Die chemische Industrie (1914)

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Autor: Gustav Schultz
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Titel: Die chemische Industrie
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 132–146
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
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Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[579]
Die chemische Industrie
Von Professor Dr. Gustav Schultz in München


Eine richtige Einschätzung der außerordentlichen Höhe, zu welcher die deutsche chemische Industrie heutzutage, vor allem durch die Entwickelung in dem letzten Vierteljahrhundert, emporgestiegen ist, ergibt sich erst, wenn man sich die vorhergehende Zeit vor Augen hält. Es genügen hier zum Vergleich einige kurze Ausführungen.

Geschichtlicher Rückblick.

Wenn wir unsere moderne Kultur, Wissenschaft und Technik vielfach auf die klassischen Völker des Altertums und durch deren Vermittelung auf die uralten Kulturreiche am Nil und Euphrat zurückführen können, so ist dieses für die chemische Industrie nur in sehr beschränktem Maße möglich.

Freilich finden sich Anfänge einer solchen bereits bei jenen ältesten Völkern, wofür schriftliche und inschriftliche Nachrichten und bildliche Darstellungen sowie zahlreiche Reste in unsern Museen und antiken Bauwerken Zeugnis geben.

Vieles kannten und konnten sie schon längst in staunenswerter Vollendung, z. B. Glasbläserei und Mörtelbereitung, und manches von ihnen angewandte technische Verfahren ist uns heute noch nicht klar, wie die Herstellung der römischen Terrasigilatagefäße, des Farbenschmelzes der griechischen Vasen und der mächtigen Eisenbarren, wie sie sich z. B. in dem Museum der Saalburg finden.

Aber von diesen alten, auf chemischer Grundlage beruhenden Gewerben hat sich nichts Nennenswertes zu uns herüber gerettet. Es mußte alles neu erfunden werden; das war schwierig genug, da ganz abgesehen von den Unruhen der Völkerwanderungen und Kriege, welche eine systematische Pflege und Ausbildung der einst gewonnenen Fertigkeiten und Erkenntnisse unmöglich machten, in äußerlich ruhigeren Zeiten geistige Strömungen die Naturwissenschaften und damit auch die Industrie nicht aufkommen ließen und öfters geradezu unterdrückten.

Erst nach vielen vergeblichen Mühen fiel den nach Naturerkenntnis Ringenden allmählich die scholastische und metaphysische Binde von den Augen, welche die richtige Beobachtung und Erklärung der oft einfachsten Naturvorgänge verhindert hatte.

So kam es, daß bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Gewerbetätigkeit auf chemischem Gebiete nur eine minimale war und sich kaum über einige in der Glasmacherei, Färberei und Medizin gebrauchte Salze, wie Vitriole und Alaune, welche aus den Hüttenbetrieben stammten, Glaubersalz, einige Säuren wie Nordhäuser [580] Vitriolöl, Salzsäure und Salpetersäure, ferner Schwefel, Ultramarin und andere Farbstoffe erstreckte. Die Chemie lag damals ausschließlich in den Händen von Ärzten und Apothekern oder von Goldmachern, Betrügern und Selbstbetrügern und hatte öfters einen Anstrich von Zauberei und Charlatanerie.

Erst dem Ende des achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, die schwarze Kunst zur Wissenschaft zu erheben, welche nunmehr feststellt, daß bei der Umformung der Stoffe und der Kräfte kein Atom und keine Energie verloren geht, daß es in der Natur nur eine Wahrheit gibt und daß ein unter denselben Bedingungen angestellter Versuch stets dieselben Resultate liefert.

Diese besonders durch die Forscher Lavoisier, Scheele, Priestley, Richter und Dalton begründete und durch Berzelius, Liebig, Wöhler, Bunsen, Kolbe, A. W. Hofmann und Aug. Kelulé ausgebaute Wissenschaft konnte nun als sichere, vertrauenswürdige Führerin für das chemische Gewerbe auftreten. Sie zeigte den Weg, zufällig gemachte Entdeckungen richtig zu deuten und zielbewußt zu erfolgreichen Erfindungen auszubauen.

Aber noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war in Deutschland die chemische Industrie klein und kümmerlich gegenüber der schon damals in England und Frankreich vorhandenen. Damals existierten in Preußen nur etwa 260 chemische Betriebe mit zusammen 3500 Arbeitern. Die im Jahre 1861 veranstaltete Gewerbezählung des Zollvereins ermittelte, daß in 1480 chemischen Fabriken (Koks- und Gasanstalten, Chemikalien- und Farbenfabriken, Fabriken von Zündwaren, Seifen und Paraffin) zirka 24 000 Arbeiter beschäftigt waren. Deutschland war damals ein überwiegend agrarischer Staat, welcher sich fast nur auf die Erträge der Landwirtschaft und Forstwirtschaft stützte.

Umschwung im letzten Vierteljahrhundert.

Ein vollständiger Umschwung dieser Verhältnisse ist erst mit der Gründung des Deutschen Reiches eingetreten, namentlich im letzten Vierteljahrhundert, so daß Deutschland sich immer mehr und mehr zum Industriestaat zu entwickeln beginnt.

Im Jahre 1894 waren in den 5758 chemischen Betrieben Deutschlands bereits 110 348 Arbeiter und erhielten 98 621 506 M. an Löhnen. Bis zum Jahre 1912 ist die Zahl der Betriebe auf 9147, die Zahl der darin beschäftigten Vollarbeiter auf 249 819 und die Zahl der Einzelarbeiter auf 472 596 gestiegen. An Löhnen und Gehältern wurden in diesem Jahre 324 712 477 M. gezahlt. Für Unfallentschädigungen wurden 3 198 398 Mark verausgabt.

Diese Zahlen beweisen deutlich genug, in welchem außerordentlichen Maße die Arbeitskräfte zugenommen haben, die zurzeit in der chemischen Industrie tätig sind, und zeigen damit auch deren beispiellose Entwickelung in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Das konnte aber nur dadurch geschehen, daß die moderne chemische Industrie sich nicht allein bei allen Maßnahmen auf ihre eigene Wissenschaft stützte, sondern sich auch sonst alles zunutze machte, was die moderne Wissenschaft und Technik in verwandten Fächern leistet. Dem weitschauenden Blick des deutschen Kaufmanns war es dann vorbehalten, die Ergebnisse in erfolgreiche Bahnen zu leiten.

[581] Solche Erfolge konnten nur aufblühen in den langen Jahren des Friedens, welcher uns beschieden war unter dem Schutz und der Fürsorge, deren Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft sich zu erfreuen hatten.

Die rasche Verbreitung neuer wissenschaftlicher Errungenschaften durch Literatur und namentlich auch durch Patentliteratur wurde ein großes Hilfsmittel unserer Zeit.

