn Antje das Mädchen ins Haus bringen? Unmöglich! Antje, mit ihrer Prüderie, mit ihrer Engherzigkeit – und dieses Geschöpf, das ihn an ein scheues edles Pferd der Prairie gemahnte! Lächerlich! – Ueberhaupt, wenn er etwas leisten wollte im Porträtfach, so war es dringend erforderlich, daß er sich herausriß aus seiner seitherigen Umgebung, aus der Nähe seiner Frau. Er wollte nicht ihre erschreckten Augen sehen, wenn irgend ein Modell das Haus betrat, denn sie würde das ja nie verstehen; er hatte das längst gefühlt und deshalb längst das Atelier miethen wollen.

Seltsam – in diesem Augenblick überkam ihn etwas wie Mitleid mit seiner Frau. Sie hätte einen braven Kerl heirathen sollen, der außer ihr höchstens noch sein Contor im Kopfe hatte. Was sollte sie mit der angeerbten, anerzogenen Engherzigkeit neben ihm? Und er? Er fühlte das lähmende Gewicht einer Frau, die ihm geistig nicht ebenbürtig war, von Tag zu Tag mehr – – Ein Künstler sollte eben nicht heirathen, wenigstens nicht so. Nein, er that das Rechte, indem er das Atelier miethete, das ein Kollege innegehabt hatte, der nun für lange Zeit nach Sorrent gegangen war.

„Es ist das Rechte so,“ sagte er halblaut und trat mit aufgehellter Stirn in das vornehme Lokal, das er für gewöhnlich zu besuchen pflegte. Nur vier oder fünf Herren begrüßten ihn dort, und zwar mit verwunderten Gesichtern.

„Was zum Teufel, Jussnitz, Sie noch hier um neun Uhr abends?“ fragte ein Offizier. „Und wissen Sie auch, daß Klöden und ich uns eigentlich vorgenommen hatten, Sie heute abend zu überfallen? Der alte Freund behauptet nämlich, Sie feierten heute die Wiederkehr Ihres Hochzeitstages, er hätte es von der Baronin Erlach, die auch heute bei Ihnen zu Abend speist.“

„Thut sie auch, sie erzählte es heute früh in meinem Beisein dem Fräulein von Bardeleben!“ rief ein anderer.

Leo Jussnitz sah einen Augenblick ganz bestürzt aus. „Meine Frau liegt mit heftiger Migräne danieder,“ sagte er dann schnell gefaßt, „ich selbst hatte Wichtiges hier zu thun, will nur ein Glas Bier trinken und dann schnell nach Hause fahren. Apropos,“ sprach er weiter, das gefüllte Stammseidel mit dem silbernen Deckel zur Hand nehmend, „ich halte Sie beim Wort, meine Herren, kommen Sie morgen heraus!“

O gewiß, sie wollten alle kommen, aber Jussnitz solle noch dableiben, es sei ohnehin verteufelt langweilig, da alles auf der Hochzeit der kleinen Gräfin Mellenthien sei.

„Unmöglich!“ erwiderte Jussnitz, und nachdem er noch einiges für den anderen Tag verabredet hatte, verließ er das Lokal. In den ersten besten Blumenladen, den er noch offen fand, trat er ein und kaufte das erste beste Veilchensträußchen. Als er, den Strauß in der Hand, aus dem Laden gehen wollte, wandte er sich noch einmal und bestellte ein Blumenkörbchen, an die Adresse des Fräulein von Zweidorf, X.-Straße Nummer so und so, zu senden.

„Wünschen Sie Ihre Karte beizufügen?“ fragte die Verkäuferin.

„Nein!“ erwiderte er, das Portemonnaie wieder einsteckend.

„Aber der Herr vergessen den Veilchenstrauß!“ rief ihm das Fräulein nach.

Er kam ärgerlich zurück, ergriff die vergessenen Blumen und fuhr nach dem Bahnhofe. Im letzten Augenblick erreichte er den Zug und sprang in den Wagen.

„Wie sehen Sie denn aus, Jussnitz, sind Sie krank?“ fragte eine gutmüthige Stimme.

„Ach, Sie sind’s, Barrenberg! Durchaus nicht krank, nur etwas abgehetzt: wollte gern noch mit diesem Zuge wieder heim.“

„Waren Sie im Klub? Sicher niemand da –“

„Doch!“ Und er nannte die Namen der Herren.

„Meine Cousine ist heute abend bei Ihnen, Jussnitz.“

„Das glaube ich nicht, Barrenberg, die Baronin war gestern da.“

„Und heute hatte sie eine Einladung von Ihrer Frau Gemahlin – ich weiß es genau.“

Jussnitz lachte. „Täuschung, bester Barrenberg; sie sagte mir sogar die Sitzung ab – wegen Kopfschmerz.“

„Die kleine Lügnerin! Sie schrieb mir, ich sollte nicht heute nachmittag, sondern erst spät abends kommen; wir wollen nämlich morgen früh mit den Pferden zum Rennen nach H. Kommen Sie mit?“ fragte der stattliche Mann, in dem man unschwer den einstigen Kavalleristen erkannte.

„Es ist möglich,“ antwortete Jussnitz.

[42] „Kommen Sie doch! Die Husaren haben uns zum Frühstück eingeladen – ich führe Sie ein.“

„Sehr angenehm – wenn irgend möglich!“ sagte er gedankenlos. Der Vetter der schönen Baronin war ihm heute abend unangenehm. Er dachte an Antje, und wie er sich entschuldigen wolle, daß er den heutigen Tag vergessen hatte. Hoffentlich war sie nicht aufgeblieben, ihn zu erwarten.

„Haben Sie einen Wagen an der Bahn, Barenberg?“ fragte er dann. Er erinnerte sich, daß er den seinigen zu einem späteren Zug bestellt hatte.

„Ich hoffe doch, Irene ist so vernünftig gewesen, mir ihr Coupé zu schicken.“

„Bitte, nehmen Sie mich mit, Barrenberg!“

„Selbstverständlich, Jussnitz!“

Der Wagen war da, und Jussnitz stieg beim Vorbeifahren in der Nähe seines Hauses ab. Als er an der Gartenmauer entlang schritt, bemerkte er Licht im Speisesaal und biß sich zornig auf die Lippen. Sie saß wirklich noch da und wartete auf ihn, und er wußte genau, wie sie ihn empfangen würde, ohne ein Wort des Vorwurfs, mit blassem Gesicht, mit stillgelassenem Wesen und in den Augen einen todestraurigen Ausdruck.

Ungestüm riß er die Saalthür auf. Da stand sie inmitten des Zimmers wie von Rosengluth überhaucht, und ihre Augen leuchteten glücklich auf, als sie den Strauß sah in seiner Hand. So sprach sie ihr zagendes „Leo!“

Sie war so anders, als sie ihm noch eben vorgeschwebt hatte, aber das machte ihm die Sache nicht leichter.

„Wie gut Du bist, Leo!“ sagte sie noch einmal und nahm die Blumen aus seiner Hand. Sie hätte gern gesprochen: „Du glaubst nicht, welch eine Wohlthat es für mich ist, daß Du da bist!“ aber sie wagte es nicht. Er sah so abgespannt und müde aus.

„Ich habe mich etwas angestrengt,“ erwiderte er, als läse er die Gedanken seiner Frau, „wollte noch gern den Neunuhrzug erreichen.“ Er goß sich ein Weinglas halb voll Rum und, sich am Tische niederlassend, fügte er hinzu. „Ich mußte heute nothwendig in die Stadt wegen – des Ateliers wegen – ich habe es gemiethet.“

Antje sah ihn an mit erschrockenen Augen, sie wußte von nichts. „Ein Atelier in der Stadt?“ fragte sie, und alle Klangfarbe war aus ihrer Stimme gewichen.

„Ja, Du weißt doch, ich will Porträtstudien machen. Soll ich etwa meine Modelle hierher kommen lassen? Das paßt mir nicht.“

„Und Du willst dann alle Tage drinnen sein, und –?“

„Ob alle Tage – das weiß ich noch nicht; es kann immerhin sein, daß ich wochenlang hinter einander weg bin, wenn ich gerade eine interessante Arbeit habe. Wird sich ja finden.“

Sie senkte den Kopf und schwieg.

„Laß doch etwas Ordentliches zu essen bringen, Antje, auf die durchsichtigen Mettwurstscheiben habe ich keinen Appetit. Speisest Du immer so großartig, wenn Du allein bist? Mich soll’s nicht wundern, wenn Du nächstens auf die Sprünge Deiner Mutter kommst und Dir eine Güte an Mehlbrei thust, sobald ich nicht daheim bin. – Franz!“ wandte er sich an den Diener, „bringe eine Flasche Röderer.“ Und gähnend fügte er gegen Antje hinzu: „Wir wollen doch auf den heutigen Tag anstoßen, Kind! Herr Gott, bin ich müde! Die Bude liegt beinahe da draußen in Räcknitz oder wie das Nest heißt.“

„So weit?“ fragte sie wie abwesend und legte die Veilchen, die wie vermodertes Gras rochen, auf den Kaminsims.

„Weit?“ antwortete er, „was heißt weit? Von hier aus vielleicht eine Stunde mit unseren Pferden.“

Eine Stunde nur! Aber Antje kam diese Stunde vor, als seien es Tausende von Meilen.




Frau Postsekretär Berger – aus dem französischen „Bergère“ war längst ein deutsches „Berger“ geworden – konnte als Muster einer biederen Bürgersfrau, mit allen Tugenden und Mängeln einer solchen, bezeichnet werden: gutmüthig, peinlich sauber, sparsam bis zur Kleinlichkeit, neugierig wie eine Elster, was die Angelegenheiten ihrer guten Nachbarn und Freunde betraf, hilfbereit bei fremdem Unglück und unbarmherzig streng in Sachen der Moral. Dazu kam ein etwas cholerisches Temperament, eine sehr bewegliche Zunge und ein großer Hang für Kaffee- und Theegesellschaften, in denen man ein rechtes Wort reden konnte unter gleichgestimmten Seelen.

Sie lebte von ihrer sehr bescheidenen Witwenpension und den Zinsen eines fünftausend Thaler betragenden Vermögens, das sie mit in die Ehe gebracht hatte, nach ihrer Ansicht ganz behaglich und erübrigte sogar noch etwas für Arme und Kranke, wenngleich sie, sobald sie um eine Unterstützung angegangen wurde, grausam schimpfte und zankte. Ihre Verwandten in der kleinen märkischen Stadt da draußen waren ihr zeitlebens ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte ihrem seligen Mann stets offen erklärt, daß sie so leichtfertige Leute wie die Familie von Zweidorf nicht leiden möge. Jedesmal, wenn wieder die Anzeige von der Geburt eines Kindes eintraf – und dies geschah neunmal in dem schwägerlichen Hause – erhob sie ihre Stimme und rief Himmel und Hölle zu Zeugen an, daß sie nimmermehr etwas thun werde für diese armseligen Hungerleider, daß die märkische Verwandtschaft sich sehr irre, wenn sie meine, sie, die Frau Polly Berger, geborene Trutz, werde helfen, die überflüssigen Gören aufzufüttern. „Nimmermehr! Hast’s gehört, Berger?“ schloß sie.

Ja, Berger hatte es gehört, aber er sagte nichts darauf. Er wußte ja so genau, daß innerhalb der nächsten zwölf Stunden ein Päcklein mit allem möglichen, was Noth thut für eine Wochenstube, sogar mit ein paar blanken Thalern, in ein Bündelchen Leinwand gesteckt, zur Post befördert wurde; und so ließ er sie schelten, die kleine rundliche Frau mit dem trotzigen Stumpfnäschen im Gesicht, auf der die Brille gar so schlecht festsaß. Mitunter sagte er auch wohl: „Polly, man soll nichts verreden; schau, lange lebe ich nicht mehr, und wenn Du mich dann hinausgeschafft hast auf den Friedhof, wird’s Dir doch sehr einsam vorkommen, denn Du wirst keinen haben, der Dir ruhig zuhört, wenn Du schiltst, und da nimmst Du Dir schließlich doch noch einmal so ein Zweidorfsches junges Blut ins Quartier!“

„Ich? Damit ich mich zu Schanden ärgere und sorge?“ zeterte dann Frau Polly. „Bedenke doch nur ’mal, Berger, ehe Du den Unsinn redest, was bei solchen Eltern für eine Doppelportion von Leichtsinn auf die Kinder gekommen sein muß! Da fängt so ein Mädel womöglich unter meinen ehrlichen Augen Liebschaften an wie seine Mutter, oder macht Schulden wie sein Vater – und so etwas wolltest Du mir gönnen? Berger, das habe ich nicht um Dich verdient!“ Und schließlich brach sie in Schluchzen aus. „Ich weiß ja, es ist Deine Schwester – aber – schau, Berger, ich bin doch Deine Frau, und, abgesehen von allem andern, solltest Du nicht vom Sterben reden; ich gräme mich zu Tode, wenn Du mich allein läßt in so einer falschen Welt.“

Aber er ließ sie doch allein eines Tages, und Frau Polly wollte zuerst schier verzagen in der Einsamkeit, die seinem Scheiden folgte. Es war ein Glück, daß sie so viele gute Freundinnen besaß und so gern in Kaffee- und Theekränzchen ging. Sie fand sich nach und nach in ihren Witwenstand hinein, wurde noch sparsamer, interessirte sich noch mehr für fremde Leute und hatte vollauf Zeit, von ihrem Fensterchen aus die Nachbarn zu beobachten. Zu Tode grämte sie sich nicht.

Manchmal kam allerdings die Sehnsucht über sie nach den freundlichen Lauten einer Menschenstimme, wenn sie bei schlechtem Wetter so recht verlassen zu Hause saß in der Dämmerung und strickte; aber an ein Zweidorfsches Mädchen dachte sie doch nicht.

Und nun war es trotzdem gekommen, wie der selige Berger es prophezeit: in die stille Witwenwohnung der Frau Postsekretär Berger sollte eine der Zweidorfschen Töchter ihren Einzug halten. Als eines Tages wieder einmal ein gar so sorgenschwerer Brief des Herrn von Zweidorf kam, da hatte sie erwidert, er möge ihr in Gottesnamen das Mädel, das durchaus malen lernen wolle, schicken. Freilich schalt sie sich nach ein paar Stunden selbst darüber aus; nun sei es vorbei mit dem ungenirten Leben, und, anstatt daß sie wie jetzt täglich ein halb Pfund Fleisch kaufe, müßten es fortan dreiviertel Pfund sein. Sie schwankte, ob sie nicht wegen Kränklichkeit wieder abschreiben solle; dann meinte sie aber, diese Hildegard – „welch ein verrückter hochtrabender Name! Na, wir wollen Dir die adligen Mucken schon austreiben, mein Töchterchen“ – diese Hildegard könne doch nicht den ganzen Tag malen, und es werde gut sein, wenn sie in den Morgenstunden auch etwas Praktisches treibe; auf diese Weise wäre vielleicht die Aufwartefrau, wenn auch nicht ganz zu ersparen, so doch nur noch auf eine Stunde vonnöthen. „Nun,“ tröstete sie [43] sich, „wollen’s halt versuchen!“ – Daß ihr Mitleid größer war als alle Bedenken, gestand sie sich selbst nicht ein. – –

Die gute Polly! Als sie spät abends aus ihrem Theekränzchen heimkehrte, stand in dem halbdunklen Hausflur eine schlanke Mädchengestalt neben der dicken Ladenbesitzerin. „Wie eine junge Gräfin,“ dachte Frau Polly im ersten Augenblick. Und als sich diese junge Gräfin dann als die erst auf morgen erwartete Nichte entpuppte, da ward Frau Polly, die noch eben das gesammte Kränzchen mit ihrer gewichtigen Rede beherrscht hatte, ganz kleinlaut.

Das hatte sie nicht gedacht! Sie entschuldigte sich sogar in der ersten Verlegenheit, daß sie nicht zu Hause gewesen sei, sie entschuldigte sich des Schlafkämmerleins wegen, das nach hinten hinaus lag, kaum Platz hatte für die schmale Bettstelle und förmlich erfüllt war von dem Käseduft aus der Vorrathskammer des Lädchens, die unmittelbar unter dem Zimmer lag.

Aber Hilde von Zweidorf sagte, sie sei müde, sehr müde und hoffe ausgezeichnet zu schlafen, und ihre Augen sahen dabei so glänzend aus und schienen über die mehr als einfache Umgebung so gleichgültig hinweg zu schweifen in weite, weite Fernen, daß Tante Polly meinte, sie habe so eine richtige übergeschnappte Künstlernatur als Hausgenossin bekommen, die es kaum merken werde, wenn man ihr statt Kaffees warmes Wasser vorsetze. In der That, Hilde lehnte alles, was ihr angeboten wurde, mit den Worten ab, sie sei nicht hungrig. Andererseits aber bedankte sie sich so herzlich für die Zuflucht, welche sie bei der verehrten lieben Tante Polly gefunden habe, fragte mit dem Ausdruck so rührender Theilnahme nach dem Befinden der alten Dame, daß diese, als das Mädchen in ihr Kämmerchen verschwunden war, nicht wußte, ob ihr wohl oder wehe zu Muthe sei; nur das eine war ihr klar, Hilde würde weder kochen noch nähen noch reinmachen helfen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 4, S. 53–56

[53] Tante Polly schlief nicht, und Hilde auch nicht. Das Mädchen drückte sein glühendes Gesicht in die Kissen und träumte von einer wunderbaren Zukunft. Der erste Schritt war gethan; Hilde von Zweidorf hatte den felsenfesten Glauben, daß es ihr einmal glücken müsse in der Welt; sie hatte lange gekämpft, ehe sie die Einwilligung des Vaters erhielt, Malerin werden zu dürfen; sie hatte diese Kämpfe geführt mit einer gar nicht zu entmuthigenden Zuversicht. Es war ihr undenkbar, daß sie, die Hilde von Zweidorf, so leben und so verblühen sollte, wie die Toni es gethan hatte, wie die andern Schwestern im Begriff standen, es zu thun. Sie hatte diese hundertmal „schlappe Seelen“ gescholten und den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, wenn sie sah, wie die vier Schwestern, die außer ihr noch zu Hause waren, jeden Tag, den Gott werden ließ, mit dem Glockenschlage Acht in dem kleinen Zimmer saßen und nähten oder stickten. „Maschinen seid Ihr, aber keine Menschen!“ hatte sie ausgerufen, „fangt doch etwas anderes an, geht hinaus in die Welt – hier, in unserem armseligen Haus, kehrt das Glück nimmer ein, wir müssen es suchen!“

Aber die andern meinten, die Hilde wäre überspannt; sie hätten es hier zu Hause doch noch immer besser wie Bärbe und Lotte, die in ihrem Diakonissendienst nur ewig Krankheit, Noth und Tod ansehen müßten. – Nun, Hilde hatte nicht genäht; sie verdiente sich ihr Geld durch Malereien auf Seide und Leder, sie saß halbe Tage lang an den Wiesen, die sich um das Städtchen zogen, und malte in Wasserfarben die alte Burg hinter dem Flüßchen, den Eichenkamp, der sich fern vom Horizont abhob, oder einen Bauernhof mit wendischem Giebeldach, unter mächtigen Linden halb versteckt. Wenn es dann so einsam war um sie her, wenn die Sonne so goldig auf den Fluren lag, von fern die Mittagsglocke läutete und die Bienen im Grase summten, dann starrte sie mit den dunklen Augen traumverloren in die Ferne; sie sah nicht mehr das, was vor ihr lag: sie sah ein goldschimmerndes Chaos, noch nicht entwirrbar, noch nicht deutlich, aber sie wußte, das war das Glück, und Glück war Ruhm und Reichthum und dann – Er –.

Er mußte etwas sehr Bedeutendes und Vornehmes sein. Nur nicht kleben bleiben in dieser Niedrigkeit; nur hinauf in die durchgeistigte Sphäre der höheren Kreise. Und warum auch nicht? Hilde wußte, sie war talentvoll und – schön! Hinaus aus dieser Enge, wo aus Mangel an Kavalieren die Gymnasiasten sich Fräcke machen ließen und die Kur schnitten wie erwachsene Herren. Hilde hatte nie ein Altwedeler Tanzfest besucht, und wenn die [54] Schwestern sich ihre weißen Kleidchen im Schweiße des Angesichts wuschen und bügelten und das Schleifenband auf die linke Seite umwandten, hatte sie die Achseln gezuckt und gefragt: „Für wen denn?“ Und während die andern tanzten, hatte sie mit offenen Augen daheim in ihrem Bette gelegen und immer nur gedacht: wie komme ich heraus aus dieser Enge, wie fange ich es an, das Leben zu sehen, das wirkliche Leben?

Hilde verstand sich nicht mit ihrer Mutter; das scheue gedrückte Wesen der blassen Frau regte sie förmlich auf. Gewohnt, von allem, was zum Leben gehört, stets nur einen kleinsten Theil beanspruchen zu dürfen, hatte die bescheidene Frau sich ein Wort angewöhnt, das sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, in alle ihre Reden einflocht. „Kinder, wollen wir heute mittag ein ‚bißchen‘ Fleischbrühe essen?“ oder „Wir gehen heute ein ‚bißchen‘ in die Kirche. – Papa hat ein ‚bißchen‘ Kopfschmerz. – Ich habe Grethchen ein ‚bißchen‘ Zeug zum Kleid gekauft. – Hilde, lasse ein ‚bißchen‘ frische Luft ins Zimmer –“

„Großer Gott, Mama, warum denn ein ‚bißchen‘? Die frische Luft wenigstens bekommen wir kostenfrei; Du kannst haben, soviel Du willst!“ eiferte Hilde dann.

„Ach, Kind, sei nicht gleich so heftig, ich denke mir nichts dabei, ich bin immer so ein ‚bißchen‘ zerstreut.“

Ach, dies Leben, das aus lauter ‚bißchen‘ bestand, war furchtbar gewesen für Hilde! Da, endlich hatte sie den Vater vermocht, an die Dresdener Tante zu schreiben, der müde, gebeugte Mann hatte es gethan um des lieben Friedens willen, wie er sagte, und wider Erwarten war eine bejahende Antwort von Frau Polly eingetroffen. Wie eine Bombe war dieser Brief ins Haus gefallen.

Frau von Zweidorf hatte ihr Kind, so gut es ging, ein „bißchen“ ausgesteuert. Gutmüthig gaben die Schwestern, was sie irgend entbehren konnten, zur Verzierung von Hildes Toilette, denn Hilde besaß eine starke Neigung, ihre einfache Kleidung zu verschönern und aufzuputzen, besonders ihre Hüte. Sie nahm ohne Bedenken die struppige Straußenfeder an, die Tonis Stolz war, und heftete sie auf den breitrandigen Rembrandthut, nachdem die Mutter sie ein „bißchen“ gekräuselt hatte. Toni war ja ohnehin nach Hildegards Auffassung aus den Jahren, wo man „Toilette“ macht: sie war zweiunddreißig. Der letzte Tag vor der Reise brachte das schon ungeduldige, aufgeregte Mädchen völlig außer sich: sie ertrug keine der guten Lehren der Schwestern und noch weniger Neckereien. Der Vater aber hatte mit trauriger Miene ein Zwanzigmarkstück auf die Platte seines Arbeitstisches gelegt und gesagt: „Ich gäbe Dir gern mehr, Herzenskind, aber ich hab’s jetzt nicht.“

Hilde wurde fast gerührt, und sie wollte doch nicht gerührt sein; weichliche Menschen bringen es selten zu etwas. Sie konnte es auch nicht noch einmal hören, daß die Mutter sagte: „Ach, Hilde, wenn Du doch ein ‚bißchen‘ Glück hättest!“ – Was sollte sie mit einem „bißchen“ Glück? Viel wollte sie, alles! Wozu das Zaudern?

Sie machte kurzen Prozeß: sie ging einen Tag früher fort. Ganz heimlich traf sie des Morgens um fünf Uhr Anstalten, das Haus zu verlassen; es wahr für sie so leicht, unbemerkt davon zu kommen, denn sie schlief allein in einem Bodenkämmerchen. Nachbars Fritz trug das Reisetäschchen zur Bahn, sie hatte es ihm schon am Abend vorher über den Zaun gegeben. Den Koffer konnten sie ihr ja nachschicken. Sie schrieb ein paar Abschiedsworte auf einen Zettel, legte ihn auf den Küchentisch und schlich sich fort. Vor der Schlafstubenthür der Eltern stockte ihr Fuß einen Augenblick, dann huschte sie desto eiliger die Treppe hinunter. Es war ihr, als hätte die Mutter gesagt: „Hilde, wird es Dir denn nicht ein ‚bißchen‘ schwer, uns zu verlassen?“ – Nein, es wurde ihr nicht schwer, denn vor ihr lag die Welt, die weite Welt!

Es war die erste Reise, die Hilde von Zweidorf unternahm. Eine andere würde das verwirrt und ängstlich gemacht haben, Hilde aber fand sich mit der Sicherheit einer amerikanischen Lady zurecht, die nichts anderes von Kindheit an gethan hat als reisen. Es sang und klang ihr vor den Ohren, selbst das Rollen der Räder wurde ihr zur Melodie, sie fuhr ja dem Glück entgegen!

Wie gut, daß sie nicht noch einen Tag gewartet hatte! Sie hätte ja dann Herrn Jussnitz nicht getroffen! Sie setzte sich hoch im Bette auf und legte die Hände an die pochenden Schläfen – sollte sie denn gleich bei dem ersten Schritt in das Leben hinaus alles finden?

Er hatte sie so eigen angesehen, so voll unverhohlener Bewunderung. Sie vergegenwärtigte sich seine Erscheinung – er war ein schöner Mensch von durchaus feinen Formen. Hilde kannte solche Herren zwar nur vom Hörensagen, aber das Bild, das sie sich von ihnen entworfen hatte, stimmte. Und er war ein Künstler obendrein, sein Name war schon genannt, er hatte Geschmack – welch eine verführerische Frauengestalt war diese Brockenhexe, deren Nachbildung Hilde gesehen hatte!

Mit ihrer leicht erregbaren Phantasie, mit ihrem nach Glück so hungrigen jungen Herzen, mit dem entschlossenen Charakter, für den es nichts Halbes gab, glaubte sie, als der Morgen tagte, ganz bestimmt, daß sie „ihn“ gefunden habe, daß sie ihn liebe und wieder von ihm geliebt sei, und daß ihr in den nächsten Tagen schon ein goldenes Märchenwunder die Erfüllung aller ihrer Wünsche bringen werde. Sie malte sich das alles aus bis aufs kleinste, sie sah sich endlich an seinem Arme durch die Straßen ihres Heimathstädtchens gehen – sie waren auf der Reise nach Italien – und hörte die Leute sagen: „Das ist die Hilde von Zweidorf, die den berühmten Jussnitz geheirathet hat.“

Mit fieberndem Kopf und unnatürlich glänzenden Augen kam sie zum Kaffee in die Wohnstube der Tante Polly. Sie beantwortete zerstreut eine Menge ziemlich neugieriger Fragen, betrachtete wie abwesend die kleinbürgerliche Einrichtung der guten Frau Berger, die in buntgeblümter Nachthaube und ebensolcher Jacke die Honneurs am Kaffeetisch machte, und setzte sich dann ans Fenster.

Tante Polly wischte Staub; hin und wieder warf sie einen fragenden ärgerlichen Blick auf das Mädchen, das mit lässig gefalteten Händen regungslos dasaß und auf die Straße blickte. Es war eine häßliche Straße mit kasernenartigen Häusern; das Haus der Tante, eines der wenigen alten Gebäude, die noch nicht der neuzeitlichen Ausbeutung der Baugründe zum Opfer gefallen waren, stand wie ein Zwerg unter den übrigen bis zum Dach hinauf übervölkerten Riesen. Auf dem Fußsteig, welchen ein dichter Herbstnebel glitschig und feucht gemacht hatte, gingen eilige Menschen hin und wieder – nicht das feine Publikum, das Hildes Augen gestern entzückt hatte, nur Leute, die ihrem Beruf oder einer Besorgung nachstrebten, hastig und geschäftig. Die Pferdebahn klingelte vorüber, Kohlenwagen kreischten auf dem Pflaster, und jetzt kam ein Leichenzug – alles so häßlich, grau in grau in dem Oktobersprühregen.

Tante Polly verließ die Stube, Hilde bemerkte es gar nicht; sie starrte noch immer da hinunter, sie wartete auf irgend etwas. Dort schritt die Tante über die Straße im weiten dunklen Regenmantel, den Schirm in der Hand. Sie wackelte etwas schwerfällig über das Pflaster und stieß, ehe sie in dem gegenüberliegenden Fleischerladen verschwand, mit einem jungen Burschen zusammen. Hilde beobachtete, wie sie sich umdrehte und ihm, ärgerlich kopfnickend, etwas nachrief; der aber kümmerte sich nicht darum, er kam geradeswegs herüber zu dem kleinen Hause. Hildes Herz stockte plötzlich; er trug ein wundervolles Rosenkörbchen in der Hand, und sie wußte mit untrüglicher Deutlichkeit: diese Rosen sind für dich! Sie erhob sich und trat auf den Flur hinaus; drunten klang richtig die Schelle, der Bursche kam die Treppe herauf und fragte nach Fräulein Hildegard von Zweidorf.

„Ich bin es!“ war ihre Antwort. „Von wem?“

„Ist mir nicht bekannt,“ erwiderte der Bote und gab den Korb in die heiße Mädchenhand. Er blieb noch ein Weilchen stehen, des Trinkgeldes harrend und die Thür ansehend, hinter der Hilde verschwunden war, dann stieg er pfeifend die Treppe hinunter. Das Mädchen in der Stube drinnen aber barg das Gesicht in den Blumen und sog den Duft ein, der sie vollends berauschte.

Tante Polly fand sie, wie sie mit rothem Antlitz und zitternd im Zimmer auf und abging, die Rosen in der Hand. „Was ist denn das?“ fragte die alte Dame, die eben ihr Kalbfleisch im Kochofen ansetzen wollte. „Wie kommst Du zu den Blumen?“ Es klang ein sehr mißtrauischer Ton durch diese Worte.

„Ich weiß es nicht, Tante, sie wurden eben hier für mich abgegeben.“

„Das ist ja merkwürdig! Das Ding da kostet um jetzige Zeit wenigstens seine zwanzig Mark. Hör einmal, liebes Kind,“ – und die dicke kleine Tante stand vor der schlanken Nichte mit [55] drohend aufgehobenem Finger und grimmigen Augen, „so Geschichten mit anonymen Blumen und ähnlichem Zeug, die giebt es bei mir nicht – verstanden? Du bist bei einer honnetten Frau und wirst Dich als honnettes Mädchen aufführen, oder die Thür steht offen – da –!“

Dem Mädchen war alles Blut aus dem Gesichte gewichen, das Körbchen mit den Blumen ihren schlaffen Händen entglitten. „Tante,“ stieß sie hervor, „was sagst Du da? Was denkst Du eigentlich?“

„Nur immer gemüthlich! Ich habe Dir bloß auseinandergesetzt, wie wir’s halten wollen,“ war die Gegenrede, und Frau Polly schälte eine Zwiebel über dem Kohlenkasten.

„Ich weiß nicht, von wem der Strauß kommt,“ vertheidigte sich Hilde. „Ich schwöre es Dir, Tante, ich kann nur vermuthen, daß er vom Herrn Maler Jussnitz ist, demselben, der gestern mit mir hierher fuhr, den ich von früher her kenne – seine Eltern wohnten neben uns – und der voraussichtlich mein Lehrer wird.“

„So, so! Na, das wird sich ja finden! Vorläufig kannst Du wohl irgend etwas anfangen, damit Du nicht so herumsitzst und auf dumme Gedanken kommst. Die Strümpfe von der letzten Wäsche sind noch nicht gestopft, auf dem Nähtisch liegt das Garn.“

„Ich – Tante – ich habe Kopfschmerz, ich muß in die Luft hinaus. Ich bin auch nicht hier, um Strümpfe zu stopfen, ich will mich zur Malerin ausbilden. Du erlaubst gewiß, daß ich die Galerie besuche?“

Tante Polly stand noch immer fassungslos mit der Zwiebel in der Hand, als schon die beleidigte Nichte aus der Hausthür trat und die Straße entlang eilte, weinend vor Zorn über die ihr gewordene Behandlung.

Das empörte Mädchen ging immer der Pferdebahn nach und endlich fand sie sich wieder in vornehmen schönen Straßen. Sie frug irgend jemand nach der Gemäldegalerie und man wies sie zurecht. An einer Straßenecke war sie genöthigt, stehen zu bleiben, so lebhaft war der Verkehr von Wagen und Fußgängern. Zwischen zwei Pferdebahnen, einigen Lastwagen und verschiedenen Droschken wand sich ein eleganter Landauer hindurch. Hilde bemerkte zuerst nur die prächtigen Rappen, die vor Ungeduld über den Aufenthalt die Köpfe mit den schaumbedeckten Gebissen in die Luft warfen. Dann zuckte sie zusammen – war das nicht „er“? Der Insasse des Wagens wandte den Kopf zu seiner Nachbarin, einer blonden jungen Frau, deren ovales zartes Gesicht ein einfaches stahlblaues Kapothütchen umschloß. Er mußte es ja sein, so konnten sich doch nicht zwei Menschen gleichen!

Hilde schob sich rücksichtslos durch die Menge, um besser zu sehen, aber da war auch schon Raum auf der Straße geworden und die Equipage sauste davon. Mechanisch ging Hilde, den Wagen mit den Augen verfolgend, nach; etwas Unbekanntes, Quälendes hatte sie erfaßt. Das Gefährt verschwand nach kurzem ihren Blicken; sie wanderte weiter und zermarterte sich den Kopf.

Aber er konnte es ja gar nicht gewesen sein! Er sprach gestern zu ihr von Ringen und Kämpfen, dem er fast erlegen sei, und jener in der prächtigen Equipage sah nicht aus wie ein Künstler, der mit Entbehrungen zu schaffen hat. Und Hilde lachte sich selber aus. Der da im Wagen neben seiner Frau war sicher ein reicher Fabrikant. Sie dachte an ihre Rosen daheim: einer, der neben solch schöner Frau saß, verschenkte nicht Blumen an andere, so heimlich – – Sie ward allmählich ruhiger und faßte Beschlüsse: sie wollte ganz vernünftig werden, sich mit Tante Polly vertragen; vorläufig hing sie ja von dieser ab. Sie fragte nach der Xstraße und kam nach langem Wandern zurück.

Tante Polly lag auf dem Sofa, das Gesicht mit der Schürze zugedeckt, und hielt Mittagsruhe. Die Stube roch nach Fleischbrühe und Nudeln: im Ofen stand ein Schüsselchen, wohl für Hilde zurückgestellt, denn Tischtuch, Teller und Besteck harrten ihrer noch. Die alte Frau erwachte nicht; schweigend holte Hilde sich ihr Essen, und wie eine Else so leise deckte sie nachher den Tisch ab. Sie hatte zu Hause dergleichen nie gethan; sie war da von allen verhätschelt, verwöhnt und als „Talent“ gefeiert worden. Dann öffnete sie leise ein Fenster und suchte sich die Strümpfe zum Stopfen.

Es gelang ziemlich mangelhaft, denn Hilde war ungeübt, und die Rosen, die vor ihr standen, verwirrten sie so, daß sie blaues Garn zu schwarzen Strümpfen nahm. Aber die alte Frau, die, ohne daß Hilde es bemerkt hätte, erwacht war und das schöne Mädchen am Fenster so bemüht sah, söhnte sich aus mit dem Vorhergegangenen; sie lag ganz still und betrachtete das Bild vor ihr und meinte bei sich, daß es doch sehr behaglich sei, so ein junges, frisches Menschenkind um sich zu haben; was an ihr liege, wolle sie versuchen, sie vernünftig zu machen und ihr die Raupen aus dem Kopf zu bringen, welche die Zweidorfsche Wirthschaft darin gezüchtet hatte. Und wenn sich die Hilde einlebte mit ihr, na – dann konnte man ja auch gelegentlich mal an ein Testament denken.

„Höre, mein Hildchen!“ rief sie, plötzlich sich aufrichtend, in unverfälschtem Sächsisch, „wir wollen uns wieder vertragen, gomm her und gieb mir die Hand!“ Und Hilde kam herüber und schlug ein.

„Du darfschst nur nie wieder derartige Aeußerungen thun wie heute früh.“

„Ich weiß sehr wohl, was ich thue, und kenne die Welt, wenn ich auch noch jung bin –“ bemerkte Hilde.

Tante Polly wollte lachen. „Du Kiekindiewelt!“ sagte sie; aber sie verstummte vor dem lodernden Blick dieses jungen Geschöpfes.

„Und,“ fuhr Hilde fort, „ich bitte Dich, nicht zu vergessen, daß ich eine Zweidorf bin und daß unser Wappenspruch heißt: ‚Ueber alles die Ehre!‘“

Taute Polly war ganz roth geworden. Hilde stand da vor ihr wie eine Fürstin, so hoheitsvoll. Tante Polly ahnte plötzlich, daß sie ihren Meister gefunden habe; sie ging ganz betroffen in die kleine dunkle Küche, und dort stand sie wie eine Fremde in ihren eigenen vier Pfählen.

Na, das konnte ja nett werden, wenn das Mädchen beständig ihren adligen Stammbaum ins Treffen führte! Seufzend stieg sie endlich die Treppe hinunter in das Büdchen und schickte den Kleinen der Gemüsehändlerin zu ihrer Aufwartefrau. Es war nichts mit dem Ersparen dieser Hilfe; Tante Polly fand den Muth nicht, ihre hochgeborene Nichte an das Aufwaschgefäß zu befehlen, sie begriff es sogar nicht mehr, daß sie einmal daran gedacht hatte. Sie fand Hilde, als sie wieder heraufkam, in dem kleinen Fremdenstübchen beschäftigt, sich mit Hilfe eines großen Pappdeckels eine Art Staffelei am Fenster zurechtzumachen.

„Es geht nicht,“ sagte das Mädchen, „es ist zu dunkel.“ Und Tante Polly entgegnete, ob Hilde nicht in der guten Stube malen wolle. Als sie es heraus hatte, biß sie sich auf die Lippen; wie kam sie nur dazu? Und doch trieb sie eine nie gefühlte Macht, die Putzstube aufzuschließen und stumm mit anzusehen, wie Hilde eifrig sich dort einzurichten begann; sie nickte ergeben, als Hilde mit einem: „Du erlaubst doch, Tante?“ ein halb Dutzend Porzellanblumentöpfe mit künstlichen Camelien und Rosenblüthen von der Fensterbank entfernte.

„Ich danke Dir vielmals, Tante,“ sagte das Mädchen dann, „ich werde Dein hübsches Zimmer in Ehren halten.“ – Im stillen schauderte ihr vor der Ausstattung des Raumes, besonders vor der Tapete, die kornblumenblau war mit eingestreuten weißen Rosen. Auch störten sie die schrecklichen, von Pfuscherhand gemalten Oelbilder der Tante und ihres Seligen. Aber das war ja alles nur ein Uebergang, eines Tages würde sie weder die blaue Tapete, noch die stümperhaften Porträts mehr zu sehen brauchen! Sie nahm ein Aquarell des väterlichen Hauses, hinter dem ein plumper alter Mauerthurm und hohe Linden empor ragten, vor, und während sie ihre Farbentuben und Pinsel aus ihrem Malkästchen herauskramte, erzählte sie der Tante allerlei von daheim; dann begann sie, an der Skizze weiter zu arbeiten.

„Es stellt so verkleckst aus,“ sagte Tante Polly, „und das Papier ist so grob! Muß das so sein?“

„Ja!“ erwiderte die Nichte kurz, und Tante Polly nickte und setzte sich seufzend mit dem Strickstrumpf an das gegenüberliegende Fenster und beobachtete die Häuser drüben. Sie tröstete sich damit, daß es ja immerhin recht interessant sei, wenn man sehe, daß sie eine Nichte habe, die male.

Aber Hilde konnte nicht immer malen, und die Stunden wollten gar nicht vergehen; wie lang war so ein Tag – wie entsetzlich lang! Sie schlief des Nachts nicht, sie dachte nur immer an den versprochenen Besuch. „In drei Tagen komme ich,“ hatte er gesagt – würde er Wort halten?

Und der dritte Tag brach an. Hilde von Zweidorf saß früh morgens schon an ihrer Arbeit, aber die Farben trockneten ein, denn sie blickte immer auf die Straße. Als die Besuchszeit um die [56] Mittagsstunde vorüber war, gerieth sie in ihre alte fieberhafte Unruhe; sie aß keinen Bissen und ging in Tante Pollys guter Stube auf und nieder wie eine gefangene Löwin. Wenn er sein Versprechen nicht hielt, was sollte aus ihr werden? Daran, daß sie hierher gekommen war, um allein ihren Weg zu finden, dachte sie nicht mehr; sie betrachtete ihr Lebensschifflein als gescheitert, wenn er fortblieb.

Und er kam nicht. Es ward dunkel, Hilde konnte nichts mehr erkennen auf der Straße. Sie stellte sich auf den Flur an das Treppengeländer und horchte auf den Ton der Klingel. Einmal meinte sie, er müsse es sein, es kam jemand in das Haus – ihr Herz ging in mächtigen vollen Schlägen und ihre Glieder zitterten, aber es war nur der Briefbote, der ein Schreiben von daheim brachte. Sie steckte es in die Kleidertasche und wartete weiter. Er kam nicht.

Zum Abend schüttelte sie ein leichter Frost, dem glühende Hitze folgte. Tante Polly sah, daß das Mädchen kaum noch im stande war, sich aufrecht zu halten; tiefe Schatten lagen unter ihren Augen und das Gesicht erschien ganz verändert.

„Um Gotteswillen, geh’ zu Bett, Kind! Werde nur nicht krank!“ Und sie brachte selbst das Mädchen in ihr kleines Kämmerchen. „Schlaf, schlaf!“ sprach sie ihr zu, „Dir hat die frische Luft gefehlt; warum wolltest Du auch nicht ausgehen in der ganzen Zeit? Es kann doch nicht gesund sein, immer zu malen!“

„Ja, ich bin müde!“ stieß das Mädchen hervor. Und als die kleine Frau gegangen war, da wühlte sie den Kopf in die Kissen und stöhnte wie zum Tode getroffen. Der Mann hatte sie einfach zum besten gehabt oder sie längst vergessen, während sie an nichts anderes gedacht hatte als an ihn. Sie ballte die Hände vor Zorn und überlegte, wie sie sich rächen wollte, wenn sie ihn einmal treffen würde. – Sie verstand es in diesem Augenblick ganz gut, daß es Frauennaturen giebt, die einen Ungetreuen zu erdolchen imstande sind. – Sie schlief auch diese Nacht nicht, und am andern Morgen fand sie kaum die Kraft, sich zu erheben; aber die Hoffnung, er könnte doch heute noch kommen, verlieh ihr wieder Muth.

Sie las heute auch den Brief von zu Hause, er war von ihrer Mutter. Die Zeilen flossen über von mütterlicher Zärtlichkeit und Sorge, aber es lag doch etwas Gekränktsein darin. „Als ich Deine Abschiedsworte auf dem Küchentisch fand, Hilde, da hab’ ich recht weinen müssen,“ hieß es, „ich dachte, wenn Du Deine Mutter ein ‚bißchen‘ lieb gehabt hättest, wärst Du nicht ohne Abschied gegangen. Möchten doch nur Deine goldenen Träume zur Wirklichkeit werden, gutes Kind, und Dir alle Enttäuschungen erspart bleiben!“

Hilden drängten sich die Thränen in die Augen; aber zornig wischte sie dieselben hinweg. Wenn die Mutter ahnte, welche Enttäuschung ihr „gutes Kind“ bereits getroffen hatte! Aber das durfte sie nicht erfahren, sie nicht und niemand auf der Welt! Und Hilde nahm wieder ihren Platz ein vor ihrer Malerei und blickte auf die Straße. Die Tante verlangte, sie solle ausgehen, aber sie weigerte sich heftig. Sie wartete. Und als abermals die Dämmerung niedersank, da sprang sie plötzlich wie elektrisirt vom Stuhle auf und sank dann wie ohnmächtig wieder zurück – auf dem Flur fragte eine Männerstimme nach Fräulein von Zweidorf.

Sie hatte die Klingel nicht gehört, hatte ihn nicht kommen sehen – nun war er da und Tante Polly führte ihn herein. Die alte Dame hatte es eilig, die Lampe zu holen, um ihren Gast zu beleuchten; sie fand ihn vor Hilde stehend, die noch immer auf ihrem Platze saß, blaß wie der Tod.

Leo Jussnitz war ungemein liebenswürdig zu Tante Polly; er erzählte von den früheren freundnachbarlichen Beziehungen zur Familie Zweidorf; wie er sich glücklich schätze, Fräulein Hilde hier nützlich sein zu können, die er noch als kleines Mädchen gekannt habe, wie er sich freue, sie nun hier unter dem Schutz einer so liebenswürdigen Tante zu finden, und wie er gekommen sei, das Nähere des Unterrichts wegen zu verabreden.

Tante Polly sah ihm beständig auf seine rechte Hand, aber an dem tadellos sitzenden Handschuh zeichnete sich kein Ehering ab. Hilde sprach noch immer nicht, erst als er sich mit der Frage unmittelbar an sie wandte, ob es ihr genehm sei, morgen mit dem Unterricht zu beginnen, und ob es ihr passe, übermorgen die erste Sitzung zu gestatten, kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück.

„Ja!“ sagte sie kurz; und sie setzte hinzu. „In welchem Kostüm wollen Sie mich malen?“

„Wie anders als mit der spanischen Mantille?“ erwiderte er und blickte sie bewundernd an, „aber Sie müssen aussehen wie heute, so blaß und so zornig und“ – so schön, wollte er sagen, verschluckte aber das letzte.

Sie antwortete nicht. Tante Polly schwieg und wagte nicht mehr, drein zu reden.

„Wo ist Ihr Atelier?“ fragte Hilde endlich.

Er nannte die Straße.

„Guter Gott!“ meinte Tante Polly, „das ist ja am Ende der Welt! Und dahin willst Du alle Tage laufen?“

„Gewiß, Tante! Und in Deiner Gesellschaft wird mir der Weg nicht lang werden,“ antwortete Hilde und zupfte an den gehäkelten Spitzen, die über das Armpolster ihres Stuhles gebreitet waren.

Jussnitz mußte lächeln, denn Tante Polly machte in diesem Augenblick ein sehr wenig gescheites Gesicht. Die gute Dame wußte nicht, ob sie sich wundern oder ärgern sollte über die Ansprüche, die man an ihre Person stellte. Wie konnte sie denn alle Tage – alle Tage –? Ach, ihre Zeit, ihre schöne Zeit! „Aber, ich bitte Dich, Kind,“ begann sie, „bedenke doch!“

„Liebe Tante,“ antwortete Hilde, ganz mit der vornehmen Miene, durch die Frau Polly Berger schon vor drei Tagen zum Schweigen gebracht worden war, „liebe Tante, bedenke Du, daß Du Dir die ungeheure Last, an einer jungen Nichte Mutterstelle zu vertreten, aufgebürdet hast, und daß Dir nun nichts weiter übrig bleibt, als diese Last geduldig zu tragen.“

Tante Pollys Gesicht wurde hiernach nicht klüger aussehend, nur färbte es sich dunkelroth vor Aerger. Das war die Strafe für ihr Mißtrauen: Hildegard verstand es, sich zu rächen.

„Alle Tage?“ stammelte sie hilflos.

„Ja!“ erwiderte Hilde kurz.

„Ich möchte das Bild zu der Berliner Ausstellung fertig haben,“ fügte Jussnitz hinzu.

„In die Ausstellung sollst Du? Was wird denn aber da Dein Vater sagen?“ Tante Polly griff nach jedem Strohhalm, um sich zu retten.

„Tante, ich bitte Dich, das verstehst Du nicht!“ rief das Mädchen erregt und ließ ihre Augen über die kleine Dame hinblitzen.

Jussnitz hielt es für angezeigt, aufzubrechen. Tante Polly trippelte hinaus, um die Flurlampe anzustecken.

„Weshalb kamen Sie gestern nicht?“ fragte Hilde leise und heftig.

Er lächelte; sie gefiel ihm so gut in ihrer zornigen Erregtheit. „Ich bekam eine wichtige Abhaltung, just als ich mich auf den Weg machen wollte.“

„Wissen Sie, was warten heißt?“ fragte sie.

„O ja! Bei Ihnen heißt es so ungefähr –“

„Krankwerden!“ unterbrach ihn Hilde kurz.

Er wußte, sie sprach die Wahrheit; ihre fieberhaften Augen erzählten es ja so deutlich.

„Leben Sie wohl, Herr Jussnitz, und Dank für die Blumen!“ setzte sie hinzu.

Er lächelte wieder. „Und wenn ich diesen Dank gar nicht verdiente?“ fragte er.

Sie stutzte einen Augenblick, dann lächelte auch sie; unbeschreiblich lieblich ward ihr eben noch so düsteres Gesichtchen.

„Bei Gott, ich weiß nicht, ob ich Sie nicht doch lieber ntit lachendem Munde malen soll!“ rief er; und als sie ihm die Hand gab, führte er dieselbe an die Lippen und flüsterte: „Auf Wiedersehen!“

Tante Polly leuchtete dem Gaste die Treppe hinunter. Als sie zurückkam, um der Nichte Vorstellungen zu machen, hatte diese das Zimmer verlassen und war in ihr Kämmerchen geflüchtet; dort gab sie ihren überreizten Nerven nach und weinte, weinte zum Herzbrechen.

Tante Polly stand draußen und forderte vergebens Einlaß; endlich ging sie kopfschüttelnd in die Wohnstube. – Himmel! was sollte das geben? Hübsch und fein ist er, und – man kann ja nicht wissen – in Liebessachen ist das Unwahrscheinlichste am glaubhaftesten. Na, sie würde es den Zweidorfs gönnen. „Ach, Polly, Polly,“ sprach sie halblaut zu sich, „Du bist schön reingefallen mit Deiner dummen Gutmüthigkeit; hoffentlich kommt die Sache bald zu einem guten Ende!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 5, S. 69–72

[69] Auf der Chaussee fuhr, von Dresden kommend, ein offener Wagen in raschestem Trabe daher. Es war ein trüber Dezembertag und es schneite in großen Flocken. Die beiden Herren, die, in Pelze gewickelt, im Wagen saßen, glichen Schneemännern, so dicht legten sich die weißen Sterne auf ihre Kleidung. Herr Jussnitz hatte vom Bahnhof seinen Freund Wolf Maiberg abgeholt, der direkt von Hamburg kam; erst vor wenigen Tagen war er dort glücklich mit dem Dampfboot von Rio de Janeiro eingelaufen und wollte nun das Weihnachtsfest im Jussnitzschen Hause verleben.

Leo Jussnitz schnitt ein verdrießliches Gesicht. „Du wirst Dich erkälten, Wolf,“ brummte er; „welch ein Einfall, im offenen Wagen fahren zu wollen!“

„Wenn Du zu erfrieren fürchtest, laß ihn zumachen,“ war die launige Antwort. „Mir ist es eine Wonne ohne gleichen, einmal wieder Schneeluft, deutsche Schneeluft athmen zu können, Leo.“ Und die breite Brust des Mannes dehnte sich, so tief schöpfte er Athem. Ueber sein hübsches, von fester Willenskraft zeugendes Gesicht, zu dessen sonnverbrannter Hautfarbe der blonde Vollbart und die hellen graublauen Augen fremdartig genug aussahen, flog ein Schatten, als Jussnitz nun wirklich den Befehl ertheilte, den Wagen zu schließen. „Schade,“ sagte er, „diese winterliche Landstraße, die weißen Dächer der Villen in ihren verschneiten Gärten bieten ein so hübsches Bild. Du glaubst nicht, Leo, wie ich mich freute, als ich heute vom Coupéfenster aus die ersten Flocken sah. Das Heimathsgefühl packte mich mit einem Male so mächtig, daß ich –“

„Ich bitte Dich, Wolf, Du kannst noch Schnee in Massen erleben, und ich habe keinerlei Lust, mir einen Schnupfen zu holen.“

Doktor Maiberg sah, durch diesen gereizten Ton aufmerksam gemacht, forschend in das Gesicht des Jugendfreundes, und er bemerkte scharfe Züge, blasse Farbe und matte Augen. „Du fühlst Dich doch wohl, Leo?“ fragte er besorgt.

„Plage Du mich nicht auch mit solchen Fragen, Wolf! Ich kann doch unmöglich noch so aussehen wie vor acht Jahren!“

[70] „Gewiß nicht! So wenig, als ich mir noch gleiche. Die Jahre schreiben ihre Linien auf unsere Gesichter, – aber darum könntest Du doch einen gesunden Eindruck machen, und das ist nicht der Fall – Du siehst nervös aus.“

„Bester Wolf, Du scheinst patientenhungrig!“ lachte Jussnitz ärgerlich.

„Gott soll mich bewahren! Im Gegentheil, ich bin glücklich, einmal keine Klagen hören zu müssen, es thut mir nur leid, Dich nicht so zu finden, wie ich gehofft hatte.“

„Ich dächte, Du könntest aus meinem letzten Briefe –“ begann Jussnitz –

„Ja, freilich – der Brief! Daraus merkte ich es auch schon, daß Deine Gesundheit nicht ganz auf der Höhe ist; das war ja ein wahres Durcheinander von Klagen und Behagen, von Angenehmem und Schlechtem; Du hast ihn in keiner guten Stunde geschrieben, Leo! – Aber, sieh nur, da ist ein Wagen mit Christbäumen,“ unterbrach sich Maiberg und wies mit lächelndem Gesicht auf das Gefährt, das so eilig, als es die schwere Ladung erlaubte, an ihnen vorüberfuhr, die ganze Atmosphäre mit Tannenduft füllend.

„Die sollen heute noch alle an den Mann gebracht werden,“ sagte Jussnitz. „Aber rege Dich nicht auf, bester Wolf; Du wirst einen Lichterbaum bekommen; um Gotteswillen nur keine Sentimentalitäten.“

„Ich? Ich habe nicht die geringste Anlage dazu, Leo, ich möchte nur ein sentimentales Gespräch vermeiden, das Dir schon seit den Begrüßungsworten auf den Lippen zu brennen scheint. Es drängt Dich ja förmlich, mir Dein Herz auszuschütten, ich kenne Dich doch von früher her, Alter, und ich wollte nicht gern darauf eingehen, ich will erst selber sehen, selber prüfen. Ich bin überzeugt, daß es gar nicht so schlimm steht mit Dir, wie Du es in Deinem Schreiben schilderst. Du nanntest von jeher einen einfachen Wirbelwind Orkan und einen Platzregen Wolkenbruch.“

„Du hast wohl immer nach die Ansicht, daß nur der glücklich ist, der es zu sein glaubt?“

„Ganz recht, die habe ich noch immer, denn nicht die Dinge selbst, nur die Begriffe davon sind’s, die uns Kummer machen. Wer behauptet es doch gleich? Nun – es ist einerlei, jedenfalls ist es wahr.“

„Meine Schwiegermutter ist zum Besuch bei uns,“ sagte Jussnitz lakonisch.

Der andere lachte herzlich. „Uebrigens, Leo, da sind ja Weinberge! Nennst Du auch so köstlich Land Dein eigen?“

„Ja, zu Sibyllenburg gehören Weinanlagen,“ antwortete Jussnitz.

„Somit wirst Du mir selbstgekelterten Labetrunk kredenzen an der Pforte Deiner Burg, Leo?“

„Leider keltere ich nicht, habe den ganzen Schwamm verpachtet – die Sorte ist mir zu gehaltvoll. Schade, Wolf, Du würdest die Sibyllenburger Auslese vermuthlich als Rüdesheimer oder Johannisberger trinken, dank Deinem Talente, die Dinge so zu sehen, zu schmecken, zu fühlen, wie Du Dir vornimmst, sie zu finden.“

„So, nun geht’s schon besser mit Dir, Leo, nun erzähle mir von Deiner Malerei: hast Du Dein Bild der schönen Baronin vollendet?“

„Nein! Ich hatte Wichtigeres zu thun, auch war sie eine Zeit lang verreist.“

„Wichtigeres?“ fragte Wolf Maiberg und bückte sich, um ein kleines Packet aufzuheben, das Jussnitz beim Ergreifen seines Foulards mit aus der Tasche gezogen hatte. Aus dem flüchtig zusammengedrückten Seidenpapier lugte ein blaßblaues Plüschetui, dessen Federverschluß aufgespruugen war und etwas Blitzendes, in allen Regenbogenfarben Sprühendes sehen ließ. Der junge Arzt öffnete das Kästchen vollends. „Du siehst, Leo, die Neugier ist noch immer mein Fehler,“ sprach er lächelnd und betrachtete das Schmuckstück. Es war eine sehr kleine Brosche in Form eines Kleeblattes, aber die drei Steine, die sie bildeten, waren vom köstlichsten Feuer, ein Rubin, ein Brillant und ein Saphir. Das Dingelchen machte dennoch einen einfachen Eindruck; man mußte schon Kenner sein, um es zu würdigen.

„Sehr nett, Leo,“ sagte Maiberg. „Ist das der Geschmack Deiner Frau? Mir kommt es vor, als wäre sie etwas mädchenhaft, diese kleine Brosche.“

Jussnitz nahm das Etui und barg es in seinem Pelz. „Sie ist jetzt gerade Mode, diese Zusammenstellung,“ sagte er. „Uebrigens weißt Du, wir sind in der Weihnachtszeit.“

„Ja, es ist reizend, dieses Fest mit seinen Heimlichkeiten; wohl Dir, wenn Du solche allerliebste Sächelchen dabei verschenken kannst, und vor allem, wenn Du weißt, Du erreichst Deinen Zweck damit, Freude zu machen.“

Leo Jussnitz murmelte irgend etwas Unverständliches. Der andere achtete nicht darauf, sein vorher heiteres Gesicht war ernst geworden.

„Ich habe nämlich auch einmal solche blitzende Sternchen verschenken wollen,“ fuhr Maiberg fort – „vor zwei Jahren war es. Ich hatte monatelang dazu gespart und ich war glücklich, wenn ich mir ausmalte, wie ein gewisses Paar dunkler Augen blitzen würde, wenn es auf das Gefunkel der Steine schaute. Ich war gerade dabei, das Etui in einem Strauß Granatblüthen zu verbergen, um es an den Ort seiner Bestimmuug zu senden, da kam der Postbote und brachte mir einen Brief und ich schickte die Brosche nicht ab. Die sie empfangen sollte, schrieb mir, daß sie eingesehen habe, es sei besser, nicht ihr Schicksal an das meine zu ketten; und daß sie sich auf Zureden ihrer Eltern mit dem Besitzer einer Hacienda, die zu den größten und reichsten in ganz Brasilien gehöre, verlobt habe. Da warf ich die Granatblüthen aus dem Fenster und verschloß die Brosche in meinem Schreibtisch. Wie kam ich auch auf den Einfall, eine Frau sollte mein Arbeitsdasein theilen? Es ist doch etwas ganz anderes, wenn man einen Gatten besitzt, der einem Equipagen, Villen und Jachten zur Verfügung stellen kann!“

„Du hast mir ja nie geschrieben, daß Du verlobt warst, Wolf,“ sprach Leo. „Warum hast Du Dich nicht längst getröstet und eine andere gewählt? Lieber Himmel, es giebt Mädchen, reiche Mädchen genug, vermuthlich auch da drüben.“

„Ich hatte sie lieb.“

„Noch immer?“

„Ich habe es überwunden, Leo, ich bin herübergekommen, um mir eine Frau zu holen, eine gute, brave Frau, eine deutsche Frau. Weißt Du – so eine, wie meine Mutter war; kannst Du Dich ihrer noch erinnern? Gleichmäßig freundlich, gütig und mit einem gesunden Menschenverstande begabt, denn alles andere, Leo, ist von Ueberfluß an der, die uns zur Seite gehen soll in guten und bösen Tagen. Ich will ein heiteres Gesicht, ein ruhiges Wesen, wenn ich arbeitsmüde von der Praxis nach Hause komme; – einen geistreichen Sprühteufel, eine von den unberechenbaren Damen, die von mir noch verlangen wollten, daß ich mich in den Frack stürze, Oper und Bälle besuche, die könnte ich nicht brauchen, liebe auch dergleichen nicht und danke Gott, daß ich bewahrt wurde vor diesem Schicksal. Uebrigens, ist der hohe Giebel dort Sibyllenburg?“

„Nein, das ist die Besitzung der Baronin Erlach. Sibyllenburg ist Rokoko, reinstes Rokoko. Bei der nächsten Wendung wirst Du es erblicken.“

„Ich bin sehr neugierig, Leo, auf Dein Haus, Dein Weib, Dein Kind.“

„Du wirst Antje wohl schwerlich sehen, falls Du nicht in die Küche steigen willst. Wir haben Gäste heute abend, und da –“

„Was? Heute abend Gäste?“

„Stört Dich das, Wolf?“

„O bitte, nein! Ich hatte mir – ich hatte an einen Abend gedacht, wo wir beide von alten Zeiten plaudern würden bei einer Flasche Wein, und –“

„Laß die alten Zeiten; mich macht die Erinnerung elend,“ sagte Jussnitz, „aber wir sind da.“

Das Gefährt war in ein Gitterthor eingebogen und hielt gleich darauf vor einer niedrigen glasüberdachten Freitreppe. In der hohen geöffneten Hausthür, über der zwei Genien in krausen Gewändern mit flatternden Schleifen ein Wappenschild hielten, stand eine junge Frau. Es war schon dämmerig, das Licht, welches im Hausflur durch eine von der Decke hängende Lampe verbreitet wurde, fiel auf den goldigen Scheitel eines schön geformten Kopfes. Die Züge vermochte Wolf nicht deutlich zu erkennen, nur daß ein Paar großer Augen aus dem weißen Gesichte schaute, bemerkte er, und daß die ganze Erscheinung hausfrauenhaft und anmuthend dastand in dem schlichten dunklen Gewande und einer blendendweißen Schürze, mit einem [71] Schlüsselkörbchen am Arm. Eine leise angenehme Stimme klang jetzt in sein Ohr. „Willkommen, Herr Doktor, ich freue mich herzlich, Leos besten Freund begrüßen zu dürfen.“

Wolf hatte das Gefühl, als wehe ihn in diesem Augenblick erst die Heimathsluft an, die deutsche Luft, nach der er sich so gesehnt hatte. Etwas wie Rührung überkam ihn, und stumm zog er die Hand der jungen Frau an die Lippen; die Worte wollten ihm nicht recht aus der Kehle. Schweigend folgte er der Frau seines Freundes in das Haus hinein.

Das war sie also, die Leo so unglücklich machte! – Sie hatte ihrem Mann die Stirn zum Kusse geboten und antwortete auf seine Frage, ob Wolfs Zimmer in Ordnung sei, daß sie hoffe, der Gast werde alles zu seiner Zufriedenheit finden. Und mit einem freundlichen Kopfneigen sagte sie zu diesem: „Auf Wiedersehen, Herr Doktor!“ Dann verschwand sie mit dem leise klirrenden Körbchen am Arm hinter der hohen Flügelthür, die in den Speisesaal führte.

Wolf war stehen geblieben und schaute ihr nach. „Wie das gute Wesen selbst!“ murmelte er, als die Thür sich hinter der schlanken Gestalt schloß. Er kam erst langsam zu der teppichbelegten Treppe hinüber, als Leo, welcher glaubte, der Freund sei ihm gefolgt, hinunter rief: „Wo bleibst Du, Wolf? Bitte, hier herauf!“

Er trat in Leos Wohnzimmer und durchschritt das Atelier; es war trotz der frühen Stunde alles hell erleuchtet und machte einen reichen, fast zu prächtigen Eindruck. Auch das Zimmer, welches ihm nun als das seinige geöffnet wurde, war unendlich behaglich und nur zu elegant eingerichtet. Ueberall Teppiche, Bärenfelle, kostbare Luxusgegenstände.

„Mach es Dir bequem, Wolf, eine Tasse Thee oder ein Glas Grog steht sofort zu Deiner Verfügung. Große Toilette ist nicht nöthig; in einer Stunde werden die Gäste kommen – ich hole Dich ab.“

Doktor Maiberg war allein. Den Diener, der den Koffer hereinbrachte und denselben auszupacken sich erbot, hatte er entlassen. In einer Stunde erst wurde er erwartet, so hatte er ja noch lange Zeit. Er setzte sich auf das Sofa und sah im Zimmer umher; er mußte sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß er der Gast Leos sei. – Wie oft war er das gewesen in früheren Tagen! Dann saß er einem übermüthigen fröhlichen Menschenkinde gegenüber auf dem dürftigsten Rohrstuhl, vor dem einfachsten Tisch, den man sich denken konnte. Farben, Papiere, Zeichenstifte und allerhand Malgeräthe waren zusammengeschoben, und inmitten dieses Wirrwarrs summte eine Theemaschine aus Blech; der kleine Kanonenofen in der Ecke der getünchten Kammer war kalt, denn Feuer wurde nur einmal des Tages angemacht, und vor dem gardinenlosen Fenster der Mansarde strich Nachbars Katze über das Dach und wunderte sich, daß die beiden Menschen da innen so herzlich lachen konnten, trotz der Dürftigkeit, der Kälte und des dünnen Grogs.

Was war aus Leo geworden! Doktor Maiberg strich sich hastig über die Stirn. Die schöne schlanke Gestalt der jungen Frau erschien vor seinen Augen: ob sie wirklich so unbedeutend war, wie Leo sie schilderte? Armer Kerl – wenn es so wäre! Es mußte schrecklich sein, im ewigen Kampf mit Kleinlichkeit und Beschränktheit zu leben, schrecklich für jeden Mann, am meisten für einen Künstler. Er malte sich dieses Geistesdarben näher aus; wie entsetzlich, eine Frau zu besitzen, die nur immer wäscht, kocht, backt, die durch ihre bloße Gegenwart die Grazien und die Poesie vertreibt. Leos Brief hatte ihn besorgter gemacht, als er dem Freunde zugestehen wollte. Gottlob, ihre Erscheinung war wenigstens keine prosaische! Wie eine jener holden Frauengestalten war sie ihm entgegengetreten, die Beyschlag so anmuthsvoll malt – sollte wirklich das Innere mit dem Aeußeren in so grellem Widerspruch stehen können?

Und gleich darauf trat er mit einem tiefen Aufathmen vor den Tisch in der Mitte des Zimmers und betrachtete mit bewegtem Ausdruck eine Glasschale, in der anmuthig Tannenzweige und Christrosen geordnet waren. „Das kann nur sie gewesen sein, einer dienenden Person fällt dergleichen doch nicht im Traume ein!“ sagte er halblaut, und er sah sie im Geiste stehen und die Blumen ordnen. – Das zeugte wahrlich nicht von Prosa, dem Weithergekommenen die Blüthen der Heimath als freundlichen Gruß zu bieten!

Das heimliche Wohlbehagen von vorhin beschlich ihn in verstärktem Maße, dann aber fiel ihm ein, daß er im Begriff sei, eine grobe Unterlassungssünde zu begehen – er mußte nothwendig, bevor er in dem Gesellschaftszimmer erschien, der Hausfrau seinen Besuch gemacht haben. Möglichst eilig vollendete er seine Toilette und beauftragte dann einen Diener, ihn bei Frau Jussnitz zu melden. In drei Minuten war der Mann zurück, um ihm zu sagen, daß die gnädige Frau sehr bedaure, den Herrn Doktor nicht empfangen zu können, sie sei augenblicklich in der Kinderstube beschäftigt.

Leo, der eine Sekunde nach dem Diener eingetreten war, lachte, sich in die Kissen des Sofa werfend, kurz auf, als er des Doktors Gesicht erblickte, das ein wunderliches Gemisch von Enttäuschung und Ergebenheit zeigte. „Nimm Dir’s nicht zu Herzen. Wolf,“ sagte er, als der Diener sich entfernt hatte, „die Kinderstube ist die Verschanzung, hinter die sich meine Frau vor jeglicher gesellschaftlicher Pflicht rettet.“

„Nun, eine Kinderstube ist immerhin eine bessere Verschanzung als die übliche Migräne; der Grund hat eine gewisse Berechtigung,“ erwiderte Wolf gelassen.