Deutschland jetzt in Konkurrenz mit älteren Industrieländern.

So ist es denn auch gekommen, daß Deutschland, welches früher Erzeugnisse der chemischen Industrie meistens von auswärts zu beziehen genötigt war, nunmehr auch in lebhafte Konkurrenz mit den älteren Industrieländern England und Frankreich getreten ist und diese in mancher Beziehung längst überflügelt hat.

Dieses ergibt sich aus folgender Zusammenstellung: Deutschland führte im Jahre 1888 zirka 860 000 Tonnen chemische Rohstoffe im Werte von 143 Mill. Mark ein und 304 000 Tonnen Rohstoffe im Werte von 28 Mill. Mark aus. In demselben Jahre wurden 195 000 Tonnen fertige chemische Fabrikate im Werte von 100 Mill. Mark eingeführt und 409 000 Tonnen Fabrikate im Werte von 208 Mill. Mark ausgeführt.

Im Jahre 1912 betrug die Einfuhr an chemischen Produkten 1,93 Mill. Tonnen im Werte von 417 Mill. Mark, die Ausfuhr 4,16 Mill. Tonnen im Werte von 825 Mill. Mark.

Anorganische chemische Großindustrie.

Von den einzelnen Zweigen der chemischen Industrie tritt zunächst die anorganische chemische Großindustrie in den Vordergrund, welche den Namen davon hat, daß sie durch den Umfang und die Größe ihrer Hauptbetriebe, in welcher vorzugsweise anorganische Säuren, Alkalien und Salze gewonnen werden, besonders imponiert.

Die Schwefelsäure.

Hiervon ist es in erster Linie die Schwefelsäure, auf deren Fabrikation die ganze chemische Industrie sich aufbaut, und welche eine ebenso wichtige Rolle darin spielt wie der Koks in der Metallurgie oder der Kalk im Baugewerbe.

Jedenfalls ist sie auch dasjenige chemische Präparat, welches im größten Maßstabe fabriziert wird, denn man schätzt die heutige jährliche Weltproduktion auf 5 Mill. Tonnen, also auf 5000 Mill. Kilo. Davon ist Nordamerika mit 1,5 Mill. Tonnen, Deutschland mit 1,3 Mill., England mit 1 Mill., Frankreich mit ½ Mill. Tonnen beteiligt. Österreich und Italien fabrizieren je 200 000 Tonnen, Belgien 165 000 Tonnen, Rußland 125 000 Tonnen und Japan 50 000 Tonnen.

Die Hauptmenge dieser gewaltigen Produktion wird in der Fabrikation von künstlichen Düngern verbraucht und kommt der Landwirtschaft zugut. In Deutschland dienen allein für diesen Zweck 800 000 Tonnen, wovon 600 000 Tonnen für die Herstellung von Superphosphaten und 200 000 Tonnen zur Gewinnung von schwefelsaurem [582] Ammoniak verwendet werden. Sehr große Mengen von Schwefelsäure dienen weiter zur Überführung von Chlornatrium in Salzsäure und Sulfat und von Chilesalpeter in Salpetersäure, Sulfat und Bisulfat und zur Umwandlung von Kaolin in schwefelsaure Tonerde. Aber auch zu vielen anderen chemischen Zwecken wird Schwefelsäure verwendet, z. B. in der Metallindustrie als Beize, oder zur Trennung von Gold und Silber, ferner zur Herstellung von Salzen, Füllung von Akkumulatoren usw.

Bei allen diesen Verwendungen handelt es sich gewöhnlich um die seit zirka 150 Jahren bekannte sogenannte englische Schwefelsäure, welche in zwei Formen als Kammersäure und als die etwas stärkere aber unreinere Gloversäure gewonnen wird. Hiervon dient die Kammersäure, welche in riesigen bis zu 30 000 cbm Inhalt besitzenden Kammern aus Bleiblech erzeugt wird, zur Fabrikation künstlicher Düngemittel oder wird durch Abdampfen des in ihr vorhandenen Wassers (35–40 Proz.) in Bleipfannen, Glas-, Porzellan-, Quarzglas-, Eisen- oder Platingefäßen in die gewöhnliche Handelsware von 93–98 Proz. übergeführt. Aus dieser läßt sich dann durch Ausfrieren eine Schwefelsäure von 100 Proz. (Monohydrat) herstellen.

Der ungeheure Bedarf an Schwefelsäure, welcher sich von Jahr zu Jahr durch den erfreulicherweise steigenden Gebrauch von künstlichen Düngemitteln in Deutschland erhöht hat, ist nicht ohne Einfluß auf den Fabrikationsgang geblieben, zumal der englischen Schwefelsäure ein immer ernster werdender Konkurrent in der rauchenden Schwefelsäure herangewachsen ist.

Da man nicht bereits bestehende, mit großen Kosten errichtete Bleikammersysteme, solange sie noch mit gutem Erfolge arbeiten, beseitigen mag, so wurden wenigstens da Verbesserungen eingeführt, welche außerhalb dieses Systemes lagen.

Vor allem ist dieses bei dem ersten Stadium der Schwefelsäuregewinnung, bei der Herstellung der schwefligen Säure schon vielfach geschehen.

Die schweflige Säure wird zum größten Teil durch Abrösten des meistens aus Spanien und Portugal bezogenen Schwefelkieses (Pyrit) erhalten. Deutschland bezog im Jahre 1888 von dort 175 000 Tonnen im Werte von 3,5 Mill. Mark; die heutige Einfuhr beträgt 1 Mill. Tonnen im Werte von 29 Mill. Mark.

Die Röstöfen, in welchen die schweflige Säure aus Pyrit hergestellt wird, waren, wenn es sich um den sandigen Kies (Feinkies) handelt, früher nach dem System Maletra mit Handbetrieb eingerichtet.

Bei diesem Ofensystem sind die Arbeiter, welche öfters die Arbeitstüren zu öffnen haben, um den Kies umzurühren und von Etage zu Etage herabzuschaufeln, naturgemäß den schädlichen Dämpfen der schwefligen Säure ausgesetzt. Dieser Übelstand ist nun durch mechanisch arbeitende Röstöfen beseitigt, welche oft von so riesigen Dimensionen sind, daß man in ihnen täglich 25[1] Tonnen Kies verarbeiten kann.

Bei dem zweiten Stadium, der Überführung der in den Kiesöfen enthaltenen schwefligen Säure in Schwefelsäure sind die alten, großen Bleikammern schon vielfach durch das auf kleinerem Raume dasselbe leistende, intensiv arbeitende runde Tangentialsystem oder durch Reaktionstürme ersetzt, wie sie in den Glovertürmen schon von früher vorhanden sind.

Endlich ist bei dem letzten Stadium, bei der Gewinnung der üblichsten Handelsware [583] von 66 Grad der große Fortschritt zu verzeichnen, daß man die sehr teuren Platinapparate zur Konzentration nicht mehr braucht. Denn mit Hilfe der rauchenden oder Kontaktschwefelsäure kann man viel billiger als früher Schwefelsäure von jeder Stärke herstellen.

Rauchende Schwefelsäure.

Während die Fabrikation der englischen Schwefelsäure nach dem Bleikammersystem bis vor nicht langer Zeit so ausgearbeitet war, daß sie nahezu theoretische Ausbeuten lieferte und keiner Verbesserung und Verbilligung weiter zu bedürfen schien, hat sich vor längerer Zeit zunächst in aller Stille ein Konkurrent aufgetan, welcher von Tag zu Tag ernster zu nehmen ist und das alte bewährte Verfahren ganz zu beseitigen droht.

Dieser Konkurrent ist die oben erwähnte rauchende Schwefelsäure, auch Kontaktschwefelsäure oder Oleum genannt.

Das Produkt als solches ist nicht neu; es ist vielmehr die älteste Form der Schwefelsäure, welche schon lange vor der englischen Säure durch Destillation von Vitriol und Alaun in Thüringen hergestellt und, weil von Nordhausen aus verschickt, als Nordhäuser Vitriolöl in den Handel kam.

Diese Verbindung soll der arabische Alchimist Geber schon gegen 700 aus Eisenvitriol durch Destillation erhalten haben.

Während des Dreißigjährigen Krieges ging diese Industrie in Thüringen ein und wurde erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Böhmen in der Nähe von Pilsen wieder ins Leben gerufen.

Dort ist sie in den Starckschen Werken bis vor 15 Jahren in größerem Maßstabe ausgeübt worden.

Heute ist die Darstellung der rauchenden Schwefelsäure aus Vitriol vollständig aufgegeben, weil inzwischen die nach dem Wincklerschen Verfahren erhaltene Kontaktschwefelsäure so leicht darstellbar und so billig geworden ist, daß sie in absehbarer Zeit auch die englische Schwefelsäure aus dem Felde schlagen dürfte. Schon jetzt rechnet man, daß in Deutschland allein 400 000 Tonnen Kontaktsäure fabriziert werden.

Bedarf der Teerfarbstoff-Fabriken.

Die steigende Produktion dieser Säure ist besonders durch immer größer werdenden Bedarf der Teerfarbstoffabriken veranlaßt worden.

Zunächst war es die Herstellung des künstlichen Alizarins, welche, Anfang der siebziger Jahre vorigen Jahrhunderts in größerem Maßstabe begonnen, jährlich steigende Mengen davon benötigte. Jedoch konnten diese lange Zeit in dem Vitriolöl geliefert werden.

Als jedoch vor etwa 20 Jahren die Herstellung des künstlichen Indigos von Seiten der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik größere Mengen der Säure benötigte, wurde dort das bereits bekannte Kontaktverfahren von Clemens Winkler durch den genialen Chemiker Knietsch ausgearbeitet und in den Betrieb eingeführt. Das Winklersche Verfahren beruht auf der Vereinigung von schwefliger Säure und Luftsauerstoff durch Vermittelung einer Kontaktsubstanz, welche gewöhnlich auf Asbest fein verteiltes Platin ist.

[584] Da sie weder die Reaktionstürme von Glover und Gay-Lussac noch die teuren Bleikammern mit vielen Apparaturen und Gebäuden, noch teure Konzentrationsvorrichtungen benötigt, Arbeitskräfte erspart und außerdem ein hochwertiges Produkt liefert, welches nach dem Kammerverfahren überhaupt nicht zu erhalten ist, endlich nur den dritten Teil der englischen Schwefelsäure bei der Herstellung kostet, so hat sie alle Aussicht, die englische Schwefelsäure zu verdrängen.

Die Kontaktsäure hat ferner den Vorteil, daß sie vollständig arsenfrei ist. Das Kontaktverfahren bedingt nämlich, daß die schweflige Säure, welche aus den Pyritöfen kommt, frei von Arsen ist, weil die Kontaktsubstanz (Platin) bei Gegenwart von Arsen nicht funktioniert. Englische Schwefelsäure ist aber, falls sie nicht aus arsenfreiem Schwefel hergestellt wird, immer arsenhaltig, denn die Pyrite enthalten stets Arsen; die fertige Säure ist nur durch umständliche teure Verfahren davon zu befreien.

Die Hauptverwendung der rauchenden Schwefelsäure findet in den Fabriken von Teerfarbstoffen, Sprengstoffen und Ceresin statt.

Endlich sei hier noch von der Schwefelsäure im allgemeinen gesagt, daß sie wegen ihres niedrigen Preises keine großen Frachten vertragen kann und daher von und nach dem Auslande hin kein bedeutender Handelsartikel ist. Dieses ergibt sich auch aus dem Umstande, daß die Einfuhr heute die Ausfuhr kaum um 2000 Tonnen übersteigt. Vor 25 Jahren überwog die Einfuhr die Ausfuhr noch um etwa 7000 Tonnen.

Die Fabrikation von Salzsäure und Salpetersäure beruht heute noch immer im wesentlichen auf den alten Verfahren der Zersetzung von Chlornatrium und Natriumnitrat (Chilesalpeter) durch konzentrierte Schwefelsäure; es sind jedoch in dem letzten Vierteljahrhundert ganz gewaltige Fortschritte in den Produktionsmengen und neue Verfahren zur Herstellung dieser überaus wichtigen Produkte zu verzeichnen.

Salzsäure.

Die heutige Produktion der Salzsäure in Deutschland wird auf 500 000 t einer 30prozentigen Ware geschätzt (gegen 150 000 t vor 25 Jahren). Diese Menge wird auch im Lande verbraucht, da Einfuhr und Ausfuhr sich die Waage halten. Die Salzsäure stammt, wie seit der Erfindung des Sodaprozesses von Leblanc vor etwa 100 Jahren, aus diesem Verfahren, welches auf der Einwirkung von Schwefelsäure auf Kochsalz oder Steinsalz besteht. Das Hauptprodukt ist das zur Sodafabrikation verwendete Sulfat (schwefelsaures Natrium), welches außerdem in der Glasfabrikation, in der Färberei und auch sonst vielfach Anwendung findet.

Die Leblanc-Sodafabrikation ist jedoch schon seit längerer Zeit durch die mehr und mehr aufkommende Ammoniaksodafabrikation bedrängt. Von den vor einem Vierteljahrhundert noch bestehenden etwa 20 Leblanc-Sodafabriken sind 15 eingegangen. Aber auch in ihrer Verwendung wird die Salzsäure insofern bedroht, als das Chlor, zu dessen Herstellung sie früher erforderlich war, immer mehr und mehr auf elektrolytischem Wege gewonnen wird.