„Für mich nicht mehr; sie heißt Eigensinn, diese ewige Kinderstube.“

„Vielleicht urtheilst Du zu hart, Leo; ich als Arzt weiß die öftere Anwesenheit der Mutter in der Kinderstube ihrer ganzen Bedeutung nach zu schätzen.“

„Oeftere Anwesenheit und – andauerndes dort Umherhocken ist zweierlei, mein Bester! Meine Frau hat zuverlässige Leute zur Verfüguug, aber – heutzutage –“

„Herr Gott, Leo, das, wofür andere Gott danken, scheint Dir ein Fehler!“ rief Wolf, um die Bitterkeit in des Freundes Urtheil zu mildern. „Sei froh, daß es noch Pflichttreue giebt in einem modern erzogenen Weibe, und daß Du ein solches Dein nennst! Tausend Wetter, Leo, bist Du ein jammersüchtiger, launischer Kerl geworden! Ist dieses trübselige Wesen das einzige, was Du eingetauscht hast gegen Deine sorgenvolle Lage von früher? Du sitzest da in einem Palast wie aus einem Feenmärchen und schimpfst über Kleinigkeiten – oder hast Du nur heute einen besonders schlechten Tag? Vielleicht leidest Du an der Leber; ich werde Dich daraufhin beobachten – es mag wohl so sein. Aber derartige Leute könnten vom lieben Gott mitten in ein Paradies gesetzt werden, und sie nörgelten doch noch!“

„Schon gut, Wolf, schon gut!“ wehrte Leo Jussnitz, als der Doktor scherzhaft Miene machte, ihm die Lebergegend zu befühlen, „sei nur erst acht Tage hier, dann wirst Du anders denken – sprechen wir über angenehmere Dinge! Es ist ohnehin bald sechs Uhr, begleite mich in das Empfangszimmer; die Herrschaften werden gleich da sein, nur Antje wird erst erscheinen, nachdem die Baronin sich bereits mit ihrem boshaftesten Lächeln nach der Hausfrau umgesehen hat.“

Sie stiegen eine kleine Wendeltreppe hinunter, die unmittelbar vom Atelier in das Billardzimmer führte, durchschritten den Speisesaal und betraten den Empfangssalon, der einen wahrhaft fürstlichen Glanz entwickelte. Wolf machte große Augen; er schaute von dem wundervoll erhaltenen Deckengemälde, das den Triumphzug der Venus darstellte und von reichem vergoldeten Stuck umrahmt war, über die mit gelben seidenen Stoffen bekleideten Wände, über das spiegelblanke Parkett, die üppigen Vorhänge, welche Thüren und Fenster verhüllten, über die Menge von Sesseln, Sesselchen und Sofas, alle vergoldet und im urechtesten Rokoko – gewiß, es war alles vollkommen stilgerecht wie ein Saal zu Trianon, aber das Lächeln auf des Doktors Gesicht war nicht mehr frei von Ungemüthlichkeit. „Merkwürdig,“ sagte er zu sich selbst, „ich hatte mir den heutigen Abend so anders gedacht; ich sah während der Fahrt hierher ein sehr behagliches Zimmer, in dem freilich künstlerischer Schmuck auch nicht fehlte; einen weißgedeckten Theetisch sah ich und an ihm drei frohe Menschen, die sich in alte Erinnerungen vertieften. Nun stehe ich hier in einem Prunkzimmer und –“

Die Uhr auf dem Kaminsims, die sechs Uhr schlug, unterbrach sein Selbstgespräch; in demselben Augenblick war unter die Thürvorhänge eine Dame getreten; sie hatte den blonden Kopf zurückgebogen, als musterte sie noch einmal die Anordnung der Tafel im Speisezimmer. Wolf war verstummt: diese schlanke wunderschöne Erscheinung dort im schwarzen Moirékleide, mit einem weißen Fichu um die Taille, das sich über der Brust kreuzte, [72] um rückwärts in eine lose zugeknöpfte Schleife zu enden, wie Marie Antoinette es liebte, – diese Erscheinung war in ihrer einfachen Vornehmheit von geradezu packender Wirkung in dieser schimmernden Umgebung.

Mit leichten Schritten, die rechte Hand ihm entgegenstreckend, kam sie auf Wolf zu, und zwei Augen, von deren „scheinbarer Unergründlichkeit“ Leo nicht zuviel geschrieben hatte, sahen dem jungen Arzt ernsthaft prüfend in das Antlitz, als sie um Entschuldigung bat, daß sie vorhin ihn nicht habe empfangen können, weil sie „die Kleine gerade gebadet habe“.

„Das muß die arme Frau immer selbst thun, sie hat keinerlei Hilfe sonst,“ bemerkte Leo ironisch.

„Doch nicht!“ war ihre ruhige Antwort; „ich thue es nur so gern und – seitdem die Kinderfrau die Kleine beinahe verunglücken ließ.“

„Ich bitte Dich, mein Kind, keine derartigen Erinnerungen!“ rief Leo.

Sie wandte sich zu ihm. „Mama beauftragt mich, sie für heute abend zu entschuldigen; sie fühlt sich, glaube ich, nicht ganz wohl.“

„Ich hatte auch gar nicht angenommen, daß Deine Mutter mit uns essen wollte,“ erwiderte er.

Sie sah ihren Mann groß und ruhig an. „Und wo sollte denn Mama sonst speisen, wenn nicht bei uns?“ fragte sie.

Wolf meinte ein Zucken in dem weichen blassen Gesicht zu sehen; es schnitt ihm ins Herz.

„Herr Gott,“ murmelte Leo, „wir sind lauter junge Leute! Ich denke, sie müßte sich langweilen, und anstrengen obendrein.“

„Mutter – sich langweilen? Sie, welche die Jugend so gern hat?“ Und dunkel erglühend wandte sie sich dem Kamin zu, um einen brennenden Ast, der etwas vorgerutscht war, zurückzuschieben.

„Dafür ist kein Verständniß vorhanden,“ murmelte Leo ärgerlich und verschwand in dem anstoßenden Raum, einem kleinen Gemach, dessen braune goldgepreßte Ledertapete einen sehr wirkungsvollen Gegensatz zu dem leuchtenden Gelb des Empfangszimmers bildete.

Antje brauchte eine ganze Weile, um das widerspenstige Buchenscheit in die gehörige Lage zu bringen und die bewußten zwei Tropfen zurückzuzwingen, die sich ihr in die Augen gedrängt hatten. Jetzt erst begriff sie die Weigerung der alten Dame, an der Gesellschaft theilzunehmen; Leo hatte es ihr wohl sehr nahe gelegt, daß er sie nicht wünsche. Antje empfand es so schmerzlich, als wäre diese Unart ihr persönlich zugefügt worden. Was sollte der Fremde davon denken?

Als sie sich umwandte, stand dieser, ihr den Rücken kehrend, vor einem großen Gemälde, das ein paar nackte, weinlaubbekränzte Putten darstellte, die um und auf einem behaglich ruhenden Panther spielten. „Wie köstlich das rosige Fleisch dieser kleinen Uebermüthigen gemalt ist,“ sagte er, „sehen Sie nur, gnädige Frau, diese Grübchen in den dicken Patschhändchen da, ist das nicht herzig?“

Sie trat dicht neben ihn, ein liebes trauriges Lächeln auf dem blassen Gesicht. „Es ist richtig,“ sagte sie, „die Hand ist so wahr gezeichnet, genau wie die meiner kleinen Leonie.“ Dabei verschwand das traurige Lächeln.

„Darf ich das Kind morgen besuchen?“ fragte er ernsthaft.

Sie nickte eifrig. „Ja, Herr Doktor, bitte! Ich werde es in mein Zimmer bringen lassen, denn Sie holen morgen hoffentlich den mir zugedachten Besuch nach?“

„Ich muß bitten, daß ich im Gemach des kleinen Fräuleins empfangen werde,“ sagte er und schaute ihr mit seinen blauen Augen gutmüthig lächelnd in das Gesicht, „nachdem ich,“ setzte er hinzu, „der Frau Mama in ihrem Zimmer meine Aufwartung gemacht habe, wo ich auch Ihrer verehrten Frau Mutter zu begegnen hoffe.“

Sie empfand diese liebenswürdigen Worte, als wären sie ein Verband, den ihr jemand auf eine wunde Stelle legen wollte, um den Schmerz zu lindern, und der doch noch mehr Weh verursachte, als wenn die Wunde unbeachtet geblieben wäre. „Meine Mutter wird sich freuen,“ antwortete sie kühler, und dann schritt sie rasch einer Dame entgegen, die, begleitet von einem riesengroßen blonden Herrn, herein – Wolf fand keinen passenderen Ausdruck für ihre Art zu gehen – herein gaukelte. Es war wirklich etwas Schmetterlingartiges, Spielendes in der Erscheinung der schlanken, fast zu schlanken brünetten Frau; sie trug ein weißes Kleid, das außer einem unmöglich engen, in einer langen Schleppe endigenden Rock eine Art Blusentaille mit weiten bauschigen Aermeln zeigte und der Trägerin außerordentlich gut stand. Ueber dem etwas zu hohen Stehkragen, den kleine Brillantnadeln zusammenhielten, saß ein zierlicher Kopf mit kurz geschnittenem Haar, zu welcher jungenhaften Tracht die kleinen brillantgeschmückten Ohren einen drolligen Gegensatz bildeten. Das Gesicht war blaß, von dunklen Augen belebt, die halb muthwillig, halb schmachtend in die Welt schauten. Die Nase war sehr kurz und gerade; die blutrothen Lippen schienen beständig zu lächeln, aus keinem andern Grunde, als um zwei Reihen spitzer, weißer, sehr unregelmäßiger Zähne sehen zu lassen, die sich wirklich allerliebst ausnahmen. In der Hand hielt sie an langem Stiel einen kreisrunden Atlasfächer, auf den ein Rokokobildchen gemalt war.

„Ich bitte Sie, liebste Frau Jussnitz,“ rief sie, „setzen Sie meinen Vetter heute abend an das entfernteste Ende der Tafel; er ist auf dem Wege hierher so außergewöhnlich unartig gewesen, daß ich am liebsten vergessen möchte, ihn hier zu wissen.“ Dabei bekam der riesenhafte Vetter, der sich lächelnd den blonden Bart strich, einen sehr lustigen Blick aus den schwarzen Augen seiner Feindin.

Jussnitz stellte die Herrschaften einander vor. Ehe noch Wolf die üblichen kurzen Höflichkeitsphrasen mit der Baronin gewechselt hatte, waren zehn bis zwölf Herren versammelt, die theils Uniform, theils Civil trugen und alle möglichen Stände vertraten.

Die Baronin und Antje waren die einzigen Damen unter ihnen. Die erstere hatte, auf einem Sofa Platz nehmend, sofort die ganze Wolke der Herren um sich.

Wolf, der sich nach Antje umsah, erblickte die junge Frau im Nebenzimmer, wo sie dem Diener irgend eine Weisung ertheilte. Sie kam nach einer Weile herüber und setzte sich auf den äußersten Sessel des Kreises, als sei sie nicht dazu gehörig, und ihre Augen sahen wie abwesend in weite Fernen. Wolf rückte seinen Stuhl zu ihr und versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen, indem er von seinen Reisen zu erzählen begann. Sie schaute ihn aufmerksam an, während er sprach, aber sie ging mit keinem Wort auf den angeregten Gegenstand ein. Als er auch die Schilderung eines Weihnachtsabends in Rio ohne Erfolg gegeben hatte, verstummte er; er fühlte sich müde von der Reise und fand es ganz angenehm, zu schweigen.

Sie schien sein Verstummen gar nicht zu bemerken. Das Lachen der kleinen Baronin, dem jedesmal ein Gelächter der Herren folgte, scholl immer öfter durch den Raum.

„Gnädige Frau sind bereits vor Tisch in einer brillanten Laune,“ rief ein blutjunger Kavallerieoffizier, „was wird es da nachher noch geben!“

„So bin ich immer, lieber Osten, wenn ich mich recht geärgert habe,“ erwiderte die junge Frau, und noch lachend legte sie die Hand in den Arm des Hausherrn, der sie zu Tisch führte. Im Hinausgehen wandte sie den Kopf und sah zu ihrem Vetter hinüber, wobei blitzgeschwind ihre kleine spitze Zunge zwischen den rothen Lippen erschien und das muthwillige Gesichtchen unter dem kurzen Haar täuschend dem eines unartigen Buben glich.

„Unglaublich!“ murmelte der blonde Riese mit seelenvergnügtem Ausdruck. – –

Antje saß oben an ihrem Hausfrauenplatz; rechts von ihr Maiberg, links ein älterer Maler mit langem Künstlerhaar und interessantem, aber sehr verdrießlichem hageren Gesicht, der sich im stillen beharrlich wunderte, warum er, der doch wirklich etwas geleistet hatte im Leben, hungern mußte, während so ein Grünschnabel wie Jussnitz vom Schicksal in Sammet und Seide hineingesetzt wurde. Solche Betrachtungen hinderten ihn indessen nicht, sich die Austern recht gut schmecken zu lassen.

Die Baronin hatte sofort die Unterhaltung an sich gerissen, ihre helle glockenklare Stimme schwebte beständig über dem Lachen der Herren; sie schien heute besonders gut aufgelegt.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 6, S. 85–90

[85] Antje sah ein paarmal musternd über die Tafel, und als sie alles tadellos gefunden hatte von dem reichgestickten Tafeltuch an, das genau dasselbe Muster aufwies wie das Porzellan, bis zu den silbernen mit Blumen geschmückten Aufsätzen, schien sie das, was um sie vorging, nicht mehr zu beschäftigen. Sie senkte die Wimpern und bröckelte kleine Stückchen vom dem Tafelbrot, die sie rein mechanisch zwischen die Lippen schob. Ihr einer Nachbar war vollauf mit Speisen beschäftigt; Maiberg dagegen beobachtete sie mit diskreter Neugier, ohne das Wort an sie zu richten. Sie hatte so ein liebliches blasses Gesicht, aber der Ausdruck war jetzt nicht mehr traurig, nur gleichgültig. Wenn die Baronin gar zu oft lachte, hob sie wie erschreckt eine Sekunde die Augen, dann versank sie wieder in ihre Spielerei.

„Osten und ich wollen diesmal Weihnacht auf Barrenberg feiern,“ sagte der Vetter der Frau von Erlach.

„Es geht ihnen wie dem Hans, der das Gruseln lernen wollte,“ rief die Baronin, „sie wollen die Barrenbergsche weiße Frau spuken sehen.“

„Barrenberg ist ein altes Schloß drüben jenseit der Elbe, das dem Vetter der Frau von Erlach gehört. Im Sommer und Herbst wird es zeitweilig von dem Rittmeister bewohnt; zur Weihnachtszeit aber, überhaupt im Winter, steht es leer. Schon seit vielen Jahren verlassen die Bewohner um diese Zeit das alte Kastell, weil, wie es im Volksmunde heißt, die weiße Frau dort umgeht; es soll dort einst ein Barrenberg um einer schönen Frau willen am heiligen Weihnachtsabend seinen Bruder erstochen haben.“ [86] Diese Erklärung gab der Nachbar dem Doktor Maiberg auf dessen Frage. „Ich glaube nur,“ setzte der Berichterstatter lächelnd hinzu, „daß das Verlassen des alten Nestes um diese Jahreszeit weniger der weißen Frau gilt, als dem lockenden Dresden.“

„Ich möchte den Spuk um die Welt gern mit erleben,“ sagte Frau von Erlach.

„Das können Sie ja haben, Cousine,“ erklärte Barrenberg, „ich lade Sie hiermit ein.“

„Und wen noch?“

„Ja, wie wäre es denn, wenn wir alle, die wir hier sind, Weihnachtsabend in dem alten Bankettsaal feierten?“ fragte Barrenberg.

„Hoffentlich hat es geschneit, dann kann es romantisch werden,“ meinte ein bekannter Landschaftsmaler, „das gelbliche Licht der Kerzen strahlt auf den stillen Burghof hinaus, und wir stehen am Fenster und sehen aus der spitzbogigen Pforte des kleinen Burggärtleins die Gestalt der weißen Frau über den Schnee daherkommen – Sie wissen doch, sie kommt immer aus diesem Garten – und die Spuren ihrer Füßchen bleiben deutlich sichtbar im Schnee – –“

„Und –“ unterbrach die Baronin, „wir löschen die Lichter aus, sehen die Gestalt in den Saal treten und mit gesenkten Augen an uns vorüber schreiten – ich habe jetzt schon Herzklopfen. Also, es gilt, meine Herrschaften!“

„Was wird denn aber aus Deinen beiden Kadetten, Cousine?“ rief Barrenberg belustigt, „Du kannst doch unmöglich ihr kindliches Gemüth mit derartigen Gespenstererlebnissen belasten wollen, und außerdem –“

„Stören sie, Vetter, ich weiß es. Sie bleiben natürlich daheim.“

Allein am Weihnachtsabend?“ fragte jetzt Lieutenant Osten. „Wissen Sie, gnädige Frau, wenn meine Mutter mir das hätte zumuthen wollen – ich –“

„Nun?“ erkundigte sich die schöne Frau und trank einen Schluck Champagner.

„Nun – ich hätte mich mindestens recht gewundert,“ vollendete Osten gelassen.

„Das steht meinen Jungens auch frei,“ erwiderte sie. „Sie bekommen am andern Tage beschert. Ich setze ihnen, zum Trost für meine Abwesenheit, eine große Schüssel mit Weihnachtsleckereien hin, und dann –“

„Verderben sie sich gründlich den Magen,“ schaltete Maiberg trocken ein.

„Ach Gott, Herr Doktor,“ seufzte die Baronin, „es wäre das Schlimmste noch nicht; sie sind dann wenigstens während der Ferien etwas geduckt und nicht so gräßlich laut und lärmend.“ Sie sagte das mit einer so kläglichen Miene, daß die Wirkung eine unwiderstehlich komische war und Baron Barrenberg das Glas erhob.

„Ich weihe dieses Glas der wohlwollendsten Mutter! Also, auf einen kleinen fröhlichen Magenkatarrh Deiner Söhne, Irene, zur Schonung Deiner Nerven!“

Die Baronin stieß an. „Ein fröhliches Wiedersehen, meine Herren, am Weihnachtsabend auf Barrenberg!“ rief sie. „Ich werde die weiße Frau bitten, mit uns zu plaudern; ich wette, sie erzählt uns die schönsten Geschichten.“

Der Rittmeister war aufgestanden und hatte sich ritterlich der jungen Hausfrau mit seinem Glase genähert. „Darf ich hoffen, gnädige Frau, daß auch Sie meine Einladung nicht verschmähen?“

„Sie entschuldigen mich gewiß, Herr von Barrenberg, ich bleibe am Heiligen Abend bei meiner Mutter und meiner Kleinen,“ erwiderte sie sehr bestimmt und sehr kühl.

Er verbeugte sich zurücktretend und suchte seinen Platz auf. Leos Augen sahen unruhig von seiner Frau zu dem Rittmeister hinüber.

„Ein Korb, Jussnitz, ein regelrechter Korb von Ihrer Frau Gemahlin.“

„A bah!“ erwiderte der Hausherr scheinbar leichthin, „wenn ich ihr zurede, kommt sie schon mit – nicht wahr, Antje?“

Aber diese schien es nicht gehört zu haben; sie saß bereits wieder ganz theilnahmlos da und sah auf ihr Glas, in dem der Champagner schon lange keine Perlen mehr trieb.

Achselzuckend wandte sich Jussnitz seiner Nachbarin zu; die Baronin war schon wieder mitten in einer lustigen Geschichte.

„Aber ich versichere Sie, diese Brillanten –“ sie deutete auf die blitzenden Steine des Armbands, das wahrscheinlich Jussnitz bewundert hatte, „haben schon einmal elf Jahre lang in einem Grabe gelegen. Wünschen Sie das Nähere zu erfahren, meine Herren? Es ist ein Gegenstück zu Chamissos Lied von der Weibertreue.“

„Das muß interessant werden – also bitte, erzählen Sie!“ rief man von allen Seiten.

„Sie haben gewiß alle von meinem verstorbenen Onkel Wittelstein einmal gehört?“

„Natürlich, von dem mit den sieben Frauen!“

„Bitte sehr – nur vier! Uebertreiben Sie nicht, Osten!“ tadelte sie. „Also, besagter Onkel wurde in seinen jungen Jahren schon zweimal Witwer; dann, nachdem er drei Jahre seine Letzte betrauert hatte, verlobte er sich abermals. Seine jeweilige Braut oder Gattin war in seinen Augen stets die schönste, die er besessen hatte. Diese Dritte fand er einfach überirdisch, und als sie ihm nach einem Jahre wieder entrissen wurde, war er vor Schmerz so außer sich, daß er ihr ein kostbares Brillanthalsband, welches sie sehr geliebt hatte, mit in die Gruft gab.“

„Diesmal,“ fuhr die Baronin fort, „blieb er elf Jahre lang Witwer, dann aber lernte er eines Tages ein junges Mädchen kennen, gegen das alles, was er bisher gesehen hatte, verblich. Er verlobte sich mit ihm, und natürlich hegte er den Wunsch, die abgöttisch geliebte Braut zu schmücken und zu beschenken. Der eingesargte Brillantschmuck ging ihm dabei sehr im Kopfe herum; weshalb sollte er auch neue Steine kaufen? Die Todte würde ihm nicht zürnen. Heimlich schickte er seinen alten Leibjäger und den Gärtner in das Erdgewölbe. das an einer düstern Stelle des Parkes erbaut war, mit dem Befehl, den Sarg der letztverstorbenen Baronin zu öffnen und den Schmuck zu bringen. – Am andern Morgen stand der alte Jäger vor dem Bette seines Herrn mit niedergeschlagener Miene. ‚Herr Baron,‘ stotterte er, ‚in dem Sarge ist nur noch ein Häuflein Staub.‘

‚Aber die Steine, die Steine!‘ forderte mein Onkel ungeduldig.

‚Die gnädige Frau Baronin sind ganz in Asche zerfallen,‘ entschuldigte sich der alte Mann, ‚ich – –‘

‚Nun, zum Henker, so siebt die Baronin durch!‘ schrie der zärtliche Witwer, ‚und zwar auf der Stelle !‘“ –

Die Erzählerin nahm bedächtig eine kandirte Orange, wählte ein paar Konfitüren und vollendete dann: „Und so wurde meine gute Tante gesiebt!“ Sie sagte das letztere unter dem ihr eigenthümlichen ansteckenden Lachen, und die heitere Gesellschaft – man war schon beim Nachtisch – stimmte lebhaft mit ein.

„Und dies sind die Steine!“ Sie hielt den schönen Arm empor und ließ die Spange blitzen. „Jussnitz,“ bemerkte sie dann, zu ihrem Nachbarn gewendet, „dieses Armband müssen Sie nothwendig auf meinem Bildniß verewigen – wenn Sie vielleicht wieder einmal Zeit finden sollten, einige Striche daran zu thun. Ich bescheide mich natürlich und trete vor so wichtigen und zugleich reizenden Arbeiten, wie Sie augenblicklich vorhaben, gern zurück. Sie wissen, ich bin immer rücksichtsvoll gegen meine Freunde.“

„Was malen Sie jetzt, Jussnitz!“ riefen zugleich mehrere Herren.

„Ein Porträt,“ erwiderte er. Die Wendung des Gespräches war ihm offenbar unangenehm.

„Eine Studie, aber was für eine!“ erklärte Frau von Erlach. „Ich sage Ihnen, weine Herren, diese junge Spanierin ist geradezu bezaubernd; wenn ich nur erfahren könnte, wo das Urbild zu finden ist, ich lüde sie mir ein, nur um auch einmal mich nach Herzenslust an ihrer Schönheit satt sehen zu können. Beiläufig, Frau Jussnitz, sind Sie nicht eifersüchtig – gar nicht?“

Antje erhob sich in diesem Augenblick, ein Zeichen, daß die Tafel beendet sei. Die Herren schnellten von den Stühlen empor und ließen die halbgeleerten Gläser und Flaschen im Stich; die Baronin warf einen spöttisch erstaunten Blick auf die junge Frau, aber das Gesicht Antjes war blaß und ruhig, während sie die Verbeugungen der Herren mit einem leichten Kopfneigen erwiderte und die Herrschaften bat, in den gelben Salon zu treten, um dort den Kaffee zu nehmen.

Bald plauderte man wieder ebenso heiter wie vorher. Die Baronin rauchte eine Cigarette im Kreise ihrer Bewunderer; Antje wurde von dem alten Maler über eine Kopie nach Watteau unterhalten; das Original befinde sich in Pillnitz, erklärte er ihr. [87] Lieutenant Osten bemühte sich, unterstützt vom Hausherrn, einen großen Bogen Papier mit jenen geheimnißvollen Zeichen zu versehen, mittels deren man einen „Tempel baut“. Doktor Maiberg trat erstaunt näher.

„Wie, Leo, Hazard?“

„Sehr harmlos, mein Herr,“ erwiderte Lieutenant von Osten, „ich versichere Sie; es wird nur Nickel gesetzt.“

Leo hatte aufgesehen und eben bemerkt, daß Antje unter den Vorhängen der Zimmerthür verschwand. „Ich bitte Dich, Wolf,“ flüsterte er hastig, „gehe ihr nach, sage ihr, ich lasse sie bitten, so bald als möglich zurückzukommen.“

Maiberg folgte ihr in den Flur und erblickte die junge Frau, wie sie eben die Treppe hinaufstieg. „Gnädige Frau,“ rief er, „gestatten Sie ein Wort!“

Sie stützte beide Hände auf das Geländer und bog sich zu ihm hinunter. Der Lampenschimmer des Kandelabers lag wie Gold auf ihrem blonden Haar.

„Leo läßt Sie bitten, uns nicht auf zu lange Zeit zu verlassen,“ sagte er.

„Ich komme gleich zurück,“ erwiderte sie leise, „ich – –“ sie stockte – „ich wollte nur meiner Mutter gute Nacht sagen und die Kleine einmal sehen,“ vollendete sie rasch.

Er trat zurück und sie schritt vollends hinauf. Welch eine weiche kindliche Stimme sie hatte! –

Und oben, an dem Bettchen der schlummernden Kleinen, da setzte sie sich nieder zu Füßen einer stattlichen älteren Frau und schmiegte den Kopf wie ein müdes Kind an die Kniee der Mutter; sie sprach auch hier nicht, sie streichelte nur die Hände, die großen weißen Hände, in denen sich die Thatkraft der ganzen Persönlichkeit aussprach, als wolle sie durch diese stumme Liebkosung wieder gut machen, was der Mutter weh geschehen war.

„Du glaubst gar nicht,“ begann Frau Klaartje Frey gütig, „welch ein Fest das heute abend für mich war, mein Enkelchen so ganz für mich zu haben. Ich erzählte ihm Märchen und sang ihm Lieder wie Dir einst; es war so hübsch, Antje!“

Die Tochter drückte jetzt einen Kuß auf die Finger, die sie in den ihrigen hielt. Sie wußte ganz genau, die Mutter sagte dies, um jeden Verdacht zu beseitigen, daß sie etwa nicht freiwillig hier oben geblieben sei. Als ob Antje heute nachmittag nicht gesehen hätte, wie die alte Dame ihr grauseidenes Kleid aus dem Schranke nahm und die kleine Brillantnadel aus dem Etui holte, um sich für die Gäste des Hauses zu schmücken.

„Wie Du es nur aushältst, Kind,“ sprach die Mutter weiter; „ich konnte solche Gesellschaften nie ertragen und ich war so recht froh, als Leo auf meine Klage: ‚Ach Gott, ich wollte es wäre erst überstanden!‘ meinte, ich sollte mich doch nicht zwingen!“

Wie sie, um ihr Kind zu schonen, lügen konnte, diese Frau, die sonst die Rechtlichkeit in Person war!

Antje sprach noch immer nicht. Sie erhob sich endlich. „Ich muß wieder hinunter gehen,“ sagte sie mit abgewandtem Gesicht.

„So schlaf wohl, Herz, und unterhalte Dich gut!“ scholl es ihr nach, „ich gehe zu Bette, ich bin sehr müde.“

Auch das war eine Lüge! In dem Schlafzimmer der Frau Klara Frey schimmerte das Licht bis weit über Mitternacht hinaus; sie selbst saß in ihrem pelzgefütterten Morgenkleide am Tische und hatte eine Menge Papiere vor sich. Auf dem vollen Gesicht, das echt holländisches Gepräge trug, lag in diesem Augenblick kein Hauch mehr von jener Herzensgüte, die es der Tochter gegenüber vorhin gezeigt hatte. Es hatte jetzt nur den Ausdruck ernster, banger Sorge und tiefen Widerwillens, und als sie nun mehrere Reihen namhafter Zahlen auf einem Blättchen Papier zusammengerechnet hatte, legte sie den Bleistift weg, faltete die Hände und sah in finsterem Erschrecken auf die stattliche Summe. „Barmherziger Gott!“ flüsterte sie fassungslos. Nach einem Weilchen erhob sie sich müde, wie gelähmt; die Hände, die das Spitzenhäubchen von dem blonden, hier und da mit Silberfäden durchzogenen Scheitel nahmen, zitterten, und ein tiefer Seufzer zog durch das stille Gemach. „Und wenn sie wenigstens glücklich wäre! – Aber das geht doch nicht so fort,“ sprach sie nach einer Weile, „das geht doch nicht!“ –

Dann fuhr sie erschreckt empor; sie hatte keinen Schritt vernommen, nicht gehört, daß die Thür gegangen war – und dort stand Antje, noch in voller Toilette, aber blaß und verwacht, und ihre Augen sahen erstaunt die Mutter an.

„Du bist noch auf, Mütterchen?“ fragte sie.

Die große, etwas starke Dame hatte flüchtig auf die Uhr gesehen; sie zeigte ein paar Minuten nach halb Vier. „Ja, Kind, je älter man wird, um so weniger braucht man den Schlaf. Ich sah die Abrechnungen durch, Du batest mich ja darum, da habe ich Zeit und Weile darüber vergessen; aber, was willst Du denn, Antje?“

Das Gesicht der Tochter war noch um einen Schein bleicher geworden. „Ich wollte Dich bitten – Du bist es ja gewohnt, Mütterchen – Kinder wollen immer etwas von den Eltern, nicht wahr?“ – sie gab sich Mühe, unbefangen zu sprechen, aber sie faßte sich ein paarmal nach der Kehle, als würge sie etwas – [„]also, ich wollte Dich fragen, ob Du mir vierhundert Mark geben könntest – Leo hatte – Leo braucht es augenblicklich, und ich – Du weißt, Mütterchen, das Vierteljahr geht zu Ende, ich habe soviel wie nichts mehr –“

Die Arme waren ihr niedergefallen, und den Kopf hielt sie gesenkt; sie hatte genau dieselbe Stellung wie als Kind, wenn sie einen Wunsch vortrug, von dem sie annahm, er sei gräßlich unbescheiden.

„Jetzt braucht Leo das Geld, in diesem Augenblick?“

„Ja!“

„Aber, ums Himmelswillen, wozu?“ forschte die Mutter.

„Sie haben aus Uebermuth ein wenig gespielt, Mütterchen – Leo macht sich gar nichts daraus, aber die Baronin liebt es so sehr, und nun – hat Leo verloren.“

Frau Bergrath Frey ging ohne weitere Worte an die Kommode unter dem Spiegel und nahm vier Banknoten heraus. „Hier, Antje!“ sagte sie tonlos.

„Ach, Mütterchett, sei nicht böse!“

„Geh’ nur, Kind, und schlafe aus!“

„Liebes Mütterchen –“

„Ich bin todmüde, Antje!“

Die junge Frau küßte die Mutter und entfernte sich mit dem Gelde.

Die Zurückbleibende stand regungslos, die Hände ineinander gefaltet, und sah ihr nach.

„Du barmherziger Gott!“ sagte sie endlich; dann setzte sie sich auf den Lehnstuhl vor ihrem Bette, und es war, als ob diese große starke Frau unter einer unsichtbaren Gewalt zusammenbräche. „Wenn das Frey erlebt hätte; wie seine Prophezeiung wahr zu werden beginnt, Schritt für Schritt in fürchterlichem Ernst!“ flüsterte sie. Und wieder falteten sich ihre Hände; sie sah ihre Tochter lächeln, mit dem traurigen müden Lächeln, das sie früher nie an ihr gekannt hatte. „Hätte sie doch den Ferdinand genommen, hätte sie auf uns gehört! Aber – was nützt das Klagen noch? – Hilf mir, Gott! Laß das Kind nicht verderben, es ist mein Einziges!“ sprach sie im Gebet, und die Thränen flossen ihr über die Wangen. Als jetzt aber vom Hofe unten Lachen und Plaudern herauftönte und dazwischen das Anschlagen von Schlittenglocken, da lösten sich die verschlungenen Hände und die Rechte schloß sich zur Faust. „Noch bin ich da,“ murmelte sie, „fürchte Dich nicht, Antje, noch hast Du eine Mutter, und es soll biegen oder brechen!“




Am andern Morgen stand Antje in der Kinderstube neben Doktor Maiberg am Bette der Kleinen; das Kind fieberte ein wenig, und so hatte sie den Gast bitten lassen, nachzuschauen, ob es etwas Ernstliches bedeute.

Er beruhigte sie, und, entzückt von dem hübschen blonden Kinde, setzte er sich neben das Bettchen und begann mit der Kleinen zu plaudern; dabei schaute er die junge Frau besorgt an. Antje fühlte sich entschieden elend; sie hatte unnatürlich rothe Wangen und ihre Augen schienen trübe und verweint.

„Wird Leo heute nach seinem Atelier fahren?“ fragte der junge Arzt.

„Er hat mir noch nichts gesagt, aber ich denke doch wohl, daß er heute hier bleibt – Ihretwegen, Herr Doktor! – Sie –“

„Das sollte er nicht thun,“ meinte Wolf Maiberg, „seine Beschäftigung darf unter meiner Gegenwart nicht leiden, sonst bin ich genöthigt, meinen Koffer zu packen und weiter zu ziehen.“

„O, einen Tag Pause – –“ antwortete sie zerstreut, „es würde Leo sogar gut thun – er sieht so schlecht aus in der letzten Zeit – finden Sie das nicht auch?“

[88] Aber sie sah den Gefragten nicht an, ihre Blicke irrten ängstlich nach der Thür, die mit einem Teppich verhängt war, dem man allerhand drollige Figuren eingewirkt hatte, Vögel, Katzen, Puppen, Geräthe. Maiberg hörte, daß im Nebenzimmer gesprochen wurde; er hatte in kurzen Sätzen Leos Stimme erkannt, aber eine Frauenstimme, ein merkwürdig tiefes Organ, das langsam, bedächtig sprach, herrschte vor. Zu verstehen war nichts, Antje hätte nicht nöthig gehabt, mit zitternder Hand den Teppich vollends vorzuziehen.

„Hat Leo diesen Fries gemalt?“ fragte der Gast und zeigte hinauf, wo unter dem vergoldeten Stuck des Plafonds ein breiter lichtblauer Streifen sich um das Gemach zog, von dem sich reizende Gruppen spielender Kinder abhoben.

„Ach nein,“ erwiderte Antje, „nur den Entwurf hat er gemacht!“ Und sie horchte abermals nach der Thür hin.

Leos Stimme war jetzt lauter geworden. „Papa – böse?“ fragte die Kleine mit angstvollem Gesichtchen, während sich Maiberg erhob, um sich zu verabschieden. Aber während er noch das Köpfchen des Kindes streichelte, sprach die Frauenstimme nebenan so laut und heftig, daß jedes Wort zu verstehen war:

„Lassen Sie mich ausreden, Herr Sohn, Tausendwetter! Denken Sie, mir machen solche Unterredungen Vergnügen? Schlimm genug, daß sie nöthig geworden sind! Ich sage, Sie werden Ihre Lebensweise ändern, weil Sie es Frau und Kind schuldig sind! Ich will nicht, daß meine Tochter dermaleinst hungern soll! Und wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, Ihren Verhältnissen gemäß zu leben, so treiben Sie Ihre Verrücktheit allein, ich nehme meine Tochter mit Freuden wieder – je eher, je lieber!“

Das letzte hörte Maiberg, als er schon durch den Flur ging, es schallte hier nach deutlicher durch die Thür. Und hinter dem sich eilig Entfernenden zitterte der angstvolle Ruf Antjes: „Aber Mutter – liebe Mutter!“

Im Hause mochte er nicht bleiben; so stieg er die Treppe hinunter und suchte den Garten auf. Dort wanderte er in den Wegen umher, nicht achtend der klaren Winterlandschaft und des duftigen Schnees, dem die Sonne tausendfaches Glitzern und Funkeln entlockte. Diese kräftige Frauenstimme dort oben hatte ihm aus der Seele gesprochen; gestern nacht schon hätte er am liebsten den Freund an den Schultern gerüttelt und gefragt: „Sag’ mal, Mensch, bist Du verrückt geworden? Nennst Du das Geselligkeit, dieses wüste Durcheinandersprechen, dieses Trinken, Rauchen, Spielen? Wohin bist Du gekommen? Kehr’ um, Leo, Du spielst Dir selbst Komödie vor! – Ich kenne Dich besser, Du steigerst Dich in etwas hinein, das Dir gar nicht eigen ist!“ – Doch, was würde das helfen? Wenn Leo eine Idee erfaßte, hielt er fanatisch an ihr fest, und darum hatte die Schwiegermama – denn wer sollte sonst die Sprecherin gewesen sein – ihre Sache beim verkehrten Ende angefangen.

Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich seiner; er machte Pläne zur Abkürzung seines Aufenthaltes. Es ist schrecklich, Gast in einem Hause zu sein, wo der Friede fehlt. Da hörte er seinen Namen rufen, und als er sich umwandte, sah er Leo am offenen Fenster.

„Komm doch herauf, Maiberg!“

Gehorsam schritt der große blonde Mann ins Haus zurück und trat ins Atelier. Leo wanderte dort auf und ab, indem er leise vor sich hin pfiff.

„Setz’ Dich,“ sagte er, „nimm eine Cigarre und tröste mich in meinem Abschiedsschmerz – meine Frau Schwiegermutter verläßt in ein paar Augenblicken das Haus.“

„Du hattest Streit mit ihr, Leo?“

„Keineswegs! Meine Schwiegermama meinte nur so beiläufig, da ich mit dem Malen nichts verdiente, so möchte ich lieber eine andere Stellung in der menschlichen Gesellschaft suchen, etwa als Schreiber in ihrem Kontor oder dergleichen. Wir konnten uns nicht einigen, und so zieht die würdige Dame es vor, mein Haus zu verlassen. Das ist das Ganze. – Sie ist von thatkräftiger Natur und liebt rasche Entschlüsse,“ setzte er hinzu. „Da siehst Du es, binnen einer Viertelstunde ist sie fertig geworden zum Ausrücken, ja, ja, sie ist schneidig, das ganze Arbeiterpersonal daheim zittert vor ihr, Maiberg; wahrhaftig, da fährt der Wagen schon vor.“ Er ging rasch zum Fenster und sah hinunter.

Wolf war neben ihn getreten und beobachtete, wie Antje die alte Dame küßte und immer wieder küßte, und wie sie, als das Gefährt schon davon gerollt war, noch selbstvergessen in dem kalten Ostwind stand und auf die Spuren der Räder im Schnee blickte.

„Deine Frau thut mir leid,“ sagte Maiberg endlich.

„Weshalb? Ich habe ihr freigestellt, die Mutter eine Zeitlang zu begleiten, sie will aber nicht.“

„Die gnädige Frau läßt die Herren zum Frühstück bitten,“ meldete der Diener.

Als sei nicht das Geringste vorgefallen, begegnete Antje ihnen im Speisesaal; nur das verrätherische Zucken in dem blassen Gesicht gab Kunde von ihrer inneren Aufregung. Leo sprach von der letzten Ausstellung in München und von der neuesten Oper; in den Gläsern funkelte Sherry und der Diener kredenzte zum Sauerkraut, mit Austern gekocht, echtes Münchener.

Maiberg mußte immer wieder die Frau betrachten, die zwischen ihnen saß. „Darf ich nachher noch einmal nach meiner kleinen Patientin sehen?“ fragte er.

Sie bejahte freundlich.

„Du besuchst wohl mit Maiberg heute abend die Oper?“ fragte Leo. „Ich habe indeß eine Besorgung; wir fahren dann miteinander wieder heraus.“

„Ja!“ sagte sie abermals und nickte dazu mit dem Kopfe wie ein schöner Automat.

„Aber,“ widersprach Maiberg, „paßt es Ihnen denn auch, gnädige Frau? Sie sehen angegriffen aus und legten sich wohl erst bei Tagesanbruch zu Bette! Leo, ich bitte Dich, ich bin wirklich nicht so vergnügungssüchtig, wie Du anzunehmen scheinst.“

„Dann bleibt davon!“ erwiderte er.

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, so verleben wir den Abend daheim. Ich habe ohnehin Briefe zu schreiben, die ich nicht mehr länger aufschieben möchte.“

„Ja!“ sagte sie zum dritten Male. Dann stand sie auf und ging hinaus.

Gleich nach dem Mittagessen fuhr Leo in die Stadt; Antje hörte den Wagen vom Hofe rollen. Sie befand sich im Eßsaal, beschäftigt, das Silber zu verschließen, das bei der gestrigen Gesellschaft gebraucht worden war. Es war nach vier Uhr und die Dämmerung schon hereingebrochen. Mechanisch wischte sie jeden silbernen Löffel, jede Gabel mit einem zierlich ausgebogten Leder ab und legte Stück für Stück in den blauen Sammet des großen Juchtenkastens.

Ihre Gedanken waren bei Leo. Was mochte er beginnen in seinem gekränkten Stolze? Er that ihr in der Seele leid; nie hatte sie ihre Mutter so heftig gesehen. – Als Antje heute früh schreckensbleich in das Zimmer stürzte, in dem sie die beiden wußte, saß die alte Dame zornesroth am Tische, die Abrechnung des Bankiers vor sich. Die Hand, die eben derb aufgeschlagen hatte, lag noch geballt auf der bunten Decke neben dem Tintenfaß. Leo stand kreidebleich, aber ein überlegenes Lächeln um den Mund, am Ofen, in nachlässiger Haltung, als wärme er sich die Hände.

„Mutter, ich bitte Dich,“ hatte Antje gerufen, „was hast Du eben gesagt!“

„Daß Du mir willkommen bist zu jeder Stunde,“ war die erbitterte Antwort gewesen, „daß ich noch immer einen warmen Platz für Dich habe und daß es mir lieb ist, Du kommst bald, ehe Du mitansehen mußt, wie hier – alles in die Brüche geht!“

„Nun weißt Du es, entscheide Dich!“ hatte Leo trocken erklärt.

Aber sie hatte gar nicht auf ihn gehört. Sie war mit gefalteten Händen auf die Mutter zugetreten und hatte sie nur mit einem flehenden, innig flehenden Blick angeschaut.

„Sie brauchen sich nicht zu wiederholen, Mama,“ hatte Leo weiter gesprochen, „meine Frau weiß, daß ich keine Bilder verkaufe, und daß ich Champagner und schöne Pferde liebe – –“

„Leo, so schweig’ doch davon!“ hatte die junge Frau seine Rede unterbrochen; „was mein ist, ist auch Dein, ich habe mich noch nicht beklagt über Deine Ausgaben! Wenn Mutter es thut, so meint sie es nur gut und – hat vielleicht nicht unrecht. O, ich bitte Euch, vertragt Euch doch, bitte! bitte!“

„Du hast Dich noch nicht beklagt, Kind, das ist wahr. Du würdest ihm auch kein Wort sagen, und wenn heute der letzte Groschen zum Fenster hinausflöge! Deshalb bin ich da, deshalb habe ich ihm einfach vorgerechnet, daß Ihr, wenn Ihr so weiter lebt, noch sechs bis acht Jahre reichet mit Deinem Vermögen – [90] nachher ist’s aus! Oder meinst Du etwa, Ihr könnt das Hüttenwerk so nach und nach zum Butterbrot aufessen? Bei Gott, daß das nicht geschieht, dafür sorge ich!“ Die entschlossene Dame wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Antje schwieg. „Geh’ hinaus, Leo!“ bat sie endlich.

„Ich bedaure! Mich interessirt es, zu hören, was Deine Mutter uns vorschreibt für unseren künftigen Haushalt,“ war Leos Antwort gewesen.

„Nichts weiter,“ hatte langsam Frau Klaartje Frey erwidert, „nichts weiter als das, was Antje lernte, so lange sie in meinem Hause lebte: Einfachheit, Sparsamkeit und Arbeit, Arbeit, wie sie einem Manne geziemt, der für Weib und Kind zu sorgen hat – keine brotlosen Künste! Und nun bitte ich um das Kursbuch.“

Leo war zur Uhr getreten. „Der Schnellzug nach Leipzig geht in dreiviertel Stunden,“ erklärte er sehr ruhig.

„Leo!“ Der jungen Frau war das Herz fast stillgestanden. „Mutter!“ flehte sie nach der andern Seite, „bleib hier – geht nicht so auseinander!“

„Du besuchst mich wohl mal, Antje?“

„Ach, Mutter, es ist ja nicht möglich, daß Du so von uns gehst!“

„Freilich gehe ich! Es soll keiner sagen die alte Frey hetzt ihr Kind gegen den Mann auf. Ich habe Euch gewarnt, und Ihr wißt nun – hilf mir die Sachen packen, Antje!“

Sie war gegangen, ohne sich nach dem jungen Mann umzusehen. Antje bemerkte, wie er ihr eine Verbeugung machte, ironisch tief, bis zur Erde, aber sie sah es durch Thränen. – –

Und endlich war das Silber geordnet. Sie stand da in der farblosen Dämmerung und fürchtete sich fast, so herzenseinsam, so kalt war es um sie her – Leo hatte kein Wort des Trostes für sie gefunden. Er war ihrem suchenden Blick förmlich ausgewichen und sie hätte ihm doch so gern gezeigt, daß sie die harten Worte der erregten Frau nicht billige. Sie grübelte und grübelte, wie sie ihm eine Aufmunterung, eine Anerkennung verschaffen könnte. Ihre Mutter hatte es ja so gut gemeint, wie aber durfte sie ihm Worte sagen, wie das von den „brotlosen Künsten“!

Antje preßte die Handflächen gegen einander in Seelenqual. „Wenn ich nur etwas wüßte,“ lispelte sie, „so eine recht große Freude!“ – Aber es fiel ihr nichts ein; seufzend stieg sie die Treppe empor und suchte ihr Zimmer auf.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 7, S. 101–104

[101] Maiberg hatte um eine Lampe gebeten und wollte schreiben, aber er rührte die Feder nicht an. In tiefe Gedanken versunken lehnte er in einem Winkel des Sofas und rauchte eine Cigarre. Bei Tische war es mehr als ungemüthlich gewesen; Antje hatte wiederum nur Ja! und Nein! geantwortet, Leo war aufgeregt und zerstreut, hatte öfter nach der Uhr gesehen, [102] als gerade schicklich, und war schließlich eine halbe Stunde früher gefahren, als er anfänglich bestimmt hatte. Von den Zurückbleibenden hatte er kurz Abschied genommen mit den Worten: „Langweilt Euch nicht zu sehr!“ – Antje hatte dann noch eine Tasse Mokka am Nebentisch bereitet, war pflichtschuldig neben dem Gaste sitzen geblieben, bis er sie geleert, und hatte kein Wort gesprochen, bis auf „Gesegnete Mahlzeit!“, als sie sich trennten.

Den Kopf in die Hand gestützt, grübelte er nach; auf welcher Seite lag hier die Schuld? Wer von den beiden wehrte dem Glück, diese Schwelle zu betreten? – Es war so still um ihn her, das ganze Haus schien wie ausgestorben. Was mochte die junge Frau jetzt beginnen? fragte er sich. Ob sie wohl wieder vor dem Bettchen des Kindes saß? Ob sie weinte, weil die Mutter sie so rasch verlassen hatte im Unfrieden mit Leo? Er gähnte plötzlich wahrhaftig, es kam ihm gespensterhaft langweilig vor in diesem Sibyllenburg. Endlich nahm er ein Buch in die Hand, es war „Der Hungerpastor“ von Raabe. Er kannte es wohl und liebte es sehr. Ja, ja, Hunger thut weh; es giebt Leute mit viel Hunger und solche mit wenig Hunger, und Leo hatte viel, Antje dagegen schien keinen zu kennen. Daß so zwei zusammenkommen mußten! Und Maiberg wußte, wonach Leo hungerte: nach Ruhm, nach Anerkennung, nach einer befriedigenden Thätigkeit, nach einem Herzen, das mit ihm strebte, mit ihm ehrgeizig war, und das er in seiner Frau nicht finden zu können glaubte. Freilich, sie hungerte wohl auch, sie hungerte nach seinem Vertrauen, nach seiner Liebe, sie hungerten beide nach gegenseitigem Verständniß. –

Ob der Herr Doktor eine Tasse Thee bei der gnädigen Frau nehmen wolle, fragte ein Diener.

Er erklärte sich sogleich bereit und folgte dem Manne durch Leos Atelier und ein kleines Vorzimmer in das „Boudoir der gnädigen Frau“, wie es der Diener bezeichnete. Maiberg schüttelte den Kopf; es war ein grenzenlos kokettes Zimmerchen, in dem er stand. Wände, Sessel und Taburetts mit großblumigem Seidendamast bezogen; die schweren Vorhänge über einem Ruhebette hielt ein reizend modellirter lächelnder Amor aus Bronze zurück. Die Möbel mit Metallverzierungen zeigten anmuthige, aber sehr verschnörkelte Formen. Kostbare Gruppen von altem Meißner Porzellan, meistens Scenen aus der griechischen Götterwelt, standen auf Konsolen, Etageren und vor den Spiegeln. Hier lag ein echter Rokokofächer nachlässig auf einem Tischchen, als hätte ihn eben noch eine schöne Hand gebraucht; dort, auf dem Pult eines prächtig erhaltenen alten Spinetts, stand das Notenbuch aufgeschlagen; Maiberg sah, daß es ein französisches Liebeslied aus der Zeit der Pompadour war; und in dem Bücherschränkchen paradirte in verblichenen rosa und blauen Sammeteinbänden eine ganze Reihe von Erzeugnissen jener Memoirenlitteratur, in der die schönen Seelen von „Anno dazumal“ sich selbst belogen.

Es war ein reizender Maskenscherz, dieses ganze Zimmer, aber undenkbar für den täglichen Gebrauch einer Frau wie Antje.

Sie trat eben ein; ihr graues Cheviotkleid mit dem Besatz aus dunkeln Litzen nahm sich seltsam aus in dieser koketten Pracht.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Gesellschaft leisten zu wollen,“ sprach sie zu Maiberg, „der Thee soll gleich hier sein.“

„Ist dies Ihr Zimmer, Ihr Wohnzimmer?“ fragte er, aus seinem Erstaunen erwachend.

„Es ist mein Zimmer, Herr Doktor, Leo hat es für mich eingerichtet.“

„Und gefällt es Ihnen?“

Sie ward verlegen. „Zum Wohnen ist es mir ein wenig zu ungemüthlich, ich habe neben der Kinderstube ein anderes, das ist –“

„Dann, bitte, lassen Sie uns in diesem andern Thee trinken,“ bat er, sie unterbrechend.

Sie lächelte. „Mir ist es recht, Herr Doktor, aber Sie müssen vorlieb nehmen; Leo sagt, sie sei schrecklich, die Stube.“

„Ich begreife Leo nicht, gnädige Frau! Wie kann man darauf versessen sein, sogenannte stilvolle Gemächer zu bewohnen? Das Zimmer soll den Charakter seines Bewohners zeigen, behaglich, heimlich sein; dieses hier ist lediglich eine Zusammenstellung von Requisiten für die Bühnendekoration eines altfranzösischen Lustspiels! Sie sind doch keine Rokokoschäferin!“ Er sprach ganz ärgerlich, während er ihr über den Gang folgte. „Ich verstehe überhaupt nicht,“ fuhr er fort, „wie Leo jemals ein Bild malen kann in seinem Atelier. Das strotzt ja von Farben und muß verwirren, zerstreuen. Wissen Sie, was Goethe sagt, Frau Jussnitz? Er sagt, eine Umgebung von geschmackvollen, bequemen Möbeln hebe sein Denken auf; prachtvolle Zimmer mit elegantem Hausgeräth seien etwas für Leute, die keine Gedanken haben oder keine haben mögen.“

Sie hatte die Hand eben auf den Drücker einer Thür gelegt, nun wandte sie sich um. „Es ist möglich, daß Goethe recht hat,“ antwortete sie ruhig, „ich meine sogar, dichten kann man auch, wenn man blind ist – ein Maler aber dichtet mit den Augen.“

Er blickte sie überrascht an, sie aber trat still über die Schwelle eines kleinen Zimmers und sagte mit einer anmuthig einladenden Gebärde: „Nun suchen Sie sich einen recht gemüthlichen Platz, Herr Doktor; wenn Sie erlauben, nehme ich mir eine Handarbeit.“

Ja, so hatte er sich ihre Umgebung gedacht. „Hier ist es traut,“ sprach er halblaut und sah umher in dem kleinen Raum mit seiner einfachen und doch so anmuthigen Einrichtung. Dort das Nähtischchen am Fenster unter einer Gruppe Blattpflanzen; der Schreibtisch, das bequeme Sofa, über dem die Bilder eines Herrn und einer Dame hingen, vermuthlich der Eltern der Bewohnerin. Die Aquarellskizze darunter stellte sicher das heimische Nest vor, in dem Antje ihre Jugend verlebt hatte. Allerlei lieber, mädchenhafter Tand hing und stand umher. Da lag die angefangene Arbeit auf dem Tischchen, daneben ein Buch. Maiberg sah, es war ein Kochbuch, „Nürnberger Lebküchlein auf altdeutsche Art“ las er. Aber er konnte nicht lächeln, es überkamen ihn längst vergessene Kindererinnerungen, wie er als kleiner Knirps neben der stattlichen Mama gestanden und das Mäulchen aufgesperrt hatte, damit sie ihn kosten lasse von dem süßen Weihnachtskuchenteig. Und als er näher zum Schreibtisch trat, um über demselben die Inschrift eines sogenannten Haussegens zu lesen, drangen ihm die wunderbaren Worte des Neuen Testamentes in die Seele: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ – Und „die Liebe ist langmüthig und freundlich, sie eifert nicht, sie suchet nicht das Ihre.“

Er wandte sich um und sah sie an, als sähe er sie jetzt zum ersten Male. Sie war am Tische beschäftigt mit dem Thee; wie geräuschlos, wie anmuthig waltete sie! Die kleine roth gestickte Schürze kleidete sie so gut und der Lampenschein lag so friedlich auf dem schlichten goldenen Scheitel; die Uhr tickte und die Maiglöckchen auf dem Blumentisch sandten einen süßen Duft durch den Raum. Von nebenan klang die Stimme des Kindes herüber, das mit seinem Spielzeug plapperte. Eine Welt voll heimlichen, unbeschreiblichen Reizes!

Maiberg hatte sie schon einmal erlebt, diese Stunde, aber wo? aber wann? Oder war es das Ideal seiner Zukunftsträume, das er sich – wie oft schon! – ausgemalt hatte? Er nahm stumm die Tasse aus der Hand der jungen Frau und setzte sich ihr gegenüber, sie aber schraubte die Flamme unter dem Kessel herunter und griff zu ihrer Arbeit; es war ein Kinderschürzchen. Und nun bat sie: „Erzählen Sie mir ein wenig, Herr Doktor, von Leo, als er noch fröhlich und ungebunden mit Ihnen in der Welt umherlief. Es war seine glücklichste Zeit, behauptet er immer. – Nicht wahr,“ setzte sie hinzu, „er war ganz anders früher?“

Er schwieg und rührte in der Tasse umher und sah nicht auf. Erst als er bemerkte, wie sie die Arbeit in den Schoß sinken ließ, begann er, ohne auf ihre letzte Frage einzugehen: „Ja, ja, das waren die Brausejahre, ein jeder muß sie durchmachen. Aber so etwas erscheint in der Erinnerung doppelt schön, weil man das Widrige dabei vergessen hat.“ Er wußte nichts Besseres vorzubringen als diesen Gemeinplatz und sann auf ein anderes Thema.

Da hörte er sie sprechen: „Glauben Sie nicht auch, daß Leo furchtbar unter der mangelnden Anerkennung seines Talentes leidet?“

„Leo ist noch jung, gnädige Frau, und eigentlich fängt er wohl jetzt erst an, ernstlich zu arbeiten.“

Sie stach sich eben in den Finger; ihre Hand, welche die Nadel führte, hatte gezittert. Mit einem ganz veränderten Gesichtsausdruck sah sie an dem jungen Arzt vorüber. Da war es wieder, das erstickende beklemmende Gefühl, das seit gestern von Zeit zu [103] Zeit über sie kam. Ein schönes dunkles Frauenantlitz schwebte ihr in unbestimmten Formen vor den Augen, die spanische Mantille über dem Kopf, mit hohem Kamme aufgesteckt, die Granatblüthe hinter dem Ohr, und sie hörte die helle Stimme der Baronin: „Sind Sie nicht eifersüchtig, Frau Jussnitz, gar nicht?“

Dann schüttelte sie den Kopf, als verjage sie ein widriges Insekt, und seufzte auf. Nein, das war undenkbar, wohin verirrte sie sich. Und laut sagte sie: „Wenn ihm doch das neue Bild gelänge, wenn er Anerkennung fände! Ich glaube, daß es einen großen Einfluß hätte auf seine Stimmung. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?“

„Ganz sicher!“ erwiderte dieser.

„Ich hätte eine Bitte an Sie,“ begann sie nach einer Pause, und ihr Gesicht leuchtete wie das eines Menschen, dem plötzlich ein guter Gedanke gekommen ist.

„Befehlen Sie über mich, gnädige Frau!“

„Sie sollen mir helfen, Leo gesund machen.“

„Mit Vergnügen!“

Sie faltete die Hände über ihrer Arbeit und sah ihn ernsthaft an mit den schimmernden Augen. „Darf ich auf Ihr Schweigen rechnen?“ fragte sie.

„Sicher, Frau Jussnitz.“

„Sie sind genau in Berlin bekannt. Haben Sie noch Beziehungen daselbst?“

„Gewiß!“

In einer Kunsthandlung dort steht ein Bild von Leo zum Verkauf – ich möchte es erwerben. Verstehen Sie, er darf es nie erfahren, es muß von irgend einem Engländer erstanden sein – Sie können das gewiß leicht vermitteln? – Bitte, Herr Doktor, sagen Sie nicht ‚Nein!‘ sprach sie angstvoll weiter, als er schwieg, „Sie glauben nicht, wie viel mir an dem Gelingen meines Planes liegt.“

„Und wenn Leo das jemals erführe?“

„Er darf es nicht erfahren,“ drängte sie, „und wenn – dann trifft mich allein die Schuld. Ich bitte Sie –“

„Ich werde es thun, wenn Sie es für gut halten.“

„Ich danke Ihnen!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie leise. „Ich weiß, Leo wird erstarken an diesem Bewußtsein.“

Dann stand sie auf, ging zu dem Schreibtisch und entnahm ihm eine kleine silberne Sparbüchse. Sie erglühte wie eine Rose, als sie, wie sie glaubte, ungesehen, dieselbe um eine ganze Anzahl Goldstücke erleichterte. „Leo ist nicht allzubillig,“ sagte sie zurückkehrend mit verlegenem und doch glücklichem Lächeln. Und sie schob die blinkenden Münzen in eine kleine grünseidene Börse von Häkelarbeit und überreichte sie Maiberg, der sie mit abgewandtem Gesichte empfing. Er wußte, sie hatte die Sparbüchse der Kleinen geplündert, denn er hatte Leo gestern abend, als er verlor, zu seiner Frau sagen hören: „Hast Du noch Kasse?“ Und als sie den Kopf schüttelte, hatte Leo nur das eine Wort gesprochen: „Mutter!“ Dann war Antje gegangen und mit dem Gelde wiedergekommen.

Maiberg empfahl sich rasch unter dem Vorwande, sogleich einen Brief in dieser Angelegenheit absenden zu wollen. Ein trauriges Lächeln auf den Lippen, trat er in sein Zimmer, und dieser Ausdruck verschwand erst, als er die Feder eintauchte, um einem alten Freunde zu schreiben, der den Kauf des Bildes vermitteln sollte. Er wäre am liebsten hundert Meilen von hier gewesen. Sie wollte ihren Gatten die Kränkung vergessen machen, sie wollte ihn sich retten, sich und dem Kinde, und da meinte sie, es auf diese Weise zu können. Was mochte sie schon alles versucht haben, ihn herüber zu ziehen zu sich! Er haßte Leo in diesem Augenblick.

Und da drüben in der bunten Kinderstube herzte die junge Frau das Kind und sprach mit ihm. „Du bekommst etwas Besseres dafür, Maus, Du bekammst einen guten lustigen Papa, sei Deinem Mütterchen nicht böse. Sieh, wir haben ja kein Glück ohne den Papa, nicht wahr, Maus?“ Und sie faltete der Kleinen die Händchen zwischen den ihren und ließ sie beten, daß dem Papa sein neues Bild gelingen möge, daß es sehr schön werde und allen gefalle, und daß er – sie wurde glühend roth, während sie das sprach, und schaute an dem Kinde vorüber – daß er recht bald damit fertig werde.




Es war am Heiligen Abend. Durch die Straßen Dresdens tobte ein wahrer Orkan, der duftige Flimmer des Schnees war von den Dächern, Statuen und Baumästen geschüttelt, und einzelne schwere Regentropfen fuhren, vor dem Winde hergetrieben, durch die Luft; die Wege überzog ein breiiger Schmutz, der bis auf die Dächer der Equipagen und auf die Hüte der Menschen spritzte. Es sei ein schlechtes Weihnachtswetter, meinten die Leute. Die großen Regentropfen schlugen auch klatschend gegen die Scheiben des Jussnitzschen Ateliers in der stillen Vorstadtstraße, aber es war darum nur behaglicher in dem großen gut durchwärmten Raum, der dem Nichtkenner sehr einfach erscheinen mochte. Die mit blaßgelber billiger Papiertapete bekleideten Wände waren hie und da mit Nachahmungen irgend eines berühmten alten Gobelins geziert; dazwischen standen riesig große Chinavasen und hingen einzelne Waffen. Den Fußboden bedeckte ein täuschend nachgemachter alter orientalischer Teppich, in dem selbst Flecken und Löcher nicht fehltet. Die Möblirung war sparsam; ein mit einer Smyrnadecke belegtes Ruhebette, einige sehr tiefe behagliche Fauteuils, mit Kameeltasche bezogen, ein Tischchen vor dem Ofen, das war alles! An diesem Tischchen, das noch die Reste eines Frühstücks trug, saß Tante Polly auf einem echten Renaissancestuhl, bedächtig eine Kaviarsemmel verzehrend, während ihre Augen unausgesetzt die Nichte oder Herrn Jussnitz beobachteten.

Hilde stand seitwärts von der Staffelei in einem Kostüm aus gelbem Brokat mit schwarzen Spitzen; vom Hinterkopf fiel die Mantille herunter über den schönen Nacken, die rechte Hand hielt den Fächer, die linke hatte in die schweren Falten des Röckchens gegriffen und zerdrückte das Gewebe; sie stand da, als sei sie der Sache überdrüssig und habe die größte Lust, fortzulaufen.

„Weiß der Himmel,“ rief Jussnitz, das Mädchen betrachtend. „Sie bringen es fertig, jeden Tag anders auszusehen! Heute machen Sie ein Paar Augen, daß ich Ihnen statt des Fächers lieber einen Dolch in die Hand geben möchte. Trinken Sie ein Glas Sherry, Hilde, es fröstelt Sie, und seien Sie nicht so schrecklich ungeduldig, Ihre Qualen sind ja bald vorüber.“

Hildegard von Zweidorf lachte ganz kurz und hart auf. „O ja,“ sagte sie, „es wird Zeit, und Tante dankt auch Gott, wenn sie erlöst wird – nicht wahr, Tante?“ Sie drehte den Kopf so heftig herum, daß die großen goldenen Ohrringe mit den beweglichen Sternchen daran blitzten, und sah die kleine Dame finster an, indem sie ihr einen aufmunternden Blick zuwarf, der deutlich sprach: „Wirst Du gleich Ja sagen!“

„Ja,“ sagte Tante Polly, „meine Wirthschaft wird besser dabei wegkommen, wenn ich wieder mehr zu Hause bleiben kann.“

„Und ich,“ setzte Hilde mit zuckenden Lippen hinzu, „ich gehe wahrscheinlich auf einige Zeit nach Hause.“

Leo hatte an dem Haar gemalt, und zwar so eifrig, daß er diese Erklärung überhörte.

„Ich gehe wahrscheinlich nach Hause auf einige Wochen,“ wiederholte sie und schlug den Fächer auf und zu.

„So?“ fragte er nun, „wie kommt das? Für Ihre Studien wird es nicht gerade vortheilhaft sein.“

Sie sah mit eigenthümlichen Augen zu ihm hinüber, Augen, in denen es von unterdruckten Thränen flimmerte. Aber sie lachte wieder. „Nun, ich frage Sie ja auch nicht, weshalb Sie über Weihnachten auf das Land gehen!“

Er antwortete wieder nicht; er war zurückgetreten und schaute das Bild an. „Kommen Sie einmal her, Hilde, sehen Sie sich das Gesicht hier an, und dann betrachten Sie das Ihre in dem Spiegel! Sind beide noch dasselbe?“

„Nein!“ erwiderte sie kurz, ohne sich zu rühren.

„Ich möchte wirklich wissen,“ fuhr er fort und blickte sie jetzt mit einem Zug von Besorgniß in seinem hübschen kecken Gesicht an, „was es mit Ihnen ist. Sie sollten einen Arzt fragen, Hilde; ich fürchte fast, ich muß mir Vorwürfe machen, daß ich –“

„Sie?“ unterbrach sie ihn mit einem schrillen gezwungenen Ton der Verachtung. „Nein, da beruhigen Sie sich, bitte – mir fehlt nichts, gar nichts!“

„Sie sind heute schlechter Laune, Hilde, und verderben mir die Stimmung mit,“ rief er und stellte den Malstock in die Ecke, „ich kann die paar Kleinigkeiten auch ändern ohne Ihre Gegenwart; das Kleid werde ich der Puppe anziehen. Hoffentlich sind Sie in der nächsten und letzten Sitzung etwas gnädiger gestimmt.“

[104] „So bin ich entlassen für heute?“ fragte sie mit einem Lächeln, das nur sehr schlecht ihren Schmerz verbarg.

„Welch ein Ausdruck! Ich merke, daß es Ihnen schwer wird, und will Sie nicht quälen.“

Hilde wandte sich um und ging durch eine Tapetenthür in das Nebenzimmer, wo sie sich umzukleiden pflegte. Leo hatte sich indeß der Tante Polly genähert, die eben ihr Strickzeug zusammenwickelte.

„Wollen Sie heute abend Fräulein Hilde dieses Päckchen unter den Weihnachtsbaum legen?“ bat er, ihr einen kleinen wohlverpackten Gegenstand einhändigend.

„Kann ich ja thun,“ meinte Frau Polly, „ein Bäumchen putzen wir auch, ’s ist zwar eigentlich ein Vergnügen für Kinder, doch man will nun einmal seine Freude haben. Die Hilde wird sich freuen, denn wer sollte ihr etwas schenken, ausgenommen ich? Das sind dann aber Sachen, wissen Sie, die man so wie so haben muß.“ Sie steckte das Kästchen in ihren Pompadour unter den grauen Wollstrumpf und erhob sich, um den Mantel anzuziehen.

Jussnitz vergaß, ihr zu helfen; er war wieder zur Staffelei gegangen und schaute das Bild an.

Nach einigen Augenblicken erschien das junge Mädchen. Sie kam festen Schrittes herüber zu ihm. „Adieu!“ sagte sie kurz und reichte ihm die Rechte, ohne ihn dabei anzusehen.

„Adieu, Hilde!“ erwiderte er und behielt die kleine, heiße Hand fest in der seinen, „Adieu, Hilde, auf Wiedersehen, und glückliche Feiertage!“ Er fühlte, wie sie zitterte; heftig riß sie ihre Hand aus der seinen, so daß der ohnehin etwas weite baumwollene Handschuh zwischen seinen Fingern blieb.

„Danke schön, Hilde!“ rief er mit Lachen. Es klang ebenso gezwungen wie das ihrige vorhin. Er steckte den auf so sonderbare Weise erbeuteten Handschuh in die Tasche seines Sammetjacketts.

Sie zuckte nur stumm die Schultern und ging der Tante voran aus der Thür. Frau Polly rannte mit fliegenden Hutbändern hinterdrein. „Aber so warte doch ums Himmelswillen, ich bin ja noch nicht fertig!“ rief sie fast außer Athem.

Hilde stand schon unten in der Hausthür. Der Wind fuhr sausend an ihr vorüber, er klapperte an den geschlossenen Fensterladen und schlug die Zweige der hohen Bäume zusammen; es war ein weiches, lenzgemahnendes Duften in der Luft. Und das Mädchen starrte mit seinen sehnsüchtigen Augen in die Wolken hinauf, die am Himmel dahinjagten; sie hatte die Lippen geöffnet, als sei sie durstig, und es war ihr, als müßte sie hinausschreien in den Sturm, die Seele damit zu befreien von einer furchtbaren Angst. Die Regentropfen fielen auf ihr blasses Gesicht, das sie nach oben gerichtet hielt, der Wind schob ihr den Hut zurück und zauste ihr dunkles Haar über der niederen Stirn, das traurige junge Antlitz war in diesem Augenblick rührend schön.

„Ist Herr Jussnitz zu Hause?“ fragte plötzlich eine Stimme. Vor ihr, nur um die drei Stufen des Eingangs niedriger, standen ein Herr und eine Dame. Die letztere hatte gefragt; eine sanfte kinderhelle Stimme war es, und aus dem pfaublauen Kapotthütchen, das sie trug, blickte ein liebliches Gesicht.