Aus allen diesen Gründen ist in die Produktion der Salzsäure zeitweise eine gewisse Beunruhigung hineingekommen, welche in erheblichen Preisschwankungen zum Ausdruck kam.

[585] Von den neuen Verfahren zur Salzsäurebereitung scheint die Zersetzung der aus den Staßfurter Abraumsalzen stammenden, in unerschöpflicher Menge vorhandenen Chlormagnesiumlauge am geeignetsten zu sein.

Salpetersäure.

Salpetersäure wird in Deutschland heute, wie zur Zeit der Alchimisten, immer noch durch Einwirkung von Schwefelsäure auf Salpeter hergestellt, nur daß für den damals verwendeten Kalisalpeter der Chilesalpeter getreten ist. Von Verbesserungen kommt für Deutschland in den letzten 25 Jahren eigentlich nur die Anwendung des luftverdünnten Raumes in Betracht, wodurch teilweise Zersetzung der bereits gebildeten Salpetersäure verhindert wird.

Die im Auslande, und zwar zurzeit in Norwegen, Tirol und in der Schweiz mit Erfolg versuchte Gewinnung der Salpetersäure aus dem Stickstoff der Luft dürfte für Deutschland nicht in Frage kommen, da hierzu sehr billige Betriebskräfte gehören, wie sie in den angeführten Ländern mit ihren reichen Wasserkräften zur Verfügung stehen. Für Deutschland kommt zunächst nur das in Betracht, was von Luftsalpetersäure, Kalisalpeter und Natriumnitrit, welche mit Hilfe des elektrischen Stromes erhalten werden, eingeführt und verwertet wird.

Das ganze Quantum von Natriumnitrit, welches 5000 Tonnen beträgt und welches in den deutschen Farbenfabriken zur Anwendung kommt, stammt heute nur allein aus Norwegen.

Auch die Einfuhr an Norgesalpeter (Kalksalpeter) nach Deutschland hat von Jahr zu Jahr zugenommen. Sie betrug im ersten Jahre, als dieses Produkt hergestellt wurde, nämlich im Jahre 1907, zirka 630 Tonnen im Werte von 112 000 M. und ist innerhalb fünf Jahren auf 4800 Tonnen im Werte von 672 000 M. gestiegen.

Trotzdem wird, wenn auch die Salpetersäureproduktion durch Verwertung neuer Wasserkräfte sich noch erheblich steigern sollte, von einer Konkurrenz mit dem Chilesalpeter noch lange nicht die Rede sein können, da die riesigen Salpeterfelder Chiles und der benachbarten Staaten unerschöpflich zu sein scheinen. Zur Zeit beträgt die jährliche Ausfuhr von Salpeter aus Südamerika 2,5 Mill. Tonnen, wovon 800 000 Tonnen nach Deutschland kommen.

Die Salpetersäurefabrikation, welche in Deutschland vor zirka 25 Jahren etwa 15 000 Tonnen betrug, ist heute auf 150 000 Tonnen gewachsen, was einem Werte von 48 Mill. Mark entspricht.

Die Salpetersäure dient zur Herstellung von Nitroglyzerin und Nitrozellulose für Sprengstoffe, Zelluloid, Kohlenfäden von Glühbirnen und Kunstseide, ferner für Nitrokörper in der Teerfarbenindustrie und Sprengtechnik, für Ammonnitrat für Sicherheitssprengstoffe, als Trennungsmittel von Gold und Silber (Scheidewasser), als Oxydationsmittel, als Sauerstoffträger in der Schwefelsäurefabrikation und für zahlreiche andere Zwecke.

Chlorindustrie.

An die oben näher skizzierte Industrie der wichtigsten anorganischen Säuren schließt sich am besten die Chlorindustrie an, welche in [586] Deutschland durch die seit 15 Jahren daselbst eingeführte Elektrolyse von Alkalichloriden, Chlorkalium und Chlornatrium, neuerdings auch Chlorkalzium eine vollständig andere Gestalt angenommen hat.

Bis zum Jahre 1898 wurde das namentlich in der Bleicherei verwendete Chlor ausschließlich durch Oxydation der Salzsäure mittels Braunstein (Scheele 1774) oder Luft in Gegenwart von Kupferchlorid und höherer Temperatur (Deacon 1868) hergestellt. Damals kostete eine Tonne Chlorkalk, die üblichste transportable Form als Chlor, 250–260 M.; mit der Einführung der Elektrolyse ist dieser Preis heute auf 90 M. herabgegangen.

Wenn die heutige Weltproduktion von Chlorkalk auf 300 000 Tonnen geschätzt wird, so beträgt der Anteil Deutschlands dabei 100 000 Tonnen im Werte von 9 Mill. Mark, wobei 70 000 Tonnen nach dem elektrolytischen Verfahren aus den oben genannten Chloralkalien erhalten werden, der Rest nach dem Deaconverfahren, da das Scheele-Weldonverfahren mit Braunstein wohl kaum mehr in Anwendung sein dürfte.

Doch nicht allein nach der Richtung der Fabrikationsmethode, sondern auch bezüglich des Welthandels mit Chlorkalk haben sich die Verhältnisse in Deutschland vollständig verschoben.

Im Jahre 1890 mußte Deutschland noch an 6500 Tonnen Chlorkalk einführen, und zwar von England, dem damaligen Hauptproduzenten. Heute übersteigt die Ausfuhr die Einfuhr um mehr als 20 000 Tonnen, und England ist dasjenige Land, welches am meisten von uns das Material bezieht.

Bei der Elektrolyse der Chloralkalien werden diese einerseits in Chlor, andererseits in Kali- bezw. Natronlauge und Wasserstoff umgewandelt.

Die Verwendung des Chlors bezw. des daraus dargestellten Chlorkalkes ist jedoch nicht auf die Zwecke des Bleichens von Zeugen, besonders von Baumwolle beschränkt. Auch das Chlor als solches findet in der Teerfarbenfabrikation zur Herstellung von Zwischenprodukten eine sehr vielseitige Anwendung. Die am meisten hergestellten Chlorprodukte dieser Art sind Chlorschwefel, Chloressigsäure, Chlorbenzol, Benzylchlorid, Benzalchlorid und Benzotrichlorid. Das viel gebrauchte Chloroform wird aus Chlorkalk und Azeton hergestellt.

Soda.

Von den in der Großindustrie gewonnenen Alkalien tritt zunächst die Soda in den Vordergrund. Auch bei dieser für sehr viele Zweige der chemischen Industrie äußerst wichtigen Verbindung hat sich in den letzten 25 Jahren eine großartige Umwälzung in dem Verfahren vollzogen.