„Ja!“ sagte Hilde, und indem sie mit beiden Händen nach ihrem Hut griff, um ihn zurecht zu rücken, trat sie zur Seite.

Die Dame kam die Stufen herauf. Ihre Augen sahen groß unter dem Halbschleier hervor in die Hildes. Zögernd trennten sich die Blicke beider von einander, und als Hilde sich umwandte, der jungen Frau nachzusehen, da hatte auch diese ihren Kopf gedreht, und wieder trafen sich die fragenden Blicke. Der stattliche blonde Herr stand noch, den Hut über dem Scheitel haltend, außerhalb der Thür, aus welcher jetzt Tante Polly, knixend und um Entschuldigung bittend, die Nichte hinaus drängte. Dann verschwand auch er im Innern der Villa.

„Wer die wohl sind?“ fragte Tante Polly.

„So komm doch!“ antwortete Hilde ungeduldig. Aber sie dachte das Gleiche, nur leidenschaftlicher, ungestümer.

Vor dem Gartenthor fuhr eine elegante Equipage langsam hin und her.

„Das wird schon denen ihr Wagen sein,“ seufzte Tante Polly und betrachtete den schmutzigen Weg.

„Möglich!“ gab Hilde zu. Und sie wanderten weiter. Tante Polly sprach nicht mehr; Hildegard hatte einmal wieder ihren „übelnehmerischen Tag“, und da half nichts weiter, als daß man sie ruhig austrotzen ließ, wollte man sich nicht ärgern. Und Tante Polly wollte sich nicht ärgern. Erstens bekam ihr das schlecht, und dann – wegen der Zukunft! – „Wenn es nur endlich mal soweit wäre,“ sagte sie sich, „Weihnachten ist doch eigentlich so eine schöne Gelegenheit zu dergleichen; niemals stehen soviele Verlobungsanzeigen in den ‚Nachrichten‘ wie in den Weihnachtsfeiertagen.“

Als die beiden die Pferdebahn erreichten, spendirte Tante Polly das Fahrgeld, weil es doch Heiliger Abend und weil das Wetter gar so gräulich sei. An irgend einem Halteplatz fuhr die Equipage, die sie vorhin bemerkt hatten, rasch an ihnen vorüber. Hilde erkannte durch die Scheiben des Wagens Jussnitz auf dem Rücksitz.

„Das waren ja die Sibyllenburger,“ sagte ein junges Mädchen, welches der Sealskinkragen und die Hutform, sowie das lange schmale Gesicht als Engländerin kennzeichneten, zu einer sehr deutsch aussehenden alten Dame in brochirtem seidenen Mantel, durch deren Fülle Hildes schlanke Gestalt fast verdeckt wurde.

„Kennst Du sie, Maud?“

Yes – nicht eigentlich, ich kenne die Rappen, sie sind sehr schön.“

„Also nach Sibyllenburg geht er!“ sagte sich Hilde; für ihr Leben gern hätte sie gewußt, wo dieses Sibyllenburg liegt. Sie nahm sich vor, die Büdchenbesitzerin zu fragen, nöthigenfalls könnte sie sich eine Karte von Dresden und Umgegend kaufen.

Kaufen – ja kaufen! Hilde verfügte nicht über ein paar Pfennig mehr. Sie hatte nichts gearbeitet; das kleine Taschengeld, das sie sich immer durch Bemalen von Portemonnaies und Fächern verdient hatte, war seit ihrer Uebersiedelung nach Dresden ausgefallen. Sie hatte keinen Pinselstrich gethan, sie war gemalt worden, und an den Nachmittagen, die sie für sich hätte benutzen können, hatte sie träumend am Fenster gesessen, zum Schein eine Arbeit vor sich; oder sie war in folternder Unruhe umher gegangen in den Straßen, weiter, immer weiter, bis sie zum Tode erschöpft heimkam.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 8, S. 117–122

[117] Hildegard erschrak förmlich, als Tante Polly sie am Mantel zupfte und ihr bedeutete, daß sie aussteigen wollten. Sie schob sich wie im Traum hinter der kleinen starken Frau her durch das rege Weihnachtsleben auf der Straße. Was ging sie das alles an? Sie mochte sie kaum sehen, diese lachenden Gesichter von jung und alt, diese bepackten Menschen, diese Buden, diese Christbäume, und sie stieß zornig einen kleinen Knirps zur Seite, der sich mit bunten Papiersternchen an sie drängte und unermüdlich sein: „Nur zehn Pfennig! Es sind die letzten, guteste Dame!“ rief. Der Kleine taumelte rückwärts und die Thränen stürzten ihm aus den Augen. „Nun, nun!“ meinte ein stattlicher Mann und stellte den Jungen auf die Füße, „der kleine Kerl ist doch kein Stück Holz!“ Als er aber das blasse Mädchengesicht gewahrte mit den dunkeln Augen, die förmlich versteint schienen in zorniger Lebensverachtung, verstummte er, und eilig weiterschreitend murmelte er: „Donnerwetter, die sieht desperat aus!“

Tante Polly bemerkte es nicht, wie das Mädchen, wenn man vor diesem oder jenem Schaufenster stehen blieb, mit den Füßen ärgerlich das Trottoir klopfte, sie bemerkte die Blässe und die zusammengepreßten bläulichen Lippen erst, als sie wieder aus dem Fischladen trat, wo sie den winzigsten Karpfen erhandelt hatte, der jemals gefangen sein mochte.

„Große Güte, was hast Du denn nur?“ fragte sie.

„Heimweh!“ war die kurze Antwort.

„Heimweh? Du?“ rief Tante Polly ungläubig, und als Hilde schwieg, setzte sie hinzu: „Da hätt’ ich auch eher gedacht, daß der Himmel einfällt, als daß Du Heimweh bekommst.“

Aber Tante Polly mußte es wohl schließlich glauben, denn die Nichte saß so bleich und still in dem kleinen Wohnstübchen, hörte so wenig auf die verheißungsvollen Anspielungen vom Weihnachtsmann, der diesmal aus „Reichenbach“ komme, daß die Tante seufzend und kopfschüttelnd das winzige Tannenbäumchen in der guten Stube mitten unter den Farben und Skizzenbüchern Hildegards anputzte und sich gestand, ganz allein an solchem Abend sei doch noch besser als mit jemand zusammen, der so unwirsch und unartig sei wie ihre Nichte.

Von den Zweidorfs aus Altwedel war ein Kistchen angelangt, Tante Polly setzte es auf den Tisch unter das Bäumchen und fügte noch einige Paare selbstgestrickter Strümpfe hinzu, dann ging sie in die Küche und richtete ihren winzigen Karpfen zu. Mit Dunkelwerden wollte sie die Lichter anzünden.

Hilde blieb regungslos in der Stube; sie hatte nicht gelogen, sie hatte Heimweh oder bildete sich wenigstens ein, es zu haben. Sie dachte, wie jetzt die Mutter mit ihren paar [118] dürftigen Geschenken in der Schürze und trotzdem frohen Gesichtes in die Weihnachtsstube schlüpfte. Beschert wurde immer daheim in dem ärmlichen Hause, und wenn es noch so kleine Gaben waren, anders hätte der Vater es nicht gethan. Der sparte ja schon von Neujahr ab wieder auf das Fest, und jedes fand etwas auf seinem Plätzchen. Es ist doch etwas Rührendes um so ein Vater- und Mutterherz, trotz aller Armuth giebt es noch! O, wäre sie jetzt daheim, nur auf ein Viertelstündchen!

Nein, sie wollte es doch nicht! Sie setzte sich auf einmal kerzengerade aufrecht in dem alten Ohrenstuhl, der noch vom seligen Berger stammte. Was wollte sie auch zu Hause? Sich fragen lassen, wie es ihr gegangen sei? Was sie geschafft, was sie erreicht und gewonnen habe in der Fremde, von der sie das Glück erhoffte?

Sie lachte leise und bitter. „Nichts!“ sprach sie halblaut, „nichts! – Nichts!“ wiederholte sie noch einmal und ballte die kleine Faust.

Sie hatte nichts gewonnen, sie hatte nur verloren – ihr junges Herz.

Und der, an den sie es verloren, der hielt es nicht der Mühe werth, sich danach zu bücken, oder er that wenigstens so. Während all der Zeit hatte er sie angeschaut mit sehnsüchtigen Augen; ihr Lachen hatte ihn froh gemacht, ihr Mißmuth ihn verstimmt; sie hätte ihn, wie Tante Polly sagte, um den Finger wickeln können, wenn sie nur gewollt hätte, aber Hilde war stolz, und sie wahrte sorgfältig den Schein, als ob ihr nichts an der Gunst dieses Mannes läge. Sie hatten miteinander getollt in den Malpausen, und sie hatten ernsthafte Gespräche miteinander geführt; sie hatte die Blumen an ihre Brust gesteckt, die er ihr schenkte, und jeden Tag war sie mit Herzklopfen, mit heimlicher süßer Bangigkeit die Treppe emporgestiegen nach dem Atelier, immer die Hoffnung in der Brust: heute - heute wird er Dir sagen, daß er Dich lieb hat! – Aber er schwieg, immer, immer!

Und je länger er schwieg, desto ungestümer, desto leidenschaftlicher ward ihr Begehren nach diesem Augenblick.

Sie hatte die unglaublichsten Kümmernisse zu erdulden. War er froh, so meinte sie, er habe gewiß eine andere Liebe und die glückliche Aussicht baldiger Erhörung; war er verstimmt, so glaubte sie, er gräme sich um eine heißgeliebte Ungetreue. Dann wieder, wenn er ihr eine Blume oder ein Buch schenkte, wenn er eine Schmeichelei sagte über ihre Schönheit, wenn seine blitzenden Augen die ihren suchten, befiel sie ein wahrer Taumel von Glück. Sie ging an solchen Tagen nach Hause, als habe sie unsichtbare Schwingen. Sie schrieb dann an die Schwestern ganz närrische übermüthige Briefe, sie herzte und küßte Tante Polly, daß diese fast erstickte, und peinigte die arme Frau mit ruhelosen Fragen über ihr Bild, ob es schön sei, ob ähnlich, und ob sie nicht finde, daß es unvergleichlich gemalt sei. Und andern Tages, wenn er die gewisse Falte zwischen den Brauen hatte, wenn er blaß und verdrießlich jeden Augenblick eine Ruhepause machte und in dieser aus dem Fenster starrte, um ihre Augen nicht sehen, ihr Geplauder nicht beantworten zu müssen, dann fand sie das Bild unter aller Kritik, schalt ihn heimlich einen Stümper, brach die Sitzungen früher ab, als bestimmt war, und weinte zum Erbarmen in ihrem Kämmerchen daheim. Sie nahm sich dann vor, ihm am andern Tage zu schreiben, es thue ihr leid, sie sei nicht imstande, zur Sitzung zu kommen; sie schrieb auch mit zitternden Händen irgend etwas, um es wieder zu zerreißen und dennoch hinzugehen, mit bleichem Gesicht und lachendem Munde. Wenn er dann fragte, warum sie so schlecht aussehe, ob ihr etwas fehle, antwortete sie ganz verwundert: „Was soll mir denn fehlen? Ich bin wohler denn je und vergnügt wie der Fisch im Wasser!“ Und dann zwang sie sich, lustig zu sein und zu lachen, bis ihr die Thränen aus den Augen rannen. –

Endlich war sie ruhiger geworden in dem Gedanken, daß es nach der Fertigstellung des Bildes sich entscheiden müsse. Sie hatte gehofft, er würde es heute vollenden, hatte davon geträumt, daß heute – –

Und da stieg ihr eine glühende Röthe in die Wangen, der ganze große Stolz, den sie besaß, bäumte sich in ihr auf. Sie hörte wieder seine gleichgültige Stimme von heute früh, als er auf ihre so wenig ernsthaft gemeinten Worte: „Ich glaubte, heute würden wir endlich fertig?“ antwortete: „Sie müssen noch einige Male stehen, zwischen Weihnacht und Neujahr; ich werde Ihnen den Tag sagen lassen. Ich weiß noch nicht, wann ich in die Stadt zurückkomme.“

„Sie verreisen?“ hatte sie gefragt.

„Ich gehe aufs Land.“

„Wann?“

„Heute noch.“

Es war ihr so ein halbes Aufschluchzen entschlüpft, aber sie hatte sich gleich darauf lächelnd an die Perlenschnur gefaßt, die eng den schlanken Hals umgab. „Ein bissel Husten, ich glaube, der Ofen raucht,“ hatte sie sich entschuldigt und ihn mit so stolzen Augen angefunkelt, daß er gemeint hatte, er sollte ihr statt des Fächers lieber einen Dolch in die Hand geben.

Ja, stolz war sie, sie wollte ihm nie zeigen, daß sie ihn liebte, nie! Aber sie würde dabei zu Grunde gehen, das fühlte sie. – Sie war so anders geworden, sie weinte so leicht, sie hatte nicht mehr die Kraft von früher, nicht mehr die kühne Zuversicht auf ihr Glück; sie fühlte sich so klein, so arm, so verzagt.

Plötzlich erhob sie sich, um Hut und Mantel zu holen; sie wollte in eine Kirche. Als sie aber auf den Flur trat, riß Tante Polly eben die Thür der guten Stube auf und der Glanz des Weihnachtsbäumchens quoll blendend in die Finsterniß. „Komm rasch!“ rief die alte Frau, und aus ihrer Stimme klang der Jubel, der selbst die ältesten Menschen in dieser Stunde seligen Gebens und Nehmens erfaßt. „Komm, Hilde, Du findest allerlei, auch von daheim!“

Und Hilde stand gleich darauf vor dem Bäumchen und hielt ein kleines Packet in der Hand.

„Das ist von Herrn Jussnitz,“ erklärte triumphirend die kleine Tante. „Mach’s auf, ich bin neugierig. Was meinst Du, Hilde,“ fragte sie dann leise und neckend, „wenn darin ein Ringelchen, so ein ganz schlichtes goldenes Ringelchen – –“

Die schlanken Finger hatten blitzgeschwind das Seidenpapier abgerissen und das kleine Etui geöffnet – farbig sprühten ihr drei Edelsteine entgegen. „Eine Brosche!“ sagte sie enttäuscht, während die Tante aufschrie vor Entzücken.

„Das Briefchen!“ rief die alte Frau, „da ist doch auch ein Brief.“ Aber es war nur eine Karte: „Leo Jussnitz, mit der Bitte um freundliche Aufnahme,“ lasen die zornigen Mädchenaugen.

Hilde warf das Etui und die Karte auf den Tisch, raffte im Flur Hut und Mantel vom Haken und lief hinaus auf die Gasse. Das Gesangbuch hatte sie vergessen, sie dachte auch nicht mehr an die Kirche, nur hinaus wollte sie. Draußen hatte sich der Wind gelegt, ein sternenklarer Himmel wölbte sich über der Erde, und auf den Straßen herrschte noch das letzte eilige Weihnachtstreiben. Behenden Schrittes wand sich Hilda durch das Gedränge und stand endlich nach langer Wanderung vor der einsamen Villa, in welcher das Atelier Leos sich befand. Sie wußte keinen anderen Platz in der großen weiten Stadt, wo sie Erfüllung finden konnte für ihre riesengroße Sehnsucht nach Alleinsein, nach einem stillen Winkel, in dem sie sich nicht zu verstellen brauchte. Nur eine Stunde allein, nur einmal aufschreien können, ungehört, unbedauert!

Sie riß ungeduldig an der Schelle, und als die alte Frau mit der Laterne eilig dahergetrippelt kam, sagte sie, sie habe heute etwas vergessen im Atelier, das sie nothwendig holen müsse.

„Ist recht,“ meinte die Alte und ging, ein Licht zu holen. Mit einer brennenden Kerze stieg Hllde gleich darauf die Treppe empor und schloß das Atelier auf. Sie trat, das Licht in der Hand, vor das Bild und betrachtete es lange. Sie fand es sehr schön in diesem Augenblick; das blaßgelbe Seidenröckchen mit dem schwarzen Spitzenbesatz schien förmlich bewegt von der lebendigen Haltung des Körpers; lächelnd schaute das blasse Gesicht aus der Mantille. So hatte sie vor ein paar Wochen noch ausgesehen, so hatte er sie auf die Leinwand gezaubert, aber das Lächeln hatte sie verlernt.

Sie wandte sich ab, stellte das Licht auf ein Tischchen, warf sich in einen der Lehnstühle am Ofen und starrte auf einen Fleck. „Wenn er jetzt käme,“ sagte sie, „wenn er nur jetzt käme, dann fragte ich ihn, ob er mich liebt. Ach, nur Gewißheit, nur endlich Gewißheit!“ – –

[119] „Sie können wohl nicht finden, was Sie holen wollen?“ ertönte jetzt die Stimme der Alten, welcher das lange Verweilen des Mädchens dort oben befremdlich war.

Erschreckt erhob sich Hilde. „Nein!“ stammelte sie.

„Ist’s etwa ein Handschuh, den Sie suchen?“

Hilde strich sich über die Stirn. „Ja!“ erwiderte sie mechanisch, „ein Handschnh.“

„Der liegt unten bei mir, ich will ihn gleich bringen. Sehen Sie, das ging so zu: wie die Herrschaften heute die Treppe herabkamen, da stand ich unten, ich wollte doch auch einmal die gnädige Frau sehen; und da zog Herr Jussnitz gerade sein Taschentuch, dabei fiel der Handschuh, so ein kleiner, schwarzer, gewebter, aus der Tasche und just der gnädigen Frau vor die Füße. Er hat sich ganz rasch danach gebückt und den Kopf geschüttelt, wie ihn die Frau verwundert anschaute. ‚Wie komme ich denn dazu?‘ sagte er und lachte, und dann gab er den Handschuh mir. ‚Er wird dem Fräulein gehören, bewahren Sie ihn auf, Frau Kirchner!‘ hat er gesagt, und dann ist er mit seiner Frau und dem Herrn hinausgegangen. Ich sollte ja gewiß alle Tage ein wenig heizen, hat er noch zurückgerufen, und die Gnädige hat mir zwei Mark geschenkt, weil ich so gut sorgte für ihren Mann.“

„Die Dame – ich verstehe Sie nicht –“ kam es von zwei todtenblassen Mädchenlippen.

„War seine Frau. – Lieber Himmel, Sie haben sie ja heute früh gesehen! Da hat sie ihn wollen abholen nach Sibyllenburg. Nicht wahr, das ist ein liebes Gesichtel? Der Kutscher sagt, ein wahrer Engel sei sie und überhaupt sei es sehr schön auf Sibyllenburg, und Geld hätten sie, wenn nur sonst alles so recht – – Aber, du Himmlischer, wie sehen Sie denn aus, Fräulein!“ unterbrach sie sich.

„Ich? Wie soll ich aussehen? Kopfweh habe ich – bringen Sie mir Wasser; ich kann jetzt nicht gleich fort, der Weg ist weit – noch einen Augenblick nur –“

Hilde lehnte mit geschlossenen Augen in dem Stuhl. Sie war wie betäubt nach diesem Schlag, aber sie wußte doch, daß es Weihnachtsabend sei, daß sie in dem Raum sich befinde, in welchem alle ihre Hoffnungen emporgeblüht waren, in dem das erste selige Glück ihres jungen Herzens sich erschlossen hatte. Sie hörte die kleine buntemaillirte Uhr ticken und die eiligen Schritte der alten Frau auf der Treppe, sie sah dort drüben ihre schwebende Gestalt auf der Staffelei und sie empfand mit furchtbarer Deutlichkeit, daß ihr eben die Wahrheit berichtet worden war, daß der, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, eine Frau besaß, eine junge, schöne, geliebte Frau, die er niemals ihr gegenüber erwähnt hatte.

Sie lachte kurz auf. Was hatte sie danach zu fragen, ob der Künstler, der sie malte, verheirathet sei? Welche Verpflichtungen hatte er denn, sie aufzuklären über seine Familienbeziehungen? Sie war ja doch nur sein Modell gewesen!

Die kleinen Hände krampften sich um die geschnitzten Löwenköpfe der Stuhllehne, ihre Brust hob sich zu einem tiefen Stöhnen. Wie das nur auf einmal war um sie her? Sie hörte die Thür gehen und stellte sich auf die Füße. „Es ist mir schon besser,“ sagte sie heiser und trank von dem Wasser, dann aber sank sie gleich wieder in ihren Sessel zurück. „Nur noch einen Augenblick möchte ich still sitzen, ganz still,“ bat sie.

Die alte Frau entfernte sich und legte drunten frische Kohlen in ihren Ofen. Sie schüttelte dabei den Kopf und murmelte etwas vor sich hin von Wunderlichkeiten der jungen Leute, die heutzutage allesammt überspannt seien, dann legte sie den kleinen Handschuh bereit, um ihn seiner Besitzerin zurückzugeben, setzte sich schließlich an den Ofen und drehte ein Tannenzweiglein in den Händen, das sie draußen gebrochen hatte, damit sie doch auch wisse, daß heute Christabend sei, und drehte so lange, bis sie einschlief.

Sie erwachte, leise fröstelnd, als just der heisere Kuckuck ihrer alten Wanduhr neunmal rief. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich besann, daß das hübsche Fräulein heute abend noch gekommen war, ihren Handschuh zu suchen – das alte Ding lohnte wahrhaftig solche Mühe und solchen Weg nicht! Ob sie wohl noch da oben saß? Gähnend stieg sie die Treppe hinauf, um nachzusehen, ob sie fort sei, und ob nicht etwa das Licht noch brenne.

Richtig, es brannte noch, und das Mädchen saß auch noch da und sah sie groß an mit zwei starren ausdruckslosen Augen.

„Aber du meine Güte,“ jammerte die alte Frau, „was machen Sie nur noch hier, Fräulein? Sie werden sich erkälten, Sie haben ja nicht einmal eine Zudecke! Ueber Nacht können Sie doch auch nicht hierbleiben – Sie haben sich am Ende gar mit Ihrer Tante gezankt? Das wäre so ein Wunder gerade nicht, aber sehen Sie –“

Sie verstummte plötzlich, denn die Klingel der Pforte schrillte durch die Nacht. „Natürlich, sag’ ich’s nicht? Da kommt gewiß Ihre Frau Tante, und nun wird’s was geben!“ rief sie und lief eilig hinaus.

Hilde rührte sich nicht, mochte Tante Polly doch kommen. Sie dachte nicht einmal über eine Entschuldigung nach, die sie ihr sagen könnte, es war ihr alles einerlei. – Dann hörte sie die hohe Stimme der Frau Kirchner wieder auf der Treppe: „Hier herauf, bitte, die Stufen sind so hoch und – was ich sagen wollte, sie sitzt da, leibhaftig, ihren Handschuh hat sie vergessen gehabt, und –“

„Wie? Die schöne Spanierin selbst – heute abend?“ rief lachend eine glockenhelle Frauenstimme. „Geschwind. Nelly, wenn wir das Original statt der Kopie bringen, machen wir noch größeren Eindruck.“

Hilde erhob sich bei den ersten Worten und ihre Augen suchten nach einem Ausgang, durch den sie entschlüpfen könnte. Sie that ein paar Schritte auf den Eingang zum Nebenzimmer zu – da öffnete sich schon die Thür und in das spärlich erhellte große Gemach kamen, in Pelzmantel und Schleier gehüllt, zwei Damen. Die kleinere lief geradeswegs zu Hilde hinüber, welche verständnißlos auf die Eindringlinge sah, deren Erscheinen hier sie schlechterdings nicht begriff.

„Liebes Fräulein,“ lachte die kleine Baronin. „unsere Begegnung hier hat wirklich einen abenteuerlichen Anstrich und ist doch im Grunde so harmlos wie möglich. Das ist meine Cousine Nelly Benken, ich heiße Irene Erlach, wir wollten Ihr Bildniß holen. Jussnitz erlaubt nämlich nicht, daß wir es ansehen, bevor es in Berlin war. Wissen Sie, nun bin ich eine von denen, die Widerspruch zu allem möglichen reizt; ich sagte also, ich würde meinen Willen durchsetzen, und bot ihm eine Wette an, daß ich und alle die andern seine schöne Spanierin bis morgen gesehen haben würden; dann ließ ich anspannen und machte mich heimlich mit Nelly aus dem Staube. Wir wollten das Bild holen und finden nun das Original! Liebes Fräulein,“ fuhr sie mit glühenden Wangen fort, „seien Sie einmal genial und kommen Sie selbst mit, Sie erweisen uns den größten Gefallen – es giebt die allerschönste Ueberraschung!“

Hilde maß die Sprecherin, die ihren Arm erfaßt hatte, mit einem langen kühlen Blick von oben bis unten.

„Mein Gott, Nelly, so hilf doch zureden!“ rief die Baronin kläglich. „Kommen Sie, liebes Fräulein – darf ich um Ihren Namen bitten?“

„Von Zweidorf,“ sagte Hilde stolz.

„Bitte, liebes Fräulein von Zweidorf –“ die übermüthige junge Frau zeigte einen Augenblick einen etwas verwunderten Ausdruck – „kommen Sie mit. Sie sind doch unter meinem Schutz! Denken Sie sich das Erstaunen unseres Kreises, wenn ich auf so schöne Art meine Wette gewinne.“

„Bitte, bitte, Fräulein von Zweidorf,“ rief auch das junge Mädchen mit dem kecken, frischen Gesicht, in welchem deutlich die Sehnsucht zu lesen war, den Streich, den die Cousine vorgeschlagen hatte, auszuführen.

„Ich tauge nicht für die große Geselligkeit, ich bin Ihnen allen fremd, ich –“

„Ach, ich bitte Sie, wir sind höchstens dreißig Personen, lauter gute Bekannte unter einander; Sie finden ja doch auch Jussnitz mit seiner Frau –“

Hilde zuckte zusammen. – Seine Frau! Ein brennendes Verlangen, dieser Frau gegenüberzutreten in seiner Gegenwart, überkam sie. „Aber ich bin doch nicht für Gesellschaft gekleidet!“ stammelte sie.

„Macht nichts! Wir helfen aus, nicht wahr, Nelly? Deine Sachen würden passen. Schade, daß Sie nicht Ihr spanisches Kostüm –“

„Das ist hier im Nebenzimmer,“ sagte Hilde.

Die kleine Baronin schlug vor Entzücken in die Hände. „O, das paßt ja herrlich, wir wollten heute abend allerhand Unsinn [122] anstellen – ich bitte Sie, eilen Sie sich, ziehen Sie sich als Spanierin an! Nelly,“ wandte sie sich lebhaft zu ihrer Begleiterin, „das wird ja eine köstliche Geschichte! – Haben wir denn hier nicht ein wenig mehr Licht?“ Und sie riß die Thür auf und rief durch das stille Haus nach einer weiteren Lampe; dann drängte sie Hilde in das Nebengemach hinein. „Bedenken Sie, wir haben noch ein gutes Stück zu fahren, machen Sie so rasch als möglich, ich flehe Sie an.“

Die alte verschlafene Frau brachte ihr Lämpchen, und Frau von Erlach stürmte damit in das Zimmer, wo Hilde sich umzog mit zitternden Händen.

Die junge Dame im Atelier hörte von drinnen das Knistern der Seide, das leise Krachen des spanischen Jäckchens und das eilige Gebahren der beiden. Und als nach einigen Minuten Hilde über die Schwelle schritt, stockte ihr fast der Athem über solch verblüffender Schönheit. Die Baronin aber trat rasch mit der Lampe zur Staffelei. „Sieh her, Nelly, rasch!“ rief sie.

Sie blieben beide stumm, und Nellys Augen sahen enttäuscht aus.

„Mittelmäßig – nicht wahr?“ flüsterte die Baronin auf französisch. Hilde hörte es nicht. Dann wickelten sie die reizende Spanierin in ihren Mantel und entführten sie unter Lachen und Neckereien aus dem Hause.

Frau Kirchner lief kopfschüttelnd mit dem Laternchen hinterdrein. „Die mögen sie mitnehmen, meinetwegen!“ knurrte sie, „aber das Bild, das Bild hätte ich nicht hergegeben.“ Und als der Wagen durch die Nacht davonbrauste, sah sie ihm nach mit ärgerlichem Blick.

„Mag was Schönes sein, was die da vorhaben mit ihrer Mummerei zum heiligen Christabend; – mich dauert nur so eine arme Frau, die zu allen Tollheiten noch lächeln muß.“

Und sie dachte, während sie heimging, an ein Paar klarer kindlicher Frauenaugen, die mit einem ganz unbeschreiblich bangen Ausdruck auf einen kleinen schwarzen Handschuh geschaut hatten, der aus ihres Mannes Tasche gefallen war.

„Mag was Schönes sein, was die da vorhaben,“ murmelte sie noch einmal und drehte mit einem kräftigen Ruck den Schlüssel der Hausthür herum.




Die geplante Weihnachtsfeier der Baronin Erlach konnte nicht auf dem spukhaften Schlosse ihres Vetters stattfinden. Die alten Kamine und Oefen, die ein halbes Jahrhundert und länger nicht benutzt sein mochten, weigerten sich bei dem glücklicherweise zur rechten Zeit gemachten Versuche, ihre Schuldigkeit zu thun, und der herbeigerufene Sachverständige sprach von umfassenden Ausbesserungen, die mindestens einige Wochen in Anspruch nehmen würden. So mußte Herr von Barrenberg seiner Cousine die betrübende Nachricht bringen, daß er zu seinem lebhaftesten Bedauern seine Gäste nicht auf Barrenberg empfangen könne, dafür aber doch inständig bitte, den Festabend in seiner Stadtwohnung begehen zu wollen.

Nun, es war kein großes Unglück. Nachdem Irene von Erlach eine halbe Minute geschmollt hatte, überstürzte sie sich mit hundert Vorschlägen für die Feier und versprach dem „kleinen Vetter“ – er maß beinahe zwei Meter – gewissenhaft die Pflichten der Wirthin zu erfüllen. Sie hatte allerhand phantastische Ideen für die Ausschmückung des Bescherungssalons und überlegte, wer geladen werden solle; denn der praktische Vetter, der sich nur in der Noth dazu verstand. seine Räume auch Familien zu eröffnen, wollte, weil er nun doch einmal „am Abmachen“ sei, gleich noch einige Einladungen ergehen lassen an Leute, denen er es „eigentlich schuldig“ sei. Irene suchte mit ihm allerlei reizende kleine Geschenke aus, versprach, für einen prachtvollen Christbaum und für einen „lebendigen“ Weihnachtsengel zu sorgen, fuhr mit ihm zum Koch und dachte an jede Kleinigkeit, so daß Barrenberg sich schließlich selbst auf den „Zauber“ freute und punkt fünf Uhr am Heiligen Abend an der ersten Thür seiner graßen eleganten Junggesellenwohnung die Gäste mit dem stillvergnügten gutmüthigen Lächeln empfing, das seine große, etwas täppische Persönlichkeit so anziehend machte.

Neben ihm stand Frau von Erlach in einem weißen Seidenkleid mit Besatz aus Marabu, über dessen duftigem Flaum sich das dunkle, übermüthige Köpfchen noch reizender als sonst ausnahm. Hinter ihr lachten und flüsterten zwei allerliebste blonde Mädchen, Melly und Nelly von Benken. Nichten Barrenbergs, die er sich eigens für diesen Abend von seiner Schwester erbettelt hatte. Sie waren unter die Obhut der kleinen Baronin gestellt und hatten Erlaubniß, bis zum ersten Januar die Freuden der Großstadt und die Gastfreundschaft der Baronin zu genießen. Die beiden, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen, machten ihre allerliebsten, noch etwas an die Tanzstunde gemahnenden Knixe, je nach dem Range der Eintretenden verschieden tief und mit den feierlichsten Gesichtern, was sie aber nicht hinderte, gleich nachher die Köpfe zusammenzustecken und zu kichern. Es kamen ja aber auch zu kostbare Menschen hier zusammen! Da waren die ehemaligen Kameraden des Onkels, der lustige Lieutenant von Osten vor allen, dann eine alte asthmatische Frau Oberst in grünem Sammetkleide, die sich in einem fort umsah, die Lorgnette vor den Augen; da kam eine fabelhaft elegante Frau Siegsfeld, die Witwe eines Jagdfreundes; ferner ein junger Mann in unmöglichem Civil, dessen Kravatte viel zu roth und dessen junge Frau viel zu schön für ihn war. Er sollte ein Klaviervirtuose sein, bei dem der Onkel Unterricht nahm.

„Denke Dir unseren braven Onkel, wenn er mit seinen Tatzen das Klavier schlägt,“ flüsterte Melly Nelly zu.

Da war ferner eine gefeierte Schauspielerin, die den Einfall, sie zum Weihnachtsabend einzuladen, „ganz süperbe“ fand, die, ihren Federfächer schwingend und sehr nach dem neuesten Parfüm duftend, sich vor ihr Bild stellte, das im rothen Sammetrahmen über einem kleinen Divan hing, und mit einem Augenaufschlag, den Nelly hinterher vergebens einzuüben suchte, den lieben Barrenberg von einer rührenden Anhänglichkeit fand.

Es kam der General von soundso mit Frau und vier Töchtern, von denen die jüngste dreißig Jahre zählte und welche sämmtlich lange weiße Gesichter mit blassen Lippen, zahllose Sommersprossen und röthliches Haar hatten. Die beiden auf Weihnachtsurlaub befindlichen Brüder begleiteten sie, immer auf der Jagd nach einer reichen Frau, keine Gelegenheit versäumend, um eine solche zu finden, und heute doppelt aufmerksam, denn die beiden Benkens hatten neben all ihrer Niedlichkeit den großen Vorzug, daß sie dereinst Barrenbergs Erbinnen werden sollten – so sagte man. Daß Barrenberg erst vierzig Jahre alt war, das kam weiter nicht in Betracht bei dieser Angelegenheit, heirathen würde er ja doch nie aus purer Bequemlichkeit.

Die jungen Dämchen setzten bei der Begrüßung der beiden Offiziere eine etwas hochmüthige Miene auf und verhielten sich der auffallenden Liebenswürdigkeit der vier Schwestern gegenüber ebenfalls kühl.

„Das könnte mir passen,“ erklärte Nelly. Als eben wieder jemand hereinkam, stieß Melly Nelly an und sagte: „Du, sieh einmal, Nell –“ aber unwillkürlich machten sie beide gleichzeitig eine tiefe Verbeugung, als der Onkel sagte: „Meine beiden Nichten, Frau Jussnitz.“

Die vier klaren Mädchenaugen sahen Antje an, die am Arme ihres Mannes eingetreten war, und beim Anblick dieses weichen Frauengesichtes, das ihnen so angenehm unter allen den andern erschien, vergaßen sie ihre harmlose Spottsucht. „Du, die hat geweint,“ flüsterte Nelly Melly zu. Diese nickte zustimmend, und beide schauten sie der Frau nach, deren lange dunkelbraune Sammetschleppe eben unter der Thür nach dem Nebenzimmer verschwand.

„Es ist unglaublich,“ sagte die Baronin leise zu ihrem Vetter, „welch eine Atmosphäre von Langweiligkeit diese Frau umweht. Du hättest Jussnitz eben nicht so fürchterlich quälen sollen, daß er sie mitbringt – mein Gott, da sie noch dazu gar nicht einmal gern kommt!“

„Aber Irene!“

„Schweig’ doch, Vetter; sie paßt nun mal nicht her, wenn wir lustig sein wollen.“

Nelly steckte ihr Köpfchen zwischen Onkel und Tante. „Ich finde sie sehr reizend,“ sagte sie nachdrücklich, „und jetzt gehe ich zu ihr und sehe zu, ob sie wirklich so langweilig ist.“

Nelly führte ihren Vorsatz auch aus, kam aber bald zurück und gesellte sich mit enttäuschtem Gesichtchen zu ihrer Schwester, die mit Lieutenant Osten plauderte. „Ach Gott,“ sagte sie altklug, „es ist nicht alles Gold, was glänzt.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 9, S. 133–138

[133] Während die Gesellschaft in den eleganten Räumen Barrenbergs bunt durcheinander wogte, saß Antje ganz allein an einem Marmortischchen und blätterte in einem Jagdalbum. Sie wäre so gern daheim geblieben, aber sie hatte keinen stichhaltigen Grund zu diesem Verlangen. Ihre Mutter weilte nicht mehr auf Sibyllenburg, die saß einsam in dem alten Herrenhause in der Heimath, und das Kind war noch so klein. Antje hatte ihm nachmittags, als sie aus der Stadt zurückgekehrt war, ein Bäumchen angezündet, und vorhin, als sie fort fuhr, da hatte es sich schon müde gespielt und schlief, sie brauchte daher nicht zu Hause zu bleiben. So war sie denn hier, einsamer noch als die ferne Mutter, mit ihrem schweren, bewegten Herzen. Das Lachen und Plaudern um sie her hörte sie nicht, die vielen Menschen sah sie nicht, – sie blätterte in dem Buche und erblickte doch nichts weiter als immer dasselbe, was sie seit heute früh vor Augen hatte: ein schönes Mädchengesicht, zwei kleine Hände, die einen Hut zurechtrückten auf dunklem seidigen Haar, und – die eine Hand war ohne Handschuh. Dann sah sie wieder Leo und sah einen winzigen Handschuh, der aus seiner Tasche fiel, und hörte sein kurzes, befangenes: „Wie komme ich denn dazu?“

Antje war thöricht, recht thöricht! Sie schalt sich selbst so und konnte dennoch nicht loskommen von ihrem Grübeln, von dieser kleinen, an sich so unbedeutenden Geschichte. Sie wünschte, sie dürfte eine Menschenseele ihr eigen nennen, der sie vertrauensvoll sagen könnte, was sie quälte, die ihr ins Gewissen reden, die ihr vorhalten würde: „Antje, auf welch häßlichen Wegen schickst Du Deine Gedanken spazieren“ – – Wenn sie sich nur ein Herz fassen könnte, zu ihm selbst zu reden! Aber ein merkwürdig beklommenes Gefühl überkam sie bei der Vorstellung, wenn sie ihn fragen würde: „Leo, sei nicht böse, mir ist so angst – ich – lache mich nur aus, ich bin, glaube ich – ein wenig eifersüchtig auf die kleine Spanierin – – sag’ mir einmal, daß das alles dummes Zeug ist –“

Sie ward bei diesem Gedanken glühend roth, ihre Finger zitterten und das Herz klopfte ihr, als würde sie von jemand über etwas Unrechtem ertappt.

„Wie ist’s denn, Frau Antje,“ ertönte da die Stimme Maibergs neben ihr, „ich fand noch gar nicht Gelegenheit, Sie zu fragen, was Leo zu dem Verkaufe seines Bildes gesagt hat?“

Sie sah ihn überrascht an. „Hat denn Leo diese Nachricht schon bekommen?“

„Ja freilich! Heute früh.“

Antje fühlte ihr Herz plötzlich stillstehen, und ihre Augen waren groß und starr geworden.

[134] „Er sagte mir kein Wort davon,“ kam es fast heiser von ihren Lippen.

Maiberg verwünschte sich selbst, daß er sie gefragt hatte; ganz verlegen stand er vor der jungen Frau. „Er wird es schon noch melden,“ zwang er sich zu scherzen, „vielleicht will er Sie mit der Nachricht überraschen. Aber, hören Sie doch, es klingelt, die Bescherung geht an – – es ist doch eine eigenthümliche Idee, sich an solchem Abend mit einer Herde fremder Menschen zusammentreiben zu lassen – ich hatte es mir so anders gedacht!“

Sie antwortete nicht. Wieder hatte sie jenes Automatenhafte an sich, als sie neben ihm den saalartigen Raum betrat, in dem ein strahlend heller Baum erglänzte. Maiberg, der sie verstohlen beobachtete, erschrak fast über den Ausdruck ihrer Augen. Sie stand dann zwischen den andern und hörte das scherzhafte Gedicht an, das Melly Benken als Engel mit großen weißen Flügeln, auf einer Erhöhung stehend, deklamirte. Aber Antje vernahm nur den Klang der Worte, den Sinn faßte sie nicht. Ihre Finger umschlossen später einen kleinen Gegenstand, den ihr besagter Engel in die Hand gelegt hatte; sie danke auch dafür und wußte es kaum. In ihr klang es nur immer wieder: „Er sagt mir nichts – mir! Ich besitze sein Vertrauen nicht, ich bin ihm nichts mehr, gar nichts, war ihm vielleicht nie etwas!“ Und dann überkam sie eine unsagbar schmerzliche Sehnsucht nach ihrer Mutter, nach der Vergangenheit, nach dem Frieden ihrer Jugend. Mitten unter diesem Lachen, Sprechen, Jubeln sah sie sich eintreten in die traute Stube daheim, um der alten Frau in die Arme zu flüchten – „Mutter, da bin ich wieder!“

„Darüber wird sich Leonie freuen,“ sagte eine Stimme zu ihr, und Maiberg hielt ihr lächelnd eine drollige Gummipuppe hin, die der Weihnachtsengel ihm in die Hand geschoben hatte.

Leonie! Ihre Kleine! – Der Bann war gebrochen; dankbar blickte sie den Sprecher an.

„So ist’s recht!“ lobte er. „Was haben Sie denn da?“ Sie sahen jetzt beide auf ein keines Spinnrad aus Elfenbein und lasen den Zettel, der daran hing. Da stand:

„Ein Weib, das spinnen und kochen kann,
Beglückt am meisten ihren Mann.“

Antje lächelte; es war die Handschrift der Baronin, und Antje kannte deren gelegentliche Ausfälle gegen das „Hausfrauengethue“, wie sie es nannte.

Die Stimmung war durch den Champagner eine sehr lustige geworden; Maiberg stand und saß wie eine Schildwache neben Antje. Leo Jussnitz hatte eine Puppe, als Spanierin angezogen, bekommen und ein boshaftes Verschen dazu, das er rasch zerriß; eben näherte er sich seiner Frau.

„Entschuldige, Antje,“ sagte er und nahm Maiberg am Arm „Bitte,“ sprach er dann außer dem Bereich ihres Ohres zu diesem, „stehe nicht ewig neben meiner Frau, sie lernt sonst nie, selbständig zu sein, und außerdem ist die Baronin boshaft.“

„Ich wüßte nicht, was ihre Bosheit mit Deiner Frau und mir zu schaffen hätte?“

„Ich habe sie eben verspürt – damit genug! Die Baronin ist überhaupt von einer fürchterlichen Stimmung, verlangte eben allen Ernstes von mir, ich sollte heute abend das Bild der Spanierin hier zeigen – wer um alles in der Welt mag sie auf diese neue Laune gebracht haben!“

„Laß es doch holen!“ gab der Doktor gleichmüthig zur Antwort.

Leos Gesicht färbte sich purpurroth. „Ich will nicht!“

„Aber warum tust Du denn überhaupt so heimlich mit dieser Arbeit?“ forschte Maiberg. „Heute früh wärst Du am liebsten grob geworden gegen Deine Frau und mich, als wir kamen, und wärest es sicher auch geworden, hätten wir die junge Dame noch oben bei Dir getroffen.“

„Ich liebe keine Störungen, am allerwenigsten durch Antje.“

„Hm!“

„Wie?“

„Ich meinte eben – sag’ mal, Leo, weß Geistes Kind ist denn dieses hübsche Mädchen?“

„Eine Landsmännin aus Altwedel, die Tochter unseres Nachbars; ich kannte sie, als sie vier Jahre alt war. Allerdings ist sie hübsch, sonst würde ich sie nicht malen.“

„Deine Frau und sie schauten sich an, als hätten sie noch nie etwas von einander gewußt.“

„Das ist auch durchaus nicht erforderlich; ich male das Mädchen, und damit gut!“

„Leo,“ flüsterte Maiberg und zog den sehr verdrießlich Aussehenden in eine Fensternische. „nimm es auf, wie es gemeint ist, als das Wort eines rechtschaffenen Freundes: fange keine Romane an wie früher!“

„Was fällt Dir ein?“ brauste Jussnitz auf.

„Sag’, Leo, weiß die Kleine, daß Du verheirathet bist?“

„Wozu denn? Ich habe ihr nichts von meinen Privatverhältnissen erzählt, absichtlich nicht; ich würde dann nicht umhin können, sie Antje vorzustellen, und das will ich nicht. Du kennst die Gründe.“

„Aber, Leo, Du bist doch der gewissenloseste Kerl, den die Welt trägt! Denkst Du denn nicht daran, daß Du bei dem täglichen Verkehr mit so einem jungen Ding, das kaum das Köpfchen aus dem heimischen Neste gesteckt hat, ein – –“

„Nun, was denn?“ fragte Jussnitz.

„Daß sie zum Beispiel eine unglückliche Neigung zu Dir fassen könnte, Dich – –“

„Dagegen würde meine Vermählungsanzeige sie auch nicht schützen.“

„Das möchte ich denn doch nicht behaupten, mein Bester,“ antwortete Maiberg.

„Nun, sie kann sich ja, bevor sie ihr Herz an mich verschenkt, nach mir erkundigen,“ erwiderte verdrießlich Jussnitz, dem Freunde den Rücken wendend und sich zu der Baronin niederbeugend, die ihm herausfordernd die Hand hinhielt und sagte:

„Wetten Sie, daß ich Ihnen morgen ganz genau sagen kann, wie groß das Bild ist, das Sie jetzt malen, wie Ihre Spanierin dasteht, von welcher Farbe das spitzenbesetzte Röckchen ist – wetten Sie, Herr Jussnitz?“

„Ich kann doch unmöglich eine Wette halten,“ erwiderte er, „von der ich überzeugt bin, daß Sie sie verlieren!“

„Ich verliere nicht!“

„Nun, schön! Um wie viel Uhr morgen früh soll ich das erfahren, Baronin?“

„Bestimmen Sie!“

„Um sechs Uhr.“ sagte er scherzend.

„Angenommen! Bitte, Ihre Hand – Barrenberg, schlag’ durch!“

„Was ist der Preis der Wette?“ fragte Barrenberg, der hinzutrat.

„Irgend ein nettes kleines Geschenk,“ erwiderte die Baronin lächelnd. „Wie wär’s, Jussnitz, mit einer Kopie von dem besagten Gemälde? Ja – das wollen wir festhalten!“

Und damit tauchte die kleine weiße Gestalt wieder in dem Schwarm der Gäste unter. Im Nebenzimmer begann jemand einen Straußschen Walzer zu spielen, und schon im nächsten Augenblick tanzte Nelly Benken mit Lieutenant Osten, und die übrigen folgten mit der Hingebung, wie eben nur die Jugend tanzt.

Es mochte vielleicht eine Stunde verflossen sein, als die Musik mitten in einem Ländler jäh abbrach. Antje, der sich die redselige alte Obristin in grünem Sammet zugesellt hatte, um ihr von der traurigen Thatsache zu erzählen, daß sie drei Männer begraben habe, achtete gar nicht auf das Sprechen ihrer Nachbarin; es war ihr unverständlich wie das Murmeln eines Springbrunnens. Da verstummte auch die Frau in Grün und die Stimme der Baronin klang aus dem Nebenzimmer herüber, hastig, aufgeregt:

„Bitte, meine Herrschaften, alle hier herein, die Jugend will lebende Bilder improvisiren – nur einige, und ganz rasch, noch vor dem Essen!“

Die alte Dame schob ihren Arm in den Antjes. „Kommen Sie, Frau Jussnitz, das ist so mein Fall, oder – wirken Sie selbst mit? Dann freilich –“

„Nein,“ sagte Antje, neben ihr gehend.

Da innen hatte man die sehr breiten Flügelthüren nach einem dritten Gemache geschlossen; die jungen Mädchen und einige Herren waren dahinter geschlüpft, man hörte Lachen und Kichern. Ein Diener rückte der Thür gegenüber die Stühle zurecht für die Zuschauer, unter denen sich auch Jussnitz und Maiberg befanden. Vorn in der ersten Reihe saß Antje zwischen der Generalin und der jungen eleganten Witwe des Jagdfreundes, die ganz offen aussprach, daß diese improvisirten Bilder und Charaden ihrer Erfahrung nach meistens recht kläglich auszufallen pflegten.

[135] „Finden Sie nicht auch?“ fragte sie Antje.

„Ich habe selten Gelegenheit gehabt, derartiges zu sehen,“ erwiderte diese.

„Ich beneide Sie,“ seufzte die schöne Frau, „man wird hier in den Gesellschaften förmlich überfüttert damit.“ –

Die Flügelthüren öffneten sich und zeigten erst ein Weihnachtsbild, wobei der Engel Melly wieder seine Rolle spielte.

Dann kam eine Lurley, die auf einer Sofalehne saß und von dort hinunterschaute zu Lieutenant von Osten, der in einer großen altdeutschen Truhe ruderte. Nelly Benkens Goldhaar war dabei reizend zur Geltung gebracht und trug dem Bilde ein lautes „Bravo!“ ein.

„Spanische Tänzerin nach Jussnitz!“ verkündigte jetzt die Stimme der kleinen Baronin.

Jussnitz zuckte lächelnd die Schultern und blickte Maiberg an. „Es ist doch –“ Was er noch sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, denn dort stand ja –

Ein Ah! der Bewunderung flog durch das Zimmer, dann eine Pause stummen Schauens, Bewunderns. Nur Antje wandte die Blicke von dem Frauenbild ab und schaute zu ihrem Mann hinüber; der hatte den Kopf etwas vorgebogen und starrte das schöne Geschöpf dort an, überrascht, entzückt.

Hildes leichte Gestalt hob sich von einem Hintergrunde dunkler Blattpflanzen ab. Sie stand etwas erhöht, genau so wie auf dem Bilde, die Linke in den Falten des blaßgelben Röckchens, den Fächer in der Rechten; den Oberkörper halb zurückgewandt, zeigte sie dem Beschauer voll ihr schönes Antlitz mit den verschleierten, dunkeln, lockenden Augen; hinter den rothen lächelnden Lippen blitzten die kleinen weißen Zähne hervor. Regungslos stand sie da, nur die Ohrringe zitterten leise und verkündeten die mühsam beherrschte Ruhe.

Langsam schlossen sich die Flügelthüren wieder, und nun brach der Jubel über das Gesehene hervor. Vorläufig erntete die Baronin alle Komplimente und wurde mit Fragen bestürmt; aber sie schien nicht Zeit zu haben, dieselben anzuhören, sie eilte zu Jussnitz. „Helfen Sie mir Fräulein von Zweidorf überreden, daß sie zum Essen dableibt – sie weigert sich!“

Er folgte ihr willenlos. „Baronin,“ sagte er, „warum thaten Sie mir das an?“

Sie schob ihn ohne weiteres in das Zimmer, wo Hilde wie erschöpft auf einem Fauteuil saß.

„Ich danke Ihnen, es ist besser, ich gehe,“ erwiderte sie schroff auf das neue Zureden der Baronin, „meine Tante erwartet mich; bitte, lassen Sie mich fort!“

„Sie haben recht, Fräulein von Zweidorf,“ sagte Jussnitz hinzutretend, „ich werde Sie nach Hause begleiten. Wie um alles in der Welt ist es gekommen, daß Sie hier diese – Gastrollen geben, in einem Kreise, in dem Sie niemand kennt?“

Das Mädchen blickte ihn trotzig an und schwieg.

„Seien Sie doch kein Spielverderber, Jussnitz,“ bat Barrenberg, „bei Gott, es sieht komisch aus, wenn Sie Fräulein von Zweidorf veranlassen wollen, jetzt fortzugehen.“ Und ihn beiseite ziehend, raunte er ihm zu: „Begreifen Sie doch, meine Cousine kommt in den Verdacht, eine durchaus nicht gesellschaftsfähige Schönheit eingeschmuggelt zu haben, und das ist mir meiner Gäste wegen höchst unangenehm.“ Und kurz entschlossen trat er zu Hilde, bot ihr den Arm und sagte: „Gestatten Sie mir, daß ich Sie mit den Herrschaften bekannt mache.“

Antje stand währenddem inmitten eines Kreises Neugieriger.

„Ich bitte Sie, Frau Jussnitz, warum haben Sie uns noch nie mit diesem Stern bekannt gemacht?“ fragte Lieutenant von Osten schmollend.

„Ist sie verwandt mit Ihnen?“ forschte die Schauspielerin.

„Mein Gott, welche Ueberraschungen die Baronin ausdenken kann! Waren Sie im Komplott, Frau Jussnitz?“ rief ein anderer.

„Es war eben ein Scherz, wie ihn die gute Erlach liebt,“ sagte die schöne Witwe und zuckte die Achseln, „wer fragt danach, auf welche Weise sie ihn zum Gelingen gebracht hat! - Vielleicht ist es ihre Schneiderin, oder irgend jemand derartiges!“

Die vier Generalstöchter nickten einander bedeutungsvoll zu, als wollten sie bekräftigen, was da eben gesagt worden war. Melly Benken aber sprach ganz offen aus, daß es wahrscheinlich Papa nicht ganz angenehm sein werde, wenn er erfahre, daß Nelly der Cousine Erlach bei einem ihrer tollen Streiche geholfen habe. „Papa war so dagegen, daß wir herfuhren,“ schloß sie, „nun haben wir es! Hoffentlich bringt Onkel die Spanierin schleunigst wieder dahin, wo Irene sie hergeholt hat.“

Antje blieb ganz stumm. Aus ihrem Schweigen glaubte man annehmen zu können, daß auch sie irgend etwas nicht in Ordnung finde.

Da theilte sich der Kreis, und Hilde von Zweidorf erschien am Arme Barrenbergs, bleich, aufgeregt, mit starrer Kopfhaltung, und ihr Kostüm nahm sich in diesem Augenblick kokett, komödienhaft aus.

Antje hielt mit beiden Händen ihren Fächer umklammert, wieder wie heute früh fanden sich die Blicke jener beiden, groß und forschend, und nun flüsterte Leo seiner Frau ins Ohr: „Ich bitte Dich, nimm Dich des jungen Mädchens anl“

„Thue es nicht! Thue es nicht!“ rief es in ihr, „drehe ihr den Rücken zu, und sie ist unmöglich, unschädlich für immer!“ Einen Augenblick, einen kurzen Augenblick nur stand sie, den Kopf stolz zurückgebogen, Hilde gegenüber, sie sah die eigenthümlichen Mienen der Gäste, mit denen sie das Mädchen betrachteten, sah, wie Osten keck das Monocle ins Auge klemmte und wie die Obristin die Lorgnette am langen Stiel zur Hand nahm – und im nächsten Augenblick war Antje einige Schritte auf Hilde zugetreten und hatte ihre Hand ergriffen.

„Ich freue mich herzlich, Sie heute abend wiederzusehen, liebes Fräulein; Sie haben uns allen, und besonders meinem Mann und mir, eine reizende Ueberraschung bereitet – nicht wahr, Leo?“ Sie wendete das über diese Lüge erröthete Gesicht ihrem Gatten zu.

Er betheuerte, das sei ihm ganz aus der Seele gesprochen, und erzählte, daß er Fräulein von Zweidorf bereits gekannt habe, als sie erst so groß – er wies mit der Hand einen halben Meter über ben Erdboden – gewesen sei.

Die beiden Damen standen noch Hand in Hand, aber Hilde hatte die Augen niedergeschlagen vor dem Blick der jungen Frau. Erst der Diener, welcher meldete, daß aufgetragen sei, brachte Leben in diese Gruppe.

Jussnitz und Osten erschienen gleichzeitig vor Hilde, um ihr den Arm anzubieten, Jussnitz mit nervösem Gesicht, Osten mit jener eifrigen Ritterlichkeit, vermöge welcher gutherzige Menschen ein Unrecht sühnen wollen, auch wenn sie es nur gedacht haben. Hilde schlug die Augen nicht empor; sie trat einen Schritt zurück und erfaßte dort wie tastend einen Arm, der sich ihr gar nicht geboten hatte. Verwundert blickte Maiberg zu der kleinen Hand hinunter, die ihn berührte. Dann lächelte er, bettete sie behutsam auf seinen schwarzen Tuchärmel und ging neben ihrer Besitzerin, die schüchtern wie eine Bachstelze trippelte, in den Speisesaal. Osten folgte ihnen auf dem Fuße, um wenigstens den andern Platz neben ihr zu gewinnen.

Jussnitz saß neben der Baronin; sie blitzte ihn listig an mit ihren dunklen Augen.

„Sie haben Fräulein von Zweidorf keinen Dienst geleistet,“ sagte er kurz.

„Pah!“ erwiderte sie laut, sich von ihm abwendend und Antje ansehend, „man muß nicht alles für sich allein haben wollen, lieber Jussnitz. – Sagen Sie mir, Frau Jussnitz, wo hielt denn Ihr Mann Fräulein von Zweidorf versteckt? Haben Sie auf Sibyllenburg heimliche Verließe?“

„Sie werdett es ja wissen, liebe Baronin,“ erwiderte Antje „da Sie die junge Dame herführten.“

Die Baronin lachte, daß ihr die Thränen in die Augen traten. „Lassen Sie es sich nur von ihr selbst erzählen, wo ich sie entdeckt habe.“

Antje antwortete nicht. Sie sprach mit ihrem Nachbar weiter, aber ihr war so schwindlig, daß sie nicht wußte, was sie sagte und tat; nur das eine hatte sie klar erkannt: sie durfte jener Fruu da drüben um keinen Preis zeigen, wie ihr zu Muthe war.

Endlos dünkte sie dieses Essen, und so ausgelassen lustig auch alle waren, Antje war es nicht und Hilde auch nicht. Der mochte es gehen wie Antje. Mein Gott, welch ein unseliger Sturm hatte sie hierher verschlagen!

Und endlich, endlich hatte man das Eis gegessen, die Knallbonbons verpufft und man rückte nun die Stühle. Antje schlüpfte unbemerkt in den Ankleideraum und beauftragte einen Diener, ihren Mann zu rufen.

[138] Er kam, verdrießlich und mißgelaunt. „Du willst fort?“ fragte er.

„Ja!“ antwortete sie.

„Ich muß vorher noch Fräulein von Zweidorf nach Hause begleiten.“

„Du?“

„Wer sonst?“

„Gut!“ sprach sie fest, „aber gestatte, Leo, daß ich mitfahre und dann gleich weiter mit Dir, ich bin nicht imstande, länger hier zu bleiben.“

Er lachte kurz auf. „Wenn es Dir Vergnügen macht!“ antwortete er, „ich werde auch Maiberg noch zu dieser Extrapartie einladen.“

Sie erröthete jäh; in diesem Augenblick hatte sie nicht an Eifersucht gedacht, sie empfand nichts weiter, als das Verlangen von hier fort zu kommen.

Nach wenigen Minuten saßen sie in dem Landauer. Antje fühlte noch die leise schmeichelnde Abschiedsberührung der Baronin auf ihrem Arme. „Es ist wirklich außerordentlich nett von Ihnen, Frau Jussnitz, daß Sie so mütterlich für die Kleine sorgen.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 10, S. 149–152

[149] Man fuhr schweigend dahin durch die endlos scheinenden stillen Gassen; dann fingen einzelne Uhren an, die zwölfte Stunde zu schlagen – der Christmorgen war angebrochen.

„Und Friede auf Erden!“ flüsterte Antje, und sie tastete heimlich nach der Hand ihres Mannes und schob ihre heißen schmalen Finger in seine Rechte. Nur ein einziger herzlicher Druck, und alles wäre gut gewesen. Aber nichts antwortete ihr. Er ließ es nur ruhig geschehen, das war alles. Langsam zog sie ihre Hand zurück.

Hildegard neben ihr rührte sich nicht, bis der Wagen vor dem kleinen Hause der Tante Polly hielt.

Eilig sprang Leo hinaus und half dem Mädchen aussteigen.

Oben war noch Licht im Wohnstübchen, und als Leo die Schelle zog, klirrte ein Fenster der guten Stube.

„Bist Du es?“ rief die vor Aufregung kaum erkennbare Stimme der Frau Berger.

„Ja, Tante!“

„So? Nun, da gehe nur wieder hin, wo Du bis jetzt gewesen bist! Mit uns zweien ist’s vorbei, und – daß Du es weißt, ein Brief an Deinen Vater ist schon unterwegs!“

„Tante!“ schrie das Mädchen entsetzt auf.

Aber droben war das Fenster zugeschlagen und die Lampe ausgelöscht worden.

Leo Jussnitz zuckte die Achseln. „Was ist da zu thun?“ sagte er, „Tante Polly ist schwer erzürnt. Steigen Sie wieder ein und kommen Sie mit nach Sibyllenburg.“

Antje hatte sich aus dem Wagenfenster gebogen. „Um Gotteswillen, was sind das für Menschen, zu denen sie gehört!“ fuhr es erschreckend durch ihr Herz; sie sah jetzt, daß das Mädchen wie verzweifelnd an der Schelle riß.

„Tante! Tante!“ scholl die bebende Stimme durch die Nacht.

„Man will sie, scheint es, nicht hinein lassen,“ sagte Maiberg ruhig.

„So geben Sie es doch auf! Meine Frau wird sich freuen, wenn Sie mit uns fahren,“ ertönte draußen die Stimme Leos, „Sie werden doch einsehen, daß wir unmöglich eine öffentliche Nachtruhestörung verursachen dürfen!“

Antje rückte schweigend auf die andere Seite des Wagens. und im nächsten Augenblick sank die zitternde Gestalt des Mädchens neben sie in die Kissen, schluchzend vor Zorn und Beschämung.

„Ihre Tante hat sich geängstigt um Sie. Das genügt bei einem Temperament wie das ihre, die Härte zu erklären,“ tröstete Jussnitz. „Ich werde ihr morgen schreiben oder selbst zu ihr gehen – vorläufig sind Sie unser Gast.“

Der Kutscher fuhr wie rasend. Es war kälter geworden und auf den Scheiben des Wagens zeigten sich leichte glitzernde Eisblumen, wenn er an einer Laterne vorüberflog. [150] Innen herrschte bald eine beängstigende stickige Luft, so daß Maiberg ohne weiteres ein Fenster zur Hälfte herunterließ. Antje hatte sich fest, ganz fest in ihre Ecke geschmiegt und den Mantel eng um sich gezogen.

Wer wollte da mit in das Heiligthum ihres Hauses, wollte in den Zimmern athmen, die ihr gehörten? Was würden die klaren Augen ihres Kindes sehen müssen?

Sie zitterte am ganzen Körper, als sie über die Schwelle des Kinderzimmers schritt. „Um Gott,“ rief die alte Classen, die Wacht gehalten hatte am Bettchen der Kleinen, „wie schauen Sie aus!“ Antje hatte beim Eintritt in das warme dämmernde Zimmer des Lieblings den Pelz abgestreift und war niedergekniet vor dem schlummernden Kinde.

„Gehen Sie zu Bett!“ bat die Alte, „Sie haben das Fieber, gnä’ Frau!“

„Ja gleich, liebe Classen, nur will ich erst noch – – hole die Minna, wir müssen ein Zimmer herrichten – wir haben Besuch.“

„Du meine Güte, es muß ja zwei Uhr sein!“

„Ja, das kommt wohl so vor!“ Und Antje holte den Schlüsselkorb und stieg die Treppe hinunter zu dem Wäschespind. Im Speisezimmer hörte sie Leos Stimme; sie klang heftig und gereizt.

„Ich hätte Sie nicht für so unbesonnen gehalten, Hildegard,“ schalt er, „was dachten Sie sich bei dieser Sache? Wollten Sie mich etwa ärgern? Was sollte es sein? In welche Lage bringen Sie sich und mich!“

Antje ging zur Thür hinüber und öffnete sie ein wenig. „Bitte, Leo, sprich leiser,“ sagte sie ruhig.

Hilde saß mit bleichem, aber lächelndem Gesicht auf der Kante eines Stuhles, das Taschentuch in den Händen windend. „Es war ein Scherz,“ sagte sie und hob die Schultern.

„Sie müssen sich noch etwas gedulden, Fräulein von Zweidorf,“ sprach Antje, zu dem Mädchen gewendet, „die Stube ist noch kalt, aber bald soll alles in Ordnung sein.“

Und sie händigte dem Stubenmädchen die Wäsche ein, befahl ihr, sich zu beeilen, und versprach, Hilde mit Kleidern auszuhelfen, bis ihre Sachen geholt sein würden. Sie begleitete dann später den Gast selbst in das trauliche Zimmer, ihm in Gegenwart der Dienerin angenehme Ruhe wünschend.

Sie selbst hatte keine. Schlummerlos lag sie die ganze Nacht und lauschte auf das Wehen des Windes und das Knarren der Aeste draußen in den hohen Bäumen, auf das Hin- und Herwandern ihres Mannes nebenan. Wenn er jetzt gekommen wäre, freundlich mit ihr gesprochen hätte über das Geschehene, wie gern würde sie ihm alles geglaubt haben; aber auch jetzt machte er nicht einmal den Versuch einer Aufklärung.

Er hatte vorgegeben, nicht müde zu sein; aber Antje wußte, er wollte nur allen Erörterungen aus dem Wege gehen. Sie hörte, wie er sich endlich auf ein Sofa warf und eine Weile nachher, als er sie eingeschlafen glaubte, hereinkam. Ihre Hand zuckte, sie hätte sie ihm so gern hinüber gereicht und gebeten: „Habe Vertrauen zu mir, Leo, laß es so nicht weiter gehen!“ – doch sie fand nicht den Muth dazu.

Aber auch Hilde schlief nicht. Sie hätte so gern geweint und fand doch keine Thränen, sie war so arm geworden in dieser Weihnacht. Sie war empört und gedemüthigt bis aufs äußerste, und sie haßte diese junge Frau, die an einer Stelle stand, die ihr gebührte.

Die Baronin hatte es im Wagen der Nichte erzählt, als sie mit Hilde vom Atelier wegfuhren; sie hatten französisch gesprochen in dem Glauben, Hilde verstehe das nicht, sie, deren Mutter doch eine Französin war. Im höchsten Grade unbedeutend sei diese Frau, hatte die Baronin gesagt, unbegreiflich, daß ein so reizender Mensch wie Jussnitz sie habe wählen können! Natürlich habe es sich auch gerächt, sie lebten elend nebeneinander her; man sehe ja, wie ihn dies Phlegma, verbunden mit den engsten und einfältigsten Ansichten, nervös mache bis in die Fingerspitzen. Das einzige, was ihn noch an seine Frau fessele, sei ihr Geld – armer Mensch! –

„Armer Mensch!“ sagte jetzt auch Hilde halblaut und rang ihre zitternden Finger ineinander. Dann aber ballte sie die Hand zur Faust und aufschluchzend rief sie: „Schlecht ist er, so schlecht! – O, ich einfältiges, thörichtes Geschöpf!“ Und sie erschrak vor dem Tone ihrer eigenen Stimme.




„Fräulein von Zweidorf hat Kopfschmerzen,“ meldete das Stubenmädchen am andern Morgen, als man sich etwas später als sonst zum Frühstück im Speisezimmer zusammenfand.

Antje ließ fragen, was man ihr zum Frühstück bringen dürfe, ob Thee oder Kaffee. Die Antwort lautete, Fräulein von Zweidorf danke für alles.

Antje hatte eben den Thee bereitet und füllte dem Doktor Maiberg und Leo die Tassen. Sie stand an dem Tischchen, das den silbernen Kessel trug, in einem sehr einfachen Morgenkleide aus dickem weißen Lodenstoff, und die Wintersonne, die in breiten Streifen durch die Fenster fiel, umgab die lichte Gestalt mit einem blendenden Schimmer. Sie hatte den Herren eben noch den Rücken gewandt, nun kam sie herüber und nahm Platz zwischen ihnen.

„Du hättest wohl die Pflicht, nachzusehen, wie es Fräulein von Zweidorf geht?“ sagte Leo ungeduldig, „sie scheint doch krank zu sein.“

„Ich war vorhin schon bei ihr,“ erwiderte die junge Frau, „sie ist nicht krank, sie ist nur sehr erregt. Auf alle meine Fragen bekam ich die Antwort, man solle ihre Kleider von der Tante holen lassen, sie wolle mit dem nächsten Zuge abreisen.“

„Abreisen?“ fragte Leo, und das geröstete Brot zerbrach in seinen Fingern. „Wohin?“

„Zu ihren Eltern, meinte sie.“

„Das ist ja sehr erfreulich für mich und mein Bild,“ erklärte er. „Und was sagtest Du, wenn ich fragen darf?“

„Ich redete ihr zu, doch vorerst eine Aussöhnung mit ihrer Tante zu versuchen –“

Jussnitz verzog sein Gesicht.

„– aber sie gerieth in eine förmliche Empörung über diese Zumuthung,“ fuhr Antje fort, „nannte ihre Verwandte eine ganz ungebildete Person, von der sie tödlich beleidigt sei, und bat sich dann Feder und Tinte aus, um an ihren Vater zu schreiben.“

„Ich werde nachher zu der biedern Frau Polly fahren,“ erklärte Leo. „Hilde hat recht, sie kann nicht wieder zu ihr, die Ungezogenheit heute nacht hatte einen sehr starken Stich ins Waschweiberhafte! Abreisen aber darf deshalb Fräulein von Zweidorf nicht, mein Bild soll nicht unter ihrem kindischen Trotz leiden. Darum habe die Güte, Antje, noch einmal zu ihr hinauf zu gehen und sie einzuladen, daß sie unser Gast bleiben möge bis – – nun, wir werden ja sehen. In einer Stunde fahre ich – Maiberg, Du kommst doch mit? – Also, Antje, ich möchte eine endgültige Antwort haben.“

Antje hatte an ihm vorüber gesehen; das silberne Löffelchen in ihrer Hand zitterte leise. „Ja!“ antwortete sie dann, als Leo fertig war.

„Du darfst natürlich nicht das Bild als Hauptsache angeben,“ fuhr er belehrend fort, „Du sagst eben nur, wie sehr wir uns freuen würden, sie einige Zeit hier zu behalten; hast Du verstanden?“

Diesmal antwortete Antje nicht. Sie erhob sich, nahm ihren Schlüsselkorb und verließ das Zimmer.

„Deine Frau sieht recht blaß aus,“ bemerkte Wolf.

„Das thut sie immer, wenn ihr irgend etwas nicht paßt; ich habe mich daran gewöhnt, es nicht mehr zu sehen.“ Und Leo nahm die Zeitung, und den Rauch seiner Cigarre behaglich einziehend, fügte er hinzu. „’s ist im Grunde eine unglaublich komische Geschichte; man kann es nicht ausdenken, was Frauen alles erfinden, um sich gegenseitig zu ärgern. Der ganze Streich der Erlach ist eigentlich gegen Antje gerichtet – na, sie hat sich diesmal noch mit leidlichem Anstande aus der Patsche gezogen.“

„Mit leidlichem Anstande? Sie hat sich benommen wie eine richtige, wackere Frau, die sie auch ist,“ versetzte Maiberg und gab dabei seiner Theetasse einen ärgerlichen Stoß. Er dachte an Leos Worte von gestern abend, die ihm verboten, beständig neben Antje zu stehen, und er wurde roth gegen seinen Willen. Dann erhob er sich. „Mit Deiner gütigen Erlaubniß,“ sagte er sehr ruhig, „werde ich nicht mit nach Dresden fahren.“

„Weshalb denn nicht? Wir wollten im Englischen Garten mit Barrenberg frühstücken.“

„Ich danke Dir – ich habe wirklich nicht Lust, mich schon wieder unter fremde Leute zu stürzen.“ Und mit einem sehr ernsthaften Ausdruck seiner blauen Augen nahm er dann [151] ebenfalls ein Zeitungsblatt, stellte sich ans Fenster und begann zu lesen.

In diesem Augenblick trat Antje ein.

„Nun?“ rief Jussnitz ihr entgegen.

„Sie wird bei uns bleiben, Leo.“

„Ah, wirklich!“ sagte er nachlässig und faltete ganz gegen seine sonstige Gewohnheit die Serviette zusammen, indem er bemerkte: „Ich werde also das Bild hier fertig malen.“

Antje machte sich irgend etwas an dem Tisch zu schaffen; es war, als habe sie die Worte ihres Mannes nicht gehört. Dann faßte sie abermals nach ihrem Schlüsselkörbchen, um ihren Hausfrauenpflichten nachzugehen. In der Thür wandte sie sich noch einmal um und sagte: „Fräulein von Zweidorf wünscht Dich zu sprechen, Leo, bevor Du nach Dresden fährst; sie erwartet Dich in meinem Salon oben – ich gehe nachher in die Kirche. Du bist wohl zum Mittagessen wieder zurück, denn ich möchte nicht gern den Leuten bescheren ohne Dich.“

Er murmelte irgend etwas, was wie eine Zustimmung klang, dann war sie verschwunden.

„Classen,“ sagte sie unten in der Küche, „das Fräulein wird längere Zeit hier im Hause bleiben.“

Die alte Frau blickte ihre Herrin prüfend an, aber aus dem stillen Gesicht war nicht zu lesen, ob ihr der Besuch eine Freude sei oder eine Last. „Ist recht,“ sagte sie, „aber ich würd’ so ’ne Schauspielerin nicht in meinem Hause behalten!“

„Sie ist keine Schauspielerin, Classen,“ erwiderte Antje müde und sah von den großen Weihnachtsstollen auf, an die sie theilnahmslos Zettel mit den Namen der künftigen Eigenthümer geheftet hatte; „sie ist eine Jugendfreundin meines Mannes, und der malt sie jetzt, weil sie so sehr hübsch ist.“

„Seine Freundin? Zu was braucht einer eine Freundin, wenn er so eine Frau hat!“ brummte sie vor sich hin und begann ärgerlich, ihre großen Töpfe und Pfannen zu rücken. „Wenn eine gut ist und gefügig,“ murmelte sie weiter, „dann ist’s ein schönes Ding, aber zu gut und zu nachgiebig, das ist – –“ Was sie noch halblaut denken wollte, ging in dem Respekt unter, den sie vor der jungen Hausfrau hatte. „Die bringt ihre Gutheit noch zu Schaden!“ seufzte sie und sah ihr nach.

Antje begann, in ihrem Schlafzimmer den Anzug zu wechseln, da sie ja zur Kirche gehen wollte. Sie gab dabei nicht acht darauf, daß die Thür zu dem Rokokozimmer etwas offen stand. Sie hatte Eile, denn es war ein weiter Weg, und sie fühlte das Bedürfniß, zu Fuß zu gehen in der frischen Winterluft; auch wollte sie Maiberg nicht warten lassen, der gebeten hatte, sie begleiten zu dürfen.

Da schlug auf einmal ihres Mannes Stimme an ihr Ohr.

„Etwas hat mir ja das Fest doch auch gebracht, Hilde.“

Eine lange Pause folgte, dann sprach er weiter, so langsam und deutlich, daß der jungen Frau auch nicht die leiseste Nüance verloren ging. „Ich habe ein Bild verkauft in Berlin; was sagen Sie dazu, Hilde? – Hilde, freut Sie das nicht? Sie hatten ja doch sonst immer eine so wohlthuende Theilnahme an meinem Schaffen? Mich verlangte gestern schon, Ihnen das zu erzählen, aber Sie waren ja so gleichgültig, so ungebärdig, daß ich – so dürfen Sie nicht wieder sein, Kind, es schmerzt mich. Sagen Sie, freut es Sie nicht?“

„Gewiß freut es mich; ich gratulire Ihnen zu diesem Erfolg,“ klang es eiskalt zurück.

„Hilde! Mein Gott, Hilde!“ – unendlich weich und fremdartig klangen diese wenigen Worte in Antjes Ohr, sie fühlte, so konnte nur einer sprechen, der bis ins tiefste Herz getroffen war. – „Hilde, nicht diesen Ton, er ist nicht echt, nicht wahr!“

Antje stützte sich plötzlich fest auf die Platte ihres Toilettetisches; ihr schmales weiches Gesicht hatte in diesem Augenblick einen ganz verzerrten Ausdruck. Da – da war es wirklich, was sie gefürchtet – der Beweis, daß sie – seine Frau – ihm nichts mehr war. Gewaltsam hielt sie das Schluchzen zurück, das sich ihr in die Kehle drängte; dann lief sie hinüber in die Kinderstube und warf sich neben der Kleinen auf die Kniee.

„Maus!“ stieß sie athemlos hervor, das zierliche Geschöpfchen an sich pressend. „Maus, es darf nicht sein, es kann nicht sein wir wehren uns, Maus, wir wehren uns!“ Und mit bebenden Lippen wiederholte sie noch einmal: „Wir wehren uns, wir geben ihn nicht her, den Papa.“

Und als die Kleine, vor der ungewohnten Heftigkeit der Mutter sich fürchtend, zu weinen begann, tröstete sie das Kind mit sanfter Stimme, aber sie hatte dabei immer nur das eine Wort: „Wir geben ihn nicht her, den Papa, nein, nein!“

„Nicht hergeben, Papa!“ wiederholte treuherzig die beruhigte Kleine, der die dicken Thränen auf den Bäckchen standen, „nicht hergeben, lieben Papa!“




Tante Polly war in der Christnacht nicht aus den Kleidern gekommen. Die kleine Person hatte sich die Wirkung ihrer Worte erst klar gemacht, als es unten vor dem Hause still blieb und nicht zum dritten Male von der reuigen Sünderin die Schelle gezogen wurde, was sie mit Bestimmtheit angenommen hatte. Sie machte nach einer Viertelstunde vergeblichen Wartens leise das Fenster auf und lauschte hinaus; aber nichts rührte sich. Sie rief mit unwirscher Stimme: „Bist Du noch immer da?“

Niemand antwortete. „Hilde!“ rief sie noch einmal barsch, dann milder und hastig. „So antworte doch, sei nicht noch so verstockt obendrein!“

Alles blieb still.

Da stieg die alte Frau mit pochendem Herzen, den Hausschlüssel in der Hand, die Treppe hinunter und schloß vorsichtig die Thür auf. „Hilde!“ – Die Straße lag einsam und menschenleer.

„Gerechter Gott!“ murmelte Tante Polly, indem sie die Hausthür wieder schloß und rathlos in dem kalten finstern, nach Küchenkräutern duftenden Flur stehen blieb, „gerechter Gott, wo mag sie sein? Wenn sie sich nun etwas angethan hat aus Angst vor dem Vater – wenn sie etwa gar in die Elbe gesprungen wäre –“

Tante Polly bekam einen nervösen Angstzustand; sie tastete sich bis zu der Schlafkammer der Büdchenbesitzerin und klopfte. „Frau Hernicke, machen Sie auf, es ist ein Unglück geschehen!“

Die große Gemüsehändlern kam erschreckt, mit einer Lampe in der Hand, zum Vorschein. „Du liebe Güte, guteste Frau Postsekretärin, was ist’s denn?“

Tante Polly war kreidebleich. „Hernicken,“ jammerte sie, „meine Hilde ist fort – denken Sie doch nur! Sie ist gleich nach der Bescherung davon gerannt und läßt mich in der Todesangst bis um zwölf Uhr sitzen, und wie sie endlich läutet, hat mich der Zorn gepackt und ich habe hinuntergerufen, sie könnte bleiben, wo sie bis jetzt gewesen sei. Das hat sie sich in den Kopf genommen, und nun ist sie fort. Wenn sie nur nicht in die Elbe gesprungen ist, weil ich sagte, ich hätte an ihren Vater geschrieben – – Ach, ich Unglücksvogel, was fang’ ich an?“

„Aber, hören Sie, gute Frau Bergern, das war auch nicht recht von Ihnen – lieber Himmel, die wird wohl ’neingehuppt sein –“

Tante Polly zitterte am ganzen Leibe, als die Frau gutmüthig fortfuhr: „Ja, nun weiß ich auch keinen andern Rath, als daß wir abwarten müssen, ob sie sie finden. Die, die ins Wasser gegangen sind, kommen immer erst nach drei Tagen wieder hoch. Na, gute Frau Bergern, und nu man nich so obenaus; ich will Ihnen ein Tässchen Dhee kochen, damit Sie sich beruhigen. Ach lieber Gott, was man so erleben kann an den Kindern!“

„Aber, Frau Bergern,“ rief jetzt eine Knabenstimme aus dem Büdchen selbst, wo der älteste Sohn der Frau schlief, „lassen Sie sich doch keine Angst machen, das Fräulein ist ja fortgefahren mit dem Herrn, der manchmal zu Ihnen gekommen ist –“

„Ach, erbarme Dich!“ schrie Tante Polly, „wär’ sie doch lieber ins Wasser gegangen! Ach, ich armes Geschöpf! Nun werden die Eltern sagen, ich hätte sie in die Schande gejagt!“

„War’s denn ’ne Droschke?“ fragte die Hernicke ihren Sohn.

„Nein, eine feine Privatchaise war’s, und den Kutscher hab’ ich auch gekannt, der heißt Bormann und ist früher beim Fuhrherrn Lehrbeck gewesen, und jetzt dient er auf Sibyllenburg da draußen.“

„Sibyllenburg?“ stammelte Tante Polly, „Sibyllenburg? Wer wohnt denn da? Ich muß morgen hin – ist’s denn sehr weit? Wie komme ich denn da ’naus?“

Und nun beschrieben Mutter und Sohn umschichtig die Lage von Sibyllenburg und den Weg hinaus, und eines widersprach dem andern. Tante Polly wußte schließlich nur soviel, daß um acht Uhr ein guter Zug gehe und daß sie dann noch ein gutes [152] Stück zu Fuß wandern müsse. Und sie bat mit matter Stimme die „gute Hernicken“, sie solle sie doch nicht verlassen in dieser Nacht, denn sie sähe in allen Ecken so gräuliche Gestalten und sie könnte ja gar nicht ausdenken, was sie machen sollte, wenn die Hilde etwas Schlechtes gethan hätte und gar etwa nicht wieder mit her wollte.

Die gutmüthige Büdchenbesitzerin stieg auch richtig mit hinauf in die Wohnung der Frau Postsekretärin; die beiden würdigen Damen machten sich Feuer im Ofen und machten sich Kaffee, und die Hernicken erzählte der jammernden Bergern die unglaublichsten Geschichten von der Schlechtigkeit der heutigen Welt, von der Leichtfertigkeit der jungen Leute in so großen Städten. Dazwischen suchte sie warme Sachen zusammen für die Fahrt morgen früh, und Tante Polly weinte und klagte sich an und ihre Thränen fielen in die große Kaffeetasse, die sie mit zitternden Händen immer wieder an die Lippen brachte, obgleich sie vor Kummer kaum mehr imstande war, zu schlucken.

Um sieben Uhr früh gingen sie alle beide auf den Bahnhof. Die arme kleine Tante hatte rothe Augen vom Weinen und eine rothe Nase von der Kälte und sah so alt und vergrämt aus wie noch nie. Und wie sie so dahin fuhr in den kalten Weihnachtsmorgen hinein, da hielt sie im Muff die Hände gefaltet und bat den lieben Gott, er möge ihre Heftigkeit und Unduldsamkeit nicht gar zu hart strafen. Ja, sie hatte in ihrem Zorn gestern nicht bedacht, daß es so recht der Tag gewesen wäre, wo Liebe und Milde hätten walten müssen; unser Herrgott hat seinen sündigen Kindern das Heil gegeben, und sie selbst – so ein sündiges Menschenkind – hatte richten und strafen wollen, hatte vielleicht gar eine ihr anvertraute Menschenseele in lebenslanges Elend gebracht!

Aber wer konnte denn auch denken, daß sie gleich meinte, man wollte sie im Ernst nicht einlassen?

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 11, S. 165–168

[165] Tante Polly stand endlich auf dem kleinen Perron des dörflichen Bahnhofes und fragte den Beamten, wo denn Sibyllenburg liege.

„Da oben, am Berge, gutes Madamchen, wo das Dhirmchen über die Bäume guckt. Gehen Sie da nur egal ’nauf, und weiter oben müssen Sie noch ä paarmal fragen, beschreiben kann man’s so nicht.“

„Können Sie mir nicht sagen, wem Sibyllenburg gehörte?“ fragte sie weiter.

„Ja, sehen Sie, Madame, das ist vielemale in andere Hände gekommen in den letzten paar Jahren, ’s ist so ein richtiges altes Unglücksnest. Ich bin nur neugierig, wie lange der es behält, wenn er so fort macht.“

„Wer denn?“ forschte Tante Polly.

„Jussnitz heißt er, soll so’n Maler sein.“

Der alten Frau begann es schwindelig zu werden – und da war Hildegard?!

Sie murmelte einen Dank und ging weiter. Alle Entführungsgeschichten, die sie je in Romanen gelesen und die ihr die Hernicken heute nacht erzählt hatte, rasten, lebendig geworden, in ihrem Kopf umher. Ach, Tante Polly konnte ja gleich selbst ins Wasser springen, denn jede Schuld würde ihr beigemessen [166] werden. Sie hatte es ja immer gesagt, daß in den Zweidorfschen Mädchen leidenschaftliches Blut stecke, und – ach, Großer Gott, sie hatte recht behalten! Wenn das der Berger noch erlebt hätte! Trau doch einer den Menschen – wie hatte das Mädchen stolz gethan, und er – Gott verzeih’ ihm, daß er so ein armes unerfahrenes Ding betrügt!

Athemlos langte sie vor der schmiedeeisernen Pforte an, sie war gelaufen, als gälte es, einem mit dem Tode Ringenden Hilfe zu bringen. Und da lag hinter dem kahlen Geäst der Linden das Schlößchen und sah so reich und wohnlich aus. Hinter den Fenstern schimmerten Spitzengardinen, und an einem der oberen blühte ein Flor von Hyazinthen und Maiglöckchen, ein ganzer Frühling; aber das Frauenhaupt über den bunten Blumen da droben, das blonde Frauenhaupt, an das sich ein lockiges Kinderköpfchen schmiegte, sah Tante Polly nicht.

„Wünschen?“ fragte ein in blauen Sammetbeinkleidern und lederfarbenem Tuchrock einherstolzirender Diener, der auf das Klingeln erschienen war.

„Ist vielleicht ein Fräulein hier? Zweidorf heißt sie.“

„Jawohl!“

„Ich bin die Tante und möchte sie gern sprechen.“

„Sehr wohl – wollen Sie nicht eintreten –“

Tante Polly folgte dem Manne in das Haus; von droben sah Antje sie hineingehen. Die junge Frau war aus der Kirche heimgekehrt, in ihr kleines Stübchen geflüchtet und hatte sich mit der Maus ans Fenster gesetzt, das Herz voll von Sorgen und Angst, aber auch wieder voll Mut und Zuversicht. „Das wird wohl die Tante sein, Maus,“ sagte sie.

Ein Weilchen verging, dann kam der Diener zu Antje herein und berichtete, Fräulein von Zweidorf weigere sich, ihre Tante zu empfangen, und die alte Frau weine so sehr und bäte immer wieder, sie doch zu dem Fräulein zu führen; aber die habe ihr Zimmer verschlossen.

Antje gab den Auftrag, die Tante zu ihr zu bringen; sie setzte die Kleine auf den Teppich und ging Tante Polly entgegen, die mit ebenso verweintem als verwundertem Gesicht auf der Schwelle erschien.

Ich habe das Vergnügen mit Frau Berger – ? fragte Antje.

„Zu dienen,“ stotterte die kleine, ganz aus der Fassung gebrachte Frau.

„Und ich bin Frau Jussnitz,“ fuhr Antje freundlich fort, „wollen Sie nicht Platz nehmen und ein wenig den Mantel aufmachen? Sie möchten Ihre Nichte gewiß wieder mitnehmen, und Fräulein Hilde fühlt sich verletzt und weigert sich – nicht wahr? Sie hätten aber auch nicht gleich so strenge sein dürfen, als mein Mann und ich sie Ihnen gestern nacht bringen wollten; nicht jeder kann das vertragen.“ Antje lächelte dabei und knüpfte der alten Frau die Bänder des Hutes auf. Tante Polly ließ es wortlos geschehen, selber hätte sie es vor Aufregung doch nicht zustande gebracht.

„Fräulein Hildegard hat unter meinem Schutz eine kleine Gesellschaft besucht,“ fuhr Antje fort, „sie stellte ein lebendes Bild in ihrem spanischen Kostüm, um meinem Mann – der sie malt, wie Sie wissen – eine Freude zu machen. Wohl hätte sie Ihnen das sagen lassen sollen; aber die Sache kam ganz plötzlich – nicht wahr, Sie sind dem armen Kinde nicht mehr böse, und Sie erlauben auch, daß sie einige Wochen bei uns bleibt?“

Tante Polly saß stumm auf dem Sofa, sie fand noch immer kein Wort. Sie konnte es noch nicht fassen, daß sie hier vor der Frau des Mannes stehe, der, wie sie fest angenommen hatte, Hilde liebte und wieder von ihr geliebt wurde. Nun hatte die Sache eine andere Wendung genommen, eine bessere – ja, Gott sei gelobt! aber – das Kind, das arme Kind!

„Wir haben gar nicht gewußt,“ stotterte sie in ihrer Verwirrung, „daß Herr Jussnitz verheirathet ist – entschuldigen Sie nur, ich dachte – ich glaubte –“

Antje sah sie erblassend an; ihr schmerzlich verwunderter Blick traf die alte Frau ins Herz und ließ sie einen Schimmer von der Wahrheit ahnen.

„Das heißt – wir haben uns nicht darum bekümmert,“ fuhr sie ungeschickt fort, „was geht uns das auch an? Hilde hatte ja mit Herrn Jussnitz gar nichts weiter zu thun, als eben nur still zu stehen, wenn er sie malte, und ich ging dann immer mit, und da – wissen Sie, gnädige Frau – da haben wir auch nicht grad viel gesprochen, denn Herr Jussnitz malt immer so eifrig, und wir hatten dann auch immer Eile, heim zu kommen; sonst leben wir so stille, und die Leute, die wir kennen, die kennen Herrn Jussnitz auch nicht, und so ist’s geschehen, daß wir gar nicht wußten, daß Herr Jussnitz eine Frau hat. Wenn’s die Hilde gewußt hätte, wäre sie wohl mal herausgekommen und hätt’ Sie begrüßt, gnädige Frau, weil ja doch Herr Jussnitz ihre Familie kennt, und –“ Sie schwieg, vollständig athemlos und verwirrt.

„Mein Mann ist so mit Leib und Seele bei seinem Beruf, daß er, wenn er malt, ganz naheliegende Dinge vergißt,“ meinte Antje lächelnd, mit blassen Lippen. „Das dürfen Sie ihm nicht übelnehmen, liebe Frau Berger, es ist keinesfalls eine Unart gegen Fräulein Hildegard beabsichtigt gewesen, als er mich nicht erwähnte oder sie nicht aufforderte, mich zu besuchen. Er ist eben einfach völlig hingenommen von seiner Arbeit, dem schaffenden Künstler verschwindet die Außenwelt.“

Und sie stand auf und holte die Kleine. „Komm, gieb der Dame die Hand; finden Sie nicht, Frau Berger, daß sie meinem Manne sehr ähnlich sieht?“

„Ja, ja!“ sagte Frau Polly, die Augen voll Thränen, und strich mit der Hand über den Kopf des Kindes. „Entschuldigen Sie nur, Frau Jussnitz, ich möchte doch versuchen, die Hildegard zu sprechen. Ich bin ihr gar nicht böse, mich dauert sie nur, und ich meine, es ist besser, sie geht mit mir; ich möcht’ ihr’s doch einmal vorstellen.“

„Ich werde Sie gern hinüberbringen und Fräulein Hilde zu bewegen suchen, daß sie aufschließt,“ erwiderte Antje.

Als die junge Frau sich vor der Thür des Mädchens meldete, ward aufgethan, und Frau Polly schob sich hinein.

Es war ein sehr freundliches Zimmer, in dem sich Hildegard befand. Ganz mit buntem Cretonne ausgeschlagen, bildete es eine Art Zelt; Bett, Sofa, Sessel waren mit gleichem Stoff bekleidet. Ein weicher blumiger Teppich bedeckte den Fußboden und dort an dem hohen Spiegel, der bis zur Erde reichte, wiegte sich noch der soeben verlassene Schaukelstuhl. In dem zierlichen kaminartigen Ofen flackerte das Feuer.

„Bist Du’s wirklich?“ entfuhr es Tante Polly, hinter der sich die Thür geschlossen hatte; und sie staunte das schlanke schöne Mädchen an, das in einem losen blaßrosa Morgenkleid von Antje – demjenigen, welches sich die junge Frau einst bestellt hatte, um ihren Mann zum Hochzeitstage darin zu überraschen, und das sie doch nie getragen hatte, so neu und überraschend schön aussah, als hätte ein geschmackvoller Schneider das Gewand eigens für sie erfunden.

Hildegard stand mit sehr verschlossenem Gesicht da, die Lippen aufeinander gepreßt. Aber Tante Polly hatte längst vergessen, daß sie böse gewesen; sie dachte nur noch daran, daß dem Kinde dort eine große schöne Hoffnung zertrümmert worden war. „Du armes Ding Du,“ sagte sie mitleidig, und die Thränen flossen ihr aus den Augen, „hätt’ ich’s nur so gewußt, wie ich’s jetzt weiß, kein böses Wort hättest Du gehört – sei wieder gut, meine Hilde, und komm mit nach Hause, Du kannst doch hier nicht bleiben!“

Aber Hilde war weder eine von denen, die Beleidigungen leicht vergessen, noch gehörte sie zu jenen, die Mitleid ertragen. „Ich bleibe hier, Tante,“ sagte sie kühl, „und wenn mein Bild fertig ist, dann gehe ich wahrscheinlich – –“ Sie stockte und wickelte das rosa Seidenband ihres Kleides verlegen um die Finger.

„Hilde, was willst Du hier? Laß das Bild – er mag sehen, wie er es fertig bekommt. Wozu Dir noch so schwere Tage machen? Es thut mir in der Seele weh, wenn ich Dich ansehe; es ist so ein himmelschreiendes Unrecht, daß er Dir nicht gesagt hat, er sei verheiratet. Komm, Hilde, hier ist Deines Bleibens nicht!“

„Ich weiß nicht, was Du willst, Tante?“ sagte sehr langsam die junge Nichte. Die erblaßten Lippen bewegten sich kaum. „Ich – –“

„Hilde, denk’, Dein Vater stände vor Dir! Nicht wahr, dem könntest Du nichts ableugnen? Sei auch offen gegen mich! Du bist dem Menschen gut geworden – kannst Du es leugnen? Herr Gott, Kind, schüttle nicht den Kopf – in all der Zeit hat’s ja jeder Zug in Deinem Gesicht, jeder Schritt von Dir verrathen! Ich bitt’ Dich, Kind, komm mit, Du darfst hier nicht bleiben.“

[167] „Ich habe nie an ihn gedacht,“ sagte Hilde ebenso langsam wie vorhin; und sie wandte sich um dabei und schritt dem Fenster zu.

„Hilde, das ist eine Lüge!“ sprach Frau Polly Berger fest, und auf ihrem Gesicht lag ein feierlicher Ernst, „es ist eine Lüge! Du bist ihm gut, und er Dir! Ich bin eine alte Frau und weiß, wie es zugeht im Leben. Du aber thust eine furchtbare Sünde, wenn Du hier bleibst, eine Sünde gegen Dich, gegen ihn und gegen die Frau da drüben und ihr kleines Kind. Ueberlege doch um Gotteswillen, was soll daraus werden!“

„Ich verbitte mir, daß Du so Schlechtes von mir denkst,“ rief Hilde, dunkelroth erglühend, und ihr Fuß trat den Teppich. „Muß denn alles hinabgezogen werden in den Staub? Kann denn gar keine Beziehung mehr in der Welt von Mensch zu Mensch bestehen, ohne daß man mit schmutzigen Händen danach greift? Allerdings bin ich meinem Lehrer gut, allerdings hält er viel von mir – ist das etwas Böses? Ich verbitte mir alle gehässigen Auslegungen!“

Die kleine Tante sah ganz erstarrt aus vor Schreck. War es denn möglich, daß sie sich so geirrt hatte? Aber nein, es war nur der Stolz, dieser alte Zweidorfsche Stolz, der das Mädchen trieb, ihre Neigung sowohl wie ihre herbe Enttäuschung zu verleugnen; der sie trieb, hier zu bleiben, damit er glaube, daß er ihr gleichgültig sei, daß es sie keineswegs unglücklich mache, ihn neben seiner Frau zu sehen. Es hatte ja keine Ahnung, dieses arme dumme Ding, an welchem Abgrund es da einherwandelte, und Tante Polly blutete das Herz, wenn sie die Spuren namenloser Seelengual, die großen dunklen Ringe unter den Augen des Mädchens und den kleinen zuckenden Mund sah.

„Hilde,“ begann sie noch einmal, „ich will’s ja glauben, daß Du Dir nichts besonderes aus ihm machst; an Deiner Stelle würde ich aber hier doch nicht bleiben, Du mußt es ja gemerkt haben, daß Du ihm gefällst! Du kennst das Leben noch nicht! – Du willst gewiß nichts Böses, aber Du weißt gar nicht, wie leicht etwas zwischen ein Ehepaar kommt, wenn so ein Drittes im Hause ist. Das sind so eigenthümliche Sachen, Hilde; oftmals nur Kleinigkeiten, an denen aber doch das Wohl und Wehe einer ganzen Familie hängt. Hilde, Du erinnerst Dich gewiß, wie er Dich immer angeschaut hat – bleibe nicht hier, folge mir, ich hab’s doch nie schlecht gemeint mit Dir, wenn ich auch manchmal heftig wurde, hab’ immer meine Pflicht gethan, so gut ich’s konnte. Wenn Du nur diesmal ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir haben möchtest!“

„Du siehst Gespenster, Tante!“ erklärte Hilde unerbittlich, „ich wäre undankbar und albern, wenn ich nicht hier bliebe.“

Tante Polly schwieg ein Weilchen und folgte ihrer Nichte mit den Augen, die langsam auf und ab ging. „Die junge Frau da drüben hat so blaß ausgesehen, Hilde, so, als ob sie geweint hätte,“ sagte sie endlich.

„Grundgütiger! Soll ich etwa auch daran schuld sein?“ rief das Mädchen stehenbleibend und die Hände ineinander schlagend.

„Vielleicht – man kann’s nicht wissen, Hilde.“

„Sie hat mich aber selbst gebeten, hier zu bleiben – damit das Bild fertig gemalt wird!“

„Ach Kind, es bittet manchmal eine mit dem Munde um etwas, und ihr Herz schreit nach dem Gegentheil.“

Hilde hielt sich ärgerlich die Ohren zu. „Ich weiß schon, was ich thue, Tante, und nachher geht ein Brief an Papa ab, der den Deinigen erläutert. Papa kennt mich besser als Du.“

„Aber Hilde, was denkst Du denn? Ich habe ja gar nicht geschrieben, ich werde doch nicht! Ich habe das doch nur im Zorn behauptet gestern abend –0 – komm’, Kind, komm’ mit!“

„Ich bleibe!“ rief das Mädchen ärgerlich. „Ginge ich mit Dir, so würde ich förmlich eingestehen, daß ich –“

„Daß Du ihn lieb hast und weggehst, weil er Dich hintergangen hat, und weil Du viel zu stolz bist und zu gut, um –“

„Er hat mich nicht hintergangen und ich – ich liebe ihn nicht!“ unterbrach Hilde sie heftig.

„So rasch kann Dir einer gleichgültig werden, Hilde? Ist es denn möglich? Täuschst Du Dich nicht?“

„Bitte, es ist genug, Tante. Ich bleibe hier und damit gut! Sei so freundlich und packe mir meine paar Sachen zusammen und schicke sie mir heraus.“

„Du wirst Dich aber arg verwöhnen,“ sagte Tante Polly ernsthaft nickend. „Wer mal so etwas –“ sie zeigte auf das Gewand, das Hilde trug – „angehabt hat, dem ist’s hinterher ungemüthlich in seinen alten bescheidenen Kleidern. Nun, so leb denn wohl, Hilde; an Deinen Vater schreibe ich nun doch, und ich will ihm sagen –“

„Daß Du schuld bist, wenn ich hierher kam, sag’s ihm nur!“ rief das vor Zorn weinende Mädchen.

„Ja! Aber auch alles andere, und daß Du die Hand nicht hast nehmen wollen, die Dich hinausgeführt hätte aus Deinem Irrsal, und daß Du die Ohren zugehalten hast vor den Worten, die Dich warnten. Leb wohl, Hilde, und guck fleißig der jungen Frau da drüben nach den Augen, laß sie nicht weinen!“ – Und Tante Polly barg schluchzend das Gesicht in ihr Taschentuch und ging der Thür zu. Dort aber übermannten sie noch einmal Zorn und Angst und sie wandte sich um. „So mach denn, was Du willst, in des Kuckucks Namen! Hören wollen hast Du ja nicht!“ – Dann flog die Thür hinter ihr zu und sie stieg, roth vor Schmerz und Aerger, die Treppe hinunter und verließ, ohne sich von Antje zu verabschieden, Haus und Hof.

Antje sah sie gehen, wie sie sie hatte kommen sehen, und ein Seufzer entschlüpfte ihr. Die kleine rundliche Person trippelte so eilig und so hastig fort, so wie eines geht, das im Zorne geschieden ist. Hilde hatte sich wohl nicht versöhnt mit ihr; sie blieb im Hause!



Ja, sie blieb im Hause! Aber vorläufig sah man nichts von ihr. Sie sei so angegriffen, war ihre Entschuldigung, wenn sie aufgefordert wurde, zu Tische zu kommen. Und als Antje dann zögernd ihre Schritte hinauflenkte, fand sie das junge Mädchen auf dem Ruhebette liegend und zur Zimmerdecke emporschauend. Die Frage nach ihrem Befinden ward mit kurzem Dank beantwortet; Antje saß dann stumm noch einige Zeit bei ihr oder richtete eine höfliche Anfrage an sie: ob es ihr gefalle im Zimmer, ob sie ordentlich bedient werde – um ein „Danke – ja!“ darauf zu hören und dann zu gehen, froh, wenn sie wieder drüben in ihrem einsamen Stübchen sein durfte.

Dem jungen Mädchen waren durch Tante Polly ihre Habseligkeiten zugestellt worden, und als am zweiten Weihnachtsfeiertage Antje pflichtschuldigst bei Hilde eintrat, hatte das Zimmer ein ganz verändertes Ansehen bekommen. Das Mädchen hatte all ihren bescheidenen Tand dazu verwendet, ihr neues Heim mit einem gewissen künstlerischen Geschmack zu verzieren. Ihre Aquarellskizzen lauschten aus den Falten der Wanddraperie; volle Büschel großer rother Mohnblumen, die sie täuschend natürlich aus Papier nachzubilden verstand, hingen über den Bilderrahmen und prangten in den Vasen des Kamins. Am Fenster hatte die Staffelei Platz gefunden, und sie selbst stand im schwarzen Kaschmirkleidchen vor dem Spiegel und band sich eine breite buntgestreifte römische Schürze um die Taille, so, daß die langen Enden der Bänder, am Rücken verknüpft, einen lebhaften Ausputz für den schlichten Rock bildeten.

„Wie nett Sie das gemacht haben!“ sagte Antje; sie erhielt aber keine andere Antwort als ein langgezogenes „O!“ Hildegards, das bescheiden kingen sollte, aber sehr unartig erschien. „Werden Sie heute abend mit uns essen?“ fragte Antje dann mit unveränderter Freundlichkeit.

„Wenn Sie erlauben – ja!“

„Und heute nachmittag? Wollen Sie spazieren gehen?“

„Ich schreibe Briefe.“

„Dann auf Wiedersehen um acht Uhr. Die Herren, die nach auswärts zum Essen geladen sind, erwarte ich zwischen sechs und sieben zurück. Auf Wiedersehen!“

Auch Antje setzte sich zum Schreiben nieder; sie wollte einen längst begonnenen Brief an ihre Mutter vollenden. Aber der Eintritt des Dieners unterbrach sie.

„Gnädige Frau, da ist jemand, der durchaus den Herrn sprechen will; er besteht darauf, ihn zu erwarten.“

„Wer ist es denn?“

„Grabe heißt er; er fragt auch, ob er vielleicht die gnädige Frau sprechen könnte.“

Antje bejahte.

Ein paar Minuten später erschien ein hagerer, ziemlich elegant aussehender Mann, der sich als Geschäftsführer einer [168] Dresdener Antiquitätenhandlung vorstellte und damit begann, sich zu entschuldigen, daß er gerade an solchem Tage stören müsse. Er habe aber geglaubt, auf diese Weise nach vielen vergeblichen Versuchen Herrn Jussnitz bestimmt zu treffen, und die gnädige Frau möge entschuldigen, daß er – – es geschehe ja nur aus zwingenden Gründen – die Firma befinde sich in augenblicklicher Verlegenheit –

„Bitte, sprechen Sie doch unumwunden,“ bat Antje, „was wünschen Sie?“

„Wenn es möglich wäre – die Begleichung unserer Forderung, gnädige Frau.“

„Hat mein Mann die Rechnungen für die Einrichtung seines Ateliers in Dresden noch nicht berichtigt?“

„Wir haben nicht die Ehre gehabt, ein Atelier in Dresden für Herrn Jussnitz ausstatten zu dürfen. Es ist noch – es gehört zur hiesigen Einrichtung, gnädige Frau.“

„Wie?“ fragte Antje und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, die sie plötzlich erglühen fühlte.

„Jawohl, gnädige Frau. Herr Jussnitz hat für sein Atelier hier einige seltene Stücke angekauft vor nunmehr zwei Jahren, und – wie schon gesagt – sind wir nicht mehr in der Lage, länger zu stunden.“

„Ich werde mit meinem Manne sprechen,“ sagte Antje. „Geben Sie mir die Rechnung – wie hoch ist der Betrag? Ich weiß in der That nicht, wann mein Mann nach Hause zurückkehrt.“

Der höfliche Mann überreichte ihr eine offene Nota. „Herr Jussnitz versprach bestimmt, bis zum ersten Oktober dieses Jahres zu zahlen. Leider erfüllte er dieses Versprechen nicht, und –“

Antjes erschrecktes: „Aber, mein Herr!“ ließ ihn verstummen. Sie hatte die Rechnung angesehen und blickte nun mit blassem Gesicht den vor ihr Stehenden an. „Achttausend Mark!?“

„Achttausend Mark, gnädige Frau.“

Sie wandte sich um und legte die Rechnung auf den Tisch. „Ja, es ist recht, ich erinnere mich,“ sprach sie mühsam. „Mein Mann wird die Angelegenheit ordnen, noch vor Neujahr – ich – er – –.“ Sie legte einige Bücher von einem Platz zum andern. „Also Herr Jussnitz wird – ich danke Ihnen, mein Herr.“

Der Fremde hatte wohl geglaubt, er werde das Geld sofort erhalten.

„Gnädige Frau – vielleicht eine Abschlagszahlung,“ begann er, „damit man doch wenigstens –“

„Mein Herr, ich kann in dieser Sache nichts ohne meinen Mann thun,“ sagte sie kurz und bestimmt, „ich werde ihm heute abend die Rechnung übergeben, das ist alles, was ich vorläufig versprechen kann.“

„Sehr wohl, gnädige Frau.“

Der Geschäftsführer hatte längst das Zimmer verlassen, als Antje noch immer still dasaß. Endlich langte sie noch einmal nach dem Zettel des Kunsthändlers.

„Ein Fächer, Watteau, aus dem Nachlaß von Marie Antoinette – dreitausend Mark –“ das mußte jenes zerbrechliche Dingelchen sein, das in ihrem Rokokoboudoir halb geöffnet auf dem verschnörkelten Tischchen lag, so zufällig, als wäre es eben dort vergessen. – Dreitausend Mark!

„Ein Gobelin, echt flandrisch, fünfzehntes Jahrhundert, Maria von Burgund zur Jagd ausreitend.“

Antje erinnerte sich an das verblichene graugrüne Gewebe, das zwischen den Bildern im Atelier hing und nur undeutlich noch eine Edeldame zu Roß mit dem Falken auf der Hand erkennen ließ. Das war mit zweitausend Mark verzeichnet!

Und nun kamen noch einige Waffen und eine Rokokouhr. Auch diese stand in Antjes Boudoir; sie trug als Schmuck eine rosenbekränzte Schäferin mit Hirtenstab und Lämmchen, und hinter einem Rosenbusch kauerte ein Amor: fünfzehnhundert Mark!

Die junge Frau blieb mit gefalteten Händen sitzen. Sie dachte an ihren alten Vater, wie er gearbeitet hatte und wie bescheiden er gewesen war in seinen Ansprüchen, wie schwer er sich einst entschlossen hatte, von seinem mühsam verdienten Gelde einen etwas eleganteren Wagen anzuschaffen, weil es ja eigentlich Luxus sei und weil man doch in der alten halbverdeckten Kutsche so gar glückliche Fahrten miteinander gemacht habe. Ach, es ist so schrecklich, wenn man jemand liebt und wird zu Vergleichen gezwungen, die zu seinen Ungunsten ausfallen!

Der alte ursolide Bürgersinn der Freys bäumte sich in ihr auf; es war ihr, als müßten die Leute mit Fingern auf sie weisen überall, wo sie sich blicken ließ. Ach Gott – aber was waren alle diese Sorgen gegen den Schmerz, der ihr gestern geworden war!

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 12, S. 181–187

[181] Antje ging nach dem Speisesaal hinunter, und wie sonst glitt ihr Blick über die Tafel, aber es war ihr, als ob ihr dies alles fremd sei. Endlich hörte sie den Wagen in den Hof rollen und die lebhafte Stimme ihres Mannes im Vorsaal fragen: „Wo sind die Damen?“

Er kam gleich darauf herein, noch im Pelz, ein Packet unter dem Arm, und sah aus, wie die Herren nach einer guten Mahlzeit auszusehen pflegen: lustig und behaglich. „Guten Abend,“ sagte er, „kommt Fräulein von Zweidorf nicht zu Tische?“

„Ja, sie kommt.“

[182] „Was habt Ihr denn begonnen heute?“ fragte er mit einem Anflug von Gemüthlichkeit.

„Ich schrieb an die Mutter.“

„Und Hilde?“

„Fräulein von Zweidorf? Ich weiß es nicht; sie wollte auch schreiben.“

„Ich hatte mir gedacht, Ihr würdet Euch in der Einsamkeit etwas zusammenfinden,“ meinte er, gab Pelz und Hut dem herbeieilenden Diener, strich sich vor dem Spiegel die Haare glatt und drehte den Schnurrbart. „Der Kerl, der Maiberg, muß irgend etwas übelgenommen haben,“ setzte er hinzu, „er will abreisen, hat unterwegs kein Wort mit mir gesprochen. Na, meinetwegen!“

Er verstummte, als Maiberg jetzt sichtbar wurde, der für Hilde die Thür offen hielt.

„Ah, Fräulein von Zweidorf,“ rief ihr Leo entgegen, „wie geht es Ihnen denn? Sehen Sie, die Stubenluft bekommt Ihnen nicht, Sie sind ganz blaß geworden in den zwei Tagen. Jetzt passen Sie aber einmal auf, ich habe Glück gehabt; manche Menschen sind doch einfach Barbaren, besitzen die größten Kostbarkeiten und haben nicht einen Schimmer davon!“ Dabei war er zu dem Nebentischchen getreten, auf das er vorhin das Packet gelegt hatte, und begann das letztere äußerst behutsam aufzuwickeln. „Hat dieser Rittmeister Berndorf da ein Stück uralten köstlichen Meißner Porzellans, sagt, er wolle das geschmacklose Ding seinem Wachtmeister zum Polterabend schenken, da er die verrenkten Gestalten nicht sehen könne und oben in die Schale doch nichts hineinlegen möge, weil ihm die drei Weibsbilder den Appetit verderben würden – und nun sehen Sie, diese Grazien! Eins der berühmtesten Muster der Fabrik soll ein Wachtmeister zur Hochzeit bekommen! Ich habe Lärm geschlagen und er wollte mir schon das Ding schenken, aber ich habe es ihm abgekauft, kann doch nichts von ihm geschenkt nehmen; das Stück ist unter Brüdern tausend Mark wert, wir wurden um dreihundert einig – Was? Ist’s nicht wunderschön?“

Hildegard stand neben ihm mit ihrem blassen Gesicht und mit den Augen, die seit Weihnacht so melancholisch blickten. Leo hielt die Schale in die Höhe, beide betrachteten sie; Antje sah einen Augenblick von ihrer Theemaschine zu ihnen hinüber, aber sie sprach kein Wort; man hatte sie ja nicht gefragt.

„Ja, es ist wundervoll!“ antwortete Hilde.

„Es paßt in das Boudoir meiner Frau,“ fuhr Leo fort, „sieh es Dir an, Antje!“

„Ich danke Dir; nimm es in Dein Atelier, es ist viel zu kostbar für mich,“ erwiderte sie und erschrak selbst vor der Schroffheit, mit der sie das herausgebracht hatte.

„Willst Du damit etwa sagen,“ entgegnete er mit gesuchter Höflichkeit, „daß die Schale Deinen Beifall nicht hat und daß sie eine unnütze Ausgabe sei? Nun, beruhige Dich nur, aus Hochdero Portemonnaie geht es ja nicht.“

Ueber ihr geröthetes Gesicht huschte flüchtig ein trauriges Lächeln. Jussnitz sah es, und es reizte ihn so, daß er die Anwesenheit Hildegards und des Freundes vergaß und heftig rief: „Ich erstand die Schale mit dem Gelde, welches ich mir erwarb und – damit Du es weißt, ich habe ein Bild verkauft in Berlin. Und nun schreibe Deiner Mutter, daß ich das erste Geld, welches ich in unserer Ehe verdiente, verausgabte für Firlefanz, wie sie es in ihrer Beschränkheit zu nennen beliebt, anstatt es Dir in die Hände zu geben, um Bäcker und Fleischer zu bezahlen. Sie wird Dir ihr Mitgefühl nicht versagen.“

Antje, die den silbernen Kessel eben in der Hand hielt, zitterte leise, aber sie erwiderte nichts. Maiberg blätterte in einer Zeitung, als habe er nichts gehört, und Hilde hatte sich in eine der tiefen Fensternischen zurückgezogen. Sie hatte ein unheimliches Lächeln um den Mund, als freue es sie, daß er leide unter der „unbedeutenden Frau“, die er sich erwählt hatte.

Man setzte sich stumm zu Tische, niemand war in der Stimmung, ein Gespräch zu beginnen. Die Schüsseln wurden umhergereicht, man hörte nur das Klappern der Teller und Gabeln. Es war förmlich gewitterschwül im Zimmer. Da klangen plötzlich von draußen herein wie erlösend Stimmen und das fröhliche ansteckende Lachen der Baronin, und gleich darauf kam diese, begleitet von den beiden Fräulein von Benken, dem Rittmeister von Barrenberg und dem unvermeidlichen Lieutenant von Osten, über die Schwelle.

„Nur aus einem ganz besonderen Anlaß wagen wir es, die getreuen Nachbarn und guten Freunde zu überfallen,“ rief Irene von Erlach. „Bester Herr Jussnitz, sehen Sie uns nichts an? Rathen Sie, was geschehen ist – Sie auch, Maiberg – Fräulein von Zweidorf, wie sehe ich aus?“ – Wenn die Baronin in eine Gesellschaft kam, so wirkte sie wie Champagner oder ein Walzer von Strauß. Heute noch besonders! – „Einen riesig dummen Streich habe ich gemacht,“ rief sie, „und ich warne einen jeden, mir darin zu folgen. Wäre ich nicht der ewigen Quälereien müde, so – so – na, kurz und gut, hier steht –“ und sie reckte sich an dem schmunzelnden Barrenberg empor und zog ihn an seinem heute besonders unternehmend gewirbelten Schnurrbart – „hier steht mein Bräutigam!“

Sie schlug, wie über sich selbst erstaunt, die Hände zusammen und lachte so herzlich, daß alles mit einstimmte, am lautesten Leo.

„Bravo! Verlobung! Das müssen wir feiern!“ rief er „Antje, laß Sekt bringen!“

Gehorsam bestellte Antje Champagner, und als er kam, stieß sie freundlich ernst mit dem Brautpaare an. „Viel Glück, alles Glück!“ sagte sie und die Augen wurden ihr feucht.

„Ei, warum sollten wir kein Glück haben,“ lachte die Braut; „gelt, Wilhelm, mir machen uns das Leben nicht so schwer, wir versuchen es halt miteinander – und – –“

„Nun – und?“ fragte Maiberg scherzend.

„Und wenn’s nicht geht –“

„Hör’ mal, Irene,“ unterbrach sie jetzt der Bräutigam, „das klingt ja sehr verheißend!“

„Nun, wenn’s nicht geht, da lassen wir uns eben scheiden,“ vollendete sie und hielt ihre kleine Hand an seine Lippen, die er verlegen lächelnd küßte.

Antje ging still wieder auf ihren Platz.

„Bravo, Barrenberg!“ sagte Leo, „langweilen werden Sie sich nie.“

„Langeweile?“ fragte Frau von Erlach, „Langeweile ist aller Laster Anfang; es giebt nach meiner Ansicht nichts Unklügeres, als wenn eine Frau ihren Mann sich langweilen läßt.“

„Sehr tröstlich für mich,“ erklärte der glückliche Bräutigam.

„Es giebt mancherlei Mittel zur Vertreibung der Langenweile,“ bemerkte Maiberg gelassen, „nur ist es die Frage, ob das Gegentheil von Langerweile gerade immer Glück bedeutet.“

„Hunderttausend Mittel,“ bestätigte Irene, das letzte überhörend, „nur gehört nicht, wie so oft irrthümlicherweise angenommen wird – die Liebenswürdigkeit dazu! Die kann kein Mann lange ertragen. Dafür so ein wenig – aber ich will nichts verrathen, sehen Sie nur, wie erschrecklich neugierig Fräulein von Zweidorf aussieht!“

Antje wandte mit den andern ihre Blicke auf Hilde. Des Mädchens Augen hatten einen Augenblick aufgeblitzt; jetzt war sie purpurroth geworden.

Jussnitz sah sie groß an. „Machen Sie mir doch morgen früh beim Malen solch ein Gesicht!“ rief er ihr zu. Aber Hilde that, als verstünde sie es nicht.

„Die hat Talent für das, was ich eben meinte,“ bemerkte Frau Irene zu Jussnitz. Er lächelte und nickte. Antje blieb still.

„Zu albern!“ flüsterten Melly und Nelly sich zu. Später kam noch ein lärmendes Kartenspiel zustande, dem gar noch ein Pfänderspiel folgte. Die Baronin war von einem nie dagewesenen Uebermuth.

Antje setzte sich in eine der tiefen Fensternischen; sie hatte thatsächlich Kopfschmerzen. Maiberg trat zu ihr und bat sie, sie möge sich doch zurückziehen. Aber sie lächelte und verneinte; Leo würde es nicht gern haben, meinte sie. In Wahrheit, sie wollte nicht, sie sah mit immer starrer werdenden Augen ihrem Gatten nach, der beständig neben Hildegard auftauchte, obgleich das Mädchen ihn kaum eines Wortes würdigte und sich in allen den kleinen Wendungen des Spiels an Barrenberg oder Maiberg wandte. Antje biß sich auf die Lippen, als sie die Baronin darüber lächeln sah, und ihre Hände ballten sich zusammen. Weshalb ließ denn Gott zu, daß Leo sie gewollt hatte, die nimmer für ihn paßte? Und warum legte er die unsagbare Liebe und Treue in so ein armes Frauenherz, daß es vor Pein brechen möchte über das, was ihm angethan wird? Und sie sah zu Maiberg auf und konnte es nicht hindern, daß auf einmal zwei [183] schwere Tropfen an ihren Wimpern zitterten. „Lieber Herr Doktor,“ sagte sie mühsam, „nun weiß ich, daß Leo ein Bild verkauft hat.“

„Gnädige Frau,“ begann er und nahm auf einem kleinen Polsterschemel Platz, so daß er, viel tiefer sitzend als sie, zu ihr emporsah.

„Sagen Sie nichts, sagen Sie nichts!“ bat sie, ihre neu hervorquellenden Thränen zurückdrängend. Aber sie mußte doch den Blick von seinem ehrlichen, besorgten Gesicht abwenden.

„Was soll der thun, dem dieses Pfand gehört?“ fragte eben Melly Benken.

„Fräulein von Zweidorf küssen!“ rief Nelly mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt und stieß heimlich ihre Schwester an, weil sie längst gesehen hatte, daß diese den Siegelring des Hausherrn in der Hand barg.

„Herr Jussnitz!“ lachte Melly, den Ring emporhaltend.

Antje sah, wie das schöne Gesicht des jungen Mädchens erblaßte und wie ihre Augen mit einem wahrhaft eisigen Ausdrucke Leo Jussnitz entgegensahen, als dieser sich nun näherte, um ihre widerstrebende Hand galant an die Lippen zu führen.

Wie gut ihn diese Ritterlichkeit kleidete, wie ehrerbietig zärtlich sein Gesichtsausdruck jetzt war! Antje sah es erröthend. „Mein Gott, wie kleinlich bist Du geworden!“ klang es gleich darauf durch ihre Seele, und sie wand die Hände ineinander in nie gekannter Qual. „Wenn ich doch lieber sterben dürfte!“ flüsterten ihre Lippen.

„Frau Antje!“ Diese in vorwurfsvollem Tone gesprochene Anrede ließ sie erschreckt zu Maiberg herabblicken; hatte sie denn laut gedacht? Und sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.

„Was meinen Sie, Herr Doktor,“ sagte sie nach einer Pause langsam, mit eigenthümlich schwerer Zunge, „wäre es nicht am besten, ich nähme die Kleine und ginge ihres Hustens wegen einige Zeit lang zu meiner Mutter?“

„Gnädige Frau, gehen Sie ja nicht,“ sprach er herzlich; „verzeihen Sie mir – das wäre eine Feigheit!“

Sie sah ihn an mit den schönen thränenschimmernden Augen. „Nein, ich gehe nicht!“ wiederholte sie, „ich gehe nicht!“ –

„Willst Du vielleicht die Güte haben, Dich Deinen Gästen im allgemeinen etwas mehr zu widmen?“ fragte Leo, der plötzlich neben ihr stand; „es mag ja sehr hübsch sein in diesem Schmollwinkelchen, aber – ich bitte Dich dringend aus verschiedenen Ursachen – diese thränenreichen Vertrauensergüsse etwas abzukürzen.“

Maiberg stand auf. „Gnädige Frau, ich bin genöthigt, morgen Ihr gastfreies Haus zu verlassen; ich muß bereits zeitig aufbrechen und möchte mich daher heute abend etwas früher zurückziehen. Leben Sie denn wohl und haben Sie Dank für alle Ihre Güte und Freundlichkeit.“ Er hielt die schlanke zitternde Hand einen Augenblick in der seinen, aber er sah nicht mehr das todestraurige Gesicht der jungen Frau.

„Leb wohl, Leo!“ wandte er sich kurz zu dem Freunde.

„Mach’ doch keine Witze!“ sagte dieser rasch und ärgerlich.

„Mir war nie ernsthafter wie jetzt, ich versichere Dich! Leb wohl! Ich empfehle mich auf französisch; solltest Du noch etwas mit mir zu besprechen haben, so findest Du mich wach, ich packe meine Sachen.“

Er sah sich noch einmal um. Antje stand neben Barrenberg, der ihr etwas erzählte; sie hatte das Gesicht zu ihm erhoben, aber Maiberg wußte, sie hörte nichts von dem, was er zu ihr redete.




Wochen waren vergangen. Auf die Mauern des Sibyllenburger Herrenhauses schien die Märzsonne, die weiten Rasenplätze des Gartens hatten bereits einen grüneren Schimmer gewonnen, an den Reisern und Aestchen der Bäume und Sträucher schwollen die braunrothen Knospen und aus der sauber gelockerten Erde der Beete drängten sich kleine grüne Spitzen zum Licht und guckten schüchtern heraus. „Ob man es schon wagen kann?“ schienen die Krokus und Hyazinthen zu fragen, und der alte Gärtner schüttelte den Kopf und legte sorglich Tannenreisig über die vorwitzigen Dinger, um sie zu schützen vor Frost und Eis, denn es konnte nur ein trügerischer Frühlingsglanz sein und die Wolken dort drüben bargen Schnee.

Antje stand, ihr Töchterchen an der Hand, gedankenvoll neben dem alten Mann und betrachtete seine vorsorgliche Arbeit.

„Bei uns in den Bergen droben,“ sagte sie endlich, „kommt das alles nicht vor dem April heraus; es ist ein sonniges Stückchen Welt hier.“

„Schön ist’s!“ nickte der Alte und sah sich um. „Es wäre schade, Frau Jussnitz, wenn es wahr ist, was die Leute reden, daß der Herr daran denkt, die Besitzung zu verkaufen.“

„Sagen das die Leute?“ fragte sie.

„Ueberall sprechen sie davon – es wäre mir lieb, ich könnte dagegen reden, gnädige Frau.“

Sie antwortete nicht, sie hatte sich dem Hause zugewandt und betrachtete es. Die Sonne strahlte aus allen Fenstern zurück, deren jedes selbst eine kleine blendende Sonne war. Antje blickte so scharf hinein, daß ihr die Augen davon thränten. Dann ging sie weiter mit der Kleinen; kopfschüttelnd sah der alte Mann ihr nach.

Am Ende des Parkes blickte sie über die niedrige Mauer weg in das Feld hinaus. Sie hob die Kleine auf das Gemäuer und ließ sie mit hinaus in die Welt schauen.

„Papa!“ jauchzte das Kind auf, und die kleine Hand im weißen Fausthandschuh zeigte nach einem Herrn, der drüben auf dem Wege neben einer Frauengestalt dahin schritt.

„Sei ruhig,“ sagte die junge Frau, indem sie den beiden nachstarrte, bis sie hinter den ersten Häusern des Dorfes verschwanden. „Komm, Maus!“

Die Kleine trippelte wieder neben der Mutter her dem Hause zu. „Maus will nicht hineingehen,“ weinte sie, als Antje die Hausthür öffnete.

„Doch, Maus, wir gehen in Papas schöne Stube, komm!“

Und als sie droben die Mäntel und Hüte abgelegt hatten, ging Antje mit dem Kinde in das Atelier. Sie setzte sich in den ersten besten Stuhl und starrte auf einen Fleck; das Kind spielte indessen auf dem Teppich umher.

„Da, Mama!“ sagte es und legte eine rothe Bandschleife, die es aufgehoben hatte, der Mutter in die Hand.

Antje schleuderte den zierlichen Schmuck wieder zur Erde, als sei ein widriges Insekt über ihre Hand gekrochen, und ihre Blicke flogen zu dem Bilde auf der Staffelei hinüber. Die schöne Gestalt der spanischen Tänzerin schaute jetzt bereits aus einem breiten schimmernden Goldrahmen, aber vollendet war das Bild, nach Leos Ausspruch wenigstens, immer noch nicht. – Die Sonnenstrahlen rückten mählich weiter und weiter, es war so stille um die sinnende Frau; das Kind hatte das Köpfchen auf ein weiches Fußkissen geschmiegt und war eingeschlafen. Im ganzen Hause kein Geräusch als nur das leise langsame Ticken der reich vergoldeten Stutzuhr auf dem Kamin und ein Flüstern und Knistern, als gingen Geister um.

Es waren keine traulichen Geister; sie redeten Böses zu der blassen Frau dort, sie redeten von gebrochener Treue, von gestorbener Liebe und unglücklicher verlassener Zukunft. Antje war nicht feige gewesen; sie hatte ihr rebellisches Herz an jenem Abend zur Ruhe gebracht, indem sie sich sagte, daß er ja noch nichts gethan habe, was ihn ihrer Liebe unwerth mache; es ließ sich eben alles auf seine Künstlernatur zurückführen, auf seine Lust am Schönen, an den prächtigen Erzeugnissen vergangener Zeiten, auch sein Verlangen, das schöne Mädchen zu malen, und das Bedürfniß, ihr zu huldigen. Mein Gott, das war es ja, was auch sie hingezogen hatte zu ihm, daß er so anders war als die andern. Sie hatte es auch nicht vermocht, ihm von der Rechnung des Antiquitätenhändlers zu sprechen; heimlich hatte sie die Summe angeschafft, um den Mahner zu befriedigen. Sie hätte um keinen Preis mit Leo des Geldes wegen hadern mögen; sie durfte ihm die schaffensfreudige Stimmung nicht mit derartigen Vorstellungen verderben, diese Pflicht lag ihr als seiner Frau zunächst ob. Daß sie heimlich all ihr von Kindheit an Erspartes durch die Classen von der Sparkasse holen ließ und noch die ererbte werthvolle Perlenkette einer Pathin mit drauf gab, welche die alte Frau unter Kopfschütteln und Seufzen in Empfang nahm, um sie zu verkaufen, das wußte niemand außer Antje selbst und ihrer Helferin. Und auf die Classen konnte sie sich verlassen! Die Alte rang zwar die Hände und drohte, alles der Mutter zu verrathen, aber sie schwieg doch wie das Grab, sobald es ihre junge Herrin ernsthaft verlangte. Nur das mußte Antje oft von ihr hören: „Wohin sind wir gekommen! Wohin werden wir noch kommen, wenn Sie immer so still sind!“

[186] „Es ist jetzt noch keine Zeit zum Reden, liebe Classen,“ antwortete sie dann, „es kommt auch alles noch so in Schick, paß auf!“

„Himmel! Ich thät ihm den Standpunkt klar machen,“ brummte die Alte. Aber Antje hörte das nicht.

Sie dachte an Maiberg; sie fühlte, daß ein treues Herz von ihr geschieden war. Ob Leo es auch empfand? Ob Hoffnung war, daß der Freund wiederkehrte? Sie vermochte es nicht zu ergründen, und fragen wollte sie nicht, nach der letzten Scene; es hätte ja scheinen können, als ob sie ein tieferes Interesse an dem Doktor nähme.

Leo blieb auch keine Zeit, über irgend etwas nachzudenken; er malte Hildegard von Zweidorf.

Es war ein wunderliches Zusammenleben geworden, denn alles im Hause drehte sich um Hildegard.

Mit immer gleich bleibender Freundlichkeit begegnete Antje dieser Fremden, die doch so kalt und lieblos ihr gegenüber stand wie der Winter draußen. Der Dienerschaft, die sich angesichts der armseligen Toilette des Fräuleins, auch wohl durch die sehr unfreundlichen Augen, mit denen die alte Classen den Eindringling betrachtete, zu einigen Nachlässigkeiten der jungen Dame gegenüber hinreißen ließ, wurde ein strenger Verweis zutheil seitens der Herrin.

Mit jener echten Gastfreundschaft, die das Zeugniß eines wirklich vornehmen Hauses ist, sah sich Hildegard von Zweidorf umgeben. Daß Antje blasser und blasser wurde, je länger sie blieb, je nun – wer merkte das? Ein freundlicher Ausdruck fehlte ja dem Gesichte der jungen Hausfrau nie, und Antje hatte am Ende auch keine Ursache, dem schönen Mädchen unfreundlich zu begegnen.

Hilde benahm sich tadellos, sehr bescheiden, sehr aufmerksam und – sehr kühl. Sie hatte etwas Ernstes, Gemessenes angenommen, das freilich sonderbar abstach gegen ihre schimmernden, sehnsüchtigen Augen; aber Hilde nahm die Aufmerksamkeiten des Hausherrn mit solcher Zurückhaltung auf, wie es ein wohlerzogenes Mädchen nur immer thun kann. Sie wollte nichts weiter sein als ein ganz und gar fernstehender Besuch.

Wenn Antje nur hätte vergessen können, was Leo an jenem Weihnachtsmorgen zu dem Mädchen gesprochen hatte, wenn sie nur nicht immer noch den leidenschaftlichen weichen Tonfall seiner Stimme in ihrer Seele hätte nachzittern gefühlt, nur nicht die Erinneruug an das heiße Schluchzen des Mädchens behalten hätte!

Und Leo war so häuslich jetzt, er fuhr höchstens noch in „Geschäftsangelegenheiten“ nach Dresden. Antje wußte, was er darunter verstand – Gelder vom Bankier holen. Mit ernstem Gesicht sah sie ihn fortfahren und ohne Vorwurf empfing sie ihn beim Wiederkommen – was immer so bald geschah! Aber das konnte ja auch daran liegen, daß er es eilig hatte mit der Vollendung seines Bildes. Und wenn er schließlich Hildegard, die so gern spazieren ging, mit dem Skizzenbuch begleitete, was war denn natürlicher als das? Sie wanderten dann weit in die winterlichen Berge hinein; zuweilen kamen sie erst mit der Dämmerung heim, und Antje sah es in den belebten Zügen beider, daß sie sich über irgend etwas unterhalten hatten, dem sie nach Leos Begriff kein Verständniß entgegentrug. An solchen Tagen stand sie stundenlang am Fenster und schaute in die Weite, wo jene beiden umherwanderten, und wie ein Seufzer der Erleichterung klang es von ihren Lippen, wenn das Paar endlich heimkehrte.

Es war still geworden auf Sibyllenburg. Irene von Erlach hatte als Frau von Barrenberg mit ihrem Manne nach einer raschen Hochzeit ihr Haus verlassen und schwärmte mit ihm am Nil umher. Die Kavaliere, welche die lustige junge Witwe beständig im Gefolge gehabt hatte, waren an dem Hochzeitstage zum letzten Male in dieser Gegend gesehen worden; Jussnitz hatte die Herren nicht aufgefordert, ihn zu besuchen, weil er „zu arbeiten habe“, und Antje wollte ja still leben. Es war jetzt die Ruhe in dem Hause, welche die junge Frau sich immer gewünscht hatte, aber die Ruhe war nicht in ihrem Herzen. Sie fand sie nur bei ihrem Töchterchen. Wenn die Stunde schlug, wo drüben im Atelier die schöne Spanierin in der gelben spitzenbesetzten Seide zu erscheinen pflegte, da flüchtete Antje zu dem Kinde; sie lehrte es kleine Verschen, spielte mit den Puppen und drückte zuweilen die Kleine an sich, lachte über irgend etwas, was der Kindermund geplappert hatte, und wurde selbst wie ein ausgelassenes Kind, nur daß ihr dabei oft die Thränen über die Wangen flossen.

Einmal war sie doch in das Atelier gegangen und hatte selbst die Platte mit dem zierlich geordneten Frühstück hinüber getragen, einmal nur. Sie war da mit dem Kaviar und den Lachsbrötchen in einen Vortrag ihres Mannes hineingeschneit, dem Hilde, in einem niedrigen Sessel sitzend, den Fächer langsam bewegend, mit gesenkten Wimpern lauschte. Leo sprach über die Holbeinischen Madonnen der Dresdener und Darmstädter Galerie mit wahrem Feuereifer; man hatte die junge Frau gar nicht bemerkt, die unhörbar über den Teppich geschritten war. Sie stellte den Präsentirteller leise auf ein Tischchen und ging wieder.

Damals, als sie zum ersten Male an der Seite ihres Mannes die Dresdener Galerie besuchte, hatte sie gefragt: „Sag’, Leo, welche von den Madonnen hältst Du für die echte?“ Und die Antwort war gewesen: „Ach, Kind, davon verstehst Du ja doch nichts, ich müßte darüber eine lange Vorlesung halten – später einmal!“

Und dieses „später“ war nie gekommen. Jetzt hielt er die Vorlesung, aber einer andern, einer Bedeutenderen. –

„Wie lange wird diese Qual noch dauern?“ fragte sie sich bitter, und sie wußte doch, daß sie noch lange nicht vorüber sei. – –

„Ich muß Fräulein von Zweidorf irgend eine Entschädigung dafür geben, daß sie ihre Zeit hier so opfert,“ sagte Leo eines Tages zu Antje, „Geld kann ich ihr nicht wohl anbieten, obgleich sie das, weiß Gott, am nothwendigsten braucht. Ich denke, wir behalten sie einstweilen hier, und sobald mein Bild fertig ist, gebe ich ihr Unterricht oder lasse ihr solchen ertheilen.“

Antje erwiderte, sie könne darüber nicht entscheiden. „Ich weiß ja nicht, in wie ausgedehntem Maße das Fräulein über seine Zeit verfügen darf,“ setzte sie hinzu.

„Pah!“ erwiderte er, „zu Hause werden sie froh sein, sie einstweilen untergebracht zu wissen.“

Antje schwieg; die Sache war abgemacht.

Hilde malte jetzt; sie hatte erklärt, sie müsse sich Geld verdienen. Leo besorgte Seide, Leder und Aquarellpapier und ein Kunsthändler in Berlin übernahm den Verkauf der Sächelchen. Auch Antje erstand einmal mehrere kleine Notizbücher, auf denen ein Vogel oder eine Blume überraschend lebendig dastand. Von ihrer Einnahme kaufte sich Hilde ein zwar sehr einfaches, aber nettes Kostüm, und allmählich hörte sie auf, ärmlich auszusehen. Leos Weihnachtsbrosche trug sie nicht; sie hatte sie ihm in Gegenwart Antjes mit dem Bemerken zurückgegeben, daß sie sich nichts schenken lasse, am allerwenigsten solche Kostbarkeiten. Das hübsche blitzende Ding lag nun in einem Schreibtischfach Leos, und die Rechnung des Juweliers, noch unquittirt, daneben. Ach, wie viele unquittirte Rechnungen mochten überhaupt in den Fächern dieses Schreibtisches liegen!

„Bis zum April werde ich das alles besorgen,“ hatte er gesagt, „bis dahin wird mein Bild verkauft sein.“

So hatten sich die Tage hingeschleppt. Antje kam es vor, als schwebe ihr beständig ein grauer Schleier vor den Augen; es war ihr alles so gleichgültig, alles bis auf das Kind!

Ja, das Kind! Mit einem Schlage war Antje wieder in der Gegenwart und sie lief hinüber, wo ihr Liebling schlafend auf dem Teppich lag, und betrachtete ihn. Wie hübsch Leonie war mit ihren goldigen Löckchen und dem Apfelblüthengesicht! Ob sie wohl glücklich werden würde? Was sie, Antje, dazu thun konnte – sicher! Sie sollte sehr viel lernen, auch lernen, das, was ihr gelehrt worden war, nicht zu verstecken und zu verbergen, wie es ihre arme unvernünftige Mutter that, die immer ängstlich wurde, wenn sich die Gelegenheit bot, mitreden zu können.