Noch im Jahre 1888 wurden von der Weltproduktion an Soda, welche damals 800 000 Tonnen betrug, noch etwa 500 000 Tonnen nach dem alten Leblancverfahren aus Sulfat, Kohle und Kalkstein hergestellt. Inzwischen ist das von Solvay ausgearbeitete Ammoniaksodaverfahren, welches weit billiger arbeitet als die alte Methode, so weit in den Vordergrund getreten, daß von den 2 Millionen Tonnen der heutigen Weltproduktion bereits 1,9 Mill. Tonnen nach dem Solvayverfahren hergestellt werden.

Wie von Anfang an, ist England heute noch mit seinen jährlich produzierten 700 000 Tonnen der Haupthersteller der Soda, während Deutschland davon 400 000 Tonnen [587] (darunter nur noch 10 000 Tonnen nach dem Leblancverfahren), die Vereinigten Staaten 250 000 Tonnen und Frankreich 200 000 Tonnen erzeugen. Durch die Einführung des Ammoniaksodaverfahrens ist der ursprüngliche Preis der Soda von 224 M. auf 80 M. für die Tonne gesunken.

Pottasche.

Da das Ammoniaksodaverfahren auf die Fabrikation von Pottasche nicht übertragbar ist, so wird letztere entweder nach dem Prinzip der Leblancsoda, d. h. aus Kaliumsulfat, Kohle und Kalkstein oder nach den älteren Verfahren aus Holzasche, Schlempekohle und dem Wollschweiß der Schafe hergestellt. Daneben wurden seit etwa 15 Jahren nicht unerhebliche Mengen einer sehr reinen Pottasche (heute zirka 8000 Tonnen) nach dem Magnesiaverfahren, welches von Precht in die Technik eingeführt wurde, fabriziert. Auch die elektrolytisch gewonnene Kalilauge wird heute zum Teil auf Pottasche verarbeitet, während die elektrolytisch erhaltene Natronlauge als solche, resp. als Ätznatron verwertet oder auf metallisches Natrium verarbeitet wird.

Ammoniak.

Eine sehr große Aufmerksamkeit wendet die chemische Industrie seit einigen Jahren der Gewinnung des Ammoniaks und dessen Salzen zu, welche besonders als Düngemittel eine immer größere Bedeutung für die Landwirtschaft erhalten. Denn der moderne Landwirt hat sich schon längst überzeugt, daß der Stalldünger nicht genügt, die durch die Feldfrüchte oder das Viehfutter dem Boden entzogenen Pflanzennährmittel Kali, Phosphorsäure und Stickstoff zu ersetzen.

Kali.

Was das Kali anbetrifft, so ist Deutschland bekanntlich wie kein anderes Land von der Natur durch die großen Lager von Abraumsalzen bedacht, welche sich über den ungeheuren bis zu 1000 m starken Steinsalzlagern Norddeutschlands befinden. Die in diesen Abraumsalzen sich in verschiedenen Gestalten, namentlich als Kainit und Karnallit, findenden Kalisalze kommen heute im wesentlichen der deutschen Landwirtschaft zugute. Während die Förderung im Jahre 1888 1,2 Mill. Tonnen betrug, ist sie im Jahre 1912 bereits auf über 10 Mill. Tonnen gestiegen.

Phosphorsäure.

Bezüglich der Phosphorsäure ist zu erwähnen, daß dieses äußerst wichtige Pflanzennährmittel in Deutschland vielfach in Form von Thomasschlackenmehl dem Boden zugeführt wird. Es war dieses erst möglich, nachdem durch die Einführung des Thomasverfahrens unsere riesigen phosphorhaltigen Eisenerzlager verwendet werden konnten.

Der heutige Bedarf an Phosphorsäure wird jedoch dadurch nicht gedeckt, sondern Deutschland muß weitere phosphorsäurehaltige Düngemittel wie Guano und Phosphate, und zwar zirka 903 000 Tonnen im Werte von 45 Mill. Mark einführen. Diese verarbeitet Deutschland zusammen mit Thomasschlacken und Knochenmehl in etwa 100 Fabriken auf 1,4 Mill. Tonnen Superphosphat.

Die wichtigste Quelle für den Stickstoff ist nun außer dem oben mehrfach erwähnten, [588] direkt von den Pflanzen aufgenommenen und darin besonders zu Eiweißkörpern verarbeiteten Salpeter in erster Linie Natron- oder Chilesalpeter. Daneben aber spielt heute das Ammoniak eine große Rolle, welches als Sulfat in den Handel kommt.

Quellen für die Ammoniakgewinnung.

Die Hauptquelle für das Ammoniak und dessen Salze sind heute die Kokereien und Leuchtgasfabriken; denn die darin der trockenen Destillation unterworfene Steinkohle enthält 1 bis 2 Prozent Stickstoff, welcher zum Teil in Ammoniak übergeht und sich in den sogenannten Gaswässern wiederfindet.

Nachdem nun seit dem letzten Vierteljahrhundert unsere Eisenindustrie und die damit eng verbundene Koksfabrikation infolge der Anwendung des basischen Thomasverfahrens einen geradezu beispiellosen Aufschwung genommen haben, so ist auch die Ammoniakgewinnung immer mehr und mehr gestiegen.

Weitere Quellen für die Ammoniakgewinnung sind die Leuchtgasfabrikation, welche namentlich in England eine große Rolle spielt, die trockene Destillation von bituminösem Schiefer, Schweelkohle und Torf und die Verarbeitung von Kalkstickstoff.

Die heutige Weltproduktion von schwefelsaurem Ammoniak beträgt 1,3 Mill. Tonnen; Deutschland ist daran mit 490 000 Tonnen beteiligt.

Durch diesen Weltverbrauch von Ammonsulfat werden dem Erdboden 270 000 Tonnen, durch den Weltverbrauch an Chilesalpeter (2,4 Mill. Tonnen) 273 000 Tonnen Stickstoff zugeführt.

Ein neues Verfahren der Ammoniakgewinnung aus dem Luftstickstoff und Wasserstoff mit Zuhilfenahme von Kontaktsubstanzen, bei einer Temperatur von 500° und einem Druck von 200 Atmosphären (nach Haber) wird in der badischen Anilin- und Soda-Fabrik in größtem Maßstabe ausgeführt werden.

Leider geht das meiste Ammoniak heute noch immer durch Verbrennung unserer Kohlen in die Luft. Bei dem heutigen Jahresverbrauch von etwa 1000 Mill. Tonnen Steinkohlen (in Deutschland 156 Mill. Tonnen) 100 Mill. Tonnen Braunkohlen und 10 Mill. Tonnen Torf sind dieses aber sehr beträchtliche Mengen Ammoniak.

Fortschritte in der Herstellung gasförmiger Produkte.