Wie lange doch Leo und Hilde heute ausblieben! Das große Gemach stand schon in völliger Dämmerung, und sie waren noch nicht da!

Antje erinnerte sich, daß Hilde von einem besonders malerischen Punkt gesprochen hatte, den sie kürzlich drüben am Elbufer entdeckt hatten und den sie heute aufsuchen wollten. Richtig, sie waren ja auch in jener Richtung fortgegangen. Die junge Frau trug das schlafende Kind zur Wärterin hinüber, dann bemerkte sie, daß sie ihr Schlüsselkörbchen im Atelier vergessen hatte, und sie [187] schritt eilig zurück, es zu holen. Hausgang und Treppe waren bereits erleuchtet, und sie sah den Diener mit einem Packet Zeitungen und einigen Briefen kommen.

„Etwas für die gnädige Frau,“ meldete er, und rasch heraufeilend, übergab er Antje einen Brief.

Es war ein großes Schreiben mit kaufmännischer Schrift. Sie erkannte sofort die Hand Kortmers, des alten Werkführers der Hütte und langjährigen Freundes ihres Hauses.

Da er sonst seine Grüße immer nur durch die Mutter sandte, war Antje durch dieses Schreiben etwas befremdet. Sie trat rasch zu der Lampe, die von einem riesigen Bronzeneger getragen wurde, öffnete den Brief, las ihn hastig und ließ dann die Hand, die das Blatt hielt, sinken, einen Ausdruck qualvoller Angst im Gesicht. Ganz willenlos lenkte sie ihre Schritte wieder nach dem Atelier, in dem Gedanken, ihr Mann könnte vielleicht indessen gekommen sein.

„Leo!“ rief sie und lauschte; ihre vom Licht geblendeten Augen konnten in der tiefen Dämmerung nichts unterscheiden.

Keine Antwort. – Sie tastete sich nach dem Sessel, in dem sie vorhin geruht hatte, setzte sich, stand wieder auf, that ein paar Schritte zum Fenster und starrte in den Garten hinunter. Die Rasenplätze lagen gleich dunklen Schatten und die weißen Kieswege leuchteten daraus hervor wie breite geschlängelte Bänder. Im Westen schimmerten durch schwarzes Gewölk noch einige grell gelbe Streifen, unheimlich und feierlich. wie die alten Maler den Himmel auf den Kreuzigungsbildern darzustellen pflegten.

Ueber dem Bette der Mutter daheim hing solch ein Bild; Antje sah es in diesem Augenblick greifbar deutlich vor sich, und sie sah in den weißen Kissen ein fieberglühendes Gesicht, sah Augen, die wie um Linderung bittend sich zu dem Heiland emporwandten und von dort suchend umherblickten nach dem einzigen, was die Frau noch an diese Welt fesselte, nach der Tochter.

„Wo bleibt er? Mein Gott, warum kommt er nicht?“ – Um zehn Uhr ging der Schnellzug unten an der Station ab; wollte sie ihn noch benutzen, so war keine Zeit mehr zu verlieren.

Sie ermannte sich und suchte ihren Schlüsselkorb; dort auf dem großen Schreibtisch Leos stand er. Sie wollte gehen, einiges zusammenzupacken für die Reise. Die Kinderfrau war zuverlässig und die Classen ebenfalls; es würde alles seinen Gang gehen ohne sie – alles – ja!

Unhörbar schritt sie über den Teppich und blieb dann betroffen stehen – drüben war eine Thür gegangen.

„Auf Wiedersehen, Hildegard,“ klang es weich, „ruhen Sie sich gut aus, die Füße werden Ihnen wehthun nach dem weiten Marsche – auf Wiedersehen bei Tische!“

Eine Antwort erfolgte nicht, Leo hatte die Thür geschlossen. Es waren eben nur noch so ein paar Worte gewesen, die er ihr gesagt, als sie in ihr Zimmer eintrat.

Jetzt öffnete sich auch schon die Thür des dunklen Ateliers. „Leo!“ sagte die junge Frau laut.

„Wer ist’s? Was, Du bist hier?“ fragte er. „Warum hast Du kein Licht, man kann sich ja zu Tode erschrecken! Wo sind denn die Streichhölzer – kannst Du nicht wenigstens die Klingel finden?“

„Leo, nur ein Wort,“ unterbrach sie ihn hastig, „ich erhielt eben durch Kortmer die Nachricht, daß die Mutter schwer erkrankt ist – ich möchte natürlich hinfahren – bald – gleich – Du wirst doch nichts dagegen haben, Leo? Ich ängstige mich, sie muß sehr krank sein.“

Leo hatte inzwischen ein Streichholz entzündet und brannte bedächtig die Kerzen eines großen Armleuchters an. Sein Gesichtsausdruck war der eines sehr unangenehm überraschten Menschen.

„Du kannst doch nicht so plitz platz abreisen!“ sagte er langsam.

„Um Gotteswillen, Leo! Kortmer schreibt, die Mutter liege seit vorgestern ohne Besinnung!“

„Nun, heute wird’s ihr wahrscheinlich schon wieder viel besser gehen; die Nachricht ist ja mindestens zwei Tage alt.“

„Leo, ich bitte Dich! Ich habe eine so große Herzensangst – sie hat niemand weiter wie mich – –“

„Die alte Hanne ist ja dort,“ beharrte er eigensinnig. „Du kannst unmöglich das Haus verlassen wollen – jetzt! Du vergißt, daß Du eine junge Dame zum Besuch hast, die nicht wohl allein bei mir bleiben kann.“

Antje stand und sah ihn an mit großen erstaunten Augen. „Und um dieser Fremden willen soll ich meine kranke Mutter im Stich lassen?“ fragte sie leise.

„Du scheinst kein Verständniß für die Sachlage zu haben,“ erwiderte er und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. „Gehst Du, so ist Hilde gezwungen, ebenfalls noch heute abend abzureisen, und wo soll sie denn hin? Bitte, beruhige Dich, morgen werde ich an den Arzt telegraphiren, und wenn sich der Zustand Deiner Mutter noch nicht gebessert hat, nun so ist es ja immer noch Zeit, ein Arrangement zu treffen.“

Sie wandte ihm den Rücken und ohne ein Wort zu sprechen, schritt sie der Thür zu.

„So warte doch!“ rief er heftig. „Du faßt die ganze Sache wieder falsch auf,“ fuhr er fort, als sie stehen blieb. „Du weißt doch, daß sich seit dem Weihnachtsabend bei Barrenberg die Leute den Mund zerreden über das arme Mädchen. Gehst Du jetzt, so heißt’s natürlich, Du verläßt mich, weil – – Ach, Donnerwetter, mache doch nicht ein so erbarmungswerthes Gesicht, Du verstehst ja doch, was ich meine!“ schloß er ärgerlich „Es ist zu albern, aber – schließlich, man lebt in der Welt und muß sich nach ihr richten.“

Antje zuckte unmerklich die Schultern und ging.

Er sah ihr finster nach und ließ sich in einen Stuhl fallen, den nämlichen, in dem Antje vorhin gesessen hatte; es war ihm im höchsten Grade unbehaglich in diesem Augenblick, so todtenelend wie eben hatte seine Frau noch nie ausgesehen.

Aber, lieber Gott, welche Frau ist so gestellt, daß sie gleich auf und davon gehen kann, wenn daheim etwas passirt? Und Antje konnte nicht fort und durfte nicht fort, es war unmöglich, gerade jetzt!

Leo bückte sich nach dem Schreiben, das ihr entfallen war. „Ich möchte Sie nicht ängstigen, verehrte Frau,“ las er, „aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen diese Nachricht zu schicken, im Falle eines schlechten Ausganges, den Gott verhüten wolle. Ihre Frau Mutter liegt seit einigen Tagen recht schwer danieder. Wenn es Ihnen möglich ist, so kommen Sie. Daß Ihre Frau Mutter selbst Schlimmes befürchtete, beweist der Umstand, daß sie gestern nach den Notar an das Krankenlager beorderte. Einige Stunden später war sie bereits ohne Besinnung. Darum dürfen wir zwar nicht gleich das Schlimmste fürchten. Aber besser ist’s doch, Sie kommen her, dann ist für alle Fälle gesorgt, und Ihrer Frau Mutter geschieht jedenfalls eine große Wohlthat –“

Leo faltete das Papier zusammen und legte es auf den Schreibtisch.

„Es wird mal wieder übertrieben sein,“ murmelte er und begann einige andere Briefe zu öffnen, die für ihn bereit lagen. Bei Lesung des ersten zog er hastig das Taschentuch und wischte sich über die Stirn, sein Gesicht sah ein paar Augenblicke ganz verfallen aus.

„Auch falscher Alarm! – Hm – Runo und Barkert sind bombensicher. – Was wohl die alte Dame mit dem Notar zu verhandeln hat?“ dachte er halblaut. „In dem Falle wäre es vielleicht gut, wenn Antje dennoch hinreiste. Nun, es stirbt sich nicht so leicht. Muß aber doch morgen mal zum Bankier!“

Er bückte sich abermals und hob eine kleine rothe Schleife auf, dieselbe, die Antje vorhin von sich geschleudert hatte. Er starrte sie an wie verloren; er erinnerte sich, daß Hilde sie heute mittag im Haar getragen hatte. Dann seufzte er und legte sie behutsam auf die Platte des Schreibtisches, nahm sie gleich darauf wieder und strich mit leisem Finger darüber, als habe er die Hand einer schönen geliebten Frau in der seinen. Wieder ein tiefer Seufzer, dann warf er das zierlich verschlungene Band auf den Tisch.

„Es ist zum Tollwerden!“ murmelte er und trat an das Fenster; seine geballte Faust lag auf dem Holz des Fenstersimses. Und jetzt war’s, als ab sie sich noch fester zusammenkrampfte – dort unten auf dem hellen Kieswege schritt eine dunkle schlanke Frauengestalt – Antje.

Wollte sie am Ende doch fort? Dann – nun dann mochte sie verantworten, was kam. Nein, sie tauchte eben dort wieder auf, sie irrte nur umher in ihrer übertriebenen Angst; es war doch einmal etwas, was sie aus ihrer unerträglichen Ruhe brachte!

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 13, S. 201–204

[201] In ihrer lauschigen Stube saß Hilde und schrieb; das heißt, sie hatte geschrieben und überlas jetzt nur noch einmal den Brief; er war an ihre älteste Schwester gerichtet, die seit kurzem ihre Vertraute geworden war. Die junge Malerin hatte sich sehr verändert; ihr Gesicht war schmaler geworden, der Mund schien das eigenthümliche, halb verächtliche, halb verbindliche Lächeln nicht mehr lassen zu können, welches Leuten eigen ist, die sich über die Thorheiten und Erbärmlichkeiten ihrer Mitmenschen himmelweit erhaben fühlen und nur durch die Verhältnisse gezwungen werden, ihre Ansichten für sich zu behalten. Sie hatte etwas Beobachtendes, Abwartendes in ihrem Wesen, ihre Bewegungen waren katzenhaft geschmeidig geworden, man erkannte sie kaum wieder. Wenn Antje still geduldig war, so war sie geradezu theilnahmlos in ihrem Verhalten. Fragte Leo sie, ob sie spazieren gehen wolle, so erwiderte sie mit einem kurzen „Gewiß!“ und marschirte tapfer neben ihm her. Sie war gerade noch so höflich gegen ihn, daß es nicht zur Unart wurde; aber diese Zurückhaltung, diese Kühle kleidete sie vortrefflich, denn aus ihren dunklen Augen blitzte ein Feuer, das zu ihrem sonstigen Verhalten einen seltsamen Gegensatz bildete. Sie wußte genau, daß sie Leo damit quälte, beglückte, ärgerte, aber sie lebte so gelassen dabei hin, daß jeder Mensch glauben mußte, sie ahne gar nichts von den Stürmen, die sie heraufbeschwor. Und sie gestand sich selbst kaum die Freude ein, welche ihr das bereitete.

[202] Wenn Leo sich wand und krümmte wie ein getretener Wurm, nun, so wog all seine Pein noch nicht das auf, was sie erduldet hatte an jenem Abend, als sie erfuhr, daß er verheirathet sei. An Antje dachte sie hierbei gar nicht. Was war ihr diese Frau? Wenn die nur die Schlüssel zur Speisekammer und zum Linnenschrank am Gürtel und ihr Kleines auf dem Arm hatte, dann war sie ja zufrieden.

Sie griff nach dem Briefblatt und las es noch einmal:

 „Liebste Toni!

Quäle mich nicht mit Fragen, ich kann es nicht bestimmen, wann ich zurückkehre; Jussnitz hat das Bild noch nicht vollendet. Du weißt ja auch, daß ich hier gut aufgehoben bin.

Daß Papa der Tante Polly gründlich den verleumderischen Mund gestopft hat, freut mich herzlich Toni, Du kennst mich – als ob ich hier bleiben würde, wenn auch nur ein Atom davon wahr wäre, was sie behauptet. Es giebt eben Menschen, die nicht über den Zaun hinauszusehen vermögen, welchen Engherzigkeit und Lust an dem Gewöhnlichen um sie gezogen haben. Ich liebe Jussnitz nicht, ich schreibe es noch einmal hierher. Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren? Du liebe Güte – lächerlich!

Es kann sein, daß ich einmal ganz unverhofft bei Euch ankomme – auf kurze Zeit. Ich möchte es später mit München versuchen. Also es kann sein, ich stehe plötzlich in Eurer alten Giebelstube zwischen der klappernden Nähmaschine und dem Weißzeugkorb. – Mein Gott, wie haltet Ihr es nur aus, Kinder, in dem ewigen Einerlei?

Hier ist augenblicklich zwar auch wenig Abwechslung, ausgenommen die Launen des Hausherrn. Bald will er malen: ich werfe mich in mein Kostüm und stelle mich in Positur – was eigentlich an dem Bilde noch zu thun ist, weiß ich nicht; es könnte längst in Berlin sein – und nach einer Viertelstunde findet er, daß er ‚nervös‘ ist, nicht in Stimmung, und er wünscht zu plaudern. Keine Minute später spricht er die Absicht aus, spazieren zu gehen. Wenn nicht die ‚ewige Nachtlampe‘ im Hause wäre mit ihrem schwachen, stets gleichbleibenden Schimmer, die das Gegengewicht hält gegen diese Unbegreiflichkeiten, dann würde es drunter und drüber gehen – aber so – – Herr Gott, wie kann man so grenzenlos langweilig sein wie diese Frau!

Kennst Du das Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff ‚Die beschränkte Frau‘? Ich sage Dir, Toni, diese Hülshoffsche Dame war eine Heldin von Klugheit und Intelligenz gegen Frau Antje, sie hatte wenigstens soviel Gescheitheit im Kopfe, daß sie ihres Mannes pekuniäre Verhältnisse nicht erschwerte. Aber hier? Und immer mit derselben freundlichen gelassenen Art. Wenn sie nur wenigstens zur Abwechslung einmal lärmen und schelten wollte wie weiland Dürers liebenswürdige Gattin; aber das kommt nicht vor! Doch, was rede ich noch! Leb’ wohl, grüße die Eltern und Geschwister!Deine Hilde.“ 

Als Hilde die Worte geschrieben hatte: „Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren“, da hatte sie die Wahrheit gesagt. Mit der Liebe, die sie für ihn gefühlt hatte, war es vorbei seit jener großen Enttäuschung, aber an Stelle der Liebe war etwas anderes, nicht minder Leidenschaftliches getreten: der Haß, das Verlangen, ihm zu beweisen, daß sie ihn überhaupt niemals geliebt habe. Dieses Verlangen machte sie blind und taub für alles andere, jemehr sie sich bewußt ward, daß sie ihm früher doch verrathen hatte, wie wenig gleichgültig er ihr war.

In solchen Augenblicken ballten sich ihre Hände zu Fäusten und die Zornesthränen rannen ihr aus den Augen. Das waren Tage, an denen sie unberechenbar in ihren Launen erschien, an denen sie ersehnte, er möchte ihr von seiner Liebe sprechen, an denen sie ihn quälte und beglückte nur in der Hoffnung, jetzt endlich sei der Augenblick gekommen, wo sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf vor ihn hintreten und sagen könne: „Mein Herr, was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.“

Und heute, heute wäre so ein Tag gewesen. Tonis Brief hatte alles Schlimme in ihr wach gerufen; es hatte etwas darin gestanden von einem Schreiben der Tante Polly, die sich hoch und theuer verschwur, daß Hildes Herz nicht gleichgültig geblieben sei Herrn Jussnitz gegenüber. Sie war schon beim Spaziergang mit fliegendem Athem neben ihm hergeschritten, hatte mit ihm gespielt wie eine Katze mit der Maus; aber er hatte den Muth nicht gefunden, zu sagen, was Hilde ihm so gern entlockt hätte. Hilde wußte nur, daß er mit sich selber kämpfte. Einmal aber würde er sprechen, und dann würde sie noch in der nämlichen Stunde das Haus verlassen, den Wunsch im Herzen, daß er nur halb so sehr leide, wie sie gelitten!

Wohin sie gehen würde, das war ihr gleichgültig, nur mit ungebrochenem Stolz wollte sie gehen, mit lachenden Lippen und in dem Bewußtsein, daß er sie suchen werde und nicht finden, daß er krank werde vor Sehnsucht nach ihr.

Sie hatte während dieser Betrachtungen den Brief an ihre Schwester adressirt und begann, Toilette zu machen; sie wußte, daß er sie unten im gelben Salon schon erwartete. Sehr langsam kleidete sie sich an: auch das „Wartenlassen“ war eines ihrer Mittel, ihn zu quälen. Eine Viertelstunde brauchte sie, um ihre Stirnlöckchen zu brennen, und weitere zehn Minuten, um einen Strauß Schneeglöckchen an ihrem Kleide zu befestigen. Sie sah ihn im Geiste unten auf- und abgehen, immer auf und ab, und ihre Schritte, die sie nun der Thür zulenkte, verlangsamten sich noch bei dieser Vorstellung.

Sie traf ihn, wie sie es sich eben ausgemalt hatte, nur auffallend bleich. Ob es wohl von ihrer Frage herkam, die sie im Laufe des Tags gethan hatte: „Wann ist mein Bild fertig?“

Er war ihr die Antwort schuldig geblieben. Nun stand sie vor ihm in ihrem besten Kleidchen, einem einfachen aber tadellos sitzenden bordeauxrothen Tuchkostüm, ein paar weiße Blüthen an der Brust, und mit dem schönen unbewegten Gesicht, das so gleichgültig an ihm vorübersah.

„Wollen wir zu lesen beginnen?“ sprach sie müde.

Er bejahte und sie nahmen Platz auf den Stühlen, die so traulich einander gegenüber standen neben dem Kaminfeuer, das seinen Schein auf den Teppich warf.

„Wo waren wir doch stehen geblieben?“ erkundigte sie sich ein leises Gähnen verbergend.

Er hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, Hilde, fragen Sie mich doch nicht. Ach Gott, ich höre ja gar nicht, was Sie lesen – ich –“

„Wie? Sie hören nicht, was ich lese?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte er leise, „ich höre nichts, ich sehe Sie nur. Und dann frage ich mich, wie lange ich Sie noch sehe. Und Sie fragen mich, wann ist das Bild endlich fertig? – Hilde, mein Gott, ahnen Sie denn nicht, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, das Bild eines Tages vollendet zu wissen, eines Tages die Stelle leer zu sehen, wo Sie immer gestanden haben?“ Und er griff ungestüm nach ihren Händen und zog sie an seine Lippen und an seine Augen.

Hilde sprang auf, tödlich erschreckt. Was sie so heiß gewünscht hatte, jetzt wirkte es entsetzlich beschämend auf ihr Empfinden; sie fand kein Wort, nur einen leisen Schrei stieß sie aus und ihre Blicke hafteten auf Antje, die da wie hingezaubert mitten im Zimmer stand mit blassem vergrämten Antlitz, mit Haaren, die feucht vom Nachtthau in die Stirn fielen. Ihre großen Augen starrten Hilde eine Sekunde lang an mit schmerzlichem jammervollen Ausdruck, und unter diesem Blicke senkte das junge Mädchen das Haupt. Es war ihr nicht möglich, an Antje vorüber zu gehen; so verließ sie das Zimmer durch die entgegengesetzte Thür, die in das Theezimmer führte. Ihr war zu Muthe, als habe sie in einen Abgrund von Leid und Schmerz geschaut.

Leo aber trat auf seine Frau zu. „Was wolltest Du, Antje?“ fragte er, weicher, als er je zu ihr gesprochen. „Willst Du fort? Aengstigst Du Dich so sehr, so reise, reise in Gottes Namen!“

Er faßte nach ihrer Hand, aber die hielt Antje verborgen in den Falten ihres Kleides; sie rührte sich nicht, sondern sah ihn nur an mit dem nämlichen Ausdruck, mit dem sie vorhin Hilde angeschaut hatte.

„Antje,“ sagte er, „fasse Dich doch, es ist ja so schlimm nicht mit –“

„Womit?“ fragte sie mühsam.

„Mit Deiner Mutter! Reise, Kind; es muß hier eben gehen ohne Dich – reise –“

„Nein!“ antwortete sie, „ich reise nicht, ich habe eingesehen, daß ich – jetzt – nicht fort kann – der liebe Gott wird sich ja erbarmen!“ – Sie wollte noch weiter sprechen, aber die Stimme brach ihr in einem schluchzenden Ton.

„Antje, ich bitte Dich, nimm nicht alles gleich so entsetzlich tragisch, bilde Dir nicht immer gleich das Schlimmste ein!“

[203] „Nein! Nein!“ murmelte sie, „ich werde es überwinden!“ Und sie streckte die Hände wie abwehrend gegen ihn aus, als wollte sie sagen: „Es ist gut, sprich nicht mehr davon, sei barmherzig!“

Und sie ging die Treppe hinauf in ihr Stübchen und trat vor das Bild der Mutter. „Du wirst’s mir vergeben,“ flüsterte sie, die gefalteten Hände an ihren Lippen, „wirst’s mir vergeben, wenn ich nicht komme, ich kann doch nicht drei Menschen untergehen lassen um eines willen. Du hast ja Deinen Mann und Dein Kind auch geliebt, mehr als alles auf der Welt – Du wirst’s verstehen, daß ich auf meinem Posten bleibe.“

Und dann holte sie Papier und Tinte und schrieb zwei Depeschen, die eine an den alten Werkführer Kortmer daheim, die andere an Doktor Maiberg in Berlin, und die letztere lautete:

„Meine Mutter schwer erkrankt, ich nicht abkömmlich, könnten Sie hinreisen – sehr dankbar. Anna Jussnitz.“ 




Antje kam nicht zu Tische; auch Hilde erschien nicht wieder und blieb auf ihrem Zimmer.

So saß Leo allein an dem gedeckten Tisch, aber der Bissen quoll ihm im Munde. Schließlich ließ er das Essen und trank nur. Im tollen Wirbel drehten sich hinter seiner Stirn die Gedanken: seine Vermögensverhältnisse, das Börsenspiel, in dem er Antjes Heirathsgut ohne ihr Wissen riskirte, die Schwiegermutter, die ihm keineswegs gewogen war und ihn vermuthlich am liebsten auf Taschengeld gesetzt hätte. – Er hatte auch gar kein Glück! Schon vor Wochen hatte er dem Kunsthändler wieder ein Bild übergeben, ihm auch eine Aquarellskizze geschickt, aber bis jetzt war nichts verkauft, und ihm waren nie ein paar tausend Mark nöthiger gewesen als eben jetzt. Er hätte Hildens Bild schicken können, aber der Gedanke, sich davon trennen zu müssen, es irgend einem Kunstprotzen zu überlassen, der mit diesem Werke sein Zimmer auszierte und sich schmunzelnd die Hände rieb beim Anblick solcher Schönheit, trieb ihn in einen eifersüchtigen Zorn, der ihn beinah der Besinnung beraubte. Und dazu die angenehme Aussicht, daß die Schwiegermutter unversöhnt sterben könnte, schon den Notar hatte holen lassen, jedenfalls, um dem „leichtsinnigen Schwiegersohn“ gehörig die Hände zu binden, damit er nicht an das Kapital – –

Die Scene mit Antje – hätte er sie doch reisen lassen! Jetzt würde sie umhergehen, als sei sie die betrogenste, unglücklichste aller Frauen, würde ihn auf Schritt und Tritt eifersüchtig belauern, kalt wie Eis sein gegen das arme Mädchen, bei Tische mit unleidlicher Duldermiene dasitzen und – „kurz und gut, es ist zum Davonlaufen! Am gescheitsten thäte ich, heute noch nach Dresden zu fahren. – Wenn nur die Geschichte nicht wäre mit der kranken Schwiegermutter!“

Und nun wollte Antje nicht einmal hin! Lediglich aus Eifersucht. Einen Auftritt würde es heute abend noch geben, das wußte er genau, und es sollte auch einen geben, er wollte sich von ihr dazu reizen lassen – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Und Hilde? Sie war von ihm gegangen ohne ein Wort, jeder Zoll eine beleidigte Königin. Er lachte bitter auf, nahm eine Cigarre und ging nach oben, seiner Frau eine „Scene“ zu machen. Er dachte sich, er würde sie finden mit dem Gesicht einer Märtyrerin, mit verweinten Augen und auf alle Fragen nur „Ja!“ oder „Nein!“ antwortend. Das eignete sich dann so prächtig zum Anfang, wenn er etwa sagen konnte: „Hör’ mal, liebes Kind, nachgerade habe ich nun dieses ewige Regenwetter satt! Wenn ich Dir denn gar nichts recht machen kann, wenn Du bei allem, was ich thue, etwas herausfindest, das Dich verletzt, so wollen wir ein Ende machen. Solch Leben halte ein anderer –“

In diesem Augenblick hatte er die Thür ihres Zimmers erreicht und öffnete sie. Sie saß am Schreibtisch und blickte nicht auf, so eifrig war sie mit der Feder beschäftigt. Erst als er dicht an sie herantrat, bemerke sie ihn und, die Feder in die linke Hand nehmend. reichte sie ihm die Rechte. „Verzeih, noch einen Augenblick, Leo, nur noch die Unterschrift, dann bin ich für Dich da.“

Sie hatte aufgesehen zu ihm. Ja, diese Augen, diese unergründlichen Augen waren noch voll Thränen, aber es brach ein so weher, ein so fragender Ausdruck unter den langen Wimpern hervor, daß er schlechterdings nicht zu seinem schneidigen Anfang kommen konnte. Er warf sich in einen Sessel und strich sich den Bart.

„Willst Du nicht weiter rauchen, Leo?“ fragte sie, sich umwendend, als sie bemerkte, daß er seine Cigarre weggelegt hatte, „Dir ist doch immer erst gemüthlich mit der Cigarre.“

„Danke!“ erwiderte er kurz.

„Sonst – ich habe es sehr gern, Leo, wenn Du rauchst.“

Er zuckte ungeduldig die Achseln. Er war auf alles gefaßt gewesen, nur nicht auf Freundlichkeit, und das reizte ihn jetzt unsagbar.

„Wie kommt es, daß das Kind noch wach ist?“ fragte er und wies nach der Thür, hinter welcher das Plappern der Kleinen erscholl, „und was hat die Alte aus der Küche hier oben zu suchen?“

„Die Maus wird öfter wach um diese Zeit, Leo,“ erwiderte Antje und klebte die Freimarke auf das fertige Schreiben, indem sie sich erhob. „Die Kinderfrau ist drunten im Dorfe und die Classen vertritt ihre Stelle so lange; das ist das ganze Geheimniß. – Wollen wir einmal zur Maus gehen, Leo?“

„Damit sie so recht aufgeregt wird und die ganze Nacht konzertirt – ich danke!“ erwiderte er.

„Ich glaubte, es mache Dir Freude, Leo; Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie drollig sie ist.“

„Hast Du die alten seidenen Kleider vorgesucht von Deiner Urgroßmutter?“ fragte Leo ausweichend. „Ich bat Dich schon vorgestern darum. Sie müssen anprobirt werden, falls noch etwas daran zu ändern ist.“

„Ja, Leo. Aber unter den jetzigen Verhältnissen denken wir doch wohl nicht mehr an das Kostümfest?“

„Nun, es wird sich ja alles historisch entwickeln! Im letzten Augenblick kann man keine Anzüge mehr beschaffen. Deine Mutter hat sicher wieder ein gastrisches Fieber infolge ihrer gediegenen Mahlzeiten, das ist alles; sie erholt sich schon bis zu dem Maskenball.“

„Gott gebe es!“ sagte Antje leise. Es klang so trostlos, daß er schwieg.

Es wollte sich noch immer kein Grund zum „Anfangen“ finden.

Sie nahm ihre Handarbeit und setzte sich aufs Sofa.

„Kannst Du denn nicht wenigstens die paar Minuten, die ich bei Dir bin, die Hände still halten?“

„Aber freilich – Leo! Ich dachte eben gar nicht daran, daß Du Häkeln nicht liebst.“ Sie legte die Arbeit in das zierliche Körbchen zurück und saß nun, die Hände im Schoß gefaltet, da.

„Sag’ mal,“ begann er, im Zimmer auf- und abwandernd, „wozu um alles in der Welt läßt Deine Mutter sich einen Notar holen? Sie hat ihr Testament doch schon lange gemacht! Will sie es ändern, oder was ist los? Sie wird Dich doch jedenfalls in ihre Pläne eingeweiht haben! – Wahrscheinlich wünscht sie mich ‚kalt zu stellen‘, wie man so sagt.“

„Ich kenne ihre Absichten nicht,“ erwiderte Antje.

„So? Nun, wie sie über mich denkt, weiß ich ja – ein Lump, ein Tagedieb u. s. w. – nicht wahr? Das ist so recht eigentlich auch Deine innerste Meinung, was? Du hättest eben eine gehorsame Tochter sein und Dich nicht an mich hängen, hättest Deinen braven soliden Vetter nehmen sollen, das wäre besser gewesen für Dich und für – –“

„Leo!“ unterbrach ihn ein schriller Aufschrei, „sprich das nicht aus – ich bitte Dich, nur das nicht!“ Antje war aufgesprungen, mit schreckensbleichem Gesicht, und ihre zitternden Hände faßten seinen Arm. „Für mich wäre es nicht besser gewesen,“ setzte sie hastig hinzu, „denn ich liebe Dich, aber – für Dich, Leo, das glaube ich jetzt auch – seit vorhin glaube ich es!“

„Seit vorhin? Wie so?“

„Leo, glaubst Du denn, ich sähe nicht, wie Dir Hilde –“

„Laß Hilde aus dem Spiel, ich bitte Dich dringend. Das sind einfach Hirngespinste.“

„Nein!“ sagte sie fest, „es sind keine Hirngespinste! Ich habe sie ja wachsen sehen, diese Neigung, unter hundertfältigen Qualen. Meinst Du denn, mein Herz sei ein anderes als das anderer Frauen? – Ich habe immer geglaubt, Du würdest – Du müßtest umkehren, Du müßtest Dich besinnen, aber Du –“

„Du meinst also, ich sei verliebt in Hilde?“ fragte er mit gekünstelter Ruhe.

[204] „O nein,“ erwiderte sie rasch mit dem Tone ehrlichster Ueberzeugung, „nein, Leo, für eine gewöhnliche Liebelei stelle ich Euch beide zu hoch – Du liebst sie und Du dauerst mich, Ihr dauert mich beide so furchtbar, aber,“ und sie schlug die Hände vor das Gesicht, „die Maus und ich sind doch nun einmal da, wir können doch nicht spurlos von der Erde verschwinden!“

Ein heftiges Schluchzen schüttelte sie, dessen sie eine zeitlang vergeblich Herr zu werden versuchte, und als es ihr endlich gelungen war, ging sie hinüber zu ihm. Er hatte sich vor ihr Bücherschränkchen gestellt, als mustere er die kleine Bibliothek, während er in Wirklichkeit nichts sah und fühlte, als die „abgeschmackteste Sentimentalität einer Eifersüchtigen“.

„Leo,“ begann sie, „bitte, bitte, versuche es, schenke mir Dein Vertrauen! Ich will Dir überwinden helfen, ich will Dein guter Kamerad sein, ich will alles thun – – denke an Dein Kind, es darf nicht mit seinem erwachenden Verständniß sehen, daß Du und ich – –“

Er fuhr herum in nicht mehr zu bemeisterndem Zorn.

„Willst Du mir denn dies jammervolle Leben ganz und gar zur Hölle machen?“ rief er mit kreidebleichem Gesicht. „Ist es nicht genug, daß Du meinem Beruf, meiner Eigenart, meinem ganzen Wesen nicht das geringste Verständniß entgegenbringst? Willst Du mir auch das noch nehmen, woran mein Auge als das eines Künstlers, mein Geist als der eines gebildeten Menschen Gefallen findet? Willst Du nur mit Deiner entsetzlichen Prosa das letzte Winkelchen auskehren, in das sich mein mißhandeltes Künstlerthum geflüchtet hat? Barmherziger Gott, was könnte ich sein, wenn Du nicht die Kette wärst – ja, eine Kette, eine Kette, wie sie schrecklicher kein Verbrecher mit sich schleppt!“

Er brach plötzlich ab; Antje stand da in eigenthümlich aufrechter Haltung. Sie war ihm noch nie so groß erschienen, noch nie hatte er das weiche Antlitz so erstarrt gesehen in eisiger Kälte, in unnahbarem Stolz; eine völlig andere war sie.

„Ich will keine Kette für Dich sein,“ sagte sie laut und fest, „Du bist frei, Leo, von diesem Augenblick an frei. Daß Du so an meiner Seite gelitten hast, das ahnte ich nicht. Mein Gott, ich hatte ja immer das Wort im Herzen, das Du mir sagtest in jener Stunde, als Du mich batest, Deine Frau zu werden: ‚Ich glaube, Anna, Sie könnten mich mit dem Leben wieder aussöhnen!‘ – Gewollt habe ich es, Leo, bei Gott, ehrlich gewollt – ich muß eine arge Stümperin gewesen sein, ich –“

Sie hielt sich plötzlich an der Lehne eines Sessels, der ihr zunächst stand; eine dunkle Gluth färbte ihr Gesicht. „Ich bitte nur – – es ist so furchtbar viel auf einmal – denke, daß meine Mutter jeden Augenblick sterben kann – laß es unter uns bleiben, bis sie – genesen oder todt ist; laß es die alte Frau nicht in ihrer schweren Krankheit, vielleicht in ihren letzten Augenblicken erfahren, daß ich so – so bettelarm heimkehre.“

Er wollte etwas vorbringen von Uebertreibung, von Worten, die man nicht auf die Goldwage legen dürfe, aber anstatt dessen stürzte er zur Klingel – Antje war plötzlich zusammengebrochen; sie lag mit dem Kopf auf dem Polster des Sessels, ohne Regung, ohne Laut. Er hob sie empor und trug sie auf das Sofa. Die alte Classen war herzugeeilt und wies seine nervös zitternden Hände zurück.

„Gehen Sie lieber,“ sagte sie barsch, „und lassen Sie den Doktor holen. Den Zustand kenne ich von früher her.“ Und sie bettete das schmerzverzogene Gesicht ihrer jungen Herrin tiefer und nestelte an ihrer Kleidung.

Er stand, als könne er keinen Fuß heben.

„Seien Sie so freundlich, Herr Jussnitz, und gehen Sie,“ ermahnte die Alte in nicht sehr unterthänigem Tone, „solche Ohnmacht dauert lange, ich weiß es noch von dazumal, als Sie uns für todt ins Haus getragen wurden von den Förstern – da hatte sie es zum ersten Male; dann nochmal, als Herr Frey nicht wollte, daß Sie das Kind heiratheten. Merken Sie etwas? ’s sind allemal große Alterationen. Von nichts – kommt nichts! Herr, so gehen Sie doch!“ wiederholte sie ungeduldig.

Da endlich verließ er die Stube.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 14, S. 221–226

[221] Hilde hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, sie war nicht einmal zu Bett gegangen. Als das erste Morgengrauen durch die Vorhänge brach und mit dem Schein der verlöschenden Lampe kämpfte, saß sie noch in dem kalt gewordenen Zimmer im Schaukelstuhl, frierend und verweint. Auf Tischen und Stühlen lagen ihre Sachen, die sie aus den Schubfächern und Schränken gerissen hatte, um sie einzupacken; dabei lag auch ein Brief, den sie geschrieben hatte, an Frau Jussnitz gerichtet.

Weit war sie mit ihren Vorbereitungen zur Reise nicht gekommen. Eine unwiderstehliche Schwere hatte ihre Glieder gelähmt, und so war sie schließlich in den Stuhl gesunken, die Hände ineinander gewunden, und hatte Tag für Tag den Aufenthalt in diesem Hause noch einmal im Geiste durchleben müssen.

Müssen! Es half ihr nichts, daß der Stolz zu dem wunden Gewissen sagte: „Man hat Dich erst soweit gebracht – Du hast ja nur zeigen wollen, daß Du ihn nicht liebst, hast Dich stählen wollen an dem Bewußtsein, daß er nicht Dein werden konnte.“ – Immer wieder kamen neue Vorwürfe: „Du hast Dich eingedrängt zwischen jene beiden, hast sie irre gemacht aneinander!“

Und nun?

Ja, was nun? Sie griff sich mit der zitternden Hand in ihr verworrenes Haar. – Die Augen der Frau, diese todestraurigen Augen würde sie sehen, so lange sie lebte; in ihrer letzten Stunde noch würden sie ihr anklagend vor der Seele stehen. Daran hatte sie nie gedacht, daß diese Frau ein Herz besaß, daß sie ihren Mann liebte. Liebe war ihr so gleichbedeutend gewesen mit ewigem Zärtlichthun, Anschmiegen, Anbeten, mit Unzertrennlichsein, und wenn das nicht – mit Launen, Thränen, kleinen Kriegen und Friedensschlüssen. Diese Frau war so still, so geduldig gewesen, so bescheiden und demüthig –.

Hilde versuchte, sich in Antjes Lage zu denken. Unter heißem Erröthen vergegenwärtigte sie sich den Mann, den sie liebte, zu den Füßen einer andern, einer, die von ihr selbst nur Wohlthaten empfangen hatte, die im Hause gehegt und gepflegt worden war wie ein werther lieber Gast – und der Zorn kochte in ihrem Blut, ihre Hände ballten sich. O sie! Sie wäre auf die andere zugesprungen und hätte sie ins Gesicht geschlagen. Antje aber that nichts von dem! Nur einen Blick – aber der brannte, ach, der brannte! Das Mädchen sank zurück und schluchzte in die Polster hinein. „Was nun? Was nun?“ fragte sie sich wieder. „Nach Hause, gleich nach Hause!“ rief es in ihr.

Als ob man ihr dort nicht angesehen hätte, daß sie, [222] die Hilde von Zweidorf, die so streng geurtheilt hatte über jede ehrenwidrige Handlung, selbst schuldig geworden war? Und um was? Um eine getäuschte Hoffnung zu rächen, wie sie jeder einmal begräbt in seinem Herzen. Ach nein, das war ihre einzige Entschuldigung – sie hatte ihn lieb gehabt, so sehr lieb – – Um Gott, wenn der Vater es erführe, wenn die beleidigte Frau an ihn schriebe: „Ich kann Ihre Tochter nicht mehr unter meinem Dache behalten, weil sie ein Verhältniß mit – –!“

Sie fuhr empor wie von einem Peitschenhieb getroffen. „Es ist nicht wahr, Vater,“ schrie sie laut, „bei Gott, ich war nicht schlecht!“

Es regte sich etwas im Zimmer; Hildes Sinne verwirrten sich – mit einem gellenden Schreckensruf stürzte sie in die Kniee und starrte mit entsetzten Augen auf die Gestalt mit dem seltsam weißen Gesicht, die, vom dämmernden Zwielicht fahl beleuchtet, im Hintergrunde des Gemaches stand.

„Ich habe Sie erschreckt, Fräulein von Zweidorf! Wie mir das leid thut!“ sagte die freundliche Stimme Antjes. „Ich klopfte zweimal, aber Sie hörten nicht.“ Und sie bog sich hinunter, faßte die bebenden Hände Hildes und sah dem Mädchen in das Gesicht. „Sind Sie gar nicht zu Bette gegangen? Sie werden sich krank machen; legen Sie sich, ich will Ihnen Thee besorgen.“

Sie klingelte und wollte Hilde zu dem Bette führen, aber das Mädchen weigerte sich, indem sie die Hände vor das Gesicht schlug und stöhnte.

„Armes Kind!“ dachte Antje.

„Um Gotteswillen, seien Sie nicht gut zu mir! Schelten Sie mich – schlagen Sie mich – treten Sie mich mit Füßen!“ drängte es Hilde, zu schreien, aber was sie hervorbrachte, waren nur unverständliche Laute. Zitternd, wortlos umklammerte sie die Kniee der jungen Frau. Antje verstand sie.

„Aber so stehen Sie doch auf, Hilde,“ sagte sie mild, „ich weiß es ja am besten, wie lieb man ihn haben kann –“

Aber Hilde umklammerte Antje nur noch fester.

„Stehen Sie auf!“ wiederholte diese, „ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Jetzt richtete sich Hilde empor und blieb mit gesenktem Haupte vor Antje stehen, die gefalteten Hände an die Lippen gepreßt, das schöne Gesicht bleich wie der Tod.

„Ich habe eine Bitte an Sie,“ begann Antje, – „darf ich weiter sprechen?“

Hilde nickte.

„Ich muß in ein paar Stunden abreisen,“ fuhr die junge Frau in eigenthümlich stockender Sprache fort. „Ich werde längere Zeit fortbleiben müssen, weil – weil meine Mutter – schwer erkrankt ist – – Sie können nicht wohl allein hier sein – und deshalb bitte ich Sie, mich und die Kleine nach meiner Heimath zu begleiten.“

Hilde antwortete nicht. Antje hatte sich umgewandt, als blicke sie im Zimmer umher.

„Nein,“ sagte Hilde endlich heiser, „ich will – ich gehe ja – im Nothfall gehe ich wieder zu Tante Polly.“

„Thun Sie das nicht! Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie mit mir kommen – mehr als das – eine Wohlthat – Ich weiß, das werden Sie mir heute nicht abschlagen, das können Sie nicht!“

„Ist Ihnen meine Gegenwart eine Wohlthat?“ Hilde lachte gezwungen und strich sich das Haar aus der Stirn. „Allerdings kann ich heute Ihnen keinen Wunsch versagen,“ fuhr sie fort, „aber – –“

„Fragen Sie nicht,“ bat Antje, „packen Sie Ihre Sachen, um elf Uhr reisen wir, sobald mein – sobald Leo in die Stadt gefahren ist.“

Sie drückte Hildes Hand und verließ das Zimmer. Gleich darauf trat sie noch einmal herein. Sie mußte unmittelbar vor der Thür umgekehrt sein. Hastig, eine dunkle Röthe auf den Wangen, sagte sie: „Wenn Sie Leo noch einmal sprechen wollen, so benachrichtigen Sie ihn bald; er fährt noch im Laufe dieses Vormittags nach Dresden.“

Hilde richtete sich stolz in die Höhe. „Ich habe Ihrem Herrn Gemahl nichts zu sagen,“ erwiderte sie.

Antje sah sie traurig an; es war, als habe sie eine Antwort auf den Lippen, aber sie bezwang sich. „Auf Wiedersehen denn,“ nickte sie. –00

Der erste Sonnenstrahl, der sich durch die Fenster des Sibyllenburger Schlößchens stahl, traf lauter geschäftiges eiliges Treiben. Die Classen stand vor ihrer Herrin und hielt den Schlüsselkorb, den unzertrennlichen Gefährten Antjes, in den Händen.

„Ich weiß ja, Classen, Du versorgst den Haushalt so gut, als wär’s Dein eigener,“ lächelte Antje matt. „Mach’s nur dem Herrn so behaglich, als Du kannst, das Wiederkommen liegt in Gottes Hand, liebe Classen – wer weiß, wie es daheim aussieht.“

„Es muß sich doch bald zeigen, ob’s zum Guten oder Bösen hinauswill, gnä’ Frau,“ meinte die Alte. „Will’s Gott, sind Sie in vier Wochen wieder daheim. Ich kann es mir schwer denken ohne Sie, wenn ich auch alles thun will. ’S wird just so sein bei uns als wie in einer Stube, wo sie die Lampe hinaus getragen haben, wenn der Wagen mit Ihnen und dem Kind davon gefahren ist. Aber, gnä’ Frau, wollen Sie nicht frühstücken, mit dem Herrn? Er ist eben hinunter in den Saal.“

„Ich habe ihm schon Lebewohl gesagt, Classen.“

„Liebe Zeit, gnä’ Frau, wie blaß Sie aussehen; aber das kommt vom Eigensinn. Sie haben so ein jammervolles Lager die Nacht gehabt.“

„Classen, ich hab’ von dem Augenblick an, als ich gestern abend wieder zu mir kam, bis heute früh geweint. Soll ich den Herrn nun auch noch stören? ’S ist besser, man ist allein mit seiner Angst und seinem Kummer.“

„Es wäre freilich ein Unglück, wenn der mal ’ne Nacht nicht schliefe!“ dachte Frau Classen grimmig und betrachtete das schmale unbequeme Sofa, auf dem ihre junge Herrin die Nacht verbracht hatte. Dann fügte sie laut mit einem tiefen Seufzer hinzu: „Na, ich will ihn schon versorgen; seine Leibspeisen kenne ich ja alle, reisen Sie ruhig, gnä’ Frau. Ginge am liebsten selbst mit als Kinderfrau –“

Und sie wandte sich schluchzend ab und ging mit Antjes Schlüsselkorb die Treppe hinunter in ihre Küche; dort stellte sie ihn in den Schrank hinter die blinkenden Glasscheiben, und mit dem Schürzenzipfel die Augen trocknend, meinte sie, es sei ihr gerade so, als müsse ein großes Unglück über dieses Haus kommen.

Antje hatte sich, völlig gebrochen, in ihr Zimmer eingeschlossen; sie hatte die Kleine mit der Kinderfrau hinuntergeschickt, damit sie dem Papa Adieu sage. Dumpf und verworren war’s ihr zu Sinne, und sie fühlte einen stechenden körperlichen Schmerz in der Gegend des Herzens; der Schlag des armen gemarterten Dings war so unregelmäßig wie das angstvolle Flattern eines gefangenen Vogels. Sie dachte, er müsse kommen, das Kind auf dem Arm; er müsse sagen: „Es ist ja nicht möglich, Antje, daß Du gehst, auf immer gehst – bleib hier!“

Aber das konnte er ja nicht! Es wäre Heuchelei. Lüge gewesen – er liebte sie ja nicht. Er hätte es ja damit nur zu einer Fortsetzung des elenden Lebens neben ihr gebracht. Nein, er konnte sie nicht halten und sie – konnte nicht bleiben, es war alles vorüber!

Dann fuhr sie jäh empor; das Stimmchen der Kleinen erscholl auf dem Gang. Ihr schwindelte vor Angst, ihn wiederzusehen, ihr graute vor der Qual des Abschieds, und dennoch – ach, es war nur die Kinderfrau.

„Gnädige Frau, kann die Kleine ein paar Minuten bei Ihnen bleiben?“ fragte sie, „ich möchte mir doch rasch meine Sachen packen.“ Und sie setzte das Kind zur Erde und schob es der Mutter zu.

„Mama, hopp!“ sagte die Kleine.

Antjes zitternde Hände nahmen das leichte Körperchen empor. „Maus,“ stammelte sie, „Papa hat Dir Küßchen gegeben? Was hat er gesagt?“

„Papa nichts gesagt,“ antwortete die Kleine.

„Der Herr hat ihr das Patschhändchen geküßt,“ rief die Wärterin, die noch unter der Thür stand, zurück, „ich glaube, er war sehr eilig.“

Antje heftete ihre brennenden Augen auf das Kind und zog die kleine Hand an ihre Lippen. „So leicht wird’s ihm, Maus, so leicht?“ flüsterte sie.

Da sah sie auf dem blaßblauen Schleifchen, das den Aermel des Kindes an dem winzigen Handgelenk schmückte, einen dunklen Fleck. „Vielleicht doch eine Thräne um Dich, Du armes kleines Würmchen? Es muß eine Thräne sein, sonst hätte er ja gar kein Herz! Das Schleifchen hebt Mama Dir auf; wer weiß, ob [223] es nicht das einzige Zeichen bleibt, daß Dein Vater Dich lieb hatte, Maus!“ Und sie löste das Schleifchen ab und barg es in ihrem Andachtsbuch, das oben auf dem noch geöffneten Koffer lag.

Drunten fuhr das einspännige Coupé vor. Antje horchte nach dem Fenster, aber sie rührte sich nicht. Fuhr er wirklich fort, ohne sie noch einmal zu sehen?

Endlich erhob sie sich doch und trat, das Kind auf dem Arm, zum Fenster. Sie sah Leo auf der Freitreppe stehen, sie sah ihn die Fenster von Hildes Zimmer suchen, sah ihn einsteigen. Der Wagen fuhr aus dem weit geöffneten Thor; und sie folgte ihm mit den Augen, bis er um die Ecke der vorspringenden Gartenmauer verschwand.

Dann trug sie mit wankenden Schritten die Kleine nach der Kinderstube und flüchtete in das Atelier, das sie hinter sich verschloß.

Sie war noch immer drinnen, als schon der Wagen vorfuhr, der sie zum Bahnhof bringen sollte.

Die alte Classen pochte kräftig an. „Gnä’ Frau, es ist die allerhöchste Zeit. Die Koffer sind auf den Wagen geschnallt und die andern sitzen schon drin.“

Da öffnete sich die Thür, die junge Herrin kam heraus und ging an der treuen Dienerin vorüber. „Wie ein Geist,“ sagte der Diener, der mit dem Pelzmantel hinter der Alten wartete.

Sie kehrte sogleich mit Hut und Handschuhen zurück und ließ sich den Mantel umlegen. Dann stieg sie, ohne sich umzusehen, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe hinab und in den Wagen, in dem Hilde bereits saß und die Kinderfrau mit der Kleinen.

Das Stubenmädchen sah fragend die weinende Classen an, als der Diener den Schlag zuwarf und sich auf den Bock schwang. Die Gnädige hatte ja nicht einmal Adieu gesagt!

Und der Wagen fuhr aus dem Hof und die Mauer nahm die Aussicht auf das verwaiste Haus. Antje wandte den Kopf von den Bäumen des Gartens, deren knospende Zweige im Frühjahrswind über die Mauer schwankten, als grüßten sie die Scheidende und wünschten ihr fröhliche Wiederkehr. Sie saß aufrecht da und schaute nach der Richtung, wo Dresden lag. – Man sah heute nicht die Thürme der Stadt; es war alles verschleiert von Nebel und Wolken. Die Sonne, die heute früh so golden geschienen, hatte sich verborgen. Am Wagenfenster rannen einzelne Regentropfen herunter, wie schwere Thränenperlen.

Hilde zerdrückte ihr Taschentuch im Muff, aber keine Miene zuckte in dem bleichen düsteren Gesicht. Sie wäre so gern geflohen, und durfte doch nicht, die Frau neben ihr hätte ja glauben können, sie ginge nicht weit genug, nicht weit genug von ihm. Der Wagen hielt vor dem kleinen Stationsgebäude. Antje erhob sich, um auszusteigen, da stockte ihr Fuß – am Wagenschlag wartete Leo und bot ihr die Hand.

Sie stand dann ruhig neben ihm; das wahnsinnig pochende Herz verstummte. Es war wohl nur der Leute wegen, daß er die Fahrkarten für sie nahm und die Koffer aufgab. Er erfüllte ihren letzten Wunsch.

„Wohin darf ich Ihnen eine Karte lösen, gnädiges Fräulein?“ fragte er Hilde und hob den Hut über den Scheitel.

„Ich reise mit Frau Jussnitz,“ antwortete sie.

Er warf einen raschen verwunderten Blick auf Antje. Diese zupfte die Schleifen an dem Hütchen des Kindes zurecht, aber sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß – er war doch nur gekommen, Hilde noch zu sehen! Vielleicht würde er denken, sie nähme das Mädchen mit sich, um es ihm aus den Augen zu bringen!

Aus Eifersucht? O nein – so wenig kennt er sie doch nicht!

Man hatte so lange zu warten, fünfzehn Minuten noch. In dem überheizten kleinen Wartezimmer waren Bekannte, der General Rosen mit seiner liebenswürdigen Frau, einer jener alten Damen, die infolge ihrer Freundlichkeit Antjes Zuflucht gewesen waren in den Gesellschafts- und Ballsälen. Sie kam, beide Hände ausgestreckt, auf Antje zu.

„Liebe Frau Jussnitz, ich höre soeben von Ihrem Mann, daß Sie auf einer traurigen Reise begriffen sind, daß Ihre Frau Mutter schwer erkrankt ist?“

Hilde, die neben Antje stand und der alten Dame eine tiefe Verbeugung machte, wurde von dieser gänzlich übersehen. Antje erröthete. Dieses Nichtbemerkenwollen – denn etwas anderes konnte es bei der sonst so gütigen Frau nicht sein – sagte ihr, daß man sich in den Kreisen, in denen sie verkehrt hatten, bereits Gedanken über das Mädchen machte. Nach einigen Dankesworten fügte sie daher hinzu: „Ich bin so glücklich, Excellenz, daß ich nicht allein zu reisen brauche, daß meine kleine Freundin so liebenswürdig ist, mich zu begleiten.“

Leo hörte es nicht, er unterhielt sich mit der alten Excellenz; die Generalin aber wandte sich nach einigen Sekunden des Erstaunens jetzt auch mit ein paar freundlichen Worten an das junge Mädchen.

Endlich kam der Zug. Bei dem eiligen Einsteigen fiel es niemand auf, daß kein Abschied genommen und geboten wurde; nur das Kind hielt Antje noch einmal dem Vater hin, dann ward es ihr in den Wagen gereicht.

Hilde hatte sich zuerst hineingeschwungen, die Kinderfrau war die letzte. Jussnitz stand mit abgezogenem Hut auf dem Bahnsteig und sah die Schienen entlang, die dort unten vor der Kiefernwaldung zu einem Strich verschmolzen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, meinte Antje, sie müsse ihn mit der Kraft der Verzweiflung wieder zum Stehen bringen. Aber unaufhaltsam ging es vorwärts; das kleine Bahnhofsgebäude entschwand ihren Blicken, sie wurde fortgerissen, fort, vielleicht – wahrscheinlich auf ein Nimmerwiedersehen!

Von der Hügelkette drüben grüßte noch einmal das Gartenhaus auf der Spitze des Weinberges, dann war auch das verschwunden und nun sah sie nichts mehr, nur einförmiges Tannendunkel und öde Felder.




Das große Hüttenwerk „Gottessegen“ und das Dörfchen Oberrode liegen so recht inmitten der grünen Buchenwälder des Harzes, weit ab von der Eisenbahn und den volkreicheren Städten. Von der letzten Station des Schienenweges, der an einem besuchten Kurort des Harzes endet, muß man noch zwei Stunden Wagenfahrt zurücklegen, bevor man die ersten Häuser von Oberrode erblickt. Immer ansteigend, führt eine gut gehaltene Chaussee in diese Abgeschiedenheit, ein Weg, den die Pferde nur langsam zurücklegen, der aber trotzdem den brockenwärts wandernden Naturfreunden niemals lang vorkommt, so wundervoll wechseln Walddunkel und blaue duftige Fernsicht mit einander ab, so rein und köstlich athmet sich die Luft und so geheimnißvoll schwatzt der muntere Gebirgsbach tief in der Schlucht unter üppigen feuchten Farnkräutern.

Es ist etwas Eigenes um den Harzwald: er scheint kräftigeren Duft auszuströmen als andere Gebirgswälder, „harzigen Duft.“ Wenigstens die, welche dort geboren sind, meinen es, und sie meinen auch, daß ihre Heimath schöner sei als alle anderen deutschen Gebirgsländer, denn selbst ein Goethe habe sie geschildert und ein Heine sie besungen. Es ist eben, als ob das Hexen- und Gnomenvolk es allen angethan hätte, die einmal auf jenen grünen Pfaden geschritten sind. –

Aus den herzförmigen Ausschnitten der schweren Fensterläden am Herrschaftshause, das seitwärts von den schwarzen riesigen Gebäuden des Werkes lag, schimmerte Licht. Jedes Kind auf der Hütte kannte diese sechs leuchtenden Herzchen; bezeichnete doch ihr freundlicher Schimmer alles, was die Oberroder Jugend nur zu fassen vermochte an Traulichkeit, Festesglanz und Glückseligkeit, denn die Herzchen flammten von der großen Wohnstube der Frau Bergrath Frey, in der allweihnachtlich der große Tannenbaum im Schmucke seiner Lichter prangte und die Gaben und Geschenke für jedes von ihnen lagen.

Ja, die Hüttenkinder liebten die stattliche Frau Bergrath, die bei den meisten unter ihnen noch obenein Pathe war, über alles, und von den Dorfkindern durfte keines sich etwa einer allzugroßen Begünstigung seitens der allgemein Verehrten zu rühmen wagen, es bekam gewiß von einem Hüttenjungen einen Denkzettel mit der Bemerkung: „Alter Lügner Du! Wir kriegen das Beste, denn sie ist unsere Frau Bergräthin; Ihr kriegt man bloß so’n bißchen, damit Ihr auch was habt.“

Aber heute saßen die Kinder in ihren Stuben und horchten auf den Sturm und Regen und blickten scheu über den weiten Platz nach den flammenden Herzen am Herrschaftshause hinüber und fragten [226] ihre Mütter: „Muß sie wirklich sterben, unsere Frau Bergräthin?“ Die wischten die Augen und nickten. „Ja, es ist wohl keine Hilfe mehr möglich, und wie wird’s dann werden, lieber Gott!“

Und so sprachen auch die Hüttenleute zwischen dem Getöse der schweren Hämmer, vor den rothglühenden Feuern. Ja, wie wird es werden hier, wenn sie stirbt!

Und dieselbe Frage that in der Wohnstube der kranken Frau der alte Werkführer Kortmer an Doktor Maiberg, der unaufhörlich über den glänzend gebahnten eichenen Fußboden auf und abschritt.

„Wenn nur Frau Jussnitz erst da wäre, Herr Doktor.“

„Sie kann ja jeden Augenblick kommen, Herr Kortmer.“

„Dann wird’s auch besser mit der Frau. Sie glauben nicht, wie die sich gebangt hat um das Kind, seitdem man vor bald fünf Jahren den Herrn Schwiegersohn über die Schwelle trug. Sie wissen ja, Herr Doktor, er hatte Unglück gehabt auf der Jagd. Da kamen die Herren Maler, um hier zu zeichnen, kriegen Jagdpassion und denken, ein Schießgewehr ist so leicht zu regieren wie ein Malstock. Pardautz! Dann haben sie schon etwas angerichtet. Na, wie ich sagte, seit dem Augenblick, wo der hier herein getragen wurde, hat sie keine ruhige Minute mehr gehabt. Es ist doch etwas Unbegreifliches um die Liebe und um Mädchenherzen! Wer hätte gedacht, daß ‚unser Antje‘ sich so einen Aparten aussuchen würde?“

„Mein Freund, lieber Herr Kortmer, ist ganz und gar danach angethan, so ein Herz gefangen zu nehmen.“

„Ihr Freund, Herr Doktor? Na, ich will nichts gesagt haben.“

„Das wird auch das Beste sein,“ gab Maiberg lächelnd zu und sah den kleinen alten Herrn an, der mit dem rothseidenen Foulard die Brille putzte und sie dann mit unglaublicher Behendigkeit wieder auf die gebogene Nase setzte, die im Verein mit den zwei großen runden Gläsern und dem Schopf weißer Haare über der Stirn dem Gesichte etwas Papageienhaftes verlieh, ohne ihm dadurch etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu nehmen.

Der Werkführer war wirklich ein netter alter Herr und ein äußerst pflichttreuer Beamter, der für die Familie Frey das Leben gelassen hätte, unbekümmert darum, daß seine kleine Frau darüber zur Witwe geworden wäre.

„Das wird das Beste sein, Herr Kortmer. Ich kenne Jussnitz nun schon so lange, seit meinen Primanerjahren; ich habe ihn mancherlei tolle Streiche ausführen sehen – nie einen schlechten. Er ist excentrisch, er ist verschwenderisch, ist kein Zahlenmensch, aber er ist doch ein anständiger Kerl, und es giebt nur eins, was mich um ihn besorgt macht.“

„Seine Frau paßt nicht für ihn, wollen Sie sagen? Na, lieber Herr Doktor, das ist nichts Neues, das wissen wir, das weiß jedes Kind auf der Hütte.“

„Nein, Herr Kortmer, das wollte ich durchaus nicht sagen; was ich bemerken wollte, war, ganz kurz gefaßt: es geht ihm zu gut!“

Der andere erwiderte nichts, denn die alte Haushälterin Hanne war eingetreten und berichtete, die Kranke sei eingeschlafen nach der Arznei, die man ihr gegeben habe. „Die Zimmer für Frau Jussnitz, das Kind und die Wärterin sind bereit,“ fügte sie hinzu, „und ich möchte nur wünschen, daß die Reisenden erst glücklich hier wären. Solch ein Wetter! Es regnet und schneit durcheinander, und draußen ist böses Glatteis.“

Maiberg stand lauschend am Fenster, dessen Flügel er geöffnet hatte. „Jetzt kommt der Wagen,“ sagte er ruhig und schritt zur Thür.

In dem Flur, der nach uralter Sitte mit großer Raumverschwendung in die Mitte des Hauses gelegt war und mit dem geschnitzten Balkenwerk unter der Decke und der Täfelung seiner Wände von der einstigen Bestimmung dieses Gebäudes als eines herzoglichen Jagdschlosses erzählte, hatte die Haushälterin die Thür weit geöffnet, so daß der Wind den Regen hereintrieb. Die große Lampe brannte unter der Decke, aber die Kränze, welche die Mägde gewunden hatten zum Empfang der heimkehrenden Tochter, hatte die alte Mamsell wieder herunternehmen lassen. „Gott im Himmel! Kommt das arme Frauchen etwa zum Vergnügen her?“ hatte sie gerufen. „Spart Eure Tannenzweige, es giebt leider bald eine andere Gelegenheit, wo wir sie brauchen.“

Jetzt lief sie trotz des Regens die Stufen vor der Hausthür hinunter; ihre weiße Schürze wehte leuchtend aus der Dunkelheit zurück, und ehe noch Maiberg und der Werkführer hinzueilen konnten, hatte sie schon den Wagenschlag aufgerissen und rief: „Guten Abend! guten Abend! Lieber Himmel, bei dem Wetter, Frau Jussnitz, und mit so einem kleinen Würmchen!“

Aber die Angeredete ergriff nicht die dargebotene Hand; was aus dem Wagen schlüpfte und jetzt auf den nassen Fliesen stand, in denen sich der Widerschein der Flurlampe spiegelte, war eine Fremde, war – – ja war das denn wirklich Hildegard von Zweidorf – dieses blasse, vergrämte Gesicht mit den müden traurigen Augen? Erschreckt trat Maiberg hinzu.

„Gnädiges Fräulein – Sie?“ stotterte er. „Ist Antje – Frau Jussnitz – –“

„Wie geht es meiner Mutter?“ klang es jetzt neben ihm; da stand Antje, ihr Kind auf dem Arm. „Herr Doktor – lieber Kortmer – ich komme doch nicht zu spät?“

Als Antje diese Frage verneint wurde, schwankte sie; die furchtbare Spannung ließ nach. Auf Maibergs Arm gestützt, kam sie über die Schwelle des Vaterhauses. In seiner ruhigen Weise sprach er zunächst gar nicht über die Kranke, nur daß sie schlafe; später werde die Tochter sie sehen dürfen. Vor der Hand möge man sich erholen, essen, trinken, umziehen, die Kleine schlafen legen.

So geschah es. Die Damen stiegen die alterthümliche breite Treppe hinan in das obere Stockwerk; die Haushälterin trug die Kleine, die fest und süß schlief.

„Wir haben schon seit heute nachmittag drei Uhr auf Sie gewartet, Frau Jussnitz; war denn der Weg so arg, daß Sie nicht früher kommen konnten?“

„Nein, der Weg war’s nicht, meine Kinderfrau ist schuld, daß wir einen späteren Zug benutzen mußten,“ erklärte Antje flüsternd, während sie den breiten Gang entlang schritt und wie liebkosend über die alten Schrankthüren strich, an denen sie vorüberging. „Wir blieben des Kindes wegen die Nacht in Halle, und heute früh erklärte die alte Frau plötzlich, nicht weiter zu wollen. Alles Zureden war vergeblich. – Ist eins von den Hausmädchen wohl zuverlässig genug, um sie zu ersetzen?“ Sie hatte eine Thür geöffnet am Ende des Ganges und fuhr fort: „Hier soll die Kleine doch wohnen, liebe Hanne? Ich kann mich wahrscheinlich jetzt wenig um sie bekümmern, ich – – Im Nothfall müssen wir zuschauen, ob jemand auf der Hütte oder im Dorf zu haben ist.“

„Frau Jussnitz,“ entgegnete zögernd die Haushälterin, „mit den Mädchen hier im Hause – lieber Himmel, die wissen kaum, wo der Kopf ihnen steht vor Arbeit; denken Sie doch, eine Kranke im Hause, und der Doktor, und nun Sie – – “

„Darf ich – würden Sie nicht mir das Vertrauen schenken, die Kleine zu beaufsichtigen?“ fragte Hildegard, und ihre Augen sahen bittend zu Antje hinüber.

„Sie? Ein kleines Kind hüten?“ sagte diese und mußte lächeln trotz aller Traurigkeit. „Nein, Fräulein Hilde, das geht nicht.“

Da fing das Mädchen an, flehentlich zu bitten. „Lassen Sie mir das Kind, Frau Jussnitz. Ich will jeden seiner Schritte bewachen, will nicht schlafen nachts, will an seinem Bette sitzen – weisen Sie mich mit dieser Bitte nicht ab!“

Die junge Frau antwortete nicht.

Hilde trat dunkel erglühend zurück, aber in ihren Augen lag ein so wahrer Ausdruck des Gekränktseins, daß Antje rasch sagte: „Wenn Sie sich die Mühe wirklich machen wollen? Ich weiß ja auch, Sie werden gut mit der Maus sein, denn es ist –“ sie stockte – „sein Kind!“ hatte sie enden wollen, aber es blieb ungesprochen.

Hilde verstand sie nicht. Sie hatte Hut und Mantel abgelegt und das schlummernde Kind von dem Arme der Alten genommen. „Gehen Sie ruhig, Frau Jussnitz, und haben Sie Dank!“ sagte sie; und Antje sah, wie Hilde die Thränen aus den Augen stürzten, als sie sich in der Nähe des Ofens auf einen Stuhl setzte und das Kleine aus den umhüllenden Tüchern zu schälen begann, als habe sie ihr lebelang nichts anderes gethan als Kinder gewartet.

Antje ging.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 15, S. 241–244

[241] Man hatte für Antje das Zimmer neben der Krankenstube der Mutter hergerichtet, dasselbe, in dem ihr Vater einst geschlafen hatte und in dem er gestorben war. Die braune Flügelthür, welche die zwei Gemächer verband, stand offen. Antje winkte der Wirthschafterin, zurückzubleiben, schlich sich über den Teppich bis zu dieser Thür, und dort stand sie und lauschte zu dem Himmelbette hinüber, in dem die Mutter lag; der schwache Schimmer der Nachtlampe ließ sie nur undeutlich die Züge der Schlummernden erkennen. Sie mußte sich zwingen, daß sie nicht hinüber lief und vor dem Bette dort niedersank, daß sie nicht schrie: „Mutter, Mutter, da bin ich ja wieder! Ach, wenn Du wüßtest, wie weh mir geschehen ist, wie weh!“

Sie schluchzte plötzlich auf. Die alte traute Heimath, die Erinnerungen, die so mächtig auf sie eindrangen, die Größe ihres Schmerzes um das, was sie verloren hatte, die Angst um das, was sie noch verlieren sollte, das alles zusammen überwältigte sie. Ein Gefühl grenzenloser Schwäche ergriff sie, sie sank zu Boden und wußte nicht mehr, wie ihr geschah. In halber Bewußtlosigkeit hörte sie das Rütteln des Sturmes an den Läden, das Rauschen des Regens, wie sie es als Kind so oft gehört hatte in ihrem weichen warmen Bettchen, das neben dem der Mutter stand – wie sie es gehört in den ersten schlummerlosen Nächten ihres jungen Mädchendaseins, jenen Frühlingsnächten, da sie meinte, sie könne niemals wieder froh werden, sie vermöge nicht zu leben ohne jenen blasiert kranken Mann, der ihr gesagt: „Ich glaube, Sie könnten mich wieder versöhnen mit dem Dasein –“ in jenen Nächten, wo sie sich auf den Wunsch des Vaters mühte, den Geliebten als ewig verloren zu betrachten, und dann – in den schlummerlosen heiligen Nachtstunden, in denen das Glück ihr den Schlaf raubte, das Glück, ihn zu besitzen.