Ganz besonders große Fortschritte hat die chemische Industrie in dem letzten Vierteljahrhundert bei der Herstellung von gasförmigen Produkten gemacht, welche teils wegen ihrer physikalischen Beschaffenheit, wie der Wasserstoff wegen seines geringen spezifischen Gewichtes (0,07 gegen Luft = 1), teils wegen ihrer chemischen Eigenschaften in der Technik immer größere Anwendung finden.

Über die Gase Chlor und Ammoniak wurde schon oben gesprochen; die Herstellung von flüssiger Luft durch Linde und andere ist ein rein physikalischer Vorgang und hat für die chemische Industrie insofern großen Wert, als man auf diese Weise möglichst reinen Sauerstoff (flüssige Luft) und möglichst reinen Stickstoff in großem Maßstabe erhalten kann. Auf chemischem Wege wird Sauerstoff neben Wasserstoff durch Elektrolyse des Wassers technisch gewonnen.

[589] Die beiden Hauptbestandteile unserer Atmosphäre, Sauerstoff und Stickstoff, spielen, nachdem man sie erst vor nicht langer Zeit im Großen voneinander zu trennen und einzeln zu verwenden gelernt hat, in verschiedenen Industrien eine sehr große Rolle.

Der Sauerstoff (flüssige Luft, oder elektrolytisch neben Wasserstoff hergestellt) dient in der Eisenindustrie zum Öffnen durch Eisen verstopfter Stichlöcher bei Hochöfen, mit Wasserstoff (Knallgas), Leuchtgas, Azetylen oder Blaugas (komprimiertes Ölgas) zusammen als Erzeuger sehr heißer Stichflammen, um einzelne Eisenstücke auseinanderzuschneiden oder mehrere Eisenstücke mittels geschmolzenen Eisens aneinander zu löten (schweißen). Auch in der neueren Industrie der künstlichen Rubine und Saphire und anderer im großen hergestellter, mit den natürlichen vollständig identischer Edelsteine wird Sauerstoff im Verein mit Wasserstoff in größerem Maßstabe benutzt.

Stickstoff wird heute besonders für die Herstellung von Kalkstickstoff verwendet, welcher entsteht, wenn man Kalziumkarbid bei einer Temperatur von 1000° mit Stickstoff behandelt. Der Kalkstickstoff kann direkt in der Landwirtschaft verwendet werden; es ist jedoch besser, ihn mit überhitztem Wasserdampf in Ammoniak umzuwandeln und dieses mit Schwefelsäure neutralisiert in die übliche Handelsform des schwefelsauren Ammoniaks zu bringen.

Dasselbe, was soeben von dem Sauerstoff und Stickstoff gesagt wurde, nämlich, daß eine eigentliche Industrie dieser Gase kaum 20 Jahre alt ist, gilt ebenso von dem Wasserstoff. Man stellte dieses Element wohl im Laboratorium und gelegentlich für Luftballonfahrten her, aber von einer dauernden Fabrikation in größerem Maßstabe ist erst seit dem Jahre 1898 die Rede, als die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron den bei der Elektrolyse von Chloralkalien erhaltenen Wasserstoff auffing und in Stahlflaschen aus Mannesmannrohr komprimiert in den Handel brachte. Heute erzeugt diese Fabrik in ihren Werken Griesheim, Bitterfeld und Rheinfelden täglich zirka 2000 Kubikmeter Wasserstoff, größere Mengen werden ferner in Gersthofen am Lech, den Höchster Farbwerken gehörig, und in Weißig a/E., einer Filiale der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul bei Dresden, ebenfalls durch Elektrolyse gewonnen.

Die genannten Fabriken sind Füllorte für Luftballons und Luftschiffe oder liefern den Wasserstoff komprimiert.

Die alte Methode, das Gas aus Eisen oder Zink und Schwefelsäure oder Salzsäure herzustellen, kommt bei größerem Bedarf an diesem Gase in Deutschland wohl kaum mehr zur Anwendung. Ein zweites im Jahre 1794 von Coutelle erfundenes Verfahren, Wasserstoff durch Zersetzung von Wasser mit Eisen herzustellen, ist neuerdings dadurch verbessert worden, daß man Eisenspäne unter Zusatz von Kochsalz und Kupfer unter Wasser in einem Autoklaven aus Stahl bis auf 300° erhitzt. Man erhält dann fast reines Wasserstoffgas, welches nur 4–7 Pfennige per Kubikmeter kostet.

Ferner wird Wasserstoff neuerdings durch starke Abkühlung des aus gleichen Teilen Wasserstoff und Kohlenoxyd bestehenden Wassergases in einer Luftverflüssigungsmaschine hergestellt. Dabei verflüssigt sich das bei –192° siedende Kohlenoxyd, während der erst bei –253° flüssige Wasserstoff gasförmig bleibt. Das Kohlenoxyd ist brennbar und dient zum Antrieb der Luftverflüssigungsmaschine. Auch der nach diesem Verfahren [590] erhaltene Wasserstoff ist bis auf einen geringen Gehalt an Stickstoff (0,4 – 0,8 Proz.) rein; er besitzt das spezifische Gewicht 0,77 und kostet 11 – 14 Pfennige pro Kubikmeter. Noch etwas billiger ist ein anderes ebenfalls vom Wassergas ausgehendes Verfahren zu stehen, das darin besteht, daß man dieses Gas über mit etwas Eisen versetzten Ätzkalk leitet, wobei kohlensaurer Kalk und Wasserstoff sich bildet. Der Kubikmeter des so erhaltenen Wasserstoffes kostet nur 6 Pfennige.

Andere Verfahren, welche von Azetylen, Ölgas oder Steinkohlengas ausgehen, arbeiten in der Weise, daß sie die darin enthaltenen Kohlenwasserstoffe durch starke Hitze oder elektrische Funken zerlegen, wobei gleichzeitig Ruß erhalten wird.

Für transportable Anlagen, also auch für militärische Zwecke, zum Füllen von Luftballons oder Luftschiffen, welche Wasserstoff von stehenden Anlagen oder aus nachgeführten Stahlzylindern nicht entnehmen können, eignen sich außer dem alten Verfahren, welches auf der Einwirkung von Eisen oder Zink auf Säuren beruht, noch die Behandlung von Natronlauge mit Aluminium, Silicium oder Ferrosilicium, welche sämtlich viel teurer als die oben besprochenen Verfahren sind. Auch das Kalziumhydrid ist neuerdings zur Verwendung gekommen. Der aus ihm hergestellte Wasserstoff kommt auf 4 M. pro Kubikmeter zu stehen.

Organische chemische Industrie.

Wenn man früher und bisweilen irrtümlicherweise noch heute unter der chemischen Großindustrie nur die anorganischen Zweige zusammenfaßt, so entspricht dieses nicht mehr den Tatsachen, da sich allmählich die organische Industrie und besonders seit dem letzten Menschenalter immer mehr und mehr entwickelt und der älteren Schwester ebenbürtig an die Seite gestellt hat. Es muß sogar noch besonders hervorgehoben werden, daß sie dabei nicht selten fördernd und umgestaltend in die anorganischen Verfahren eingegriffen hat, da sie die anorganischen Präparate für eigene Betriebe benötigt.