Es war ihr, als erlebte sie das alles noch einmal. Sie hörte den Pendelschlag der Wanduhr, das dumpfe Pochen der Hämmer drang in ihr Träumen hinein: sie hörte den schweren Athem der Mutter und hielt den ihrigen an, um sie nicht zu wecken. Es war so schön, so wohlig, so geborgen in dem hohen Zimmer.

Auf einmal ist es ihr, als sei es wieder der Vorabend ihres Hochzeitstages. Liegt da nicht ihr Brautkleid? Im Ofen glimmen die Kohlen – es wird schon kalt hier oben in den Bergen – und die Mutter ist eben noch einmal leise in ihre Stube gekommen und hat sie geküßt, und sie hat sich nicht gerührt; sie hat sich schlummernd gestellt, um der Mutter nicht zu zeigen, wie glückselig sie ist darüber, daß sie morgen mit dem fremden Mann fortziehen darf, weit fort von der Heimath. Und die Mutter weint an ihrem Lager und betet; sie hört es so deutlich, aber die Stimme ist klagend und schwach, wie das Stöhnen aus kranker Brust.

Muß ich denn unglücklich werden, Mutter?“ fragt Antje. [242] Und dann ist es, als drehe sich alles mit ihr im Kreise, als dringe ein blendender Schein schmerzvoll in ihre Augen. Sie will die Glieder bewegen, doch die sind schwer wie Blei, aber sie fühlt, daß ein starker Arm sie emporrichtet, und hört eine Stimme, die spricht: „Holen Sie Wein, Hanne, sie ist ohnmächtig. Gott gebe, daß sie sich rasch erholt; in einer halben Stunde kann alles vorüber sein, mit der Frau Bergrath geht es zum Sterben.“

Mit einem Male war Antje völlig bei Besinnung. Sie stand aufrecht, ihre Augen blickten ungläubig und verängstigt in das Gesicht des Doktors Maiberg. „Sterben? Meine Mutter – jetzt – jetzt sterben?“ Und sie ging mit schwankenden Schritten in das Sterbezimmer und sank an dem Bette nieder. „Mutter!“ klang es leise und zärtlich, „Mütterchen, ich bin da – Antje ist da – kennst Du mich?“

Die erkaltende Hand erwidert den Druck der ihren nicht mehr, aber die Augen wenden sich langsam ihr zu und ein fast überirdisches Leuchten bricht aus ihnen. Antje setzt sich auf den Rand des Bettes und schlingt die Arme um den Hals der Sterbenden; ihr Kopf neigt sich gegen den grauen Scheitel, ihre Lippen ruhen auf der feuchten Stirn.

„Schlafe, mein Mütterchen,“ sagt sie weich, „ich bleibe bei Dir.“

„Antje,“ flüstert eine versagende Stimme, „mein letzter Wille – Kortmer – mein Wille –“

„Ja, Mutter, alles, wie Du willst!“

„Hab Dank, Kind – mein’ es gut. Immer gerade aus – Antje – bin müde. – Dein Vater ruft mich – ja – ja – ich komme. – – Nicht weinen – Antje – nicht weich sein – mach’ Deine Schultern stark, gutes Kind!“

„Ja, ich will stark sein,“ sagt Antje, und sie hält die Mutter in den Armen, bis sie schläft; es währt nicht lange – ohne Schmerz entschlummert sie. Endlich läßt Antje sanft das geliebte Haupt in die Kissen gleiten und küßt die Augen, die sich nicht mehr öffnen sollen.

Da will sie der vorige Zustand wieder überkommen; aber mit aller Macht kämpft sie dagegen. „Ich will stark sein!“ sagt sie noch einmal und tritt in das Nebenzimmer. Da stehen der alte Kortmer und Maiberg, da stehen die Dienstleute des Hauses, die Männer im ernsten Schweigen und die Mädchen leise weinend.

„Meine Mutter schläft,“ sagt sie: „Gehet zu Bette, Ihr Leute; morgen in aller Frühe soll eins zum Herrn Pastor gehen, ich muß ihn sprechen.“

„Ich will mit Ihnen bei der Frau Bergrath wachen, Frau Jussnitz,“ bittet die alte Wirthschafterin. Aber Antje schüttelt den Kopf. „Du hast Deine Kräfte nöthig, Hanne, geh Du nur auch zur Ruhe; bei meiner Mutter brauche ich niemand.“

Dann kehrt sie in das Sterbezimmer zurück. –

Der Sturm draußen hat ausgetobt; es ist still geworden in der Natur, nur das Werk arbeitet fort und die Flammen des Hochofens werfen ihren Schein auf den Wald und die Berge, und auch hinein in das Gemach der Verstorbenen. Antje hat die Läden zurückgeschlagen; Lichter hat sie nicht angezündet, sie weiß, daß jener Schein von drüben die richtige Todtenleuchte ist für die, die hier liegt, der Schein, der in ihr gesegnetes arbeitsvolles Leben gestrahlt, der zu ihren Liebeswerken geleuchtet, der den Weg der Pflicht erhellt hat, welchen die Todte in seltener Treue gegangen ist.

Und Antje setzt sich an das Bett und hält stille Wacht bei dem treusten selbstlosesten Herzen, das der Mensch besitzt, das, wenn es aufgehört hat zu schlagen, nie ersetzt werden kann – bei der Mutter.




„Mein Mann wird eben nicht kommen können, lieber Kortmer,“ sagte Antje zu dem kleinen Herrn, der ihr seine Verwunderung aussprach, daß der Wagen, den er zur Bahnstation geschickt hatte, zwar mit den zwei alten unverheiratheten Schwestern des verstorbenen Bergraths Frey, aber ohne den Schwiegersohn der Verstorbenen zurückgekehrt war.

„Verehrteste Frau Jussnitz, verzeihen Sie,“ begann der überhöfliche Mann, „von kommen können ist hier keine Rede, sondern von kommen müssen, denn nach dem Willen unserer theuren Heimgegangenen soll das Testament unmittelbar nach dem Begräbniß eröffnet und verlesen werden; ausdrücklich steht da: ‚im Beisein meiner Tochter Anna Jussnitz und deren Ehemann Leo Jussnitz, sowie derjenigen Verwandten, die mir die Ehre des Trauergeleites zu geben gekommen sind‘. Also –“

Antje stand in dem kleinen Privatarbeitszimmer ihres Vaters. Es lag nach dem Hüttenplatz hinaus und war einfach möblirt. An der Längswand ein großes abgenutztes Ledersofa, über dem ein Regulator seinen Pendel schwang; ein massiver Arbeitstisch von Mahagoni am Fenster, auf dem Bücher, Papiere, Erzstückchen, Baupläne u. s. w. in peinlichster Ordnung lagen und standen.

Die Mitte der Platte nahm ein gewaltiges Tintenfaß aus Gußeisen ein; Antje kannte es, sie hatte den Augenblick genau beschreiben können, als der Vater es einweihte. Es stellte eine Lokomotive vor, in deren Kessel sich die schwarze Flüssigkeit befand. Die Frau Bergrath hatte es als Anspielung auf den Fabrikationszweig ihres Mannes – Eisenbahnschienen – anfertigen lassen und war sehr stolz auf diese Erfindung. –

Hinter diesem eigenartigen Schreibzeug stand die Photographie des Herrn Frey.

Antjes traurige Augen irrten über diese altvertrauten Gegenstände und um ihren Mund zuckte es. Sie dachte daran, wie sie sich einmal an einem bangen Tage leise in dies Zimmer geschlichen, ihre Arme um den Hals des Vaters geschlungen, ihr thränenbenetztes Gesicht an seine Wange geschmiegt und gebeten hatte: „Vater, Vater, gieb ihn mir, laß mich nicht unglücklich werden!“

Und er hatte geantwortet: „Anna, Dein starkes Wollen, Dein klares Urtheil haben sich verirrt; ich kann mir den Mann nicht als Deinen Lebensgefährten vorstellen; – Du wirst unglücklich werden, Kind.“

Aber sie hatte weiter gebeten. Wann hätte auch eine starke Leidenschaft je auf Vernunftgründe gehört! Sie war nicht anders als andere. Wer noch überlegt – liebt der wirklich?

Sie hatte weiter gebeten, sie hatte auf den Knieen gelegen vor dem treuen Warner und gerufen: „Sage ‚ja!‘ Vater, ich will tausendmal lieber unglücklich werden an seiner Seite als ohne ihn leben!“

Da hatte er nachgegeben. „Aber klage mir niemals, wenn Du enttäuscht wirst, klage nur mir nicht!“

Und Antje hatte Wort gehalten. Sie war still gewesen, als sie es inne wurde: „Du hast Dich getäuscht – er findet sich in Dir getäuscht.“

Sie wollte nichts weiter als ihre Pflicht thun, sie wollte Leo durch ihr Beispiel zwingen, auch die seinige zu thun, wollte sich begnügen mit dem Bewußtsein, neben ihm gehen zu dürfen, wenn auch unbeachtet, um des Kindes willen, in der Hoffnung, daß es noch einmal wieder besser werde – da – da sagte er ihr, sie sei die Kette, die ihn fessele, die ihn nicht emporsteigen lasse in die sonnige Höhe der Kunst, und da war es aus mit ihrem Wollen, mit ihrer Kraft, mit allem.

„Er muß kommen!“ sagte Kortmer noch einmal, „Sie müssen ein dringendes Telegramm an ihn senden, Frau Jussnitz.“

„Nein!“ sagte sie, den Kopf erhebend, „er kann nicht kommen.“

„Aber, lieber Gott, beste liebste Frau Antje, ist er denn krank?“

„Ich glaube nicht.“

„Oder ist er so erbittert auf die Verstorbene, daß er nicht an ihren Sarg treten will? Oder – sollten Sie einen Zwiespalt schwerwiegender Art mit ihm –“

Die junge Frau zuckte zusammen, die Hände sanken ihr schlaff herunter und mit entsetzten Augen forschte sie in dem Gesicht des Mannes. Ahnte er, wußte er gar schon das Schreckliche?

Er stand vor ihr mit bekümmerter Miene. „Seien Sie nicht böse, liebe Frau Antje,“ bat er, „es ist ja ein undenkbarer Fall, natürlich. Aber, was ihn auch fern halten könnte, es muß aus dem Wege geschafft werden, denn das Testament verlangt seine Gegenwart.“

Sie that ihm so leid; er wußte freilich, daß nicht alles stimmte, wußte es durch die Mutter, die ihm ihr sorgenvolles Herz geöffnet hatte; aber das von dem Zwiespalt zwischen dem Ehepaar war ihm doch wider Willen entschlüpft.

Nun hatte er ihr weh gethan, indem er wahrscheinlich nicht allzuweit vom Ziele traf.

[243] „Telegraphiren Sie, lieber Kortmer,“ sagte Antje endlich.

Er ging aus dem Zimmer, um die Depesche aufzusetzen. Sie aber sank in den alten Arbeitssessel vor dem Schreibtisch nieder und schlug die Hände vor das Gesicht. Es war so furchtbar schwer: wie sollte sie sein Ausbleiben vor den Leuten entschuldigen? Er durfte ja nicht kommen, er konnte nicht! Wie war der Schmerz um die Verstorbene so lind, so wohlthuend gegen den Schmerz, welchen sie vor aller Welt verbergen mußte!

Ein leises Pochen an der Thür ließ sie zusammenschrecken – wenn er dennoch käme? Nein, es war nur Hanne, die Wirthschafterin; sie hatte einen langen Zettel in der Hand, auf dem von der Hand der verstorbenen Frau die bestimmtesten Anweisungen für ihr Begräbniß gegeben waren.

Antje mußte nun vom Boden in den Keller, mußte Truhen und Schränke aufschließen; es war für alles gesorgt, was zu solch trauriger Feierlichkeit gehört. Sogar die Trauerschürzen für die Dienstmädchen, die Kreppbinden, welche die Herren des Kontors um die Hüte tragen sollten, alles lag bereit, „denn“ – so hieß es aus dem Zettel, „ich weiß, wie schwer es ist, wenn man mit trauerndem Herzen für solch Zeug zu sorgen hat. Hab’s an mir erfahren, als mein lieber Mann starb; möcht’ es meiner Antje leichter machen.“

Wie eine Mutter so rührend sorgt und denkt, noch über den Tod hinaus!

Die Brust der jungen Frau hob ein Schluchzen, als sie die Worte las.

„Ach Gott, Frau Jussnitz,“ seufzte die alte Wirthschafterin, „wie soll’s nur werden in diesem Hause ohne die Frau Bergrath? So eine Seele wie Ihre Mutter, die giebt’s nicht zum zweiten Male auf dieser Welt. Wenn Sie nur hier bleiben könnten, Frau Jussnitz!“

Antje schwieg; sie wußte ja nicht einmal, ob sie hier bleiben durfte in dem verwaisten großen Hause. Sie hatte keine Ahnung, wie sich ihr Leben gestalten würde, nur das eine wußte sie, daß sie überall allein stehen würde in der Welt, sie und ihr Kind.

Antje ging endlich nach dem großen Saal des Erdgeschosses, in dem die Mutter aufgebahrt lag. Dieser Raum hatte Flügelthüren, welche nach der Gartenterrasse führten, und schloß sich an die sogenannte Besuchsstube an, auf die das Wohnzimmer der Frau Bergrath folgte, dessen Fenster die Aussicht nach den großen rauchgefärbten Gebäuden der Hütte und den Häuserchen der Arbeiter gestatteten. Eine Reihe alter schöner Linden stand vor diesen Fenstern, wie die verkörperte Poesie inmitten der Prosa dieser Welt der Arbeit, des eisernen Fleißes.

In dem Saale war Hanne beschäftigt, Unmassen von Kränzen zu Füßen der Todten zu ordnen. Es gab kein Haus in der ganzen Umgegend, das nicht wenigstens ein kunstloses Gewinde aus Tannengrün gespendet hätte, und immer kamen noch mehr. Der Sarg war umgeben von der Orangerie, die der Stolz der Verstorbenen gewesen; ganze Büschel weißer Kerzen leuchteten aus dem dunklen Grün.

Zuweilen trat die eine oder andere der Frauen der Arbeiter mit ehrfürchtigen leisen Schritten über die Schwelle, ein Kind mit erschreckten ängstlichen Augen an der Hand, um sich die Todte noch einmal anzusehen, in das Taschentuch zu schluchzen und Antje die Hand zu drücken. Diese ließ es stumpf geschehen in ihrem starren Schmerz.

„Weinen Sie doch, junge Frau,“ sprach ein runzliges Mütterchen zu ihr, „es wird Ihnen leichter ums Herz; so ein Todtes ohne Thränen, das ist nicht gut!“

Sie nickte der Alten zu, hatte aber gar nicht verstanden, was diese von ihr gewollt hatte. Dann ging sie rasch ins Besuchszimmer.

„Was soll denn das?“ fragte sie und deutete auf einen schwarz verhangenen Tisch, der ein Tintenfaß und zwei silberne Armleuchter trug, während eine doppelte Reihe Stühle ihm gegenüber stand.

„Die Frau Bergrath wollte es so,“ antwortete Hanne, die eben schwarze Kreppschleifen über den Bildern von Antjes Eltern befestigte. „Haben Sie es denn nicht gelesen, Frau Jussnitz? Hier soll doch nach dem Begräbniß das Testament eröffnet werden, und auf den beiden vordersten Stühlen sollen Sie und Herr Jussnitz sitzen.“

Antje wandte sich rasch um und kehrte in den Saal zurück. Mit gefalteten Händen trat sie zu dem Sarge.

„Gottlob,“ flüsterte sie, „Du brauchst es nicht zu sehen, wie ich dort sitzen werde, so allein – so ganz allein!“

Indessen waltete Hilde von Zweidorf in der Kinderstube. Die Kleine mochte sich erkältet haben auf der Reise; sie weinte viel und verlangte nach der Mutter. Hilde wußte, daß die junge Frau über Gebühr in Anspruch genommen war durch die Vorbereitungen, die ja nun einmal unumgänglich nöthig sind bei solch traurigen Ereignissen, wie es ein Begräbniß ist. Sie versuchte daher nach Kräften, das Kind zu beruhigen, es in den Schlaf zu lullen, es lachen zu machen. Vergebens.

Antje war einige Male hereingekommen in ihrem düsteren Trauerkleide, mit dem blassen vergrämten Gesicht, und da hatte das Kind hellauf geweint vor Schreck; es fürchtete sich vor dem schwarzen Gewand.

Endlich, gegen Abend des zweiten Tages, ließ Hilde, erschöpft und solcher Anstrengungen ungewohnt, Herrn Dokor Maiberg bitten, sich die Kleine anzusehen.

Er trat in das helle, altmodisch behagliche Zimmer. Hilde saß, das Kind auf dem Schoße, vor dem Tisch und baute mit unermüdlicher Geduld die Holzklötzchen auf, die der kleine Eigensinn beharrlich wieder umwarf. „Die Mama kommen!“ war seine ewige Forderung, „aber nicht die schwarze Mama!“

„Wahrscheinlich irgend eine Kinderkrankheit im Anzuge,“ sagte er und legte die Hand auf das heiße Köpfchen, „vorläufig läßt sich nichts weiter thun, als in Geduld abwarten, gnädiges Fräulein. Soll ich Ihnen nicht lieber noch irgend eine Hilfe schaffen?“

„Danke!“ lehnte sie kurz ab.

„Sie scheinen selbst leidend?“

„Durchaus nicht! Aber bitte, sagen Sie mir, Herr Doktor –“ sie stockte und ward roth. „Sagen Sie mir,“ begann sie wieder, „weshalb kommt Herr Jussnitz nicht?“

„Wissen Sie es nicht?“ fragte er scharf zurück. Aber im nächsten Augenblick bereute er es schon. Sie hatte ihn angesehen, so hilflos, so jammervoll, und das stolze Köpfchen hatte sich gesenkt, tief gesenkt; wie gebrochen saß sie da. Mit erschreckender Gewißheit überkam es ihn, daß irgend etwas Entscheidendes in Sibyllenburg geschehen sein müsse. Er griff nach ihrer Hand und wollte sprechen.

„Lassen Sie das,“ sagte sie schroff und erhob sich. Das Kind auf dem Arm, das in Geschrei ausbrach, weil es sein Spielzeug nicht mehr hatte, begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen, nicht imstande, die Kleine zu beruhigen, nicht imstande, das eigene Schluchzen zurückzudrängen.

Er trat hinzu und nahm ihr die ungebärdige kleine Last ab. Und sie floh aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, durch den Flur.

Sie sah nicht, daß Antje dort mit der Wirthschafterin vor dem großen Leinenschranke stand, sie hatte nur den einen Gedanken – hinaus, die brennende Scham zu verstecken, nicht wieder zu kommen, nie!

Der Wind riß ihr die schwere Hausthür aus der Hand; sie ließ sie offen und stürzte die Stufen hinab, und dann blieb sie plötzlich stehen und klammerte sich an das eiserne Geländer in jähem Schrecken; dort fuhr ein Wagen an, aus dem sich eine geschmeidige Männergestalt schwang.

Es war ihr, als müsse die Erde sie verschlingen, – es war Jussnitz.

Sie sah, wie Antje ihm entgegenschritt; sah beim Schein der Laterne, wie das Auge der jungen Frau sie suchte, wie dieser Blick vorwurfsvoll fragte: „Nicht so lange kannst Du Dich zügeln? Nicht die Gegenwart der Todten unter diesem Dache hält Dich ab, ihm entgegen zu eilen?“

Sie konnte ja nicht anders denken, die Frau dort, als daß sie, Hilde, ihm entgegengestürzt sei in dem alles vergessenden Jubel des Wiedersehens, der Liebe!

Sie hatte kein Tuch um, keinen Hut auf; sie konnte nicht sagen: „Ich suchte kalte herbe Luft, ich hätte ersticken müssen da droben!“

Zitternd wie eine Schuldbeladene stand sie da.

[244] „Wollen Sie nicht herein kommen, Hilde? Sie werden sich erkälten in dem scharfen Winde,“ erklang jetzt Antjes Stimme völlig ruhig.

Und sie kam.

Im Flur stand Jussnitz mit Kortmer. Hilde ging mit stolzerhobenem Haupte an ihnen vorüber der Treppe zu.

Leo verbeugte sich artig und förmlich gegen das Mädchen; aber sie erwiderte den Gruß nicht, sie stieg Schritt für Schritt die Treppe empor und ging langsam den Gang entlang. Droben in der Stube angekommen, sagte sie zu Doktor Maiberg, der geduldig neben dem Bettchen des Kindes saß: „Gehen Sie, ich bitte Sie dringend, ich möchte allein sein.“

„Und wenn ich das angesichts Ihrer hochgradigen Erregung nicht thun will?“

„Sie werden es thun – Jussnitz ist soeben angekommen.“

Er sah sie fast mitleidig an. „Sie sollten sich nicht so hinreißen lassen, Fräulein Hilde,“ sagte er im Hinausgehen mit verdüsterter Miene.

Hinter ihm ward die Thür verschlossen. Dann hörte er ein Weinen, ein bitterliches Weinen, das offenbar mit aller Mühe unterdrückt werden sollte und doch so ungestüm hervorbrach. Und unter diesem Schluchzen, in welches das geängstigte Kind mit einstimmte, rang sich ein heißes Gebet von ihren Lippen: „Laß sie sich finden im Angesicht der Todten! Laß die Spuren meiner Tritte verwehen auf dem Lebensweg jener beiden, lieber Gott, ich bitte Dich darum – erhöre mich oder laß mich sterben!“

Der Außenstehende vernahm nur einige Worte davon; kopfschüttelnd ging er hinunter. Er fand Jussnitz allein im Wohnzimmer; die Wirthschafterin deckte im Verein mit einer Magd den Theetisch nebenan in der Eßstube.

„Grüß Gott, Leo!“ sagte Maiberg.

Jussnitz schnellte förmlich empor; seine Augen erweiterten sich, aber er fand kein Wort. Der andere stand schweigend vor ihm.

„Wie kommst Du hierher?“ fragte Jussnitz heiser.

„Auf Wunsch Deiner Frau!“

Er lachte kurz auf. „Allerdings, das hätte ich mir sagen können!“

„Das hättest Du, Leo?“

„Ja freilich, mitunter hat man – denkt man an das Nächstliegende nicht,“ bemerkte Jussnitz mit eigenthümlicher Betonung.

Ueber Maibergs Gesicht zuckte ein flüchtiges Lächeln und er sah plötzlich weniger düster aus.

Dann traten die beiden alten Damen ein, die Schwestern des Bergraths, die Wirthschafterin folgte und nöthigte die Herrschaften ins Eßzimmer. Frau Jussnitz lasse um Entschuldigung bitten, wenn sie bei Tische nicht zugegen sei; sie habe noch so viel zu besorgen.

Es war so glaubhaft, und nur der alte Kortmer wußte, daß sie unthätig droben weilte in ihrem Mädchenstübchen; aber wie groß ihr Kummer war, das ahnte der alte Herr doch nicht. Sie ging beständig auf und ab wie ein Mensch, der die Beute vollster Verzweiflung ist.

Ein einziges Licht brannte in dem Raume und ließ zur Noth die Möbel, die altmodische Tapete und die niedrige getäfelte Decke erkennen. Das duftige weiße Himmelbett, in dem sie ihre Jugendträume geträumt hatte, hob sich fast gespensterhaft aus der dämmernden Tiefe.

Antje hatte einmal etwas vom „zweiten Gesicht“ gehört, und es war ihr, als liege dort in den Kissen ein blondes verweintes Haupt, als rängen sich zwei Hände in heißem Schmerz ineinander – was ist nur aus Dir geworden, Anna Frey?

Sie lieft bis zur Thür hinüber; sie wollte sich ihr Kind holen, das Einzige, was sie noch besaß auf der Welt. Wie kam jene andere dazu, es auch nur eine Minute pflegen zu dürfen? Aber die Hände sanken ihr vom Drücker – sie wollte ihn nicht treffen dort drüben; den Anblick hätte sie nicht ertragen, jene beiden zusammen – am Bette Leonies.

Mein Gott, er war ja nur gekommen, weil Hilde hier war! Wieder sah sie im Geiste die leichte Gestalt die Treppe hinunter, durch den Vorsaal fliegen, ihm entgegen – und sie zwang sich, fern zu bleiben von der Kleinen; zum ersten Male sagte sie ihr nicht Gute Nacht! Sie flüchtete auf das Sofa und barg den Kopf in den Kissen, damit sie nur nicht seinen Schritt vorübergehen hören müsse nach der Kinderstube; sie war in dieser Stunde nichts weiter als das leidenschaftlich liebende Weib, welches den letzten endgültigen Beweis zu erhalten fürchtet, daß sie den Geliebten verloren hat.

Endlich schrak sie empor und lauschte, mit fliegendem Athem, die Hand an der pochenden Schläfe. Es erklangen Stimmen draußen, die Leos und Maibergs; Antje hörte, wie sich die Herren Gute Nacht wünschten. Auch die Stimme Hannes scholl herüber:

„Herr Jussnitz,“ sagte sie, „ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer wiedergegeben, wenn’s Ihnen so recht ist; die gnädige Frau meinte – –“

Seine Antwort drang nicht bis zu ihr, er hatte sich mit raschen Schritten entfernt.

Antje athmete auf, und dann brach ihr eine wahre Thränenfluth aus den Augen. – Mein Gott, was wollte sie denn? Sie war ja auf dem Punkt gewesen, zu vergessen, daß er sie seine Kette genannt hatte, daß sie ihn freigeben mußte!




Das Begräbniß war vorüber.

Vom Herrschaftshause, quer über den mit schwarzem Staube bedeckten Platz, den auf einer Seite die Wohnungen der Arbeiter, auf der andern die Hüttengebäude begrenzten, hatte man den Leichenweg mit dick verstreutem weißen Sande und Tannenzweigen angezeigt. Dieser geschmückte Pfad wand sich längs des rauschenden Flusses, der sonst die heute in feierlicher Stille ruhenden großen Hämmer trieb, hinab durch das Dorf bis zu dem kleinen Friedhof.

Vor dem Gasthof „Zur grünen Tanne“ in Oberrode stand eine Menge Wagen; in der großen Wirthsstube saßen die Herrschaften, die gekommen waren, um der überall verehrten Frau das letzte Geleit zu geben, die aber dem Hause doch nicht so nahe standen, um auf dessen Gastfreundschaft heute rechnen zu können. Es waren Forstbeamte, Fabrik- und Grubenbesitzer, Gutsherren, Geschäftsfreunde. Auch die gastliche Pfarre war in Anspruch genommen durch Leidtragende. Alle Welt wußte, daß nach dem Begräbniß das Testament verlesen werden sollte, und alle Welt war neugierig auf die Lösung, wer nun dieses große Besitzthum erhalten würde.

In der „Grünen Tanne“ ward besonders lebhaft verhandelt. Der eine behauptete, „Gottessegen“ werde nun wohl Aktiengesellschaft werden und der Herr Schwiegersohn allenfalls einer der Hauptaktionäre bleiben.

Ein Zweiter wollte wissen, daß die Bergräthin nie eine Freundin von Aktienunternehmungen gewesen sei.

Der Dritte erklärte mit Bestimmtheit, die Tochter werde mit einem ansehnlichen Kapital abgefunden und der Ferdinand Frey bekomme die Hütte, natürlich gegen Vergütung an die Jussnitzens.

„Wer ist der Ferdinand?“

„Nun, der Frey, der beim Bergamt in H. angestellt ist. – Sie kennen doch den Frey?“

„Ja, natürlich!“

„Das wäre aber ungerecht gegen die Tochter!“

„Du lieber Gott, die hat wahrhaftig genug!“

„Na, Na! Der Herr Schwiegersohn wird’s schon klein kriegen, und das hat die alte Bergräthin genau gewußt, die hörte das Gras wachsen. Herr Gott, war das eine Resolute; paßt nur mal auf, die hat da ganz was Besonderes ausgedacht!“

Und in dem Trauerhause fanden sich just die paar Menschen zusammen, die der Eröffnung des letzten Willens der „resoluten Frau“ beiwohnen sollten. – Durch die Fenster des Zimmers schaute ein trüber regnerischer Nachmittag; es roch betäubend nach Cypressen, Wachholder und Tuberosen. Man stand flüsternd bei einander, der Vetter, Ferdinand Frey, ein junger Mann mit brünettem gewinnenden Gesicht; die alten Schwestern, die sich an der Hand hielten in banger Erwartung, ob sich ihr Los erträglich gestalten würde; der Prediger, der Notar, Herr Kortmer und – Jussnitz.

Antje fehlte noch, man wartete auf sie. Endlich erschien sie, blaß, mit ihrem schlichten gescheitelten Haar, dem düstern Trauergewande und den im Leid fast vergangenen Augen. Der alte Notar ging ihr entgegen und geleitete sie zu ihrem Platz, wo sie sich sofort niedersetzte. Den Blick gesenkt, die Hände über einander gelegt, saß sie da, neben ihr Leo, hinter ihrem Stuhl Ferdinand Frey, den die Eltern ihr einst als Gatten bestimmt hatten.

Textdaten
zum vorherigen Teil
>>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 16, S. 261–264

[261] Der alte Rechtsbeistand des Freyschen Hauses begann die Testamentseröffnung mit ein paar bewegten Worten, die hauptsächlich Antje galten. Er sagte, wie traurig es ihm sei, so bald, so rasch schon diese schwere Pflicht erfüllen zu müssen, die Pflicht, zu der Waise zu sprechen im Namen der Heimgegangenen. Dann erbrach er das gewichtige Aktenstück, nachdem er die Anwesenden sich von dem unversehrten Zustande der gerichtlichen Siegel hatte überzeugen lassen, und begann:

 „Im Namen Gottes!

Nachdem ich gefühlt und mir es auch mein Arzt gesagt hat, daß ich in kurzem zum Sterben kommen werde, habe ich mich angeschickt, meinen letzten Willen aufzuzeichnen. Er ist gefaßt nach reifer Ueberlegung und in voller Uebereinstimmung mit dem, was auch mein seliger Mann oftmals als das Richtige und Nothwendige zum Besten unserer Tochter mit mir besprochen hat. Laut gerichtlich anerkannten Testaments meines lieben seligen Mannes bin ich als seine Universalnachfolgerin in alle seine Rechte eingetreten und von ihm ermächtigt worden, über den gesammten Nachlaß zu testiren. Er wußte, er durfte mir volles Vertrauen schenken, und dieses Vertrauen hat mich mehr erfreut und beglückt als das irdische Gut, das er mir hinterließ.

Demgemäß bestimme ich, daß unser einziges Kind, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, die Erbin unserer gesammten zeitlichen Güter, besonders aber der Schöpfung meines in Gott verstorbenen Schwiegervaters Herrn Christoph Gottlob Frey, des Eisenhüttenwerkes ‚Gottessegen‘, werde, mit Ausnahme eines Kapitals von 60000 Mark (sechzigtausend Mark), welches unser Neffe, Herr Ferdinand Frey aus N., den wir wie einen Sohn lieben, erhält.

Meine Tochter, Anna Clara Jussnitz, geborene Frey, hat ihr Erbe unter folgenden Bedingungen anzutreten:

1) Sie ist gehalten, ihren Wohnsitz auf der Hütte ‚Gottessegen‘ zu nehmen.

2) Es liegt ihr ob, die oberste Leitung des Geschäftes zu übernehmen. Ohne ihre Unterschrift und Einwilligung darf keine Veränderung im Betriebe vorgenommen, kein wichtiges Geschäft zum Abschluß gebracht, noch eine Aenderung des Personals getroffen werden. Sie hat in ihres Vaters und in meinem Sinne als Chef dem Anwesen vorzustehen; zugleich ist der langjährige Werkführer unseres Hauses, Herr Friedrich Kortmer, von mir beauftragt, ihr als Rathgeber zur Seite zu stehen.

Es mag befremdend erscheinen, daß ich solches verlange; es geschieht aus zweierlei Gründen. Den einen derselben kennt meine Tochter und kennt mein Schwiegersohn – ich will beiden die Erörterung desselben an diesem Orte ersparen. Fürs zweite sage ich denen, die da zweifeln könnten, daß eine Frau so großer Aufgabe gewachsen sei, daß ich, die ich keine blindeingenommene Mutter bin, mich überzeugt habe, daß meine Tochter Anna Jussnitz die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, Leiterin des Werkes zu werden.

3) Meine Tochter Anna Clara Jussnitz ist gehalten, alljährlich ein Viertheil des Gewinnes aus dem Werke in Ländereien, Forsten oder Häusern anzulegen als Kapital für ihre Erben und ebenso alljährlich eine bestimmte Summe zur Vervollkommnung und Verbesserung des Betriebes zu verwenden, damit das Werk stets auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit bleibe. Ferner ist meine Tochter verpflichtet, innerhalb der nächsten vier [262] Jahre ein Krankenhaus zu erbauen, die Schule zu erweitern, sowie einen Arzt für die Arbeiterschaft der Hütte anzustellen. Sie hat letzterem ein standesgemäßes Wohnhaus anzuweisen. Sie hat ferner das Alteleutehaus auszubauen und mit gesundheitsgemäßen Einrichtungen zu versehen. Ich habe das Vertrauen zu meiner Tochter, daß sie diesen meinen letzten Willen, den sie zugleich als den ihres Vaters zu betrachten hat, ehren und höher stellen wird als etwaige gegentheilige Wünsche von irgend einer Seite.

4) Wollte und könnte aber meine Tochter auf diese Bedingungen nicht eingehen, so ernenne ich, in Uebereinstimmung mit dem Willen meines seligen Mannes, an ihrer Stelle ihre Tochter, Leonie Jussnitz, derzeit drei Jahre alt – oder sollte meine Tochter Anna Clara Jussnitz später noch mehrere Kinder haben, diese ihre sämmtlichen Kinder zu Erben, mit dem Beding, daß, sind es nur Töchter, meine älteste Enkelin, Leonie Jussnitz, ausschließlich Besitzerin des Werkes bleibt, wenn aber Söhne vorhanden, der älteste Sohn die Hütte übernimmt. Der event. Besitzer hat die Geschwister baar auszuzahlen nach amtlicher Schätzung des Werthes des Werkes, es soll denselben aber auch unbenommen bleiben, das Kapital auf dem Gewerk stehen zu lassen, wo es ihnen mit vier vom Hundert verzinst werden soll.

Zum Administrator bis zur Mündigkeit des event. Besitzers ernenne ich in dem Falle, daß meine Tochter auf obige Bedingungen unter 1 bis 3 nicht eingeht, meinen Neffen, den Ingenieur Herrn Ferdinand Frey. Derselbe hat meiner Tochter jährlich 18000 (achtzehntausend) Mark, als zur Führung ihres Hausstandes nothwendig, in vierteljährlichen Raten auszuzahlen. Er selbst, Herr Ferdinand Frey, erhält 9000 (neuntausend) Mark für seine Mühwaltung. Er ist gehalten und hat sich zu verpflichten, alle andern Bedingungen so zu erfüllen, wie ich sie von meiner Tochter – falls diese meine Erbin würde – gefordert habe. Er hat den Ueberschuß an Gewinn zu Gunsten meiner Enkelin Leonie Jussnitz, bezhw. meiner Enkel oder Enkelinnen, in soliden Papieren oder in Grundbesitz anzulegen; er hat für Verbesserungen im Betriebe zu sorgen; er ist verpflichtet, Forderungen meiner Tochter oder ihres Ehemannes, die über die Summe von achtzehntausend Mark jährlich hinausgehen, aufs bestimmteste zurückzuweisen.

Ist der zur Besitzergreifung berechtigte meiner Enkel mündig geworden, so werden diese Anordnungen insofern hinfällig, als das Hüttenwerk sodann in seine Hände übergeht. Derjenige, der es übernimmt, hat, falls er gewillt ist, das Geschäft selbst zu leiten, dem bisherigen Administrator, Herrn Ferdinand Frey, eine Pension auf Lebenszeit von jährlich 4500 (viertausendfünfhundert) Mark zu zahlen.

5) Ich ernenne zu meinem Testamentsvollstrecker meinen Rechtsbeistand, Herrn Justizrath Klein, und mache demselben zur besondern Pflicht, die pünktliche Erfüllung aller meiner Anordnungen zu bewirken und meiner Tochter darin beizustehen, daß sie das schwere Amt und Erbe, das ich ihr hinterlasse, antritt und sich durch keine Hindernisse, von welcher Seite sie auch kommen, in der Befolgung des letzten Willens ihrer Eltern beirren läßt.

Insbesondere lege ich meinem Testamentsvollstrecker die Pflicht auf, darüber zu wachen, daß die alleinige Verfügung über das Erbtheil und über die Einkünfte meiner Tochter nur dieser zusteht, indem ich deren Ehemanne jedes Recht der Verwaltung von Kapital und Zinsen meines Nachlasses entzogen haben will.

Das gilt auch für den Fall, daß nicht meine Tochter, sondern deren Nachkommen meine Erben werden sollten.

6) Ich mache ferner meinen Erben und meinem Testamentsvollstrecker zur Pflicht, alle diejenigen Legate, welche ich zu Gunsten dritter Personen und zum Besten von Kirchen, Schulen und Armenanstalten bestimmt und in einem besonderen, von mir unterschriebenen Verzeichnisse aufgezählt habe, pünktlich auszufolgen.

7) Vorstehendes enthält meinen wohlüberlegten, letzten Willen, den ich eigenhändig niedergeschrieben und mit Unterschrift und Siegel versehen habe.

Ich bitte Gott, daß er alles zum Besten wenden möge. Er helfe, daß ich das Rechte erwählt habe!

So gegeben am 28. März 18 ..

Hütte ‚Gottessegen‘.
Clara Frey, geb. Hansen.“ 

In dem großen Zimmer herrschte eine wahrhafte Todtenstille, nachdem das letzte Wort verhallt war. Jussnitz hatte, die Arme verschränkt, während der ganzen Zeit zum Fenster hinausgesehen, als zähle er jeden Regentropfen, der an den Scheiben hinunterrieselte. Wer ihn sah, der konnte zweifeln, ob er überhaupt ein Wort von dem gehört habe, was hier soeben laut und deutlich gesprochen worden war.

Antje saß und schaute auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß, eine Beute tiefster Seelenqualen. Ferdinand Frey ließ keinen Blick von ihr. Sein Gesicht hatte allmählich einen Ausdruck von Mitleid und Aerger angenommen, wie Menschen ihn zeigen, die ein Thier quälen sehen und nicht in der Lage sind, ihm zu helfen. Er war einst seiner Cousine sehr zugethan gewesen und war ihr auch noch heute aufrichtig ergeben, was lag ihm an all dem andern! Er war ein armer Kerl, aber was sollte ihm schließlich das Vertrauen helfen und das stattliche Gehalt, die neue Stellung? Er wußte, in diesen Mauern würde er doch nicht froh werden, denn die Erinnerungen schrieen ihm entgegen aus jedem Winkel.

„Sie haben natürlich einige Wochen Zeit zur Ueberlegung, gnädige Frau,“ begann Justizrath Klein nach einer Pause, „es ist ja alles in den besten Händen unterdessen.“

Antje erhob sich und ging zu dem Tisch hinüber, auf welchem das Testament lag. „Es bedarf keiner Ueberlegung, Herr Justizrath,“ sprach sie laut, indem sie ihre beiden schlanken Hände auf die schwarze Tuchdecke legte, „ich erkläre hiermit, daß ich das Erbe unter sämmtlichen Bedingungen, die meine Mutter vorschreibt, antrete. Ich werde meinen Wohnsitz von nun an hier haben und werde mich bemühen, meine Pflicht als oberste Leiterin des Anwesens so vollkommen zu erfüllen als irgend möglich. Ich glaube damit auch im Sinne des Herrn Jussnitz zu handeln.“

Wiederum eine Pause.

„Sechs Wochen,“ sagte der langjährige alte Rechtsbeistand des Hauses, „sechs Wochen Frist, gnädige Frau.“

„Ich bin fest entschlossen, die Bedingungen zu erfüllen, gewissenhaft zu erfüllen, die meine Mutter mir auferlegt hat,“ wiederholte sie ruhig, aber sehr bestimmt, „und ich wünsche Besitzerin von ‚Gottessegen‘ zu werden. Bitte, nehmen Sie das zu Protokoll noch in dieser Stunde.“ Und sich zu den Anwesenden wendend, fügte sie mit vor Thränen verschleierter Stimme hinzu: „Sie alle werden gewiß im Anfang Nachsicht haben mit mir, die ich vollständig unerfahren, nur mit meinem ehrlichen Willen, das Richtige zu thun, an die Stelle meiner Mutter trete.“

Und sie ging zu ihrem Vetter und reichte ihm die Hand. „Ferdinand, ich weiß, Du verstehst mich!“ Und sie drückte Herrn Kortmer die Rechte. „Nicht wahr, Sie helfen mir?“ Und sie bot dem Pfarrer die Stirn zum Kuß. „Auch Sie, nicht wahr, auch Sie helfen, Herr Pastor?“

Dann, wie von ihrer Bewegung übermannt, schritt sie an ihrem Mann vorüber und verließ das Zimmer.




Sie wußte im Augenblick keinen bessern Platz für sich als das kleine Arbeitszimmer der Eltern; sie war sicher, dort ungestört zu sein. Ueber das, was zunächst geschehen mußte, war sie sich nur in einem klar – Leo durfte nicht hier bleiben! Auge in Auge mit ihm zu unterhandeln, das brachte sie nicht über sich; es widerstrebte auch ihrem Zartgefühl, ihn durch den Notar bitten zu lassen, es möge ihr der Schmerz erspart werden, ihn zu sehen. Sie wollte ihm schreiben, aber sie fand die Worte nicht. Wie sollte man einem Mann schreiben, von dem man im Begriff ist, sich zu trennen? Sie legte die Feder wieder aus der Hand und schaute über den Platz, der in sonntägiger Ruhe dalag. Ach, nur ein Menschenherz, dem sie so recht vertrauen könnte, das ihr den Freundschaftsdienst erwiese, zwischen ihm und ihr die Botschaft zu vermitteln; ihm zu sagen, daß sie entschlossen, unwiderruflich entschlossen sei, ihn von der „Kette“ zu befreien, die ihn so drückte – Nur eines! Nur ein Menschenherz!

Sie richtete sich plötzlich empor und öffnete das Fenster. Doktor Maiberg kam da aus einem der Arbeiterhäuser. Sie rief nicht, sie sah ihm nur entgegen, er aber las wohl eine Bitte aus den traurigen Frauenaugen und trat dicht unter das Fenster. „Wünschen Sie etwas, gnädige Frau?“

„Wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten, Herr Doktor!“

„Ich stehe sofort zu Diensten!“ Er erschien nach einigen [263] Sekunden in dem Stübchen. Es war hier stets dämmerig; das einzige Fenster lag in der tiefen, durch dicke Wände gebildeten Nische, und eiserne Gitter spannten sich davor. In der Ecke leuchtete der kleine amerikanische Ofen. Antje stand am Schreibtisch im düsteren Trauerkleid, mit blassem, entschlossenem Gesicht.

„Darf ich Sie um einen Freundschaftsdienst bitten?“ fragte sie.

Er verbeugte sich.

„Sie wissen vielleicht schon von Leo, daß – –“ sie wandte das Gesicht von ihm ab; es war so entsetzlich schwer, es nur auszusprechen, und sie vermochte es nicht – – „Er hat Ihnen nichts mitgetheilt, Herr Doktor?“

„Ich habe keine Ahnuttg, gnädige Frau, was Sie meinen,“ erwiderte er und betrachtete verwundert die am ganzen Körper zitternde Gestalt.

„Leo und ich werden uns trennen,“ stieß sie hastig hervor.

„Das ist nicht möglich, Frau Jussnitz,“ sagte er sehr ruhig.

„Doch! Ja! Ich sehe es ein, die Frau eines Künstlers soll anders sein als ich, nicht so prosaisch, so schrecklich unbedeutend – Maiberg, ich weiß, daß Leo unter diesen meinen Eigenschaften leidet, weiß es aus seinem eigenen Munde – er liebt mich nicht. Sie ist furchtbar, diese Gewißheit, aber doch leichter zu tragen als das Leben in letzter Zeit. Maiberg, sagen Sie nichts, ich bitte Sie; versuchen Sie nicht, mir einzureden, es walte ein Mißverständniß ob,“ fuhr sie fort, „führen Sie mich nicht aufs neue in den Kampf, aus dem ich kaum als Siegerin hervorgegangen bin. – – Was ich von Ihnen will – Sie sind ja Leos Freund – ist nur das eine, bitten Sie ihn in meinem Namen, daß er noch heute abend abreist; ich ertrage es nicht, ihn länger hier zu wissen, es ist unter diesen Verhältnissen unmöglich. Sagen Sie ihm, daß er seiner ‚Kette‘ ledig ist, schon jetzt; sagen Sie ihm, daß er es auch vor der Welt werden soll, sobald die erste tiefe Trauerzeit um Mama vorüber ist; ich und auch er sind es ihr schuldig, diese heilige Zeit nicht mit einem Ehescheidungsprozeß zu entweihen.“

„Darauf war ich nicht gefaßt,“ entgegnete Maiberg finster.

„Aber ich kann nicht anders handeln, ich kann nicht!“

„Und was soll aus Leo werden, wenn Sie ihn verlassen?“

„Ein glücklicherer Mann als bisher, ein großer Künstler, Herr Dokor!“

„Gnädige Frau,“ sagte er, „Sie sind überreizt, sind im höchsten Grade nervös; beruhigen Sie sich, ich werde Leo fortschicken. Bleiben Sie hier, erholen Sie sich, fassen Sie frischen Muth, und eines Tages werden Sie die trüben Gedanken bannen und mit neuer Freudigkeit die allerdings nicht gerade leichte Aufgabe, Leos Frau zu sein, übernehmen. Aber – –“

Ein unbeschreiblich trauriges Lächeln zog um ihren Mund. „Niemals!“ klang es leise und bestimmt. „Ich bleibe hier, muß hier bleiben - seine und meine Wege sind getrennt für immer. Aber ich möchte, Herr Doktor, daß Sie ihm sagten, ich hätte, so lange ich ihn kenne, an nichts anderes gedacht als an sein Glück - doch nein!“ unterbrach sie sich, „sagen Sie ihm das letzte nicht, weshalb auch?“

„Gott weiß, ob Sie das Richtige thun!“ erwiderte Maiberg.

„Gehen Sie,“ bat sie, „gehen Sie! Wenn er den Abendzug noch erreichen will, so muß er bald fahren.“ Sie setzte sich, als verließen sie plötzlich die Kräfte, auf den Schreibstuhl vor dem Arbeitstisch.

Mit einem langen ernsten Blick auf sie verabschiedete sich der junge Arzt. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß zwischen diesen beiden Menschen alles aus sei, daß diese sonst so sanfte duldsame Frau nicht anders handeln könne. Was aber, um Gotteswillen, war geschehen? Hildes Bild trat ihm einen Augenblick vor die Seele, aber er wies den Gedanken, der sich mit ihm verband, voller Entrüstung zurück. Sie war tollköpfig, kokett, ungezogen und leidenschafllich, aber – –

„Wo ist Herr Jussnitz?“ fragte er ein Hausmädchen, das über den Flur ging mit einem Tablett, auf dem Weingläser standen.

„Herr Jussnitz ist nach der Testamentseröffnung in sein Zimmer gegangen, seitdem habe ich ihn nicht gesehen.“

Maiberg suchte ihn daselbst, aber vergebens. Leos elegante Toilettengegenstände lagen wie immer in genialer Unordnung umher, auch ein Skizzenbuch fand sich darunter, und in der Ecke neben dem Ofen lehnten Feldstuhl und Malerschirm. Der Koffer, der dort mit aufgeklapptem Deckel stand, war von ziemlicher Größe, so, als ob sein Besitzer an einen längeren Aufenthalt gedacht hätte. Maiberg wußte zwar, daß Leo seit seiner Verheirathung es als unmöglich betrachtet haben würde, mit einem Ränzel auf dem Rücken eine Studienreise zu machen; dazu war er zu vornehm geworden und zu verwöhnt. Aber trotzdem war ihm die Anwesenheit dieser Gegenstände doch eine Beruhigung; er wenigstens schien hiernach nicht unversöhnlich gestimmt zu sein. Oder hatte er keine Ahnung, daß diese „unbedeutende Frau“ denn doch ein Herz besaß, und neben diesem Herzen – Willen und Kraft und gerechten weiblichen Stolz?

Maiberg suchte den Freund im ganzen Hause, dann im Garten, endlich kehrte er wieder zurück. In der Wohnstube saß die Trauergesellschaft bei einem einfachen Abendimbiß; die beiden alten Tanten hatten rothgeweinte Augen trotz ihrer Freude über die hübsche kleine Erbschaft, die es ihnen ermöglichte, die Hundesteuer für den geliebten Moppel ohne ängstliche Berechnung und ohne sich einer allzu großen Verschwendung zeihen zu müssen, aufzubringen. Sie hielten sich bei den Händen und priesen die Verstorbene in allen Tonarten. Auch hier hatte niemand den Begehrten gesehen.

Maiberg lugte sogar ins Kontor, aber da stand Herr Kortmer an seinem Pult noch im feierlichen schwarzen Anzuge und schrieb. Als er Geräusch hinter sich hörte, wandte er sich um, und den jungen Arzt gewahrend, sagte er verlegen: „Hab’ nur die Anzeige der Firmenveränderung aufgesetzt, Herr Doktor; – muß sofort gedruckt werden.“

„Was?“ fragte Maiberg, „ist durch das Testament die Hütte etwa in andere Hände – –“

Ueber die Züge des alten Herrn blitzte es wie ein Sonnenstrahl durch trübe Wolken.

„Wir werden fortan zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘. – Nun, wer ist diese Nachfolgerin, Herr Doktor? Unser Kind ist’s! Hätten Sie sie gesehen, wie sie vor dem Notar stand und ganz einfach und bestimmt sagte: ‚Ich bleibe hier!‘ rief sie. Da liegt Charakter drin, Selbständigkeit, das ist die echte Frey, und glauben Sie mir, das will etwas heißen für unser Geschäft.“

„So? Frau Antje wird Chef?“

„Frau Antje ist Chef! –“

„Können Sie mir nicht sagen, wo Jussnitz zu finden ist?“ fragte Maiberg.

„Herr Jussnitz? Hm! Es waren gerade keine angenehmen Dinge, die für ihn in dem Testamente standen. – Na, er konnte nichts anderes erwarten, Herr Doktor, die Selige hat kaum sterben können vor Sorge um seinetwillen. Aber Sie wollen wissen, wo er ist? Meine Zeit, wo wird so ein Herr sein? Spazieren gegangen wird er sein, Stimmungen und Beleuchtungen studieren, im Walde, am Fluß hinauf, ich weiß es nicht, denke es aber.“ Und wieder griff er zu dem Entwurf. „Wir werden künftig zeichnen ‚Christoph Gottlob Freys Nachfolgerin‘!“

Maiberg nickte dem alten Herrn zu; es war ihm plötzlich eingefallen, Jussnitz könnte in der Kinderstube sein. Immer zwei Stufen mit einem Male nehmend, erstieg er die Treppe und pochte bald darauf an die Thür, hinter der er die Kleine und Hilde von Zweidorf wußte.

„Herein!“ scholl es leise, und er öffnete. Es war beinahe finster in dem Zimmer, wenigstens erschien es ihm so, da er von dem erleuchteten Flur kam.

„Sind Sie hier, Fräulein von Zweidorf?“

„Ja!“ scholl es aus der Sofaecke, „treten Sie leise auf, die Kleine schläft.“

„Und was thun Sie in dieser Dämmerung?“

„Ich gräme mich – ich will fort!“ antwortete sie in ihrer abweisenden Art.

„Wohin?“

„Irgend wohin, nur fort von hier!“

„Es hält Sie ja niemand,“ sagte er.

„Nein – aber ich kann ja nicht, wie ich will. Bitten Sie Frau Jussnitz, daß sie mich reisen läßt.“

„Irgend wohin!“ sprach er leise; es klang so traurig. „Wissen Sie,“ fragte er dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, „wissen Sie auch, daß Frau Jussnitz hier bleiben wird für immer?“

[264] „Für immer?“ klang es ungläubig. „Und was sagt er dazu?“

„Er?“

„Ja – er!“

„Er bleibt nicht hier!“

Maiberg hörte plötzlich ein schweres banges Athmen. „Und wo bleibt er?“ fragte ihre Stimme fast heiser.

„Irgendwo!“ erwiderte er.

Sie schnellte von dem Sofa empor, und als sie sich vorbog, erkannte er trotz der tiefen Dämmerung die unnatürlich erweiterten angstvollen Augen des jungen Mädchens. „Was wollen Sie damit sagen?“ stieß sie hervor und faßte mit bebender Hand nach seinem Arm.

„Daß sich zwei Menschen trennen wollen für alle Ewigkeit!“

Sie sank zurück mit einem wimmernden Schrei: „Um mich! Um mich!“

Maiberg betrachtete sie bewegungslos. Also doch! – Ein erschütterndes Schluchzen packte das Mädchen; sie weinte, wie nur ein Kind weinen kann, herzzerreißend, jammervoll, wie ein hart bestraftes Kind, dessen Ehrgefühl aufs tiefste getroffen ist. Und auf einmal lag vor dem Manne eine schlanke junge Gestalt auf den Knieen, ein Paar heißer fiebernder Hände faßte die seinen und unter Schluchzen kamen die Worte hervor: „Ich hab’s mir ja nicht überlegt, was ich that, ich wollte ja nur – – Denken Sie nicht schlecht von mir – ich – ach Gott, ich kann es nicht sagen – – Bitten Sie, daß Frau Jussnitz mich anhört – bei Gott, ich – –“ das andere erstarb im Weinen.

Er hielt die bebenden kleinen Hände fest; ihre feuchte Wange lag auf seiner Rechten; er hatte nicht das Herz, sie fortzuweisen.

„Hilde, Sie lieben ihn, nicht wahr?“

„Ja – ich hatte ihn einmal lieb, damals, als er mich in seinem Stadtatelier malte, als ich noch nicht wußte, daß er verheirathet sei. Es war so schön – ach, und ich bin so unglücklich gewesen, als ich es erfuhr –“

„Und jetzt?“

Sie antwortete nicht, sie schüttelte nur heftig den Kopf.

„Sie haben gespielt mit ihm, gnädiges Fräulein; mit eigenen Augen habe ich es gesehen.“

Eine Weile blieb es still. „Ja!“ sagte sie dann.

„Sie mußten sich doch klar machen, daß – – aber Sie haben nicht gewußt, was Sie thaten, nicht wahr?“

„Doch!“ klang es so leise wie ein Hauch.

„Ich bitte Sie – that Ihnen die Frau nicht leid?“

„Nein!“ erwiderte sie. „Ich dachte, es sei wahr, was sie alle sagten, daß sie außer ihrer Wirthschaft für gar nichts Sinn habe. Sie war doch auch immer so anders als die andern! – Ach, mein Leben gäbe ich, hätte ich ihn nie gesehen!“ Und wieder begann sie zu weinen.

Eine wunderliche Rührung bemächtigte sich Maibergs. Er mußte an den Blick denken, mit dem sie an jenem Weihnachtsabend bei Barrenberg wie hilfesuchend seinen Arm erfaßt hatte. „Armes, kleines, dummes Mädel!“ murmelte er.

„Wie sagen Sie? Um Gotteswillen, Herr Doktor, was soll ich beginnen? Man wird fragen, weshalb sie sich trennen – großer Gott – und wenn mein Name dabei genannt würde! Lieber Herr Doktor, der Vater schießt mich todt, der Vater ist so furchtbar streng in solchen Dingen und – er hat recht.“

„Ihr Vater liebt Sie eben sehr.“

„Ja, ja,“ betheuerte sie heftig, „er liebt mich und er ist so gut, und ehe ich vor ihm stehe und seine Augen auf mich gerichtet sehe voll Vorwurf und Kummer, möchte ich lieber sterben – es ist auch das Beste für mich!“

Ihr Kopf sank wieder auf seine Hand und abermals fühlte er die rinnenden Thränen.

„Wird man mir etwas nachsagen dürfen? – Ich that ja unrecht, aber ich war doch nicht schlecht, lieber Herr Doktor,“ schluchzte sie.

„Es wird wohl kaum ausbleiben,“ bemerke er ruhig.

Sie hörte auf zu schluchzen in starrem Schreck. „Aber warum nahm sie mich mit hierher, warum jagte sie mich nicht fort?“ sagte sie endlich.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Weil Frau Antje eine edle vornehme Natur ist,“ sprach er langsam, „weil sie die keiner Nachrede aussetzen will, die einst an ihre Stelle treten wird. Haben Sie das nicht herausgefühlt?“

Ein leiser Schrei erklang; Hilde war jäh aufgesprungen. „Ich – an ihre Stelle? O niemals, niemals! Von dem Augenblick an, wo ich erfuhr, daß es eine Frau Jussnitz giebt, habe ich ihn“ – sie rang nach einem passenden Ausdruck – „zuerst gehaßt! Nein – doch nicht – zuerst – das weiß ich nicht, es war so schrecklich – dann gehaßt, gehaßt, so sehr ich konnte – und jetzt – –“

„Hilde!“ klang es vorwurfsvoll.

Sie blieb eine Weile still, nur ihr hastiges Athmen war hörbar.

„Ich will mit ihr sprechen,“ sagte sie endlich entschlossen, „und dann will ich fort, weit fort – nach England – noch weiter, nach Amerika!“ Und als ob ihr plötzlich etwas einfalle, fügte sie hinzu: „Geben Sie mir eine Empfehlung nach Brasilien, Sie waren ja so lange dort.“

„Und was wollen Sie in Brasilien?“ fragte er mild wie ein Vater.

„Mein Brot verdienen! – Es gehen doch so viele in die Fremde.“

Er lächelte und meinte: „Vorerst bleiben Sie hier; es ist das einzige, was Sie jetzt thun können; andern Rath vermag ich Ihnen nicht zu geben. Ich werde mit Frau Antje sprechen, nicht Sie, aber gegenwärtig ist nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Und nun gute Nacht, gnädiges Fräulein,“ – er war plötzlich wieder sehr förmlich – „geben Sie sich Mühe, ruhiger zu werden.“

Als er die Thür geöffnet hatte, um hinauszugehen, wandte er sich noch einmal um, und in dem hellen Schein, der von draußen hereinquoll, sah er Hilde stehen: die wunderschönen Augen hingen an ihm mit einem so hilflosen, verzweifelten Ausdruck, und das Haar fiel ihr in losen Strähnen um das verweinte Gesicht.

Er erschrak. „Kopf hoch, Fräulein Hilde!“ sagte er ernsthaft; aber das Herz klopfte ihm plötzlich stark, er hätte das dumme kleine Mädel, das in seiner Leidenschaftlichkeit so heilloses Zeug anrichtete, am liebsten in heller Angst an seine Brust gezogen und gesagt, er ängstige sich um sie. Dann jedoch fühlte er auf einmal, daß er da allzu lange stand, und so grüßte er zu ihr hinüber und machte die Thür zu, viel ungestümer, als man die Thür einer Stube schließt, in der ein Kind schläft.

Draußen nahm sein Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck an. Alter Freund, tadelte er sich, mach keine Geschichten! Es ist gar nicht – aber auch rein gar nicht das, was Du suchst, verstanden? Sei vernünftig, richte Deine Bestellung an Leo aus und denke daran, Deinen Koffer zu packen, hier kann Deines Bleibens nicht sein!

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 17, S. 286–290

[286] Maiberg klopfte an Leos Zimmerthür. „Herein!“ schallte es, und er trat über die Schwelle. Auf seinen „guten Abend!“ erhielt er eine etwas ironische Verbeugung. Leo stak in einem Flauschrock und auf dem Tische vor der Lampe stand ein großes Glas, noch zur Hälfte mit heißem Grog gefüllt. In der Ecke lag ein Haufen nasser Kleider, eine Wasserspur zog sich über die weißen Dielen bis zu jenen Kleidern.

„Was ist das?“ fragte Maiberg.

„Wasser, reines Wasser aus dem Bache draußen,“

„Hattest Du Unglück? Bist Du über das Brett hinter dem Wehr gegangen, oder --?“

„Das Unglück hatte ich wohl nicht, aber ein anderes, das mittelbar auch mit jenem Brett in Verbindung steht. Ich hoffe, Du beginnst Deine Vertrauensstellung bei der neuen Herrin von „Gottessegen“ mit einem guten Werke und bestehst darauf, daß jenes verwünschte Brett fortgenommen wird. Betrunkene oder solche, die an Schwindel leiden, können dasselbe unmöglich ohne Gefahr überschreiten. Als künftiger Hüttenäskulap hast Du ja so wie so die Verpflichtung, für das leibliche Wohl Deiner Anvertrauten zu sorgen. Ich irre mich doch nicht, wenn ich annehme, daß Deine endlose Unterredung mit dem Chef des Anwesens heute nachmittag dieser Angelegenheit gegolten hat? Ich wüßte in der That [287] sonst nicht, was Du Wichtiges mit ihm zu reden gehabt hättest. Die Frau Bergrath ruhen ja nun bereits von ihren Thaten und brauchen Deine Hilfe nicht mehr.“

Maiberg hatte während dieser Reden den Freund, der wie ein gefangener Löwe auf- und abschritt, schweigend mit den Augen verfolgt, mit Augen, die, je heftiger er sprach, desto besorgter blickten.

„Leo,“ sagte er endlich, „willst Du Dich nicht setzen?“

„Es ist sehr gütig von Dir, daß Du mich in diesen Räumen aufforderst, Platz zu nehmen, es stimmt so nett mit Deiner vorhin erwähnten Vertrauensstellung.“

Maiberg überhörte die Anzüglichkeit und rückte einen Stuhl Leo gegenüber, der sich ins Sofa geworfen hatte, und sich selbst niedersetzend, sagte er: „Ich habe mit Dir zu reden, Leo. Bitte, denke, es sei wie früher, wo Du mir noch keine Gehässigkeit, sondern Vertrauen entgegen brachtest.“

„Kommst Du vielleicht im Auftrage meiner Frau?“

„Ja, Leo; und nun sei einmal wieder der logisch denkende, mild urtheilende und gerechte Mensch wie früher.“

„Du hältst mich, wie es scheint, für angehend geistesschwach!“

Maiberg antwortete nicht darauf. Er sagte nur ganz einfach: „Deine Frau läßt Dich ersuchen, Oberrode zu verlassen, da sie sich augenblicklich außer Stande fühlt, diejenigen Entschließungen zu treffen, die Euer leider so schwer getrübtes Verhältniß verlangt. Sie bittet Dich, Du möchtest Dich damit gedulden, bis die erste Trauer um ihre Mutter vorüber sei.“

Leo Jussnitz sah eine Sekunde lang den Sprechenden starr an, dann brach er in ein lautes krampfhaftes Lachen aus.

„Ich möchte Dir rathen, Leo,“ fuhr Maiberg unbeirrt fort, „thue ihr den Willen. So wie Ihr beide seid, Du überreizt, sie von geradezu starrer Entschlossenheit – ist es besser, Ihr geht Euch aus dem Wege. Laßt einige Zeit darüber verstreichen, vielleicht, wer weiß es, kann noch ein Weg sich aufthun zum Bessern.“

Leo war still geworden. „Also deshalb bekam ich auf meine unterthänigste Anfrage um eine gnädige Audienz bei ihr eine so kurz ablehnende Antwort,“ sagte er dann, „sie will mich nicht sehen! Sie hat recht, es ist besser, ich gehe!“

„Allerdings, sie will nicht, Leo.“

Jussnitz erhob sich und begann von neuem seine Wanderung durch das Zimmer. Maiberg blieb sitzen und spielte mit den Fransen der Tischdecke; er mochte des Mannes blasses Gesicht nicht ansehen, der ihm der liebste Jugendfreund gewesen war. Er wußte, daß jetzt irgend ein leidenschaftlicher Auftritt kommen werde; er kannte ja diesen Charakter so genau.

„Vielleicht machst Du einstweilen die schon längst geplante Reise nach Italien, Leo?“ begann er abermals.

„Wie schön Ihr das alles überlegt habt!“ klang es zurück; „warum bringst Du mich nicht gleich auf ein Auswandererschiff, wohin man sonst mißliebige Personen abzuschieben pflegt? Ihr habt auch wohl die Summe schon bestimmt, die es mir ermöglicht, drüben ‚irgend etwas‘ anzufangen – he?“

„Der Vorschlag mit Italien ging von mir aus, Leo,“ sagte Maiberg; „Deine Frau hat keinerlei Bestimmungen über Dich zu treffen versucht.“

Der erregte Mann hielt plötzlich vor dem Freund seine Schritte an; auf seiner Stirn ringelte sich eine kleine blaue Ader, der Athem ging ihm mühsam aus und ein.

„Wolf“, fing er langsam an, sich im Weitersprechen bis zur schreienden Heftigkeit steigernd, „Wolf, was habe ich Dir geschrieben damals? Habe ich zuviel gesagt von dieser Frau? Sie ist kleinlich, sie ist thorhaft, sie ist rachsüchtig, rachsüchtig bis zum äußersten und – die ist die Frau eines Künstlers geworden, die – –“ Und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und lachte.

„Leo!“ mahnte der Freund.

„Schweig!“ rief der gereizte fiebernde Mann, „ich werde es wohl besser wissen als Du! Weißt Du, was sie dazu treibt, sich hier vergraben zu wollen? Das ist allem voran die Eifersucht, die erbärmlichste, kleinlichste Eifersucht! Sie will mich zwingen, in dieser Einsamkeit zu leben, weil hier schwerlich ein weibliches Wesen auftauchen wird, von dem sie in Schatten gestellt zu werden fürchtet. Zweitens – ihr ganz gewöhnlicher Kramersinn; sie denkt Groschen zu sparen wie ihre Mutter. Hier kann man ja mit dem besten Willen keinen Dreier verschwenden. Lehre Du mich etwa die Gesinnungen kennen, die unter diesem Dache wohnen! Und hier habe ich mir die Gefährtin meines Lebens gesucht und gedacht, wenn sie sich selbst hingiebt, was kann’s ihr auf die lumpigen Groschen ankommen! Ich habe an innige, herzliche Gemeinschaft geglaubt, Wolf – ach, es ist zu erbärmlich! Warum war ich auch damals ein so jammervoller Schütze! Mag sie hier bleiben in des Teufels Namen und ihre Geldsäcke wie ein Drache hüten – –. Macht was Ihr wollt – aber laßt mich fort von hier, nur fort!“

Maiberg hatte ihn austoben lassen; auch jetzt unterdrückte er jeden Beschwichtigungsversuch; die Vertheidigung der jungen Frau hatte ja nur Oel in die Flammen gegossen.

„Wenn Du erlaubst, Leo, so begleite ich Dich.“

„Sehr verbunden! Bemühe Dich nicht, Du wirst hier auch schwerlich zu entbehren sein.“

„Ich habe hier nichts mehr zu thun, Leo. Ich würde so wie so morgen früh abgereist sein.“

„Reise, wohin Du willst!“

„Gewiß! – Darf ich noch eine Frage an Dich richten, Leo?“

„Es fragt sich nur, ob ich sie beantworte.“

„Was hast Du Dir eigentlich dabei gedacht, als Du Dich Hildegard von Zweidorf –“

Der Maler blieb stehen und schöpfte tief Athem. „Hilde?“ stieß er hervor, „auch ein Opfer kleinlicher Gesinnungen! Hergeschleppt, in die Kinderstube gepfercht! – Einem Geschöpf, das wie der Adler in die Lüfte steigen möchte, die Flügel zu verschneiden, das ist die Kunst der sogenannten braven, verständigen, tugendhaften Hausfrau. Vielleicht hat sie einen Posten für sie als Buchhalterin im Kontor, oder in der Küche. – Das arme Ding ist ja wehrlos in ihre Macht gegeben, denn sie hat uns belauscht, als ich dem Mädchen, in der Angst, das einzige bald hergeben zu müssen, was noch etwas Sonnenschein um mich verbreitete, ein klein wenig feuriger die Hand küßte, als es just Mode ist. Das – – aber bah! Es ist ja so gleichgültig – ich kann ihr jetzt nicht helfen, jetzt nicht.“

Und plötzlich ringelte sich die blaue Ader wieder blitzschnell auf seiner Stirn.

„Was hast Du für einen Ausdruck in Deinem Gesicht!“ schrie er den Freund an. „Thue mir den einzigen Gefallen und verlaß mich – ich will keinen von Euch mehr sehen, keinen – verstanden? Aber sage meiner Frau, daß ich gern gehe, daß ich mit Vergnügen in eine Trennung willige, daß ich mich von diesem Augenblick an als frei betrachte und nur bedaure, daß ich nicht bei Heller und Pfennig das wiederzuerstatten vermag, was sie ihre Thorheit, mich zu heirathen, gekostet hat! Sie findet vielleicht als zweiten einen Pfennigfuchser, der ihr wieder einbringt, was sie durch den ersten verlor – ich wünsche es ihr von Herzen.“

Er warf den Flausch ab, riß einen Rock vom Nagel, nahm einen Ueberzieher vom Stuhl und den Hut; es war ein breitrandiger Filzhut, der von Nässe triefte.

„Um Gotteswillen, Leo, wo willst Du hin? Mensch, so verliere doch nicht gleich den Kopf!“

Aber Jussnitz zuckte nur die Schultern und schritt aus der Thür.

Maiberg eilte in sein Zimmer, um Pelz und Hut zu holen, er durfte ihn so nicht gehen lassen.

Leo stürmte den Gang entlang; er war bereits auf der obersten Treppenstufe angelangt, da wandte er sich nach kurzem Zögern um und schritt rasch zurück, der Kinderstube zu. Ein kurzes Pochen gegen die Thür, ein Druck auf die Klinke, – und ohne eine Aufforderung zum Eintritt abzuwarten, stand er drinnen.

„Wer ist da?“ fragte Hilde.

„Ich – Leo Jussnitz!“ antwortete eine Stimme, die sie kaum wiedererkannte, so heiser war sie.

Das junge Mädchen sprang empor und stieß einen leisen Schrei aus. „Sie?“

„Allerdings! Ich könnte ja sagen, ich wollte Abschied nehmen von der Kleinen; aber wozu eine Unwahrheit – ich will Ihnen Lebewohl sagen, will Ihnen sagen, wie sehr ich bedaure, daß – will Sie um Verzeihung bitten, Hilde – –“

Sie hatte mit zitternden Händen ein Licht angezündet. Nun sah er ihr verweintes Gesicht und ihre zornig blitzenden Augen. „Ich erinnere mich nicht, Herr Jussnitz, daß ich Ihnen irgend etwas zu vergeben hätte,“ erwiderte sie sehr kühl. „Sie verwechseln vermutlich die Adresse Ihrer Bitte und wollten dieselbe Ihrer Frau Gemahlin vortragen?“

[288] Er sah sie erstaunt an. „Man hat Sie ja trefflich dressirt,“ sagte er dann, „nur müssen Sie nicht denken, daß ich diese hoheitsvolle Zurückweisung ernst nehme.“

„Warum nicht?“

„Weil Ihre Augen mir noch vor ein paar Tagen ganz andere Dinge sagten.“

Eine dunkle Röthe färbte ihr Gesicht, und die kleinen Hände ballten sich; der Stolz, die Beschämung raubten ihr fast die Besinnung. „Meine Augen? Meine Augen haben und hatten Ihnen nie etwas zu sagen!“ rief sie heftig.

„Nichts – gar nichts?“ klang es spöttisch.

Sie athmete rasch, die Thränen perlten über ihre Wangen. Um jeden Preis wollte sie ihm jetzt und für immer die Meinung nehmen, als hege sie ein Interesse für ihn oder habe jemals ein solches für ihn gehegt. „Sie waren mir stets sehr gleichgültig!“ stieß sie hervor.

Er lachte kurz auf und verbeugte sich. „Wozu denn die leidenschaftliche Betheuerung? Alterieren Sie sich nicht!“ sagte er, „ich glaube Ihnen ja, Hilde, wenn Sie es so wollen – mein Wort darauf, ich glaube es Ihnen, bis Sie –“

„Aber es ist so, es ist wirklich so!“ unterbrach sie ihn.

„Ich bin überzeugt davon,“ sprach er sarkastisch, „es liegen ja beinah acht Tage zwischen jenem Abend in Sibyllenburg und heute. Sie erinnern sich allerdings daran nicht mehr. Man hat mich Ihnen als einen furchtbaren Menschen geschildert, dem nichts in der Welt heilig ist; man hat Ihnen etwas von Moral, von Weltordnung und Sitte vorgepredigt und – Sie sind ein gutes folgsames Kind. Es ist recht von Ihnen; ich wünsche Ihnen zur Belohnung für Ihr Einsehen alles Gute und Schöne. Leben Sie wohl!“

„Matt hat gar nichts über Sie gesprochen, man hat mir keinerlei Lehren gegeben!“ rief das Mädchen außer sich, „und wenn Sie denn die Wahrheit erfahren wollen, ich ließ meine Augen mit Bewußtsein lügen, um mich zu rächen an Ihnen. Es war eine Laune, eine Tollheit, wenn Sie wollen, von mir, denn was gehen Sie mich an? Ich liebe einen andern schon lange, schon lange. So, nun wissen Sie es!“

Er hob den Hut auf, der ihm entfallen war. Die Kerze warf flackernde Streiflichter über sein blasses zuckendes Gesicht und über das Mädchen, das, beide Hände vor das Antlitz geschlagen, ihm den Rücken zugewandt hatte, bebend am ganzen Körper.

„Einen andern, Hilde?“ fragte er.

Sie nickte schluchzend.

„Maiberg?“ sagte er und, als sie nicht antwortete, „natürlich Maiberg!“

Er lachte plötzlich laut auf.

„Nun dann – Glück zu, Hilde! Leben Sie wohl! Ich – man erfährt doch zuweilen noch Ueberraschungen. – Also, meinen ergebensten Glückwunsch!“

Das wurde alles unter dem nämlichen lauten Lachen herausgestoßen, das unheimlich wiederklang von den Wänden des Hauses, aus dem heute eine Todte getragen worden war. So lachend verließ er das Zimmer, in dem das erschreckte Weinen des Kindes sich mischte mit dem Schluchzen des jungen Mädchens, und so lachend ging er den Gang hinab und trat auf die Treppe.

Dort kam Maiberg hastig die Stufen herauf. „Ich suchte Dich überall, Leo.“

Das Lachen des Mannes verstummte; er maß den Freund von oben bis unten.

„Bist doch ein verteufelter Kerl, Maiberg,“ rief er, „aber ich gönne Dir Dein Glück, ich habe nie zu den mißgünstigen Leuten gehört; ich bedaure Dich nur um die Qual der Wahl! – Na, leb wohl, bemühe Dich nicht um mich, man könnte Dich hier vermissen, es giebt viele Thränen zu trocknen in schönen Augen.“

Er wollte an dem Freund vorüber schreiten, da schallte ihnen aus dem Hausflur ein Gewirr von Stimmen entgegen; ein kreischendes Weiberorgan übertönte alle diese Laute. In dem halb erleuchteten mächtigen Flur hatte sich ein Häuflein Menschen um ein armseliges Weib versammelt, das, jemehr es zur Ruhe verwiesen wurde, um so lauter schrie.

„Wer ihn aus dem Wasser zog,“ zeterte sie, „der mag ihm auch gleich das Geld für seinen Schnaps dazu schenken, ohne den er mal nicht leben kann!“

Leo blieb mitten auf der Treppe stehen. „Da siehst Du es, Wolf, mein gewöhnliches Pech. Ich falle selbst mit den Unternehmungen herein, für die ich mein Leben einsetze!“

„Herr!“ schrie die Frau, als sie Leo erblickte, „auf den Knieen wollt ich’s Euch danken, hättet Ihr den Menschen ertrinken lassen; es wäre das beste für ihn gewesen und – ich – ich hätte doch noch ein paar menschliche Jahre haben können auf dieser Welt. Lachen Sie nicht,“ fuhr die Frau auf, als Leo wieder kurz auflachte, „Sie alle, die hier stehen, wissen nicht, was es heißt, seit dem achtzehnten Jahre an einen Lüderjahn gekettet zu sein! Sie kennen den Kummer nicht, wenn man einen Menschen verkommen sieht in Laster und Schande, dem man gut ist; Sie wissen nicht, wie es thut, wenn man seine sauer erarbeiteten Groschen hergeben muß, damit sie in schlechter Gesellschaft vertrunken werden; wie es thut, wenn man gute Worte giebt und Schläge dafür kriegt, immer Schläge und Scheltreden, daß man der Fluch eines Menschen sein soll, dem man am liebsten die Hände unter die Füße gebreitet hätte! Sie wissen nicht, wie gräßlich es ist, wenn man einmal bessere Tage gesehen hat und dann tiefer und tiefer versinkt in Schmutz und Elend und seine Kinder nicht retten kann davor!“ Und sie ballte die Fäuste vor dem Gesicht.

„Und wozu,“ fragte Leos Stimme spöttisch, „spielen Sie uns hier diese Scene, Sie liebenswürdigste aller Gattinnen? Machen Sie, daß Sie hinaus kommen! – Ja so,“ unterbrach er sich, „ich vergaß –“

Die Frau schlug dumpfstöhnend das zerrissene Tuch vor ihr Gesicht.

„Ach Herr,“ schluchzte sie, „ich sollte wohl danken, daß Sie Ihr Leben gewagt haben um den elenden Menschen, und ich kann ’s doch nicht. Denken Sie nicht, daß ich ein schlechtes Weib bin; zu gut bin ich gewesen, zu lieb habe ich ihn gehabt. Es taugt nicht, wenn eine aus purer Liebe alles hingehen läßt, auch das, was sie für Unrecht erkennt. Hätte ich ihm von anfang an ins Gewissen geredet, hätte ich ihm gedroht, ich wollte fort von ihm, es stände besser um uns. Aber ich hab’ gemeint, es könnte ihn verdrießen und er sei der Herr, und da hab’ ich nur heimlich für mich geweint, und es wäre doch meine Pflicht gewesen, ihn auf die rechte Bahn zu leiten!“

Die Selbstanklage der armseligen Person klang so wahr, so erschütternd, daß keiner der Anwesenden Gewalt gegen sie gebrauchen mochte.

Maiberg beeilte sich, in die zitternde Hand des Weibes ein paar Geldstücke zu legen. „So, nun gehen Sie aber,“ sagte er, indem er sie der Thür zudrängte, „nachher komme ich und rede weiter mit Ihnen.“

„Gott vergelt’s! Gott vergelt’s!“ rief die Armselige, und an der Hausthür wandte sie sich noch einmal und nickte dankend mit dem wachsgelben kummervollen Antlitz dem jungen Arzte zu. Dann war sie mit Blitzesschnelle in die Nacht verschwunden, als fürchte sie, der Schatz werde ihr wieder abgenommen, verschwunden, um dem armseligen Kerl, den sie liebte, das ersehnte Labsal zu verschaffen.

Antje stand ungesehen von allen auf der Schwelle des kleinen Arbeitszimmers, dessen Eingang durch den Schatten der Treppe verdeckt wurde. Ihre Augen hingen an dem Mann, der sie in dieser Minute verlassen sollte auf immer. Sie hatte den Auftritt mit angehört und verstanden, daß Leo einen Menschen aus dem Wasser gerettet hatte; ihr Herz klopfte bei dem Gedanken, wie leicht er selbst hätte ertrinken können, und es war ihr, als lege sich die That des Mannes wie lindernd auf die Wunde, die er ihr geschlagen.

Er war weitergeschritten in dem Hausflur; die Herrschaften des Trauergeleites, die sich vom Abendessen erhoben hatten, als der Lärm begann, die Dienstmädchen, Hausknecht und Kutscher hatten sich wieder entfernt, nur Maiberg, Jussnitz und ein Herr aus dem Kontor sprachen noch miteinander. Antje sah, wie letzterer Leo einen Brief und eine Depesche überreichte, sie sah, wie er beides gezwungen nachlässig in der Tasche barg, und hörte, wie er sagte: „Meine Adresse werde ich Ihnen in einigen Tagen angeben.“

Nun schritt er neben Maiberg dem Ausgange zu.

Die junge Frau hielt sich an dem Pfosten der Thür, ihre Augen waren unheimlich groß und starr. Man nimmt nicht [290] Abschied voneinander, wenn man sich so trennt, es wäre ja auch nicht zu ertragen. Sie sah, wie sich die Thür aufthat, sie fühlte die kalte Regenluft, die bis zu ihr herüberdrang, sah die Pforte sich wieder schließen, und nun war er fort.

Ihre Füße wollten sie auf einmal nicht mehr tragen; sie taumelte zurück in das kleine Stübchen, und dicht hinter der mit letzter Kraftanstrengung geschlossenen Thür sank sie in die Kniee.

Nun war es vorüber – vorüber!

Sie fühlte nichts als einen dumpfen Schmerz in Brust und Kopf. Wie lange sie so dalag, sie wußte es nicht; sie raffte sich endlich auf und schleppte sich zu dem Schreibtisch hinüber und legte den Kopf auf die tuchbezogene Platte.

Sie dachte, dachte lauter wirres Zeug; daß sie das Weib beneidete, welches jetzt dem Manne ihres Herzens den Betäubungstrank reichen durfte, daß Leo hätte ertrinken können bei dem Rettungswerk und wie sie es hätte ertragen sollen, an seiner Leiche zu stehen, ohne ein versöhnendes Wort gesprochen zu haben. Und sie dachte, daß das arme Weib besser wäre als sie, hatte es doch ausgehalten in Noth und Elend neben dem Manne, dem es Treue gelobt!

Und dann fuhr sie empor. Nein! Und tausendmal nein! Sie konnte nicht anders, sie durfte ihn nicht halten, sie war ja eine Ketteseine Kette, und keine Minute würde ihr vergehen neben ihm, ohne daß sie es hätte fühlen müssen, wie er unglücklich war durch sie, gefesselt, zu Boden gedrückt! Nein, nein! Es war alles zu Ende, mußte zu Ende sein!

Draußen erklangen leise Schritte; vor Antjes Thür machten sie halt. „Frau Jussnitz!“ sagte eine klare Stimme.

Sie rührte sich nicht.

„Ein Wort nur, Frau Jussnitz; bitte! bitte!“

Antje hielt den Athem an und schaute finster nach der Thür. Leise bewegte sich die Klinke – umsonst, sie war verschlossen und zögernd entfernten sich die Schritte wieder.

Sie stützte wieder den müden Kopf in die Hand. Endlich raffte sie sich auf und klingelte dem Stubenmädchen. Dieses trat ein mit der Frage, ob Fräulein von Zweidorf vielleicht hier sei.

„Nein!“

„Lieber Gott, wir suchen sie im ganzen Hause und auf der ganzen Hütte wie eine Stecknadel. Und der Herr ist fort und der Herr Doktor dazu!“

Die junge Frau antwortete nicht. In völliger Ruhe befahl sie dem Mädchen, nach dem Kinde zu sehen, und schritt die Treppe hinunter. Im Hausflur trat ihr Maiberg entgegen.

„Wo kommen Sie her?“ fragte sie.

„Von dem unglücklich geretteten Schnapsbruder,“ erwiderte er mit einem Anflug von Galgenhumor. „Er ist soeben unter meinen Augen gestorben, der Wunsch der Frau also erfüllt. Uebrigens habe ich nie einen derartigen Schmerzensausbruch gesehen wie bei dem armen Geschöpf, als ich ihr sagte, es sei alles vorüber.“

Antje nickte eigenthümlich. „Und wo ist er?“ fragte sie endlich.

Maiberg seufzte.

„Leo wollte auf mich warten vor dem Hause, in welchem der Todte lag; als ich zurückkam, war er fort. Einer der Hüttenarbeiter hatte ihn auf der Chaussee gesehen. Ich will mir nun ein Pferd satteln lassen und ihm nachreiten; ich versprach es ihm.“

Sie sah ihn nicht an. „Und wo ist sie?“ fragte sie nun.

„Wer?“

„Hildegard. Wir suchen sie überall.“ Dann wandte sie sich um und reichte ihrem Vetter die Hand, der hinzugetreten war, um sich zu verabschieden.

„Cousine, wann Du willst, verfüge über mich!“ sagte er.

„Ich danke Dir! Fährst Du nach J. hinunter?“

„Nein, über Oberrode durch die Klippen.“

Sie nickte ihm müde zu. „Komm gut heim, Ferdinand!“

An ihr vorüber eilte Maiberg die Treppe empor, aber das Zimmer Hildegards war leer. – Und die Nacht draußen so finster und stürmisch, und sie so jung, so allein, so unbeschützt! Natürlich, sie war fort, tollköpfig wie immer. Wo wollte sie hin? – –

Er zündete eine Kerze an und suchte nach einem Zettelchen oder irgend etwas, das ihm hätte Aufklärung geben können. Umsonst! Er eilte hinüber in seine Stube; es war ein Eckzimmer. Der Frühjahrssturm klapperte an den Läden, und die Flammensäulen aus den Essen des Werkes leuchteten mit eigenthümlich rothem flackernden Licht herein. Mitten in dem Gemach blieb er stehen und horchte auf das Toben des Windes. Großer Gott, wo war das unbesonnene Kind in dieser unheimlichen Nacht? Er hob den Ueberzieher, den er schon halb von den Schultern gezogen hatte, mit einem einzigen Ruck wieder hinauf; das Pferd mußte bereits vorgeführt sein, auf der Chaussee konnte er sie möglicherweise einholen, sie und – ihn? In höchster Aufregung griff er zu seinem Hut – da regte es sich in dem Winkel am Fenster und eine schlanke Gestalt glitt zu ihm herüber.

„Hilde!“ schrie er auf. In dem zuckenden Flammenschein von draußen sah er das nämliche blasse verzweifelte Gesicht wie vorhin. „Mein Gott – Hilde! Welchen Mißdeutungen setzen Sie sich aus!“ schalt er, als sie schweigend den Kopf senkte.

„Ich fürchtete mich,“ fagte sie leise, „wo sollte ich hin?“

„Und da kommen Sie zu mir?“ – Er hatte den Ueberzieher nun doch abgeworfen und den Hut auf den Tisch geschleudert.

„Zu wem denn sonst?“ fragte sie, als sei es selbstverständlich, daß sie zu ihm flüchte. „Als ich bei Frau Antje pochte, hat sie mir nicht aufgethan.“

Er hatte ihre zitternden Hände gefaßt; eiskalt lagen sie in den seinen. „Zu wem denn sonst?“ wiederholte er leise. Aber als jetzt Schritte auf dem Gange draußen erklangen, zuckte er zusammen und blickte nach der Thür. „Gehen Sie nachher gleich in Ihr Zimmer,“ sagte er flüsternd und ließ sie los.

Sie trat von ihm weg, und ihm den Rücken kehrend, schlug sie die Hände vor das erglühende Gesicht.

„Hilde,“ sprach er mit gedämpfter Stimme weiter, „so vernünftig wird Ihr Tollkopf doch sein, daß Sie sich sagen müssen, man darf Sie hier nicht finden. Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie rasch, jeden Augenblick kann jemand von den Dienstleuten kommen.“

„Mein Gott, was habe ich wieder gethan?“ rief sie, „ach, und wenn Sie alles wüßten! Habe ich denn gar keine Zuflucht mehr? Nichts weiter will ich als fort, nur fort von hier!“

„Ja doch, Sie sollen fort! Nur heute abend geht es nicht mehr, Sie Unverstand!“

„Aber morgen – morgen! Bitte, bitte!“

„Morgen oder übermorgen – jetzt muß ich Jussnitz suchen, kehre jedenfalls noch einmal zurück, und dann – wollen Sie vernünftig sein?“

Sie nickte; sie stand wieder vor ihm, leise weinend.

„Was soll aus Ihnen werden, Hilde, ohne eine treue feste Hand?“ sagte er weich.

„Wenn ich nur anders sein könnte!“ schluchzte sie. Und zum besten Beweis, daß dieses „Anderswerden“ wohl nicht so rasch zu hoffen sei, stürmte sie unbesonnen aus dem Zimmer. Draußen sah sie sich erschreckt nach allen Seiten um wie ein geängstigtes Reh. Gott sei Dank, der Gang war leer! Sie huschte nach ihrer Stube hinüber, schloß geräuschlos die Thür hinter sich und stand hochathmend still. Dann tastete sie sich nach dem Sofa, kauerte sich in eine Ecke und wollte vor Thränen vergehen; aber sie fürchtete sich nicht mehr.

Als sie nach einigen Minuten den Hufschlag eines gäloppirenden Pferdes zwischen dem Tosen des Windes und dem Pochen der Hämmer vernahm, hob sie den Kopf und faltete die Hände.

Gegen Morgen kam Maiberg zurück; er hatte Leo nicht getroffen, weder auf der Bahnstation, noch in den Gasthöfen des benachbarten kleinen Badeortes. Er mußte durch den Wald gegangen sein nach einer andern Bahnstation auf der Südseite des Gebirges.

Todmüde suchte Maiberg sein Lager auf. „Armer thörichter Kerl!“ murmelte er. „Wie kann man so gewaltsam sein Glück verkennen!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 18, S. 303–306

[303] Durch den kahlen Buchenwald raste der Sturm; er schüttelte die Kronen der alten Bäume, daß sie klappernd zusammenschlugen, warf hie und da einen morschen Ast zur Erde, der prasselnd in das Unterholz fiel, und heulte in unglaublichen Tonarten durch die Lüfte.

Es war so ein Wetter, bei dem die Harzleute meinen, der wilde Jäger durchziehe sein Revier mit unheimlichem Gefolge, bei dem man einem Hund nicht zumuthet, draußen zu bleiben, geschweige einem Menschen.

Für den Mann aber, der, die gebahnte Fahrstraße vermeidend, den steilen, noch ganz verschneiten Waldpfad aus dem Hüttengrunde hinaufstieg, schien der Graus nichts Beängstigendes zu haben, er mußte sehr vertraut mit diesen Wegen sein. Hier oben lag noch Schnee, und ein blasser Mondschein verbreitete eine dämmernde Helle über die Gegend; nur zuweilen, wenn die sturmgejagten Wolken vor den Mond traten, verschwamm der Wald zu einer dunklen Masse. Aber es dauerte nicht lange, da hoben sich die schwarzen Stämme der mächtigen Bäume um so greller von dem Schneegrund ab.

Es ist keine Frühlingsnacht, wo der Jäger sich an den Auerhahn schleicht; es ist noch Winter hier oben, und eher eine Nacht, wo der Wilderer hinter den Stämmen lauert und das Raubzeug auf Fang ausgeht. Und hier giebt’s viel Wild. Wenn der Förster in seinem Häuschen auf dem Hochplateau einen Schuß hört, so flucht er in die Kissen hinein und brennt in Gedanken dem lästerlichen Volk eins auf, das ihm für immer das saubere Handwerk legt. Ja, wer sollte sonst auch wohl schießen?

Der Mann, der so rasch daher kam, blieb einen Augenblick stehen und nahm den Hut von der erhitzten Stirn. „Es wäre das Beste!“ sagte er halblaut. – Verpfuscht war sein Leben ohnehin; in allem getäuscht, in allem verfehlt! Selbst das bißchen Treue und Anhänglichkeit, wie es das erbärmlichste Weib für seinen Lebensgefährten hat, war ihm nicht geworden, „Fortgehen“ hieß sie ihn! Wohin, war ihr gleichgültig, nur fort!

0000000000

Von der Hütte „Gottessegen“ bis zum Försterhause hatte man eine und eine halbe Stunde zu gehen, dann mußte aber tüchtig ausgeschritten werden. Die Frau Försterin mit den goldrothen Haaren brauchte stets mehr Zeit zu ihren Gängen nach Oberrode; sie hatte so kleine Füße und trug so zierliche Schuhe. Heute war sie auch drunten gewesen, um dem Begräbniß mit anzuwohnen, eigentlich aber nur, um den Herrn Jussnitz, der sie einmal so prächtig gemalt hatte, daß sie nachher in allen Zeitungen stand, wiederzusehen. Er war dazumal doch ein gar zu lustiger, netter Mensch gewesen. Vorhin in der Dämmerung war sie heimgekehrt und erzählte nun nach der Abendsuppe in der kleinen überheizten Stube ihrem „Alten“, der rauchend auf der Ofenbank saß, wie der Herr Jussnitz sich gar nicht, aber auch gar nicht mehr ähnlich sei, so gleichgültig und so stolz habe er ausgesehen. Dabei tätschelte sie die „Lola“, eine kleine Dachshündin mit klugen Augen und ebenso übermüthigem Wesen wie ihre Herrin und just so röthlich von Farbe wie deren Haar.

Der „Alte“ schüttelte den Kopf. „Ei, das thut mir aber leid, dem ist der Reichthum nicht bekommen.“

„Mir sollte er schon bekommen,“ lachte sie. „Gelt, Lola, wir lernten bald in der Kutsche fahren? Ich thät Dir auch ein himmelblaues Halsband kaufen, das ist unsere Farbe. Lola.“

„Du sollst nicht immer so närrisches Zeug daherpappeln,“ tadelte der ernsthaft dreinschauende Mann mit dem wetterbraunen Gesicht.

„Ach Gott,“ fuhr sie trotzdem fort, „was muß so eine es gut haben wie die Frau Jussnitz!“

„Hättest Dir sollen einen Reichen nehmen.“

„Ja, hätt’ ich sollen – wenn nur das dumme Oberroder Freischießen nicht gewesen wäre!“

Jetzt schmunzelte der Mann.

„Und wenn Du nur nicht Schützenkönig geworden wärst,“ fuhr sie fort; „aber da habe ich mich in Dich vergafft und bin mir vorgekommen, wie ich mit Dir tanzte, als sei ich eine leibhaftige Königin. So dumm! Andern Tages war die ganze Herrlichkeit vorbei.“

„Bloß die Liebe nicht,“ sagte er.

„Ach nun freilich, Du weißt’s!“ schmollte sie.

„Ja. ja,“ meinte er, „wir sind zu rasch mit dem Versprechen bei der Hand gewesen. Wenn ich dazumal gewußt hätte, was für eine Wildkatze ich mir fing, ich hätte Dich laufen lassen.“

„Ach Gott, hättest Du’s doch.“

„Nun, da ist die Thür, lauf noch fort – wird’s bald?“ lachte er und klatschte aufstehend in die Hände, als wenn er Hühner scheuchte.

„Empfehle mich!“ rief sie und war mit einem Sprunge an der Stubenthür. „Komm, Lola!“

Das ganze übrige Hundevolk, das schlafend am Ofen umherlag, wurde durch Lolas Bellen wach und blaffte mit hinein in das Lachen des Mannes und das lustige Schelten der Frau. Er hatte sie um die Taille gefaßt und küßte sie, und zwischen jedem Kuß sagte er. „Lauf doch! Warum bist Du noch nicht fort?“

„Himmlischer Vater, so bring doch die Hunde zur Ruhe!“ schrie sie, „es ist ja um den Verstand zu verlieren!“

Aber die drängten sich an dem Paar vorüber und stürzten zur Hausthür.

„Da ist jemand,“ sagte der Förster und ließ seine Frau los.

Sie ergriff die Lampe und trat auf die Schwelle der Stube. Ihr Mann hatte derweil die Hausthür geöffnet, aber er wich zurück in starrer Verwunderung und aus der Hand der Frau wäre beinahe die Lampe gefallen.

„Herr Jussnitz!“ riefen sie beide. „Meine Güte, bei dem Wetter, und so spät! Was giebt’s denn? Haben Sie sich verlaufen, Herr?“

[304] „Habt Ihr Platz für mich die Nacht?“ fragte er.

„Aber natürlich, Herr Jussnitz!“

„Nun, da gebt mir mein altes Stübchen bis morgen und, wenn’s möglich ist, einen Schnaps, ich klappere vor Kälte.“

Sie führten ihn in die Stube und er setzte sich auf die Ofenbank; die Hunde schnupperten an seinen Kleidern, die Buchenscheite krachten im Verbrennen und „Frau Dorchen“ holte die Flasche mit dem Nordhäuser und das kleine dicke Gläschen aus dem Wandschrank.

Er griff gierig danach und trank. „Ihr habt’s gut hier oben,“ sagte er.

„Wenn ich nur wüßte, warum Sie heute abend hier herauf gekommen sind?“ erkundigte sich die neugierige Frau, „mit der Auerhahnbalz ist’s noch lange nichts bei dem Schnee.“

„Frag’ nicht, mach’ die Stube für den Herrn in Ordnung, heize ein!“ bedeutete der Förster.

Und als sie hinaus war, setzte er sich still in den Lehnstuhl; er hatte gemerkt, daß da etwas nicht geheuer sei mit dem späten Gast. In der Gegend war es ja kein Geheimniß, daß Schwiegermutter und -sohn nicht im besten Einvernehmen gestanden, und Gott mochte wissen, was es bei der Testamentseröffnung gegeben hatte. Dorchen hatte ja erzählt, sie habe gleich nach dem Begräbniß stattfinden sollen.

„Sie sehen aus, als wenn Sie nicht recht wohl wären, Herr Jussnitz.“

„Ist auch der Fall, lieber Wend,“ erwiderte der Angeredete.

„Wird wohl bald fertig sein, die Dore.“

In der That klapperten die Pantoffeln der jungen Frau eben eilig das Treppchen herab. „Wenn’s gefällig ist, Herr Jussnitz,“ rief sie in der Thür.

Er erhob sich und bot dem Förster die Hand: „Gute Nacht, Wend!“

Frau Dora leuchtete ihm die Stiege hinauf. „Es ist lange her, seit Sie hier das letzte Mal geschlafen haben, Herr Jussnitz,“ lachte sie, „bücken Sie sich nur, Sie sind derweilen nicht mehr durch so niedrige Thüren geschlüpft. In Ihrem Schlosse daheim sind sie gewiß so hoch und breit wie unser ganzes Haus – nicht wahr?“

Er war schon drinnen in dem winzigen Raum. Als er sich umwandte, um ihr „Gute Nacht!“ zu sagen, sah er, wie das hübsche Gesicht jäh erblaßt war und wie ihre Hand nach dem Herzen griff. Er verstand sie; sie dachte daran, daß er aus diesem Stübchen weggegangen war, um da draußen im Walde zu „verunglücken“.

„Gute Nacht!“ stotterte sie, „und, Herr Jussnitz, wenn Sie krank werden sollten, wecken Sie uns – Sie wissen, wir schlafen grade unter Ihnen – Sie sehen so erbärmlich aus –“

„Schlaft nur ruhig,“ sagte er, „mir geschieht nichts.“

Sie ging zögernd. Er hörte sie die Treppe hinuntersteigen, und es war ihm, als husche etwas an ihr vorüber, dränge sich durch den Thürspalt und erfülle das Stüblein mit wundersamem Raunen und Klagen – – War es die Erinnerung?

Er setzte sich auf den Rand des Bettes, nachdem er das Licht gelöscht hatte; er sah ja trotz alledem so deutlich in der Mondnacht. Er sah die getünchten Wände und das Spiegelein über der Kommode, hinter dem ein paar Pfauenfedern steckten, er kannte jede der kleinen seltsam verwachsenen Rehkronen daneben, und er sah die Kohlezeichnungen auf den Wänden. die von verschiedenen Meisterhänden herrührten und allerhand launige Jagdabenteuer darstellten; der Förster hütete sie wie die kostbarsten Albumblätter. Leo selbst hatte ja dort die junge Förstersfrau gezeichnet, wie sie keck auf dem Besenstiel nach dem Brocken reitet, die Lola vor sich auf dem Schoß. die den Mond anheult. Wie hatte das lustige Weib gelacht, als sie es sah! Und wie er sie später malte, und wie das Bild ihm gedieh! Und wie in den Frühstückspausen die kleinen Käschen so gut schmeckten und das braune schäumende Bier! Das war doch noch Leben gewesen!

Gleich goldschimmernden Strahlen zieht es vor seinen Augen dahin; er hebt die Hand, er will ihn festhalten, diesen Schimmer – fort – fort – und wieder sitzt er hier in der Dämmerung eines Herbstabends um zwei Jahre später – das Herz leer – der Kopf leer und auch die Taschen! Es will ihm nichts mehr glücken, die Spannkraft versagt, er hat keine Ideale mehr, hat sie verloren in dem Treiben der großen Stadt, in allerhand müßigem Getändel. Er hat Geld gebraucht, viel Geld, hat Schulden und keine Aussicht, sie zu bezahlen, er ist bankerott an Leib und Seele! Und drunten steht der Gewehrschrank des Försters, und im Wald ist weit und breit kein Mensch – –

Er sieht in der Erinnerung deutlich den Strauß, den Frau Dorchen dazumal auf die Kommode gestellt hatte; rothe Ebereschen sind’s gewesen, goldgelbe Blätter und grüne Tannenzweiglein – Er aber ist auf einmal fort, und draußen, weit draußen ist ein Schuß gefallen. – –

Der Mann auf dem Bettrand bebt wie im Fieber. „Nun kommt erst recht das Elend!“ sagt er vor sich hin. – Er sieht sich erwachend in einem fremden Raum, er hört ein merkwürdiges taktmäßiges Pochen und Hämmern, das Lager und die Vorhänge sind schneeweiß, und durch die Fenster bricht Sonnengold. Er athmet Veilchenduft; auf seiner Decke liegt ein Sträußlein der blauen Blüthen, und neben dem Lager in dem tiefen Lehnstuhl ruht im Schlummer ein blonder Mädchenkopf.

Welch ein weiches kindliches Gesicht!

Er tastet nach den Blumen, unbeholfen, ungeschickt, es thut ihm weh in der Brust. Ein leiser Schmerzenslaut läßt das Mädchen erwachen, ein Paar klarer grünlicher Augen, unergründlich wie das Meer selbst, schaut ihn an, und plötzlich überzieht eine Purpurgluth das Gesichtchen; sie springt auf und sagt, sie wolle die Mutter rufen.

Das ganze wohlige Gefühl der Genesung überkommt ihn; die ersten Gehversuche, das entzückende Grün der Bäume, die Frühlingsluft der Berge. alles taucht wieder vor ihm auf – und dann sieht er sich am Arm des Mädchens im Garten. Tiefblau ist der Himmel über ihm und die Sonne scheint schon recht warm auf den Kies der Gartenwege; über das Wehr rauscht und tost das Wasser und auf den Beeten blühen gelb und lila die Krokus. Er weiß selbst nicht, wie es gekommen ist, er hat sie auf einmal gefragt, ob sie sein werden wolle. Und da hat er ein Ja! gehört, ein schüchternes und dennoch festes Ja! –

Leo hatte jetzt wieder das merkwürdige Gefühl, das ihn seitdem nicht mehr verlassen, das Gefühl, welches den Menschen überkommt, wenn er einem andern sich verpflichtet weiß und kann sich nicht erkenntlich genug dafür zeigen. Es ist ein dummes Bewußtsein, es macht reizbar und nervös und ungerecht. Es ist so schwer, Großmuth zu ertragen, furchtbar schwer; man möchte die, denen man sie verdankt, fast hassen, zumal wenn man den Geber in geistiger Beziehung so tief unter sich glaubt, so tief – –

Merkwürdig, je mehr er nahm, desto reizbarer wurde er. Lächerlich! Sie war ja sein Weib, sie hatte ihm tausendmal gesagt: „Was mein ist, ist auch Dein!“ Und dennoch, dennoch! Ja. zum Donnerwetter – – Hatte er denn gar nichts dagegen in die Wagschale geworfen? Seinen Namen, seinen ehrlichen Namen und – nichts weiter. – Wahrhaftig, nichts – nichts! Nicht einmal ein Bild war ihm geglückt, weil – weil sie ihn herabzog in die Prosa des Lebens. Sie trug die Schuld an allem.

Er war nur froh. daß er ihr gesagt, mit aller Rücksichtslosigkeit gesagt hatte, daß sie nichts als seine Kette sei – trotz ihres Reichthums. Das jämmerliche Weib des Schnapssäufers stand über ihr wie eine Heldin; es hatte doch die Kraft gehabt, Treue zu halten trotz allem bis zum Ende. – Er aber war hinausgewiesen!

Er lachte kurz auf.

„Wahrhaftig – folgerichtig gehandelt ist es, daß sie mich entließ, das muß man zugeben; ich hätte es ihr kaum zugetraut. Gott sei Dank!“

Er begann sich zu recken und zu strecken, wie ein von Gefängnißketten Entlasteter, aber er spürte kein wohliges Freiheitsgefühl. Die Freiheit ist nicht frei ohne klingende Münze, und lieber wollte er verhungern. ehe er einen Groschen von dem Almosen nahm, das sie ihm jedenfalls anbieten lassen würde.

Aber wohin? Was nun?

Er fing an, sich zu entkleiden, und nahm gewohnheitsgemäß Brieftasche und Skizzenbuch aus den innern Taschen seines Jacketts. Da war ja auch noch der Brief und die Depesche, die er bei seinem Fortgehen drunten auf der Hütte erhalten hatte; ferner der elegante Taschenrevolver, und hier endlich auch die kleine rothe Schleife, die er seit ungefähr einer Woche bei sich trug. Das dunkle Köpfchen, in dessen Haar diese Schleife gesessen [306] hatte, tauchte vor ihm auf mit entzückender Deutlichkeit. Woher doch zuletzt dieser Zorn, diese Verachtung? „Ja, ich habe meine Augen lügen lassen, weil ich mich rächen wollte an Ihnen!“ Rächen? Wofür? – Weil er ihr seine Huldigungen zu Füßen gelegt hatte? Ah bah! Sie war aufgehetzt von Antje, man hatte verstanden, ihr Angst zu machen. Diese Frau mit dem Gesichtskreis so groß wie eine Untertasse, was verstand sie von geistiger Verwandtschaft, von der Macht, die eine Seele zur andern zwingt? Es war ja alles grob zugehauen bei ihr, ihr ganzes Denken und Empflnden. Kochtopf, Kinderbrei, Geldschrank – eine prachtvolle Zusammenstellung! Fort – fort aus dieser Enge!

Er trat an das Fenster und sah in die Nacht hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, ein leichter silberner Flor wob sich um die Buchen jenseit der Lichtung, auf der die Försterei lag. Er nahm den Brief und hielt ihn dicht vor die Augen, aber er konnte die Schrift nicht lesen; es hatte ja auch keine Eile. „Aber die Depesche – vermuthlich die Mittheilung, daß die Aktien der F. Baubank verkauft sind.“

Er hatte Auftrag dazu gegeben, weil er zufällig gehört hatte, daß es mit dieser Bank nicht ganz geheuer sei. Eigentlich ging ihn das nichts mehr an, aber er hatte doch schließlich die Verpflichtung, das Vermögen seiner Frau in sicherer Anlage zurückzugeben; zusammengeschmolzen war es ohnehin genug. Wäre ihm nicht zuweilen das Glück beim Börsenspiel hold gewesen, so hätte es noch ein wenig schlimmer ausgesehen. Zum Ankauf dieser verflixten Aktien hatte ihn Barrenberg verleitet: die Geschichte müßte ja eine Zukunft haben, hatte der sonst in Geldgeschäften wohl gewandte Freund gemeint.

Leo hielt die Depesche noch uneröffnet in der Hand und betrachtete sie. Er hatte seinerzeit nominell gekauft weit über die Höhe des Kapitals hinaus, das ihm zur Verfügung stand. Donnerwetter, es wäre eklig, wenn er jetzt eine bedeutende Differenz zahlen müßte! Daß er vorhin auch nicht daran gedacht hatte, im Hüttenkontor einen Blick in das Börsenblatt zu thun!

Es rieselte ihm plötzlich eiskalt über den ganzen Körper.

Dann tastete er nach dem Streichholzständer und zündete die kleine dünne Kerze in dem blankgeputzten Messingleuchter an, legte die Depesche zurück und erbrach zuerst den Brief. Er enthielt in ein paar höflich bedauernden Zeilen die Nachricht, daß das Komitee der Ausstellung in Berlin leider sein Bild „Spanische Tänzerin“ wegen Ueberfülle an Einsendungen und zu späten Eintreffens nicht mehr habe annehmen können.

Ueber das Gesicht des Mannes zuckte ein verächtliches Lächeln; er wußte ja genau, welche Phrasen die Herren der Jury bei der Hand haben, wenn es darauf ankommt, ein Bild zurückzuweisen; untereinander nannten sie es: „In die Todtenkammer bringen.“

„Ha, ha, ha!“ Leo lachte noch immer und griff nach der Depesche. „Was wird’s nun geben?“ fragte er laut, indem er das Papier erbrach, und seine Augen richteten sich auf die wenigen blau geschriebenen Worte. In großer eckiger Schrift stand dort:

„Ihre gef. Ordre leider zu spät erhalten. F. Baubank in Konkurs. Defizit groß. Brief folgt.
Kreisler.“ 

Die zitternde Hand ließ das Blatt fallen; das zuckende Flämmchen beleuchtete ein ganz entstelltes Gesicht. Unsicher griff Leo nach dem gefüllten Wasserglase und trank es bis auf den letzten Tropfen in langen gierigen Zügen aus, denn die Zunge klebte ihm am Gaumen. Als er es geleert zurücksetzen wollte, stieß er das Licht um, daß es verlosch, und das Glas zerschellte auf dem Boden. Dann ächzte das Bettgestell und ein dumpfes Stöhnen scholl durch den kleinen Raum. Es drang hinunter bis in die Schlafkammer der Hausleute. Lola, die neben dem Bette der Försterin schlief, hob den Kopf und that einen leisen Blaff, dem ein langes Knurren folgte.

Der Frauenkopf richtete sich in den Kissen empor. „Wirst Du ruhig sein!“ schalt die Herrin leise. Da hörte auch sie das Stöhnen und sprang vom Lager auf. „Alter, sieh nach, was der da oben hat!“

„Hab’ ihn eben auch gehört, will gleich hinauf,“ war die Antwort.

Eine Minute später polterte der Förster mit einem Wachsstock die Treppe hinan und klopfte stark an die Zimmerthür. „Herr Jussnitz, he, wo fehlt’s?“

Keine Antwort.

Wend drückte die Klinke, sie gab nicht nach. „Na, es ist hier doch keine Räuberhöhle!“ brummte her Mann. „Herr Jussnitz!“ schrie er lauter.

Da kamen Schritte herüber, und eine Stimme, die er noch nie gehört zu haben meinte, so fremd und heiser klang sie, sagte von innen:

„Gehen Sie nur, Wend, ich habe schlecht geträumt.“

„Machen Sie ’s Fenster auf,“ rieth der Förster, „die Luft ist zu dumpf in dem Loch, Dorchen wird zu viel geheizt haben. Gute Nacht!“

Der Mann stieg wieder hinunter.

„Na, Du machst immer gleich ein Hallo,“ brummte er; „weiter nichts als Alpdrücken war’s; wahrscheinlich ist das Traueressen nicht ohne gewesen, die Hanne wird’s schon fett gemacht haben!“

„Und dafür schiltst Du mich, Du Brummbär Du?“ neckte sie und setzte ernst hinzu: „Du weißt doch noch, wie er damals verunglückte? Gerade so hat er vorhin ausgesehen.“

„Wärst Du nur Kartenschlägerin oder Wahrsagerin geworden!“ sprach er gähnend, „Du bist zu klug, Dore!“ Und damit zog er die Decke über den Kopf und begann alsbald zu schnarchen.

Aber die junge Frau schlief nicht. Es war ihr, als sei dort oben ein geheimnißvolles Leben; das Herz klopfte ihr heftig in der Brust und sie lag und starrte zur Decke empor, als könnte sie dieselbe mit ihren Blicken durchbohren. Und sie lauschte den leisen Schritten über sich; jetzt wurde ein Stuhl gerückt, es mußte vor dem Tischchen sein zwischen den Fenstern, sie hörte es deutlich.

Lola war herausgekrochen aus ihrem Korb und schnupperte nach ihrer Herrin empor. Die junge Frau fühlte, daß auch das Thier horche, ein nervöses Zittern ging ab und zu durch seinen Körper und ganz leise knurrte es zuweilen.

„Lola, was thut der da oben?“ flüsterte sie. Und sie begann sich zu fürchten, sie wußte selbst nicht, weshalb. Hatte sich der Alp in die Kleider ihres Mannes gehängt und war mit herunter gekommen? So schwer wie Blei dünkten sie ihre Glieder, eine erstickende Angst überkam sie.

Die Kuckucksuhr in der Wohnstube schlug Zwei. Sie dachte an den Tag, da der Mann dort aben verunglückt war; sie und ihr Mann ahnten wohl, was das vermeinte Unglück gewesen. So, genau so war er die Nacht vorher dort oben in dem Kämmerchen umhergeschlichen, genau so hatte sie wach gelegen mit der Ahnung im Herzen, daß etwas Schreckliches kommen werde; und sie hatte sich nicht getäuscht.

Lola knurrte noch immer in kurzen Pausen. Jetzt ging der Mann dort oben auf und ab, nun blieb er stehen; sie meinte, einen tiefen Seufzer zu hören. Sie wollte die Hände falten im Gebet und konnte doch nicht. Ihr zu Häupten in der alten Bettstelle, in der schon des Försters Mutter geschlafen hatte, tickte es lant und hastig wie eine Taschenuhr. –

„So ein Unsinn!“ schalt sie sich. „’S ist der Holzwurm, aber er muß rein närrisch sein in dieser Nacht, ich höre ihn doch sonst nicht.“ –

„’S ist doch die Todtenuhr,“ dachte sie schaudernd.

Nun rief der Kuckuck nebenan ein Mal – halb drei Uhr. Wenn die Zeit doch rascher verginge, wenn es doch Morgen würde.

„Jesus!“ schrie sie plötzlich, „Jesus erbarme Dich !“

Droben war ein Schuß gefallen.

Sie hasteten beide aus den Betten und warfen rasch ein paar Kleidungsstücke über; Dora war zuerst auf der Treppe und vor der verschlossenen Thür. Sie rüttelte entsetzt an der Klinke und der Hund kratzte an der Schwelle und winselte. Der Förster kam mit der Axt nach und hieb das schwache Brett entzwei.

„Aber, Herr Jussnitz!“ jammerte Dorchen, vorwärts stürzend, und sank neben dem Manne in die Kniee, der dort auf dem Boden lag, den Körper halb aufrecht auf einen Arm gestützt, in der Hand noch den Revolver.

„Diesmal traf ich besser,“ lallte er und brach zusammen.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 19, S. 309–322

[318] Es war gegen vier Uhr morgens, als Antje geweckt wurde durch ein heftiges Läuten an der Hausthür. Der Schlaf hatte die müde geweinten Augen doch endlich geschlossen; nun fuhr sie empor aus einem schweren Traum, der sie an ein Wasser geführt hatte, in dem Leo vergeblich kämpfte, das Ufer zu gewinnen; sie stand dabei mit gebundenen Händen und gefesselten Füßen, unfähig, zu helfen. Er selbst hatte sie so gebunden, er wollte sich nicht retten lassen von ihr.

Sie saß mit Herzklopfen hoch – hatte sie sich getäuscht? Hatte es wirklich geläutet?

Da schrillte die Glocke zum zweiten Male, ängstlich, hastig, als sei ein Unglück geschehen. Im Nu war sie in den Kleidern. Vielleicht Feuer?

Auf dem Gange liefen schlurrende Schritte vorüber, die Treppe hinunter – der Hausknecht eilte, zu öffnen.

Antje band sich mit zitternden Händen die Schleife an dem Gürtel ihrer Blouse; da pochte es auch schon. Sie riegelte die Thür auf und der Knecht stand vor ihr mit blassem scheuen Gesicht.

„Madame Jussnitz, ach Gott, liebe Madame, erschrecken Sie man nicht, ’s hat mal wieder ein Unglück gegeben – drunten ist der Förster von der ‚Grünen Halde‘ – – Der Herr – ach Du Mein Gott – er –“

Antje starrte den Alten an, als verstehe sie ihn nicht. Da erscholl auch des Försters Stimme. „Frau Jussnitz,“ sagte er und trat in den Lichtkreis, der aus Antjes Thür brach, „dem Herrn ist ein Unglück geschehen, so ähnlich wie dazumal; er muß rasch Hilfe haben; meine Frau sagt, Sie hätten einen Doktor im Hause. – Frau Jussnitz, fallen Sie nicht!“

Er sprang hinzu und stützte die Wankende. Aber Antje stand schon wieder aufrecht. „Weckt den Herrn Doktor, laßt anspannen,“ befahl sie kurz; „wie lange fahren wir, Herr Förster?“

Sie hatte die Thür ihres Zimmers weit aufgelassen und suchte nach Tüchern und Hüllen; der Hausknecht eilte davon.

„Dreiviertel Stunden, wenn Sie die Pferde nicht schonen. Frau Jussnitz!“

„Nehmt Vorspann!“ rief sie dem Knecht nach und eilte zu der Thür des Zimmers, in welchem ihr Kind schlief. Im selbigen Augenblick ward diese aufgethan und Hilde stand ihr gegenüber. Antje faßte das zitternde Mädchen an der Hand und zog sie in ihre Stube.

„Dort schläft das Kind,“ sprach sie aufgeregt, „hüten Sie es, denn ich muß zu ihm.“

„Was ist geschehen? Um Gotteswillen, liebe Frau Jussnitz, was ist’s?“ flehte das erschreckte Mädchen.

Antje hielt inne mit ihrem hastigen Treiben. „Er hat sich das Leben nehmen wollen,“ sagte sie heiser.

Maiberg trat eben in das Zimmer, als Hilde mit einem Schrei zusammenbrach.

„Hanne,“ rief die junge Frau der Wirthschafterin entgegen, die, von dem ungewohnten Lärm aus ihrem leisen Schlafe geweckt, daher kam, „nehmen Sie sich des Fräuleins an, wir haben keine Zeit, wir müssen fort – Maiberg, kommen Sie!“

Und sie eilte die Treppe hinunter. Maiberg rief noch einige Verhaltungsmaßregeln zurück, dann folgte er ihr. Der Wagen fuhr eben vor.

„Schont die Pferde nicht,“ sagte Antje zum Kutscher. Dann stieg sie ein, nach ihr Maiberg und der Förster, und der Wagen brauste von dannen. Maiberg, der neben der jungen Frau saß, fühlte das Zittern und Beben, das sie von Zeit zu Zeit schüttelte. Aber kein Wort der Anklage, des Selbstvorwurfs, wie er gefürchtet hatte, kam über ihre Lippen. Sie that ein paar Fragen an den Förster; es war, als könnte sie nur mühsam sprechen.

„Es ist nur, weil er gar so arg blutete, Frau Jussnitz; mein armes Dorchen weiß sich keinen Rath – und diesmal, sehen Sie, diesmal konnten wir ihn nicht hinunter schaffen, diesmal ist’s eben schlimmer,“ sagte der Mann.

Sie schwieg. Es ging steil bergan, aber in eiligem Tempo. Sie bog sich aus dem Wagenfenster. „Wir sind ja erst am Chausseehause!“ flüsterte sie.

„Schon?“ sagte der Förster, „dann dauert’s nicht mehr lange.“

Eine Weile noch, dann hielt der Wagen mit den keuchenden Pferden vor dem niedrigen Häuschen, aus dessen Fenstern das röthliche Lampenlicht in die eben aufsteigende graue Dämmerung des Aprilmorgens leuchtete. Antje stieg aus und eilte die Stufen zur Hausthür empor, der Förster kam ihr nach.

„Oben, gnädige Frau, oben!“ flüsterte er.

Und sie erstieg die steile Treppe; sie hielt sich bei jedem Schritt fest am Geländer, es wollte sie bedünken, als wichen die Stufen unter ihr, als wankte das Häuschen über ihrem Kopf. Sie hatte nur eine Bitte, einen Wunsch, er möchte noch leben, nur noch ein paar Minuten! „Lieber gerechter Gott, nur noch so lange, daß ich ihn fragen kann – warum, warum er mir das gethan, – daß ich ihm die Hand drücken kann, nur das noch! – Erbarme Dich!“

Auf der Schwelle des Stübchens stand die Försterin; sie machte der todtblassen jungen Frau Platz. „Er ist nicht bei Bewußtsein,“ flüsterte sie und bückte sich nach dem Pelz, der [319] von Antjes Schultern geglitten war; dann machte sie die Thür hinter ihr zu. Sie sah nur noch, wie die Frau mit gefalteten Händen vor das Bett trat, auf welchem der Verwundete ruhte. Dann blieb sie stehen in dem niedern Vorplatz, der als Decke das Dach mit seinem Sparrenwerk hatte. Todtenstill war es ringsum; man wartete auf den Doktor, der unten seine Anordnungen traf. Es dünkte sie eine Ewigkeit, dieses Warten, und doch währte es kaum eine Minute, bis Maiberg und der Förster mit allem, was zum Verbinden eines Schwerverwundeten nöthig ist, die Treppe heraufkamen.

Antje half bei der Untersuchung der Wunde wie eine geübte Krankenpflegerin. Von Zeit zu Zeit blickte sie Maiberg an, als könnte sie von seinem Gesicht die Antwort auf ihre stumme Frage ablesen: Tod oder Leben?

„Sagen Sie es doch ehrlich, es ist sehr schlimm!“ flüsterte sie endlich und starrte auf die blutgetränkten Kissen.

„Er ist dem Verbluten nahe, und das ist zunächst das Bedenklichste,“ erwiderte er. „Die Kugel ist durch die Brust gegangen, aber am Rücken wieder ausgetreten, und dies ist nicht ungünstig, auch besitzt er eine sehr kräftige Natur. Es steht alles in Gottes Hand, Frau Antje.“

Und Antje nickte still; sie wußte es genau, hier war der Tod näher als das Leben. Und sie half, den Bewußtlosen wieder auf das Lager betten, nachdem der Verband angelegt war.

„Ist er zu transportiren?“ forschte sie.

„Keine Möglichkeit!“ war die Antwort.

Antje setzte sich still in den alten, mit blau und roth gewürfeltem Leinen bezogenen Lehnstuhl zu Füßen des Bettes. „Beordern Sie alles zur Pflege Erforderliche, Herr Doktor,“ sagte sie. „Drunten im Hause sind Eisbeutel und dergleichen vorhanden; der Wagen mag sogleich alles holen.“

Er erbot sich, zu wachen, aber sie lehnte es ab. „Das ist meines Amtes.“ Sie merkte kaum, daß er sich entfernte. Sie sah sich wie im Traume in dem winzigen Kämmerchen um; dann fielen ihre Augen auf einen Brief, der unter einer Blumenvase auf der Kommode lag; sie konnte ihn erreichen, ohne sich zu erheben.

„An meine Frau!“ las sie. In dem Umschlag stak eine Depesche und ein Brief.

Sie las bei dem verlöschenden Lämpchen die Nachricht des Bankiers, die Ablehnung des Bildes, und sie ließ die Blätter sinken und wandte sich dem Bewußtlosen zu. „Darum?“ fragte sie, „darum?“

Aber er lag da, mühsam athmend, und konnte ihr nicht antworten, hörte sie nicht.

„Hättest Du doch Vertrauen zu mir fassen können, hättest Du doch!“ jammerte sie leise und faßte nach seiner Hand, die zusammengeballt auf der Decke lag. Und dann zuckte sie zurück; zwischen den wachsbleichen Fingern schaute ein Endchen rothes Band hervor, und als sie es mühelos denselben entwand, war es eine kleine rothe Schleife, eine Schleife, die sie kannte, so gut kannte!

„Darum!“ sagte sie nun laut, „ja das hatte ich vergessen! – Also darum!“




Bange schwere Tage folgten, Tage, an denen die rothhaarige Förstersfrau zusammengekauert auf einer Treppenstufe saß, die Hunde zur Ruhe verwies und die Magd bedeutete, leise zu sein, denn der Herr oben würde sterben.

„Alter, heute abend geht’s zu Ende, den heutigen Tag überlebt er nicht mehr, ’s ist unmöglich, es kann ja keiner soviel aushalten,“ flüsterte sie dann ihrem Manne zu, und die verweinten Augen, die eine Farbe wie rothbrauner Sammet hatten, sahen verzagt zu dem Fenster der Krankenstube hinauf. „Paß auf, Alter, wenn Du heimkommst vom Schnepfenstrich, ist’s vorüber. Ich hab’ auch die Nacht das Käuzchen schreien hören, und im ganzen Leben hat’s hier oben noch nicht geschrieen.“

„Dore, Du hast eben immer einen so guten Schlaf gehabt.“

„Ach, Wilhelm, ich bitte Dich – er stirbt gewiß!“

„Glaub’s auch fast, Dore.“

„Die arme Frau, Wilhelm! Sie sieht zum Erbarmen aus und vierzehn Tage sind’s nun, daß sie keinen Schlaf gehabt hat, kaum daß sie’s am Tage leidet, wenn ich sie einmal ablösen will an seinem Bett.“

„Ja – hm – Euch Weibern hat’s Gott extra gegeben, daß Ihr keine Müdigkeit kennt bei so etwas. Mich hättest Du schon lange begraben, Dore, wenn ich einmal vierzehn Nächte nicht hätte schlafen dürfen, und so eine verwöhnte Dame, und keine Klage, kein unnützes Lamento – kannst was lernen, Dore!“

Und der Mann schritt mit dem Hund an der Leine in den dämmernden Frühlingswald hinein, und sein junges Weib stand auf der Steintreppe vor der Hausthür und sah ihm nach. „Herr Gott, man lernt Dich erst erkennen, wenn man an das da oben denkt,“ murmelte sie und schwur sich hoch und theuer, den Wilhelm nie wieder zu ärgern, und dabei wurde sie roth, denn er ärgerte sich eigentlich nur, wenn sie gar zu viel plapperte und sich neckte mit den Herren Malern, die an das kleine Forsthaus wie fest gebannt schienen. Sie warf einen Blick zu den Giebelfenstern hinauf, die weit geöffnet standen, um eine Luft einzulassen, so weich, so feuchtwarm und lenzesduftig, wie man sie selten athmet hier oben um diese Jahreszeit.

Der neunzehnte April war’s; die Buchen hatten einen dicken krausen Schimmer, und alle Tage konnten die Knospen brechen. In den Thälern war es schon grün, das Herrenhaus von „Gottessegen“ lag schon im lichtesten Smaragdschimmer des Frühjahrs und die Veilchen blühten an der Gartenmauer massenhaft. Der Doktor hatte es gestern erzählt; er war unten gewesen und hatte einen großen Strauß von dort mitgebracht für Frau Antje, und um das Krankenbette duftete es, als sei es an einem Veilchenhang aufgeschlagen.

Die Försterin sah abermals nach oben; dort stand jetzt Antje am Fenster, erschöpft und blaß, und schaute in die duftige Welt hinaus mit traurigen Augen.

„Frau Jussnitz! Frau Jussnitz, es ist ein so wonniger Abend heute, gehen Sie ein wenig spazieren, ich will derweil aufpassen droben,“ flüsterte Dorchen hinauf.

Antje schüttelte den Kopf und wandte sich in das Zimmer zurück.

„Sie wird sich ruiniren, ja, das wird sie,“ sagte die Frau, „aber, lieber Gott, ’s ist eben ihr Mann.“ Und dann setzte sie sich auf die Schwelle der Thür und strickte an einem mächtigen graugrünen Strumpf für den Wilhelm.

Oben saß Antje wieder im Lehnstuhl. Der Kranke lag im Schlummer, zum ersten Mal in einem ruhigen Schlummer, ohne das beängstigende Stöhnen, das rasche Athmen wie bisher. Antje hatte ihm die feuchte Stirn getrocknet und jetzt ruhten ihre Hände leicht gefaltet ineinander; ihre Augen hatten sich geschlossen, eine zwingende Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Ein paarmal noch schreckte sie empor, dann schlossen sich die verwachten Augen und der Kopf neigte sich gegen die Lehne des Stuhles. Sie schlief. Todtenstill war es ringsum, nur der Schrei eines Stares, der zu Nest flog, drang herein. Die Dämmerung war von einem leichten kaum bemerkbaren rosigen Schimmer gefärbt, wundersam verschönte sie das kleine ärmliche Zimmer.

Der Kranke regte sich; er öffnete die Augen und schloß sie wieder, und endlich hatte er sie weit aufgethan und schaute umher mit dem ersten Blick wiedererlangten vollen Bewußtseins. Wie erstaunt musterte er das Stübchen, dann aber sank der kaum erhobene Kopf mit einem leisen Aufstöhnen wieder zurück in die Kissen. Sein Blick aber blieb hängen an der Frau dort im alten Lehnstuhl. Sie schlief ganz fest. Er betrachtete sie, als müßte er sich vergewissern, daß diese schlanke dunkle Gestalt es wirklich gewesen, die ihn in den letzten dumpfen Tagen gepflegt, gehegt, gestützt hatte.

Antje? War sie es denn wirklich? Nein, die Antje, die er gekannt hatte, war ein schönes blühendes Weib gewesen, und hier lehnte ein Antlitz in dem Polster, das der Gram um Jahre älter gemacht hatte, mit fest geschlossenem, schmerzlich verzogenem Mund und gerötheten Augenlidern, als hätte es viele, viele Thränen geweint.

Die ganze Erinnerung packte ihn plötzlich, und dann ein Zorn, ein namenloses Weh – daß er lebte. Weshalb stürzen sich die Menschen auf eine Beute des Todes, um sie ihm zu entreißen mit allen Mitteln der Wissenschaft, mit der raffinirtesten Kunst? Großer Gott, wer giebt ihnen das Recht, einen Unglücklichen zum Weiterleben zu zwingen? Er konnte, er durfte ja nicht leben!

Er machte eine Bewegung mit der linken Hand; ein leiser Schmerzensruf entfuhr ihm.

Sie schreckte empor aus ihrem Schlaf und im nächsten Augenblick beugte sie sich über ihn. Er fühlte mit geschlossenen Augen ihren besorgten Blick; er fühlte, wie die weichen kühlen [320] Finger sich sanft auf seine Stirn legten, um zu prüfen, ob die schreckliche Hitze ihn wieder quäle.

Er lag wieder ruhig gleich einem Schlafenden; er hatte den Muth nicht, die Augen aufzuschlagen.

Sie ging von ihm fort an das Fenster. „Frau Dora,“ hörte er sie leise rufen, „wissen Sie nicht, wann der Herr Doktor zurückkehrt? Ich hab’ heute ganz vergessen, zu fragen.“

„Ei, der wird schon pünktlich sein; es wär’ das erste Mal, daß er nicht wie die Stunde selbst käme, Frau Jussnitz. S’ ist erst in acht Minuten Sieben. – Da ist er ja schon!“ rief sie dann.

„Gottlob!“ flüsterte Antje.

Dem Kranken auf seinem Lager drang dieses „Gottlob!“ plötzlich wie ein spitzes Eisen in die Wunde. Er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg; das alte ärgerliche Gefühl packte ihn, wie es ihn früher ergriff, wenn Maiberg neben Antje saß. Abermals stöhnte er auf, und als er drunten die Begrüßung zwischen der Försterin und dem Freunde hörte und Antje sich auf den Zehen aus der Stube schlich zu seinem Empfang, da starrte er ihr bei ihrem Wiedereintritt entgegen mit finsteren Blicken.

Aber der Arzt sah doch gleich, daß das Bewußtsein wiedergekehrt war; er trat zum Bette und sagte laut und herzlich: „Ei, grüß Gott, Leo, da haben wir Dich ja! Na, es war auch die höchste Zeit, alter Freund.“

Antje stand am Fußende. Sie verharrte da wie aus Stein gemeißelt, den Kopf etwas in den Nacken zurückgebogen, mit einem müden traurigen Ausdruck im Gesichte.

„Wünschst Du augenblicklich etwas, Leo?“ fragte sie leise.

„Nein!“ antwortete er.

„Ich bin unten in der Stube des Försters, falls Du mich brauchst,“ sagte sie und ging hinaus.

„Maiberg, ist das Deine ganze Kunst, daß Du Leuten, die gern sterben wollen, das Leben ein wenig verlängerst?“ fragte Leo mit Anstrengung.

„Ein wenig? Ich hoffe – recht lange, wenn Du vernünftig bist, mein Alter.“

„Ich kann unter diesen Verhältnissen nicht leben.“

„Unter welchen?“

„Mein Gott, Du wirst ja wissen – – “

„Das heißt, ohne Deine Frau, Leo, kannst Du nicht leben!“

Des Kranken Antlitz ward dunkelroth. „Behandle mich nicht, als sei ich ein dummer Junge! Sie wird Dir doch getreulich geklagt haben, weshalb ich – den Revolver nahm –“

„Auf Ehre, Leo, ich verstehe kein Wort von dem, was Du redest.“

„Antje hätte Dir nichts erzählt?“

„Nein!“

Leo schloß die Augen und lag still. „Dann hast Du auf andere Weise erfahren, daß ich – –“

„Ich weiß buchstäblich nichts, nur gedacht habe ich mir mein Theil. Aber – rege Dich nicht auf.“

„Was hast Du gedacht?“ fragte Leo matt, „ich bitte Dich!“

„Deine thörichte Leidenschaft für Hilde –“

Ein leises verächtliches Lachen erscholl.

„Nicht, Leo? Sag’s ehrlich, – oder sag’s lieber nicht, es ist ja nicht mehr von Belang.“

„Man macht seinem Leben kein Ende einer Weiberlaune wegen, wenigstens ich nicht,“ sprach der Kranke. „Es muß schlimmer kommen, man muß erst alle seine Hoffnungen in Trümmern erblicken, ehe – – laß es Dir erzählen von ihr, von Antje.“

„Wenn sie mir das hätte anvertrauen wollen, hätte sie es längst gethan. Ich will Dir einen Rath geben – schlafe!“

„Gieb Du mir lieber das Versprechen, mich wieder auf die Beine zu bringen, mich leidlich gesund zu machen, so etwa, daß ich Holz hacken kann oder dergleichen. Betteln gehen, das ist nicht eben jedermanns Sache, und zu weiter langt’s nicht mehr.“

„Du wirst ganz gesund werden, wenn Du vernünftig bist.“

„Bestelle, bitte, meiner Frau, daß sie sich nicht mehr um mich bemüht; sie versäumt Wichtigeres darüber.“

„Mensch, bist Du denn noch immer in Deiner alten gräßlichen Verblendung über diese Frau?“ wollte Maiberg rufen, aber er unterdrückte es, Leo war noch zu krank. Er zuckte nur die Schultern und trat ans Fenster; er ärgerte sich, daß er so schon erregter gesprochen hatte, als gut war.

Drunten ging der Werkführer mit Antje im Gespräch langsam auf und ab. Der alte Herr kam gewissenhaft einen um den andern Tag herausgefahren, Bericht zu erstatten über den Gang der Geschäfte. Sie saßen dann, das blecherne Schreibzeug des Försters zwischen sich, an dem mit Wachstuch bezogenen Tische in dem WohnstÜbchen unten und „regierten“, wie der alte Herr es nannte.

Heute setzten sie dies auch beim Umherwandern fort. Der Werkführer schien sehr eifrig, er blieb mitunter stehen und begleitete seine Rede mit lebhaften Gebärden; sie hatte den Kopf gesenkt und hörte zu, und wenn sie sprach, waren es nur wenige Worte.

Maiberg wandte sich um. „Schlafe,“ sagte er noch einmal zu Leo, „grübele nicht; ich habe noch unten zu thun.“

Der Kranke blieb stumm, aber er lächelte bitter. Er konnte dann die Stimme des Freundes draußen hören und einen hellen Schrei, den Dora ausstieß; er klang wie Jubel. Eine Minute später huschte sie in die Stube.

„Ach, ich wollte ja nur sagen, wie ich mich freue, daß Sie wieder bei Verstande sind,“ flüsterte sie. „Himmlischer Vater, es wäre doch ein Elend gewesen, hätten Sie sterben müssen, grad’ jetzt, wo alles so grün wird und soviel Gutes in der Welt ist. Herr Jussnitz, wie konnten Sie nur – – Große Güte, hätten Sie den Jammer gesehen von Ihrer Frau, das Herz hätt’ sich Ihnen im Leibe umdrehen müssen! Geklagt und geweint hat sie ja nicht, aber die Hände hat sie gefaltet, als sie vor das Bett trat und Sie so jammervoll daliegen fand, und ausgesehen hat sie wie die Maria in der Oberroder Kirche unter dem Gekreuzigten – grade so, und Tag und Nacht ist sie auf den Füßen gewesen. Aber sehen Sie, so was thut man auch nur aus purer wahrhaftiger Treue, Herr Jussnitz.“

„Schweigen Sie!“ unterbrach er barsch den Redestrom der Frau.

Sie sah ihn erschreckt an, blieb noch ein Weilchen stehen und schlich dann still aus der Kammer. „Er ist eben doch noch nicht gesund,“ dachte sie, indem sie die Treppe hinunterstieg.

Und der Kranke lag allein. Die Dunkelheit brach allmählich herein und vom Walde her wehte es kühl über seine heiße Stirn. Zuweilen unterbrach ein kurzer Hundeblaff die Stille oder das Rasseln der Kette, mit der die Kuh im Stall festgemacht war; sonst schien das Häuschen wie ausgestorben.

Sie mochten wohl dort unten im Stübchen sitzen und miteinander sprechen, oder Antje war mit Maiberg ein Stück dem Walde zugegangen in der lauen berückenden Frühlingsluft. Er sah sie plötzlich vor seinem geistigen Auge; dicht nebeneinander gingen sie schweigend dahin, die beiden Gestalten, was gab es auch zu sprechen? Jetzt nichts – noch lange nichts – noch athmete er ja. Und plötzlich packte ihn ein zorniges Verlangen, zu sehen, was diese Frau eben jetzt that, die Frau, die leiden konnte wie eine Maria und – und doch so stolz handelte wie eine Königin.

Was wollte sie noch von ihm? Warum ließ sie den Elenden nicht liegen, wo er lag? Er wollte kein Mitleid, er wollte keinen Edelmuth, er haßte sie in dieser Minute ebenso wie früher, da er sie seine Kette genannt hatte.