Geht man im einzelnen den Erfolgen nach, welche die organische chemische Industrie in den letzten 25 Jahren zu verzeichnen hat, so wird man sich wohl zunächst der Teerfarbenfabrikation zuwenden, welche von allen Zweigen dieser Industrie der größte und gerade auch für die deutschen Verhältnisse der bemerkenswerteste ist.

Ursprünglich in England im Jahre 1856 durch Perkin und 1858[2] in Frankreich durch Verguin entstanden, ist diese Industrie vor 50 Jahren in Deutschland aufgenommen und hat sich dort aus kleinen Anfängen bald zur heutigen großartigen Blüte entwickelt.

Steinkohlenteer.

Das Ausgangsmaterial für die Teerfarbstoffe ist der aus den Kokereien und Leuchtgasfabriken stammende Steinkohlenteer. Dieser wird in heute zum Teil musterhaft eingerichteter Teerdestillation zunächst in die farblosen Kohlenwasserstoffe Benzol, Toluol, Xylol, Naphthalin und Anthrazen, ferner in Karbolsäure, Karbazol, schwere Öle für Holzimprägnation und das als Rückstand bleibende Pech gespalten.

Während vor 25 Jahren Deutschland genötigt war, die für seine Farbenfabrikation nötigen Bestandteile des Steinkohlenteers aus dem Auslande, namentlich aus England [591] zu beziehen, ist es heute infolge seiner großen Koksfabrikation und der dabei als Nebenprodukt auftretenden großen Teermengen vollständig vom Auslande unabhängig geworden. Deutschland erzeugt heute in seinen Kokereien und Leuchtgasanstalten allein soviel Teer, nämlich etwa 1,2 Mill. Tonnen, wie die ganze Welt zusammen vor 25 Jahren.

Die 7 oben zuerst genannten Teerbestandteile werden nun in den 70 Farbenfabriken, welche auf der Welt existieren, und von welchen sich die bedeutendsten in Deutschland befinden, auf Farbstoffe verarbeitet, deren Wert heute in Deutschland an 300 Mill. Mark betragen dürfte.

Wissenschaftliche Tätigkeit.

Es besteht darüber kein Zweifel, daß die beispiellose Entwickelung dieser Industrie in dem Zeitraume von kaum 60 Jahren aus den allerbescheidensten Anfängen zu ihrer jetzigen Höhe nur dadurch erfolgt ist, daß sie sich von Anbeginn auf die Wissenschaft stützte und sich deren Resultate zunutze machte.

So sind denn auch die ersten Erfindungen auf diesem Gebiete, die des Mauveïns und des Fuchsins (Anilinrots), die des künstlichen Alizarins, des Eosins und der Azofarbstoffe, welche bereits vor 1888 bekannt waren, in wissenschaftlichen Laboratorien aus rein wissenschaftlichen Erwägungen heraus hervorgegangen.

Und das ist heute in noch viel größerem Maße der Fall, denn jede Teerfarbenfabrik hat wissenschaftliche Chemiker in ihrem Dienste. In jeder der größeren Fabriken Deutschlands sind 200 bis 300 und mehr an der Arbeit. Ein Teil dieser Chemiker hat die Aufgabe, die oft sehr komplizierten Prozesse der Farbstoffbildung aus den farblosen Teerbestandteilen zu verfolgen und bis zum verkaufsfähigen Endprodukt zu führen. Andere müssen die von auswärts eingehenden Rohstoffe oder die Produkte der eigenen Firma untersuchen und kontrollieren.

Ein weiterer Teil dieser Chemiker hat die ganz besondere Aufgabe, die neuesten Resultate der Wissenschaft zu studieren und neue Erfindungen zu machen.

Um das zu ermöglichen, stehen diesen Chemikern vortrefflich eingerichtete Laboratorien, große Bibliotheken und reiche Mittel zur Verfügung.

Der Erfolg, welchen diese Industrie erzielte, indem sie zielbewußt auf dem bisher eingeschlagenen Wege fortschritt, hat bewiesen, daß dieser Weg der richtige war.

Täglich tauchen bei einer derartig intensiven Arbeit neue Erfindungen und deren Produkte auf. Von letzteren haben viele nur ein ephemeres Dasein, da sie bald durch ein eigenes, bald durch ein Produkt der Konkurrenz überholt werden. Es mögen heute vielleicht an 2000 Einzelindividuen und damit hergestellte Hunderttausende von Mischungen vorhanden sein. Aber von Anbeginn an ist ein gewisser Bestand der alten Farbstoffe geblieben, wie das Fuchsin aus dem Jahre 1858, wenn es heute auch längst nach einem ganz anderen Verfahren als vor 55 Jahren hergestellt wird.

Das deutsche Patentgesetz, welches bei chemischen Produkten nicht das Produkt selbst, sondern das Herstellungsverfahren schützt, hat naturgemäß die Erfindertätigkeit in höchstem Maße angespornt. Sobald ein gutes Produkt der Konkurrenz auftaucht, [592] wird dahin gestrebt, diesen Körper auf einem anderen Wege herzustellen, so ist denn die Zahl der Farbstoffpatente einschließlich der Rohmaterialien eine ganz enorme und beträgt unter den bis heute überhaupt erteilten ca. 267 000 deutschen Patenten nicht weniger als an 20 000.

Baumwollenfarbstoffe.

Unter denjenigen Teerfarbstoffen, welche in dem letzten Vierteljahrhundert eine besondere Bedeutung erlangt haben, ist zunächst die Klasse der substantiven Baumwollfarbstoffe zu erwähnen, welche die Eigenschaft besitzen, Baumwolle und Leinen direkt ohne Beize zu färben. In dieser Zeit haben sich weiter eine große Anzahl von schönen und echten Anthrazenfarbstoffen an das bereits bekannte Alizarin und dessen Abkömmlinge, gereiht, wie die sauer färbenden Anthrazenabkömmlinge und das schön blaue Indanthren. Ferner wurden eine große Anzahl von in Wasser unlöslichen Azofarbstoffen, welche teils auf der Faser, teils als Pigmentfarben Verwendung finden, erfunden. Bemerkenswert war die Klasse der Schwefelfarben, welche eine Fundgrube für echte schwarze und blaue echte Farbstoffe war, von welchen besonders das billige Schwefelschwarz und das schöne Hydronblau zu erwähnen sind.

Künstlicher Indigo.

Ein Triumph der Teerfarbenindustrie der letzten 25 Jahre ist jedoch in erster Linie die nach vielen vergeblichen Versuchen endlich gelungene Auffindung von Verfahren, den Indigo, den am meisten gebrauchten organischen Farbstoff, fabrikmäßig herzustellen.