Horch, knarrte da nicht die Treppe? Leise schlich es herzu und trat in die Thür. Sie war es; in der einen Hand trug sie die Nachtlampe, sie sorgsam mit der andern schützend, damit kein blendender Strahl sein Auge treffe. Nun ging sie an die Kommode, stellte die Lampe so, daß der Schatten des Lichtschirmes auf sein Bett fiel, kam dann herüber und bog sich über ihn, den sie schlafend glaubte. Einen Augenblick verharrte sie so, dann schloß sie die Fenster bis auf eine der kleinen oberen Scheiben, setzte sich schließlich an den spärlichen Lichtschimmer zur Kommode, holte ein Notizbuch hervor und begann zu schreiben.

Er konnte sie deutlich beabachten, und er that es mit einem nie gekannten Verlangen, etwas in ihrem Gebahren zu entdecken, das ihn kränken müsse, das ihm das Recht gebe, sie hinauszuweisen. Mitunter schaute sie auf und strich sich über die Stirn und ihre Augen hatten einen bangen sorgenden Ausdruck, dann rechnete sie weiter. Ein paarmal seufzte sie tief auf; endlich legte sie den Bleistift zur Seite und zog behutsam und leise die Strohmatratze hinter dem kleinen Ofen hervor, breitete sie vor seinem Bette aus, holte von einem Stuhl Decken und Kissen und schickte sich an, ihre Krankenwacht zu halten.

Er richtete sich nach einem Weilchen auf und blickte zu ihr hinunter, die Müdigkeit hatte sie wohl überwältigt, sie schlief scheinbar ruhig und fest. Er blieb schlaflos, sie immer wieder ansehend, bis zum grauenden Morgen; endlich übermannte auch ihn die Mattigkeit.

[322] Als er aufwachte, lachte die Sonne in das Gemach und der zarte Schatten tanzender knospender Zweige spielte auf seiner Decke, auf dem Boden des Zimmers und auch über die leere Stelle, wo Antje geschlummert hatte.

Er faßte den aus einem starken Hanfstrick bestehenden Glockenzug, dessen Griff eine Hasenpfote bildete, und läutete ungestüm.

„Hallo!“ rief der Doktor zur Thür herein, „das klingt ja sehr kräftig! Was befiehlst Du? Frühstück? Frau Dora wird es sofort bringen.“

Er wollte fragen nach Antje, aber das Wort blieb ihm auf den Lippen. Er sah sich nur im Zimmer um, als vermisse er etwas.

„Sie ist schon in aller Herrgottsfrühe hinunter gegangen,“ sagte die junge Försterin, die eben eingetreten war und seine stumme Frage schnell errieth, „’s wird wohl hohe Zeit sein, daß sie sich mal umsieht nach Kind und Wirthschaft. O du liebe Zeit, sie hat’s nicht leicht trotz ihres Reichthums.“

Er biß sich auf die Lippen; war sie gegangen, weil sie wußte, daß er ihrer jetzt nicht mehr bedurfte?

Wunderliche Tage erlebte er nun; Tage, getheilt zwischen Zorn über die, die ihm stolz fern blieb, zwischen Selbstvorwürfen und der Sehnsucht nach ihr. Er horchte mit allen Sinnen aufrollende Räder, auf Peitschenklang vom Walde her; er fuhr zusammen, wenn die alte Treppe draußen ächzte unter einem leichten Tritt, und erblaßte, wenn dann nur Frau Dorchen eintrat. Er verspottete sich selbst laut darüber; und wenn abends die Dämmerung kam und Maiberg das Buch fortlegte, daraus er dem Kranken vorgelesen hatte, und ihn verließ, um frische Luft zu schöpfen, wenn es so still um ihn geworden war, daß er das Ticken des Holzwurms im alten Gebälk vernahm und das Rascheln einer Maus unter den Dielen, dann legte er die Hand über die Augen und preßte die Zähne auf einander, und etwas, das er seit seinen Knabenjahren nicht mehr gekannt, rieselte aus den brennenden Augen über die Wange hinunter. Aber zornig trocknete er die Thränen und schalt sich einen kranken sentimentalen Narren; und wenn der Doktor wiederkehrte und freundlich zu plaudern begann, gab er herbe und beißende Antworten. Fragen nach Antje that er nie. –

Und sie kam nicht wieder. –

Die Tage verstrichen; Leos Jugendkraft erstritt sich, wenn auch langsam, doch siegreich die Genesung. Er saß bereits vor der Thür oder ging, auf Maibergs Arm gestützt, ein Stückchen am Waldesrand entlang.

„Die Luft hier oben ist für Dich wie geschaffen, Leo,“ erklärte der Freund, „und im übrigen sind’s herrliche Tage, die man hier so verbummelt. Gott weiß, ob’s einem je wieder so gut wird. – Frieden, Stille, Waldesfrische – – ich genieße die Gegenwart, wie lange nicht.“

Der Doktor riß dabei den Hut vom Kopfe und schaute in das Laub der maigrünen Buchen und sein sonst so ernstes Gesicht hatte einen Ausdruck von heimlichem Behagen.

„Ich glaube, Du bekommst Besuch, Leo!“ rief er nun und wandte sich um. „Schau, schau, die Braunen von der Hütte, und das kleine Weiße, was da drinn sitzt, ist Dein Töchterlein in Begleitung der sehr ehrenwerthen Frau Classen!“

Richtig! An der Hand der Alten, die sich festlich mit der heimathlichen Holländerhaube und den großen Ohrringen geschmückt hatte, kam, einen großen Strauß Blumen in der winzigen Hand, ein zierliches kleines Mädchen den Herren entgegen getrippelt.

„Da, Papa!“ sagte es und hielt die Blumen empor; und das rosige Kindergesichtchen schaute, selbst eine frische Knospe, unter dem Hütchen hervor.

Maiberg setzte den Feldstuhl für Leo zurecht unter einer mächtigen Buche und schlenderte weiter. Er sah noch, wie Leo gedankenvoll des Kindes Händchen in den seinen hielt, während die Classen sich auf den Rasen setzte und das Strickzeug hervorholte.

„’s ist schön Wetter,“ brach die Alte das Schweigen endlich, „und hier oben ist’s gar so prächtig im Wald, und ich bin froh, daß wir wieder daheim sind in den Bergen.“

Er nickte zerstreut.

„In dem alten Nest, dem Sibyllenburg, war ungesunde Luft, Herr; ’s hat nicht gepaßt für uns allzusammen,“ fuhr sie fort und begann eine neue Nadel. „Leonie, da liegt ein Tannenzapfen, bring’ ihn her! – Man muß ein wenig spielen mit ihr, Herr,“ erinnerte sie, „sie ist’s gewohnt von Fräulein Hilde.“

„So, so! Ist das Fräulein noch unten?“

„Ja, die ist noch bei uns, Herr; es sieht auch nicht aus, als wollte sie fort.“

„Wann sind Sie denn von Sibyllenburg gekommen?“ fragte er und sah der Kleinen nach, die auf dem grasbewachsenen Weg dahinsprang.

„Vor ein paar Tagen, gleich nachdem es verkauft war.“

Er fuhr in die Höhe. „Verkauft?“ – Aber was ging es ihn an!

„Die gnädige Frau war selbst da mit dem Herrn Justizrath und hat alle Sachen ausgesucht, die nicht verkauft werden sollten. O du mein! Sie hat ausgesehen wie eine Leiche, als sie unterschrieb, und ich konnt’ mich doch nur freuen, es war ein Unglücksnest, das alte Haus.“

„Wer hat es gekauft?“ hätte er gern gefragt, aber er brachte es nicht über die Lippen – es konnte ihm gleich sein, ihm hatte ja nicht ein Stein von dem Ganzen mehr gehört.

Die Classen erblickte jetzt die Försterin, die vom Hause her winkte, und ermahnte die Kleine, artig zu sein. Jedenfalls war eine gute Tasse Kaffee zu erhoffen.

Der blasse Mann und das rosige Kind blieben allein; es war wieder herbeigekommen, saß still spielend zu seinen Füßen und lächelte ihn nur dann und wann an mit zwei grünlichen, klaren, wundertiefen Augen. Er betrachtete es wie eine Blume, die über Nacht erblüht ist, mit staunender Bewunderung. Er kannte sein eigen Kind kaum und sah erst heute, wie eigenartig hübsch es war.

Nun stand es auf. „Komm mit zu Mama,“ bat es und faßte schmeichelnd seine Hand.

Er wurde roth unter dem Blick dieses kleinen Geschöpfes.

„Zu Mama!“ wiederholte es und der Mund verzog sich zum Weinen. Und als er sitzen blieb, ohne sich zu rühren, begann es wirklich zu weinen, und dieser Alarmruf ließ die Classen und die Förstersfrau zu gleicher Zeit herbeieilen.

„I, Du böses Kind,“ schalt die Försterin und trug das schluchzende Würmchen davon, um ihr die „Muhkuh“ zu zeigen; die Classen aber blieb stehen. „So ein Zornkopf,“ sagte sie, „aber das hat sie von Ihnen, Herr!“

Und nun begann sie eine Reihe von Charakterähnlichkeiten aufzuzählen; „aber durchgehen lassen wir ihr nichts!“ schloß sie.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 20, S. 334–339

[334] Als die Kleine endlich, längst wieder völlig getröstet, mit der Alten abfuhr, ging Leo in das Haus zurück und setzte sich, wie er es früher wohl auch zuweilen gethan hätte, an das Fenster der zierlich aufgeputzten Wohnstube von Frau Dora. Aber er wurde seiner erregten Gedanken hier noch weniger Herr, denn die junge Frau glaubte, es sei ihre Pflicht, den trübselig Dahinbrütenden etwas zu unterhalten, und sie hatte die ganze Tasche voller Neuigkeiten von der Hütte. Da hatte Frau Jussnitz gestern den Grundstein zu einem neuen Schulhaus gelegt, und die Kleine hatte müssen den ersten Hammerschlag thun. Und dann hatte sie mit dem Herrn Ferdinand Frey zusammen das Eisenwerk „Günderode“ gekauft, und sie bauten gemeinschaftlich einen Hochofen. Wer nur so etwas habe denken können von der stillen blassen Frau! Der Herr Kortmer habe gesagt, die alte Frau sei schon tüchtig gewesen, aber diese gehe noch darüber, denn die verstorbene Frau Bergrath habe ein wenig zaghaft gethan mit Neuerungen.

„Herr,“ schloß sie, „Sie werden sich wundern, wenn Sie hinunter kommen. Wann werden Sie denn hinunterziehen? Behüt’ Gott, daß ich Sie etwa forthaben wollte, aber ich meine, Sie müssen sich hier langweilen. Morgen früh geht der Herr Doktor Fuchsgraben mit dem Wilhelm. Dann sitzen Sie wieder allein. – Aber wie wär’s denn? Oben auf der Bodenkammer steht noch Ihr altes Malzeug, sogar der Schirm ist noch da. Malen sollten Sie, Herr Jussnitz, malen!“

Und die flinke Frau eilte hinaus, um nach den Sachen zu suchen, zur großen Erleichterung des Zurückbleibenden. Er stand auf und schritt in dem Gemach auf und ab, und in Gedanken verloren blieb er endlich vor dem Glasschrank der Frau Försterin stehen, hinter dessen Scheiben vom grellblauen Hintergrund sich unbeschreiblich bunte Tassen, Kuchenteller, ihr Brautkranz, Wachsengelchen, Blumenvasen und dergleichen abhoben. Seine Blicke musterten zerstreut diese Herrlichkeiten, dann blieben sie an einem kleinen Gegenstande haften, nachdenklich und lange. Es war ein aus Thon modellirter Frauenkopf, der sprechend ähnlich das kecke Näschen, den vollen Mund und die welligen Haarmassen der jungen Försterin wiedergab; eine Porträtbüste, so gut getroffen wie nur möglich.

Er betrachtete sie noch, als Frau Dorchen wieder eintrat.

„Droben in Ihrem Zimmer steht jetzt alles wieder so, Herr Jussnitz, als wären Sie eben davon fortgegangen,“ rief sie munter. Aber er sagte nicht einmal: „Schön Dank!“ Er deutete auf die kleine Büste und sagte: „Hat sich ja sehr gut gehalten, das Ding da!“

Sie war näher gekommen und lachte. „Ja, Sie haben wohl gedacht, ich würde die schöne mühevolle Arbeit zum Fenster hinauswerfen, wie Sie damals thun wollten, Herr Jussnitz? Gott bewahre! Da hat sich schon manch einer darüber gefreut und gemeint, ich sei aufs Haar getroffen. Das hebe ich mir auf für meine alten Tage und zeige dann den Leuten, daß ich mal jung und hübsch war. Und“ – sie schwieg auf einmal und sah den Maler an, der von dem Thonköpfchen den Blick nicht wenden konnte.

„Herr Jussnitz,“ platzte sie endlich heraus mit der Freudigkeit, mit der jemand einen guten Einfall kundgiebt, „Herr Jussnitz, Thon ist draußen vollauf – hätten Sie nicht Lust, mir – ach, seien Sie nur nicht böse, es ist so unverschämt – mir meinen Alten dazu als Gegenstück zu formen?“ Und als er nicht antwortete, bat sie: „Lieber Herr Jussnitz, aber ebenso ähnlich und so fein, wie Sie mich da herausgearbeitet haben. Bitte, Herr Jussnitz!“

Er schüttelte den Kopf und blickte sie an; als er aber die erwartungsvollen Augen der schönen Förstersfrau sah, huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. „Meinetwegen!“ sagte er leise.

Und Frau Dora lief eilends fort, um den Thon vorzubereiten, so eilig, als sollte er schon heute beginnen.

Er stieg hinauf in sein Stübchen, setzte sich an das Fenster und sah den Mond über den Wald emporsteigen. Spät erst trat Maiberg bei ihm ein und fand ihn noch immer dort sitzend.

„Kommst Du von der Hütte?“ fragte Leo.

„Ja!“ antwortete Maiberg und zog einen Stuhl herzu.

„Ich glaube, ich halte es hier nicht länger aus,“ fuhr Jussnitz fort. „Sag’ mir, wann bin ich wohl so weit, daß – daß ich – –“

„Bald!“ war die lakonische Antwort.

Jussnitz erhob sich plötzlich; es war ihm, als ob er ersticken müßte in dem engen Raum.

„Maiberg!“ Er blieb vor dem Arzt stehen, der in den Mondschein blickte mit großen sinnenden Augen.

„Was willst Du, Leo?“

Die Arme des Malers hingen schlaff herab; er lehnte sich gegen das Tischchen und senkte den Blick. „Wenn ich auch wollte, ich kann ja nichts beginnen – ohne Geld,“ sagte er.

„Du hast Ansprüche auf einen Theil von Antjes Vermögen; der Justizrath setzte es mir vor einigen Tagen erst auseinander,“ sprach Maiberg.

Leo stand plötzlich mit geballten Fäusten vor dem Freunde. „Wolf, und Du glaubst, ich würde einen Pfennig nehmen?“

„Ich thäte es nicht!“ war die Antwort, „ich würde mir lieber etwas borgen.“

[335] Leo lachte auf. „Ich wüßte in der Gotteswelt keine Seele, die das riskiren möchte!“

„Keine?“

„Keine!“

„Hm! Ich wüßte eine, Leo. Viel ist’s freilich nicht, wenn Dir aber ein paar tausend Mark für den Anfang genügen –“

„Du?“ Es klang schier spöttisch. „Macht Dich Dein Glück so leichtsinnig?“

„Möglich Leo – Ich bitte Dich, nimm die paar lumpigen Kassenscheine, ich brauche sie augenblicklich nicht und Dir nützen sie; ich habe sogar noch so viel, daß ich ganz bequem mit Dir eine kleine Erholungsreise wagen kann.“

„Du wolltest mit mir fortgehen – von hier fort?“

„Allerdings!“

„Ich mache keine Erholungsreise!“

„Mir auch recht; – aber nimm das Geld.“

„Ich danke Dir, Wolf; ja, ich kann nicht anders – so schwer es mir wird.“

„Warum wird es Dir so schwer?“

Leo antwortete nicht. Er stand im Schatten und betrachtete das lächelnde Gesicht seines Freundes, das ein eigenartiger weicher Schimmer verklärte und aus welchem die hellen klugen Augen mit einem so ungewohnten sehnsüchtigen Ausdruck über die mondbeglänzte Lichtung hinwegschweiften, hinüber zu dem Wege, der sich in die schwarzen Tannen verlor, durch welche er thalabwärts führte nach der Hütte. Und Leo fühlte es heiß aufsteigen in sich; er mochte den Freund nicht mehr sehen in seiner glücklichen Sicherheit, in dem sehnsüchtigen Hinüberstarren.

„Ich bitte Dich, verlaß mich jetzt, Wolf,“ sagte er fast heiser, „ich bin todmüde.“

Der Dokor erhob sich. „Gute Nacht, Leo! – Und mach Dir keine Sorgen über die Rückzahlung, ich kann warten.“

Jussnitz antwortete abermals nicht. Er schloß kirrend das Fenster, ließ den Vorhang herab und warf sich in den Kleidern auf das Bett. Aber er sah doch nichts weiter vor sich als diesen mondbeleuchteten Pfad, der hinunterführte zu dem Paradiese, das er verloren. Und er mußte sich an die Bettpfosten klammern, um der Macht zu widerstehen, die ihn hinunter zog auf diesen Weg.




Drunten im Herrenhause schaffte die junge Frau unermüdlich vom Morgen bis zum Abend. Sie that alles mit einer Gründlichkeit, als dächte sie an nichts anderes als an das, was sie eben vorhatte. Nie nahm sie einen ihrer Befehle zurück, nie bemerkte man ein Schwanken in ihrem Wollen. Klar, bestimmt gab sie ihre Entscheidung in geschäftlichen Angelegenheiten, und ebenso klar und bestimmt in der Wirthschaft, wie in der Erziehung der Kleinen.

Von ihrem Gatten sprach sie nicht. Man hätte meinen können, sie habe den Mann, dessen Namen sie führte, längst vergessen oder – niemals geliebt. Die guten Freunde und Nachbarn, die von dem Trauerspiel in dem kleinen Försterhause gehört hatten und unter dem Vorwande, sich einmal nach Frau Antje umschauen zu wollen, vorgefahren kamen, zogen mit ungestillter Neugier wieder von dannen. Frau Antje empfing sie mit gemessener Freundlichkeit, ließ ihnen einen vorzüglichen Kaffee und Kuchen vorsetzen, zeigte den Frauen die Kleine, sprach mit den Herren von dem Bau des Hochofens, von der neuen Einrichtung ihres Walzwerkes und hatte auf die Fragen, wie sich denn Herr Jussnitz befinde, ein freundliches „Danke sehr – recht gut!“ in Bereitschaft, das allem weiteren Forschen ein Ziel setzte. Kein Mensch wußte weiter um den Verlust des Kapitals als der alte Kortmer; diesen freilich traf die Mittheilung so hart, als ginge es sein eigenes Vermögen an.

Antje stand ihm gegenüber bei der Eröffnung dieses Unglücks mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck.

„Wenn doch nur solche Herren Maler und dergleichen Menschen von Geldgeschäften wegbleiben wollten!“ jammerte der alte Herr. „Frau Antje, wie sollen wir das wieder einbringen?“

„Wir sparen, wir sparen!“ tröstete sie und lächelte mit blassen Lippen, „und Sibyllenburg wird verkauft, das Werthvollste steckt in Sibyllenburg, Herr Kortmer.“

„Ach, wer wird für solch altes Gerümpel wie Porzellan und Stoffe einen Pfennig geben, Frau Jussnitz,“ polterte der alte Mann, „das wird alles unecht sein; wer weiß, wie oft man ihn angeführt hat bei seinen Käufen?“

„Kortmer,“ sagte sie ernsthaft, „ich bezweifle nicht, daß Sie in geschäftlichen Dingen besser Bescheid wissen als Herr Jussnitz, von Kunstsachen aber wird er wohl mehr verstehen.“

Dem kleinen Herrn war das Wort abgeschnitten; er klagte nicht mehr, er half Ordnung ins Haus bringen. Sibyllenburg ward verkauft und es blieb nach Auszahlung der Differenzen noch eine kleine Summe übrig. Antje legte dieselbe stillschweigend bei Seite für den Fall, daß das Härteste eintreten, daß Leo etwa von ihr Geld verlangen sollte. – Sie ward schamrot bei dieser Vorstellung. In ihrem tiefsten Herzen litt sie unendlich bei dem Gedanken: was soll aus ihm werden? Eine Unterstützung in Form eines Kapitals durfte sie ihm nicht anbieten unter den gegenwärtigen Verhältnissen, es wäre ein Schlag gegen sein Ehrgefühl gewesen, ein Almosen, eine Bettlergabe. Besaß er noch die Kraft, sich geistig und körperlich aufzuraffen, um sich fortzuhelfen? Und doch, wenn noch die Fähigkeit in ihm war, sich zu retten, sich selbst zurückzugewinnen, so mußte sie sich jetzt zeigen, sie selbst aber durfte nicht anders erscheinen als hart, hart wie ein Stein.

Sie mußte den Dingen ihren Lauf lassen und müßig zusehen, ob er sich aus dem Wirrsal, in das er sich gestürzt, zu lösen imstande sei. Kein Mensch sah ihr unruhiges Herz. Es wurde immer erst wieder still und kalt, wenn sie sich an die kleine Schleife erinnerte, die seine Hand um klammert hielt, als er sterben wollte; aber dann war sie noch elender als vorher.

Maiberg sprach gar nicht mit ihr über Leo, wenn er herunter kam vom Försterhause, um im Gartensaal bei Frau Antje den Kaffee zu nehmen. Er pflegte dann nur zu sagen: „Alle Tage geht es vorwärts!“ und damit wußte sie ja genug.

Es waren recht wunderliche Nachmittage in dem traulichen großen Zimmer, das Antje sich nach ihrem Geschmack eingerichtet hatte. Von Stil keine Spur, und doch wie wahrhaft behaglich und vornehm, trotz der bunt zusammengewürfelten Möbel! Von der braungetäfelten Decke hing ein uralter Messingkronleuchter herab, der schon den Gästen des einstigen Besitzers zum fröhlichen Jagdbankett geleuchtet haben mochte. Vor den kleinen in Blei gefaßten Fensterscheiben hingen, weit zurückgenommen, bunte gewirkte Gardinen, die dem Sonnenlicht keineswegs den Eintritt verwehrten. Den glänzend gebohnten Fußboden bedeckte zum Theil ein farbenbunter Teppich, am Kamin stand vor einem zierlichen Bauernschemel Antjes Spinnrad. An den getäfelten Wänden standen schöne alte Schränke, einer im echtesten Rokoko gehalten, mit Elfenbeineinlage; der andere in Renaissance, auf dem in bunter Holzmosaik eine kunstvolle Tischlerarbeit, die Geschichte der Hochzeit zu Kana, prangte. Der Nähtisch am südlichen Fenster stammte von der Großmutter in Holland; das großmächtige behagliche Sofa, der kreisrunde Tisch davor und die Gesellschaft von Stühlen und Sesseln aus den verschiedensten Zeitaltern nahmen sich sehr einladend und gemüthlich aus. Für die Dekorirung der Wandgesimse und Wände hatte Antje die Rumpelkammer des Hauses geplündert, hatte alle Delfter Fayencen mit frischen Blumen gefüllt, nachgedunkelte Familienbilder in schwarze Rahmen gefaßt und so einen reizvollen Schmuck für die alte braune, mit goldgepreßten Arabesken verzierte Ledertapete hergestellt, die keine moderne Nachahmung in Farbenwirkung und Gediegenheit zu erreichen vermocht hätte. Und hier, vor der offenen auf die Veranda mündenden Thür, durch welche die goldig grünen Lichter des Gartens flutheten, saß man an den Nachmittagen, wenn der junge Arzt kam, saß Antje allein oder mit Hilde.

Hilde war noch immer da. Sie hatte, während Antje an Leos Krankenlager weilte, getreulich die Pflege der Kleinen fortgeführt, und jetzt, wo die alte Classen dieses Amt übernommen hatte, konnte Antje, ohne unartig zu sein, dem jungen Mädchen auch nicht sagen: „Verlaß mein Haus!“ – Und Hilde schien gar nicht daran zu denken, daß dies überhaupt möglich sei.

Antje ertrug des Mädchens Gegenwart, ertrug sie mit einem Stolz, der für Hildegard hätte peinlich sein müssen. wenn diese überhaupt noch aus einem gewissen träumerischen Hinbrüten aufgewacht wäre. Antje betrachtete sie zuweilen mit heimlicher Verwunderung; sie konnte so selig vor sich hinlächeln, und dann wieder flog ein schmerzlicher Zug um den kleinen Mund und eine Falte bildete sich zwischen den dunklen Brauen. In solchen Augenblicken war es, wo Antje meinte, sie denke an späteres Glück, oder sie habe Sorge um seine und ihre Zukunft. Zuweilen lief Hilde [338] ganze Nachmittage im Walde umher und kam erst gegen Abend zurück, mit glühenden Wangen, einen halb verwelkten Strauß an der Brust und beide Hände voll Blumen, die sie dann stumm vor Antje auf den Nähtisch legte. Und die junge Frau stellte die Blüthen in frisches Wasser, aber sie trug sie in ein anderes Zimmer, wo sie dieselben nicht zu sehen brauchte. Es war ihr immer, als müsse sie die Blumen fragen: „War sie allein, als ihr gebrochen wurdet, oder half Er euch pflücken?“

Der Doktor beobachtete den Verkehr der beiden scheinbar gar nicht, und gegen Hilde hatte er ungefähr einen Ton angenommen, als sei er ihr Vater, halb zärtlich, halb ärgerlich, mehr zu Tadel geneigt als zu Lob.

So saßen beide Damen auch einmal wieder, am letzten Mai war es, im Gartensaal; Hilde mit einem Buch in der Hand, aus dem sie vorlas. Antje hatte sie darum gebeten, um das Qualvolle einer Unterhaltung aus dem Wege zu räumen, denn sie fühlte, wie Hilde heute nach einer Unterredung mit ihr drängte, und sie wollte nicht mit ihr reden – wozu auch? Die Kleine spielte unweit der Veranda auf dem sonnigen Kiesplatz unter Obhut der Classen; Antje hielt die Arbeit müßig im Schoß und hörte kein Wort von dem, was Hilde las. Es war „L'Arrabbiata“ von Paul Heyse.

Das junge Mädchen hatte einen Augenblick innegehalten. Antje, dadurch aus ihren Gedanken aufgeschreckt, wandte wie fragend den Kopf nach ihr, und Hilde las weiter:

„Von meinem Vater wußt’ es auch niemand, wie er zu meiner Mutter war, denn sie wäre eher tausendmal gestorben, als es einem sagen und klagen! Und das alles, weil sie ihn liebte. Wenn es so um die Liehe ist, daß sie einem die Lippen schließt, wo man Hilfe schreien sollte, und einen wehrlos macht gegen Aergeres, als der ärgste Feind einem anthun könnte, so will ich nie mein Herz an einen Mann hängen.“

Sie ließ das Buch sinken und blickte Antje an, furchtsam, mit scheuen bittenden Blicken. Die junge Frau machte sich hastig etwas mit ihrer Arbeit zu thun, dann legte sie dieselbe fort, erhob sich und ging, ihren Schirm aus ungebleichter Leinwand aufspannend, durch den sonnigen Garten ein Stückchen am Fluß hinauf. Dort öffnete sie, an der Mauer angelangt, eine kleine in den Wald führende Pforte und begann langsam den Weg emporzuwandern, der steil an dem mit herrlichen Buchen bestandenen Berge hinaufführte. Es ist etwas Köstliches, ein solcher Waldpfad im Frühjahr. Wie unter einem lichtgrünen durchsichtigen Baldachin, durch den neckende Goldfunken blitzten, schritt sie dahin, schwellendes Moos zu beiden Seiten, junge Farrenkräuter und blaue Blüthen. Und überall rauschte es und tropfte es und rieselte krystallkar über den Pfad dem Thale zu, kleine winzige Bächlein. Im Dickicht verschwand langsam ein Reh, so langsam, als wisse es, daß in dieser wonnigen Frühlingszeit kein Jäger ihm auflauere; sein Kitzlein äugte verwundert nach der Menschengestalt hinüber und sprang der Mutter nach. Aus den Wipfeln klang das Locken der Finken; es war so still und so jubelvoll zugleich in der Natur, so sehnsüchtig und doch so friedlich, es war wie eine Predigt von der ewigen Jugend und Seligkeit, wie ein Lied von Glück und Liebe.

Antje empfand das alles, sie sah alles, aber es that ihr weh. Sie hatte wieder nur den einen Gedanken: Was wird er thun – wie soll es enden? Wie könnte man ihm helfen, ohne ihn zu demüthigen? Sie fühlte sich heute körperlich angegriffen und muthlos dazu. Sie fragte sich, wie es ihr armes Herz ertragen sollte, so weiter zu leben. Und das Schwerste kam ja erst noch. Wie sehr sie litt, verriethen freilich nur ihre blassen Wangen und die trüben Augen.

Was las doch Hilde eben? „Die Liebe verschließt den Mund, wo man Hilfe schreien sollte!“ Ja, lieber Gott, wer hätte ihr denn auch helfen sollen? Sie wußte keine Seele auf der ganzen Welt; die einzige, die sie gehabt, war ja gestorben.

Sie war langsam höher gestiegen. Nun bog sie von dem Wege ab und ging auf schmalem Pfade durch junges Unterholz; die Büsche schlugen hinter ihr zusammen und trennten sie, ein durchsichtiger grüner Vorhang, von dem Wege, den sie eben verlassen hatte. Sie kannte und liebte das Plätzchen, auf dem sie jetzt stand. Ein paar Baumstümpfe waren durch übergelegte Bretter zu einer Bank geschaffen, dicht unter einer mächtigen Buche. Durch einen Aushau in den Bäumen konnte man just hinuntersehen auf das Herrenhaus und den Garten. Obgleich schon ziemlich hoch stehend, erkannte Antje doch deutlich die kleine weiße Gestalt ihres Töchterchens, das mit seinem winzigen Gartengeräth neben der strickenden Wärterin spielte.

Wie schön das gewesen wäre, wenn man hier so zu Zweien hätte sitzen können, um das traute Heim anzuschauen!

Sie lehnte den Kopf gegen den Buchenstamm. Am liebsten hätte sie geweint, so recht inbrünstig geweint, aber es war, als habe sie keine Thräne mehr. – So saß sie lange, bis dicht neben ihr auf dem Wege ein leichter Tritt erklang; durch die Gezweige schimmerte ein helles Kleid, und die junge Frau sah gleich darauf etwas weiter oben Hilde, die, den Gartenhut in der Hand schwenkend, dahin ging. Dann blieb sie stehen, und in Antjes Ohr klang eine ihr wohlbekannte Stimme, die gutmüthig vorwurfsvoll sagte: „Ei, ei, welche Unpünktlichkeit, Hilde! Das mußt Du Dir abgewöhnen.“

Dann ein Kuß und – Maiberg – ja Maiberg war es! – fügte hinzu: „Immer der Erzieher, meine arme Kleine, und nie der nachsichtige Liebhaber! – Wirst Du das ertragen, Hilde?“

Und das Mädchen war eine Weile still und sagte dann klar und innig: „Ich bin so dankbar, daß ich Dich habe! Ich könnte mir gar keinen andern als Bräutigam denken, Wolf, als eben nur Dich.“

Antjes Augen hatten sich fast unnatürlich erweitert, der letzte Rest von Farbe war aus ihrem Gesichte gewichen. Mit schwankendem Schritt ging sie weiter, immer weiter in die grüne Wirrniß hinein, und erst als der Schall jener Stimmen sie nicht mehr erreichte, stand sie still, schlang den Arm gleichsam hilfesuchend um eine Birke und schaute wie abwesend über die Chaussee hinweg, an deren Rande sie, ohne es zu wollen, angelangt war.

Wie war es möglich! Wie war es nur möglich!

Ein paar Holzknechte, die des Weges daherkamen, rückten ihre Mützen – sie sah es nicht. Nach einer Weile erst kam Leben in ihre Gestalt; sie trat auf die Chaussee hinaus und schritt nun eilig in der Richtung nach der Försterei fort. Sie mußte verhindern, daß Leo jetzt von dieser Thatsache erfuhr, er durfte nicht auch noch das Letzte, Schwerste erleben, jetzt, wo er noch nicht ganz gesundet war, wo er kaum begann, sich aufzuraffen; es mußte ihn ja völlig wieder niederwerfen, ihn abermals zum Schlimmsten treiben. Großer Gott!

Sie wollte die Rückkehr Maibergs in Frau Doras Stübchen abwarten, wollte ihn bitten, zu schweigen, bis Leo ganz gesund wäre. –

Rasches angestrengtes Gehen brachte sie nach dreiviertel Stunden schon an das Forsthaus. Die knorrige Eiche davor hatte all ihre Blätter entfaltet unter den Strahlen der heißen Sonne und die Försterin hatte Wäsche aufgehängt. Leos Giebelfensterchen stand weit geöffnet, seine bunten Schlafdecken, die Teppiche, die Antje ihm hinaufgeschickt hatte, lagen auf der Brüstung zum Auslüften. Vor der Hausthür auf dem Sandsteintritt streckten sich die Hunde im warmen Sonnenschein, und auf der Schwelle des Hauses saß Frau Dorchen, ihre rothhaarige Lola im Schoß, und sprach in zärtlich bedauerlichem Tone mit dem Thier.

Antje bot ihr „guten Tag!“ Die Frau schaute auf; sie hatte verweinte Augen. „Herr Du mein!“ rief sie, ohne sich zu erheben, „Sie sehen aus wie ein Geist, Frau Jussnitz! Wären Sie nur früher gekommen, vor einer halben Stunde ist Herr Jussnitz hinunter! Lieber Himmel – – es war, als wenn uns ein Verwandter fortginge, man hat ja auch so Schweres mit ihm durchgemacht.“

„Er ist fort?“ fragte die junge Frau und ihr Antlitz ward noch um einen Schritt bleicher.

Dorchen nickte. Antje aber ging an der hübschen Frau vorüber, welche die Wunden Lolas vom letzten Fuchsgraben her mit Thee auswusch, und stieg die Treppe hinauf zu dem Krankenstübchen; sie war unfähig, vor der Frau ihre Sorge zu verbergen.

Der Raum zeigte alle Spuren der Abreise seines Bewohners; leer, dürftig, kahl sah er aus, die Kommodenschübe geöffnet, ein unbeschriebener Briefbogen auf dem Tische, welke Blumen in den Vasen, ein halbgeleertes Weinglas. –

Sie setzte sich wie erschöpft auf das Bett und betrachtete die Unordnung, als könne sie aus diesen armseligen Ueberbleibseln herauslesen, was ihn fortgetrieben hatte. Aber sie wußte es ja nun, Hildens Untreue war es, Hildens Untreue! „Großer Gott, gieb, [339] daß er nicht noch einmal verzweifelt; um des Kindes willen stehe ihm bei!“ betete sie. Eine herzbeklemmende wahnsinnige Angst bemächtigte sich ihrer. Sie sprang empor und eilte zur Thür; da stockte ihr Fuß, es kam jemand die Treppe herauf und dann ins Zimmer. Es war Maiberg, der erstaunt zurücktrat, als er Antje erblickte.

„Sie hier? Und wo ist Leo?“

„Er ist fort! Ich wollte Sie fragen, woher sein plötzlicher Entschluß –“ stammelte sie.

Der Doktor sah so verblüfft aus, als habe ihm jemand gesagt, der Brocken sei von hier nach China versetzt. „Der Heimlichthuer!“ sagte er endlich.

Sie blickte ihn mit verständnißlosen Augen an.

„Aber, Frau Antje, was denken Sie?“ begann Maiberg, „in die Welt ist er! Sie konnten dach nicht erwarten, daß er hier weiter lebe wie ein gefangener Stieglitz im Bauer, der sich das Futternäpfchen alle Tage füllen läßt? Er ist hinaus, um sich eine Existenz zu schaffen. Aber ich wußte nicht, daß er es so eilig damit hatte; ich glaube, er ging heimlich, weil er mich nicht mitnehmen wollte.“

„Sie wußten also, daß er den Plan hatte?“ forschte sie.

„Ja freilich! Ich wollte ihn sogar ein Stück Wegs in das neue Leben begleiten, – so wenigstens war meine Absicht noch gestern mittag; aber seitdem hat sich mein Kurs allerdings etwas geändert.“ Er lehnte sich gegen die Kommode und ein heimliches Lächeln zog um seinen bärtigen Mund.

„Kannte Leo diesen veränderten Kurs?“ fragte sie, noch immer nicht Herrin ihrer Aufregung.

Nun lachte der junge Arzt leise. „Wie konnte er das wissen? Weiß ich’s doch selbst erst seit gestern abend – daß ich –“ Er faßte beide Hände der zitternden Frau und drückte sie herzlich. „Ihnen darf ich es ja sagen, wie ich es eben Leo sagen wollte, daß Hilde meine Braut geworden ist.“ Und unter fortwährendem Schütteln ihrer Hände sprach er weiter: „Frau Antje, ich weiß, daß Sie sich wundern werden; ich wundere mich ja selbst über die Geschichte. Alles, was ich von meiner künftigen Frau erträumt und erhofft habe, das besitzt sie nicht! Ich dachte immer nur an eine Frau – nun, an eine – so wie Sie sind, Frau Antje, so sanft, so gut, so engelsgut; so klug und so verständig – so – –“ Er lachte, und ein paar Thränen schimmerten in seinen treuen blauen Augen. „Nun stellt mir das Schicksal ein Kind in den Weg mit allen möglichen Unarten und Dummheiten im Köpfchen, ein Wesen, das ich hüten muß, als wäre ich der leibliche Vater; ein Geschöpfchen, das außer einem großen Dankbarkeitsgefühl und kindlichem Vertrauen mir vielleicht nichts weiter von dem entgegen bringt, was man billig verlangen kann von seinem zukünftigen Weibe, und das ich doch, seitdem es mich das erste Mal angeschaut hat mit seinen großen Zauberaugen, hilfesuchend und rathlos, liebe, wie man auch eine Bessere nur lieben kann. Und nun sagen Sie nicht, Frau Antje, daß ich im Begriff bin, eine Thorheit zu begehen, sagen Sie es nicht! Ich handle mit Bewußtsein, und Sie, gerade Sie, Antje, haben es bewiesen, was Liebe, ehrliche treue Liebe ist! Sie kämpft, sie leidet, sie wird gemartert; sie kann streng sein, hart, aber sie ist unwandelbar in ihrer Treue!“

Er ließ sie los und trat von ihr fort.

Sie stand da, mit gesenktem Kopf, „Und Leo? Wenn er es erfährt?“ flüsterte sie.

„Frau Antje,“ sagte er und legte die Hand auf ihre Schulter, „Leo vergaß seinen Traum, ich weiß es – ich bin kein schlechter Menschenkenner. Und Sie werden ihm nicht nachtragen, daß er, gerade er, irrte. Und wenn er wirklich noch nicht vergessen hätte, wenn er selbst es erst lernen müßte, so dürfen Sie es ihm nicht erschweren durch ein falsches Mitleid.“

Sie antwortete nicht; sie ging plötzlich zu dem Tische hinüber, bückte sich und hob eine kleine rothe Schleife vom Boden auf, die verstaubt, zertreten zwischen dem Kehricht und zerrissenem Papier lag. Sie betrachtete sie ein Weilchen. „Muß er es noch lernen?“ fragte sie das winzige Ding. – „Nein!“ antwortete die kleine stumme Botin, „nein!“ – –

Am Abend dieses Tages saß Antje drunten im Herrenhaus mit dem Brautpaar zusammen am gedeckten Tische und stieß mit freundlich ernster Miene auf sein künftiges Glück mit ihm an. Und als man sich endlich trennte, da schmeichelte sich Hilde mit in das Zimmer der jungen Frau, knieete dort vor ihr nieder und schluchzte eine Bitte um Verzeihung.

Antje streichelte über den Scheitel des Mädchens. „Machen Sie ihn glücklich!“ war ihre ganze Antwort.

„Ich will es ja, von ganzen Herzen will ich es,“ betheuerte Hilde.

„Hilde,“ fragte Antje plötzlich mit bebender Stimme, „lieben Sie ihn?“

Das verweinte Gesicht hob sich; ein schelmisches Lächeln ließ alle ihre kleinen Perlenzähne sehen. „Ich glaube: ja!“ flüsterte sie, „und wenn noch nicht ganz so, wie ich es mir immer ausgemalt habe, so leidenschaftlich und überschwenglich, so lerne ich es gewiß noch.“

Antje senke traurig den Kopf. „Mögen Sie nicht irre werden an diesem Glauben, liebe Hilde! Aber nun Gute Nacht – Gute Nacht!“ Und Hilde schlüpfte aus dem Zimmer.

Antje aber schlief nicht. Sie ging auf und ab in dieser letzten Mainacht, in dem trauten geborgenen Zimmer. Und sie dachte hinaus in die weite Welt – irgendwo, irgendwo schwankte ein kleines Boot auf den Wellen des Lebens – – wird die schwache Hand, die es steuert, stark genug sein, es durch die Brandung zu führen? Wird es genug Proviant an Lebensernst und an Willenskraft besitzen? Wird es zurückkehren zu ihr?

Draußen vor dem Fenster schlug eine Nachtigall; die Nacht war so weich, so märchenhaft duftig. Sie ging zum Fenster hinüber und sah in den dämmernden Garten; sie stand dort, wie sie es als bräutliches Mädchen gethan, und wünschte, in die Ferne sehen zu können, dahin, wo er sei.

Sie dachte, daß einer Mutter, die den geliebten halbverlorenen Sohn in das Leben schickt, wohl so ähnlich zu Muthe sein möge wie ihr heute; daß sie keine Nacht schlafen werde ohne Sorge, daß kein Morgen dämmere, an dem sie nicht mit Bangen seiner gedenken müsse.

„Gottlob,“ sprach sie, „daß ich Arbeit habe, viel Arbeit!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
aus: Die Gartenlaube 1891, Heft 21, S. 351–354

[351] Der Sommer zog vorüber, der Herbst brach herein. Durch die Lüfte tobte das wilde Heer in schauerlichen Sturmnächten, die rostigen Windfahnen kreischten in ihren Angeln und die Funken der Hüttenschlote stoben nach allen Richtungen auseinander. Die alten Mauern des Herrenhauses aber schirmten gut die einsame Frau und ihr Kind, die sich ihnen anvertraut hatten. In dem riesigen grünen Kachelofen leuchtete die Gluth auf unter der Wuth des Sturmes. Leise knisterte die Nachtlampe und leise athmete das Kind in seinem Bettchen.

Das große Lager aber stand unberührt; Frau Antje konnte nicht schlafen. Sie dachte an ihren Hochzeitstag im vorigen Jahre, da er sie zum ersten Male hatte empfinden lassen, daß sie eine ungeliebte Gattin, eine unbedeutende Frau sei, und sie dachte an alle die trüben schweren Tage, die diese Stunde im Gefolge gehabt hatte. Die letzte Zeit aber erschien ihr doch als die schwerste. Anfänglich, als Leo gegangen war, hatte sie auf ein paar Abschiedszeilen gewartet – es war keine Nachricht gekommen, auch später nicht – nie mehr. Maiberg reiste ab, auch er wußte nichts von Leo.

Hilde hatte schon vorher „Gottessegen“ verlassen, um zu den Eltern zurückzukehren. Der Bräutigam war ihr gefolgt, und vor einigen Tagen hatten sie Hochzeit gehalten. Der Dampfer, der sie nach Rio de Janeiro trug, schwankte wohl schon auf den Wellen des Oceans. Tante Polly war auch zur Vermählung erschienen, die zugleich zur Versöhnungsfeier ward. Ein Kärtchen, welches Hilde noch kurz vor ihrer Trauung gekritzelt hatte, um sich für ein kostbares Hochzeitsgeschenk bei Antje zu bedanken, meldete es, erzählte auch von einem anderen Geschenk, einer – Antje konnte es kaum entziffern – einer ganz entzückenden Statuette aus Erzguß, einen kleinen Amor mit verbundenen Augen darstellend. Aber diese leichtsinnige glückliche Hilde hatte kein Wort geschrieben, wo es herkam, dies Geschenk, aus welcher Stadt, aus welchem Lande. Auch in den ernsten Zeilen des Bräutigams stand nichts von dem Freunde, nur ein herzliches Glück auf! für kommende Zeiten, eine Bitte um treues Gedenken, die Hoffnung auf ein Wiedersehen. – Er wußte wohl auch nichts Bestimmtes, oder wollte es nicht sagen.

Antje war standhaft und tapfer; sie suchte Ruhe in der Arbeit, und sie hatte deren mehr als genug; ein Wunder, wie sie dieselbe bewältigte. An die neue Herrin wurden Ansprüche gemacht seitens der Arbeiter, die man der alten Frau Bergrath nicht zugemuthet hätte – es war eben eine andere Zeit angebrochen, und Antje verstand ihre Zeit. In jeder Weise ward sie billigen Forderungen gerecht, sie hatte aber auch den Muth, Unbescheidenheit zurückzuweisen, und zwar in persönlicher Verhandlung mit den Leuten. Und als ein baumlanger riesiger Arbeiter ihr in respektwidriger Weise eine Drohung zurief – sie stand, etwas höher als die Leute, auf einer Stufe der Treppe in der Halle – wies sie ihn mit wenigen Worten hinaus und seine Entlassung folgte auf dem Fuße.

Der alte Herr Kortmer, die jungen Herren des Kontors hatten ihren Ohren nicht getraut, und ersterer bat Frau Antje dringend, ihre einsamen Spaziergänge einzustellen, denn der Entlassene sei ein rachsüchtiger Mensch und zu allem fähig. Aber Antje schüttelte lächelnd den Kopf und ging noch an demselben Abend in die Wohnung des großen frechen Gesellen, um dessen Frau, die ein drei Tage altes Kind hatte, zu benachrichtigen, daß sie ruhig bleiben könnte in dem Quartier, bis sie wieder völlig gesundet sei und ihr Mann eine andere Stelle gefunden habe. Sie hatte dafür zwar keinen Dank erhalten; der Mann, der mit geballter Faust am Tische saß, sprach kein Wort, nur die finsteren Augen redeten an ihm, und das war nichts Gutes. Antje bemerkte es scheinbar gar nicht. Nach drei Tagen aber kam der lange Kerl zu ihr und bat, bleiben zu dürfen; er habe gesehen, sie sei gerecht und barmherzig, und er wolle nie wieder drein reden. Und Antje gewährte ihm eine Probezeit, von der sie seine Wiederanstellung abhängig machen werde.

Der Bau des neuen Hochofens war in Angriff genommen, das Material der Erzgrube vorzüglich; man konnte größere Lieferungen übernehmen als früher, und das Personal ward vermehrt. Antje hatte die Baupläne für Arbeiterwohnungen und für das Krankenhaus auf ihrem Arbeitstische liegen, der Anschlag für das Wohnhaus eines Hüttenarztes war bereits von ihr genehmigt, und sie suchte selbst den Platz dazu aus; es sollte ein Schweizerhaus werden. Im übrigen lebte sie vollständig einsam, die Trauer um ihre Mutter bot hinreichend Grund dafür. Welche Auslegung man der Abwesenheit ihres Gatten gab, wußte sie nicht, wollte es auch nicht wissen. Herr Kortmer sorgte dafür, daß man annehmen mußte, Herr Jussnitz befinde sich auf einer Studienreise in Italien.

Höchstens zu der Pastorfamilie ging Antje, oder die alte Frau Kortmer kam auf ein Plauderstündchen mit ihrem ungeheuren Pompadour, in dem immer eine kleine Näscherei für das Kind steckte; und sie sprachen dann von den Zeiten, als die Eltern Antjes noch lebten. Mitunter erschien auch die Frau Försterin; sie kam zu gern, denn in Antjes Zimmer stand auf einem kleinen Wandbrette die Photographie der „Brockenhexe“, und das eitle junge Weib hatte ein großes Vergnügen daran, das Bild anzuschauen.

In ihren Erholungsstunden las Antje; nie im Leben hatte sie soviel Ruhe dazu gehabt. In ihrem Bücherschrank entdeckte sie wahre Schätze; und sie suchte nicht etwa leichte Lektüre auf, sondern wählte belehrende Abhandlungen und Geschichte, vor allem Kunstgeschichte. Sie hatte in den Unterrichtsstunden bei dem Herrn Pastor früher das alles schon gelesen, jetzt that sie es mit brennendem Eifer, mit erwachtem Verständniß noch einmal. Die trüben Gedanken, die nach dem Zuschlagen des Buches kamen, die Fragen an die Zukunft, auf die keine Antwort war als die eine: – „Geduld!“ – suchte sie bei der Kleinen zu vergessen.

Heimlich aber flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr, die von Hoffnung und kommendem Glücke sprach, ein Ahnen kam ihr, als ob irgendwie die Wolken, die so schwer über ihrem Hause hingen, sich ein wenig, ein ganz klein wenig theilen müßten, um einen – nur einen einzigen Hoffnungsstrahl hindurch zu lassen.

Sie stieg am frühen Morgen die Treppe hinunter in das Eßzimmer, um ihr Frühstück zu nehmen. Ein grauer naßkalter Oktobermorgen blickte durch die Fenster; ihre Tasse stand da so einsam auf dem großen Tische, die winzige Kanne, die das Mädchen herbeitrug, enthielt nur für eine Person den Thee – er wollte der jungen Frau nicht schmecken.

„Heute vor fünf Jahren!“ klang es ihr immerfort durch den Sinn. Heute vor fünf Jahren, da lachte die Sonne hier herein, und überall hingen Kränze und Tannengrün; heute vor fünf Jahren saß da zum letzten Male zwischen den Eltern ein junges blondes Mädchen beim Frühstück. Sie konnte ihren Thee gar nicht trinken, weil jedes der beiden alten Leute eine ihrer Hände erfaßt hatte und eins um das andere sie küßte und streichelte.

[352] Wie schnell die Stunde verging, wie rasch der Augenblick erschien, wo eine in weiße Seide gekleidete Gestalt an seinem Arm durch die Halle schritt, um zur Kirche zu fahren, so stolz, so glücklich! Und wie bald der Augenblick kam, wo sie in den Wagen stieg, fortzuziehen mit ihm –

Die junge Frau schob die Tasse zurück und sagte halblaut zu sich: „Nicht weiter denken, nicht weiter!“ Aber wer kann seine Gedanken bannen?

Sie erhob sich entschlossen, preßte die Hände einen Augenblick gegen die Augen und ging durch das Kontor in ihr Arbeitszimmer. Ein reicher Posttag schien es gewesen zu sein, wohl zwanzig Briefe lagen auf der Platte des Schreibtisches.

Auch eine Kiste stand daneben am Boden, der Deckel bereits gelockert.

Sie las die Briefschaften, suchte Kortmer an seinem Pulte auf und kam dann nach einer längeren Besprechung zurück. Da stieß ihr Fuß, als sie sich eben zum Schreiben niedersetzen wollte, an die Kiste, und sie legte die Feder hin, knieete auf den Boden nieder und begann, auszupacken. – Was war das nur? Immer neue Holzwolle, Heu, Papier – endlich ein fester Körper. Sie versuchte ihn herauszuheben – keine Möglichkeit, er war zu schwer. Sie drückte auf die Klingel und befahl den Hausknecht. Der kräftige Harzerbursche hatte Mühe, einen sorglich mit Seidenpapier umwickelten Gegenstand empor zu heben.

„Das ist Stein oder Eisen, Frau Jussnitz,“ sagte er, stellte das räthselhafte Ding auf den Schreibtisch, wischte sich die feuchte Stirn mit der Schürze ab und ging.

Antje aber zerschnitt die Fäden, welche die Hülle befestigten, und riß das Papier herunter, – dann stand sie mit gefalteten Händen vor einer Gruppe von Metall, sie stumm betrachtend, und allmählich überzog ihr blasses Antlitz eine dunkle Röthe, ein paar schimmernde Tropfen hingen an den langen Wimpern. Wundervoll in der Komposition wie in der Modellirung war die vorwärts schreitende Idealgestalt eines Mannes; er stand auf der Spitze eines Felsens, den er im Lauf erklommen zu haben schien, sein Fuß schwebte bereits über dem Abgrund, im nächsten Augenblick mußte er in die Tiefe stürzen, die sein nach oben gerichteter Blick nicht wahrnahm. Um seinen Leib schlang sich eine Kette, und das andere Ende der Kette schloß sich um eine rührend schöne Frauengestalt; die lehnte in antiker keuscher Gewandung an dem Fels, ihre Hand hielt eine Spindel, das Symbol der Häuslichkeit und Weiblichkeit, der zarte Fuß stemmte sich gegen einen Stein am Boden, ihr Auge aber schaute dem Manne nach. In den Zügen dieses jungen Weibes prägten sich Liebe und Angst wunderbar fein aus.

„O, wohl dem Mann, den solche Ketten binden,
Aus Tod und Elend wird er heimwärts finden.“

war unten am Sockel in geätzter Schrift zu lesen.

Und Antje verstand – sie verstand. Sie lag plötzlich auf den Knieen vor dem Schreibtisch und umfaßte das Kunstwerk in stummem Jubel.

Dann suchte sie mit zitternden Händen nach einem Briefe, nach einem Wort – sie fand nichts; nur der Frachtbrief war da, er nannte als Absender eine berühmte Kunstgießerei in einer westfälischen Stadt.

Und nun suchte sie an der Gruppe und endlich fand sie in dem Fels zu Füßen der Frau zwei kleine Buchstaben, L. J., dasselbe Zeichen, wie es Leo seinen Bildern gab. Da senkte sie den Kopf gegen das kalte Erz und weinte.

An diesem Morgen war Antje für nichts Geschäftliches mehr zu haben; Herr Kortmer besorgte alles mit verwundertem Kopfschütteln. Frau Antje aber saß in ihrem großen Wohnzimmer und schrieb Privatbriefe.

Der alte Herr sagte zu seiner Frau beim Mittagessen: „’S ist doch immer ein Räthsel mit solch einem Weiberkopf, Alte; über ein halbes Jahr lang ist sie ganz vernünftig und sogar äußerst genial in der Arbeit gewesen; heute fällt’s ihr ein, Privatbriefe zu schreiben, zu einer Stunde, wo sie auf dem Platze hätte sein sollen. Und ein Telegramm an Herrn Ferdinand Frey, den sie zum Nachmittagskaffee herbestellt, ist auch schon fort. Holla, Frau Antje, da steckt etwas dahinter!“ –

Das war eine sehr lange Besprechung mit dem Vetter Ferdinand. Zuletzt wurde auch noch Herr Kortmer zugezogen. Er fand zwei junge Menschen mit vor Eifer glühenden Wangen und Augen, die vor Unternehmungslust funkelten.

Ach, und wie sich Herr Kortmer sträubte gegen den ungeheuerlichen Plan! „Eine Kunstgießerei anlegen? Nein unmöglich, ganz unmöglich! Wie sollte man denn konkurriren mit den berühmten Gießereien, zum Beispiel in Frankreich? Ja, da haben sie eben Künstler ersten Ranges, denn das Gießen, meine Herrschaften, das Gießen ist nicht die Hauptsache. Das Erz giebt es an vielen Orten, und die Komposition bekämen wir auch heraus, aber die Entwürfe der zu gießenden Gegenstände, die Idee, die Kunst, meine beste Frau Jussnitz, das Genie – ja, ja, suchen Sie nur, das findet sich nicht so beiläufig am Wege – nein, unmöglich, ganz unmöglich! Oder denken Sie, ein gottbegnadeter Künstler komme daher, sobald Sie nur pfeifen? Herr Gott im Himmel, mit so einer Versuchsgeschichte befaßt sich keiner, der etwas kann; den hält jeder fest, der ihn hat. Lassen Sie das nur, Frau Jussnitz, ich muß durchaus abrathen.“

Der alte Herr nahm aufgeregt eine Prise und schwenkte das rothseidene Taschentuch, und als er mit der sehr umständlichen Geschichte fertig war, sah er zu Frau Antje auf und blickte in ihr lachendes Gesicht. Herr Kortmer vergaß, seine Dose einzustecken, denn er hatte seine junge Herrin seit undenklicher Zeit nicht mehr lachen sehen. Und als er zu Herrn Frey hinüberblickte, lächelte der auch.

Der pflichttreue Beamte kam sich eine Minute lang vor wie verrathen und verkauft.

„Nun,“ sagte die junge Frau, „da wollen wir die Sache so drehen, lieber Kortmer: ich schaffe Ihnen zuerst das Genie, den Künstler, und dann errichten wir mit seiner Hilfe die Gießerei. Also ich hoffe, über vierzehn Tage kann ich Ihnen den besagten Herrn vorstellen. Ich hoffe –“ setzte sie leiser hinzu, „denn ich weiß ja nicht, ob er – –“ Dann hob sie den Kopf; „doch, ich weiß es; also in vierzehn Tagen! Und bitte, lieber Kortmer, sehen Sie sich einmal diese Gruppe an, wie gefällt sie Ihnen?“

Sie zog den alten Herrn vor den Kamin, auf dessen Sims das Kunstwerk stand. Die Lampen, die zu beiden Seiten brannten, beleuchteten hell die reizenden Gestalten, deren Patina wunderbar schön in diesem Lichte erschien.

„Ja, so einen – so einen können Sie lange suchen,“ sagte er endlich.

„Also, Sie geben doch zu, daß die Gruppe schön ist, lieber Kortmer?“

„Ja, soviel ich davon verstehe, sehr schön! Uebrigens, da müßte ich mich doch sehr irren, wenn ich nicht das Ding da abgebildet gesehen hätte. Herr Gott ja, warten Sie doch mal, Frau Jussnitz –“ Und der alte Herr lief, so rasch er konnte, nach dem Kontor und kehrte mit einem Blatt aus einer illustrierten Zeitung wieder.

„Sehen Sie doch, Frau Jussnitz, das muß es ja sein, und da steht auch etwas – ‚München, den 30. August 18… Berechtigtes Aufsehen machte in der Abtheilung der Bronzen und Kunstgüsse das Erstlingswerk eines jungen Künstlers: „Ketten“. – Genial in der Erfindung, geradezu vollendet in der Modellirung ist es eine der reizvollsten Arbeiten der ganzen Ausstellung. Jeden Beschauer wird der Ausdruck des Frauengesichtes sowie die Haltung des Körpers gerührt, ja bezaubert haben. Herr Leo Jussnitz, der Schöpfer dieses Kunstwerkes, soll, wie man sagt‘ – –“

Antje hatte auf einmal dem alten Mann das Blatt entrissen und las weiter: „‚soll, wie man sagt, bereits in früheren Jahren großes Talent für die Bildhauerkunst gezeigt haben; er arbeitete vorübergehend zu Berlin im Atelier des Professor Z., wandte sich aber, trotz der Aufmunterung seines berühmten Lehrers, wieder der Malerei zu, bis er, nach mancherlei Enttäuschungen, seinem ersten Beruf wieder zugeführt wurde.‘“

Antje ließ das Blatt sinken. Sie sah Herrn Kortmer an, der alte Mann schüttelte den Kopf und wandte sich rasch und ging der Thür zu. Da stand er noch einmal still, nahm die Brille ab und wischte daran, sie war ihm trübe geworden von ein paar Thränen.

„Nun also, dann wird’s so kommen!“ sagte er und ging hinaus.

Auch Herr Frey fuhr bald fort, er wollte diese bewegte glückliche Stunde in dem Leben der jungen Frau nicht stören.

Antje schloß bald darauf einen Brief und legte ihn selbst in die Postmappe. Er trug die Adresse der Kunstgießerei in [354] Westfalen. Eingeschlossen war ein kleinerer an Herrn Leo Jussnitz, und darin stand weiter nichts als: „Komm zu uns, zu Antje und“ – der Kleinen hatte sie die Hand geführt – „Leonie!“




Fast zwei Jahre sind verflossen. Ueber den Harzbergen spannt sich ein tiefblauer Sommerhimmel aus, frisch und klar ist hier oben die Luft.

Die Hütte „Gottessegen“ hat sich verändert, neue Gebäude ragen überall aus dem Grün der Bäume hervor, die Arbeiterwohnungen sind zu einem stattlichen Dörfchen herangewachsen. Noch immer muß der Reisende zu Wagen oder zu Fuß diese Abgeschiedenheit aufsuchen, denn die Bahn saust unten durch die Thäler. Aber viele kommen doch durch die herrlichen Wälder hier herauf, „Gottessegen“ ist ein ganz bekannter Punkt geworden in der Welt.

Heute ist vor dem Oberroder Gasthause „Zur grünen Tanne“, in dem es so köstliche Forellen giebt wie nirgends weit und breit, auch ein stattlicher Herr abgestiegen, hat sich besagte schöne Fische auftragen lassen und erkundigt sich nun angelegentlich bei der Wirthin, einer stattlichen Fünfzigerin, nach allen möglichen Dingen hier oben herum. Er hat einen müden Zug im Gesicht; das blonde Haar und der Bart sind schon mit grauen Fäden durchzogen.

„Meinen Sie das große Haus? Das ist die Gießerei; das Herrenhaus sehen Sie, sobald Sie auf den Platz treten; das Musterzimmer befindet sich unter dem Atelier, welches nach dem Garten zu angebaut ist. – Was sagen Sie, mein Herr? Ach so! Die Villa am Berge drüben? Die gehört dem Theilhaber der Firma, Herrn Ferdinand Frey, und in dem Schweizerhäuschen jenseit des Baches wohnen Doktors.“

„So – Doktors? Wie heißen denn die?“

„Maiberg, mein Herr; seit einem halben Jahre sind sie hier. Sie hätten nur gestern kommen müssen, da hätten Sie alle unsere Herrschaften sehen können; der alte Kortmer feierte nämlich sein vierzigjähriges Dienstjubiläum auf der Hütte. Das war ein großes Fest, und sie haben alle mitgetanzt, keine aber mehr als unsere Frau, und zuletzt hat Herr Kortmer ein Hoch auf sie ausgebracht; das war zu schön! – Sie kennen wohl Frau Jussnitz, mein Herr – oder nicht? Dann verstehen Sie auch nicht, wenn ich Ihnen erzähle, wie jung und alt sie gern hat! Ja, das ist eine Frau, unsere Frau!“

Der Fremde bleibt noch ein Weilchen sitzen, bestellt sich ein Zimmer, dann geht er hinauf nach dem Herrenhause und fragt nach Herrn Leo Jussnitz. Er ist im Atelier und man führt ihn dort hin.

Es ist ein schöner Raum, mit künstlerischem Schmuck ausgestattet; aber nicht weichlich, alles deutet auf bewußte Zwecke, es ist ein Arbeitsraum. Der junge Besitzer steht vor dem Thonmodell einer weiblichen Figur, bestimmt für einen Monumentalbrunnen. Er sieht nicht mehr so keck soldatenhaft aus, seine Haltung ist ein wenig gebückt, die Farbe ein wenig bleich – Ueberbleibsel von seinem Siechthum – aber was das Antlitz an Frische verlor, hat es an Tiefe des Ausdrucks gewonnen.

Er mustert den Fremden einen Augenblick verwundert, dann ruft er freundlich: „Herr Gott, Barrenberg, Sie? Wo – wo in aller Welt kommen Sie her?“

„Ich sitze drunten in H…burg und werde doch die Gelegenheit nicht versäumen, einen alten Freund und – na, ich darf es ja sagen, denn es ist keine Schmeichelei – vielgenannten und bestbekannten Künstler wieder zu sehen! Glück zu, Jussnitz, Sie haben es gut getroffen!“

Die beiden Männer schütteln sich die Hände. „Wie geht es Ihnen, Barrenberg?“

„Man lebt halt!“ ist die lachende Antwort. Aber Jussnitz bemerkt das Zucken des Gesichtes dabei. „Ihre Frau Gemahlin ist doch mitgekommen?“ erkundigt er sich.

Barrenberg hat sich schwerfällig in einen Sessel fallen lassen und sieht auf seine bestaubten Stiefel.

„Wenn Sie Irene von Erlach meinen, so fragen Sie Signor Colani nach seiner Gemahlin! Er wohnt mit ihr in Florenz.“

Jussnitz weiß nicht, was er antworten soll; da fliegt die Thür auf und ein kleines Mädchen stürmt herein, den Hut im Nacken, daß die weichen goldschimmernden Haare um das Köpfchen tanzen. Es fällt Jussnitz um den Hals und küßt ihn.

„Papa, Papa! Tante Maiberg mit Fred und Tante Frey sind gekommen, und Fred will immer laufen, und dann kann er nicht und fällt immer hin – es ist zum Todtlachen!“

Jussnitz lächelt, heißt sein Töchterchen dem Fremden die Hand geben und bittet ihn dann, mitzukommen.

Von der Veranda tönen fröhliche Stimmen herüber; auf dem Kiesplatz davor spielt eine farbige Wärterin mit einem dunkellockigen Kinde.

Die Hausfrau hat den Kommenden gleich erkannt; in ihrer stillen wohlthuenden Freundlichkeit geht sie ihm entgegen. Er sieht sie erstaunt an – wie sie aufgeblüht ist in den warmen Strahlen der Glückssonne, die über ihrem Hause aufging! „Welch eine schöne, gute Frau!“ sagt sich Barrenberg, als er in die tiefen schimmernden Augen gesehen hat, und er nimmt Platz neben ihr, nachdem er den andern vorgestellt worden ist.

Er läßt seine Blicke umherwandern. Dort, die kleine Blonde hat er bisher nicht gekannt, das ist Frau Frey. Aber da, jenes schöne schlanke Weib in weißem Kleide, mit den träumerischen dunklen Augen, das ist die kleine Spanierin von damals. Hilde sitzt und wickelt Garn, eine alte Frau hält es ihr. Diese wird ihm als Frau Polly Berger genannt, die zum Besuch bei ihrer Nichte weilt.

Bald ist ein lebhaftes Gespräch in Fluß. Antje berichtet von dem gestrigen Fest; Hilde erzählt von ihrem Aufenthalt in Brasilien. „Ich kann nicht beschreiben,“ schließt sie, „wie selig ich war, als ich wieder deutschen Boden unter meinen Füßen hatte. – Es war ein zu guter Gedanke von Ihnen, Antje, daß Sie Wolf und mich hier als ‚Doktors‘ haben wollten.“

Dabei springt sie auf und läuft die Stufen hinunter, hebt ihren dicken kleinen Fred empor und küßt ihn so ungestüm, daß der Junge schreit. Sie muß sich immer ab und zu auf solche Weise Luft machen, sonst hält sie das Stillsitzen nicht aus. Dann kommt sie athemlos zurück und setzt sich mit leuchtenden Augen auf ihren Platz. „Ein zu guter Gedanke, Antje!“ wiederholt sie nochmals und sieht zu dem Schweizerhäuschen hinauf, das ihre Heimath ist.

„Meine Frau hat immer nur gute Gedanken,“ sagt Leo und drückt Antjes Hand. Sie wird dunkelroth vor Freude und beginnt ein Gespräch mit Barrenberg. Und dessen ängstliches Gesicht beruhigt sich. Ja, Antje konnte es wagen, Hilde hier eine Heimath zu geben, denn Leos Herz gehört ganz seinem Weibe.

„Ich las vor ein paar Wochen in der Zeitung einen langen Artikel über Ihr Anwesen,“ spricht Barrenberg zu der jungen Frau, „ich darf es doch auch einmal durchwandern?“

„Gewiß!“ ruft Jussnitz, „und der Chef selbst wird sich die Ehre geben, Sie zu führen.“

Sie lacht und verspricht es.

„Das nenne ich wirklich ideal, wo technische Leitung und Kunst so Hand in Hand gehen,“ sagt Barrenberg.

Am Abend begleitet Leo den Freund nach dem Wirthshause. Barrenberg hat die Gastfreundschaft Antjes abgelehnt. „Nicht aus Bescheidenheit, Jussnitz,“ erklärt er stockend, „aber – ich bin ja nicht gerade neidisch; Sie verstehen mich gewiß –. Leben Sie wohl, Jussnitz, Sie haben das große Los gezogen. Eine schöne Frau und eine kluge Frau ist die Ihre. Aber ihre Bedeutung liegt nicht darin, daß sie fähig ist, eine solche Stellung auszufüllen, ihre Bedeutung liegt in ihrer Güte, in ihrer echten Weiblichkeit. Die Güte aber, Jussnitz, das ist die Hauptsache! Signora Colani war eine gar nicht unbedeutende Frau, aber – wo war die Herzensgüte bei ihr? Ach –“

Und er drückt noch einmal Leos Hand, dann geht dieser zurück.

Im dunklen Garten kommt ihm langsam eine lichte Gestalt entgegen. Er legt den Arm um sie, beide wandern auf und ab.

Auf einmal bleibt er stehen. „Barrenberg hat recht,“ sagt er und streicht über ihre Wange. „Die Güte ist die Hauptsache – was hätte ich angefangen ohne Deine Güte!“

„Ohne Deine Kette!“ neckt sie leise und schlingt die Arme um seinen Hals.

„Gottlob!“ spricht er, sie küssend, „daß es solche Ketten giebt, Gottlob!“