Bekanntlich hat nach der Eröffnung des Seewegs nach Ostindien der in vielen tropischen Ländern, namentlich in Ostindien erzeugte Indigo nach und nach den deutschen, aus der Waidpflanze besonders in Thüringen gewonnenen Indigo verdrängt.

Noch im Jahre 1888 betrug der Verbrauch an natürlichem Indigo in Deutschland 1180 Tonnen im Werte von 17 Mill. Mark.

Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich die Wissenschaft vielfach mit diesem wichtigsten aller Farbstoffe beschäftigt, aber erst vor etwa 30 Jahren gelang es Adolf Baeyer, ihn künstlich herzustellen. Technisch wurde er zuerst von der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik nach einem von Heumann (1897) erfundenen Verfahren fabriziert. Diese Firma und die Höchster Farbwerke sind heute die Hauptproduzenten des ohne Beihilfe der Pflanze erzeugten Indigos. Die Ausgangsmaterialien dafür sind die aus dem Steinkohlenteer stammenden farblosen Kohlenwasserstoffe: Naphthalin und Benzol. Hieraus werden täglich über 20 Tonnen künstlicher Indigo hergestellt.

Eine Hauptausfuhr von Deutschland findet heute besonders auch nach denjenigen Ländern statt, in welchen Pflanzenindigo früher am meisten hergestellt und verwendet wurde, nach Ostindien und nach China. Für das Jahr 1912 wird der Wert dieser Ausfuhr mit über 45 Mill. Mark angegeben. Demgegenüber ist die Einfuhr des natürlichen Indigos nur noch klein und wird wohl bald ganz aufhören. Sie betrug im vorigen Jahr an Wert etwa eine halbe Million Mark.

[593] Optimisten sind der Meinung, daß der künstliche Indigo in den tropischen Ländern bald ganz den natürlichen verdrängen wird, so wie früher der natürliche ostindische Indigo unseren Waidbau oder vor nicht langer Zeit das künstliche, von Graebe und Liebermann 1868 erfundene künstliche Alizarin den blühenden Krappbau in Südfrankreich vernichtete.

Außer dem Indigoblau selbst wurden in neuerer Zeit eine größere Anzahl von Farbstoffen aus der Indigoklasse hergestellt, welche ebenfalls Küpenfarbstoffe sind. Darunter befinden sich nicht allein blaue, sondern auch anders färbende Körper, wie z. B. das prachtvolle Thioindigoscharlach.

Künstliche Heilmittel.

Außer den Teerfarbstoffen spielen im Gebiete der organischen chemischen Großindustrie die künstlichen Heilmittel eine große Rolle. Schon vor 40 Jahren wurde aus Karbolsäure die Salizylsäure im Großen hergestellt und hat als Konservierungsmittel und in der Medizin eine sehr große Verwendung gefunden. Später haben dann besonders Antipyrin, Antifebrin und Phenazetin, in neuerer Zeit Aspirin, Pyramidon als Fiebermittel und Novokokaïn und Alypin als schmerzstillende Mittel Eingang gefunden.

Auch die Schlafmittel Sulfonal, Trional und Veronal sind wie alle ältere Chloralhydrate Produkte der organischen chemischen Industrie. Dazu haben sich einige Arsenpräparate wie das Salvarsan (Ehrlich-Hatta 606) gesellt, von welchen sich auch die Veterinärheilkunde viel verspricht.

Auch die Industrie der Riechstoffe ist hierher zu rechnen. Schon vor längerer Zeit gelang es, das Kumarin, das aromatische Prinzip des Waldmeisters, auf künstlichem Wege aus Salizylaldehyd herzustellen; dann folgte das Vanillin, welches sich in der Vanille natürlich bildet, und das Jonon, welches dem Duft der Veilchen gleichkommt. Auch ist es gelungen, künstlichen Kampfer herzustellen.

Auch diese Industrie ist in Deutschland sehr bedeutend geworden.

Kautschuk.

Neuerdings beschäftigt man sich sehr viel mit dem Problem, den für unsere heutige Zeit unentbehrlich gewordenen Kautschuk billiger herzustellen, als es die Natur in verschiedenen Milchsaft führenden Pflanzen vermag.

Insofern ist man der Lösung der Aufgabe nahegekommen, als man künstlich ein mit Kautschuk identisches Produkt herstellen kann. Aber dieses ist dem natürlichen Kautschuk gegenüber noch nicht konkurrenzfähig. Die gestellte Aufgabe harrt also noch der definitiven Lösung.

Kunstseide.

Ein anderes Gebiet, welches zur organischen chemischen Großindustrie zu rechnen ist, ist jedoch bereits sehr weit fortgeschritten; es ist die Herstellung von Kunstseide und ähnlichen Stoffen aus Zellulose.

Von den vier Hauptverfahren war vor 25 Jahren bereits das vom Grafen Chardonnet 1884 erfundene bekannt, welches darin besteht, Nitrozellulose in Äther-Alkohol zu lösen und das so erhaltene Kollodium aus feinen Glasröhren in die Luft oder in Wasser [594] austreten zu lassen. Die auf diese Weise erhaltenen Nitrozellulosefäden werden ihrer gefährlichen Eigenschaften, der leichten Brennbarkeit, durch Denitrieren entkleidet.

Aus derselben Masse werden auch die leicht entflammbaren Films für photographische Zwecke und besonders auch für die Vorführungen durch den Kinematographen angefertigt.

Die anderen drei neuen Kunstseiden, der Glanzstoff oder die Kupferseide, die Viskose und die Azetatzellulose, zeigen diese leichte Entflammbarkeit nicht.

Seide wird am besten und billigsten durch die Viskose nachgeahmt. Für die Kinematographenfilms wird sich am besten wohl die Azetatzellulose eignen.

Die Weltproduktion an allen diesen 4 Kunstseiden zusammen wird auf 5 Mill. Kilo im Werte von 60 bis 70 Mill. Mark geschätzt. Deutschland produzierte im Jahre 1908 davon 1,2 Mill. Kilo und verbrauchte 1,5 Mill. Kilo.

Sprengstoffe.

Endlich gehören zu der organischen chemischen Industrie auch die modernen Sprengstoffe, welche neben dem noch immer in großen Mengen erzeugten Schwarzpulver und den gefährlichen Dynamiten und der Schießbaumwolle sich einbürgern, weil sie weit handhabungssicherer sind. Zu diesen Sicherheitssprengstoffen sind besonders die aus Ammonnitrat und Nitrokörpern (besonders Trinitrotoluol) hergestellten Mischungen zu rechnen. Zur Füllung von Granaten werden Pikrinsäure und Trinitrotoluol benutzt.

Der vorstehende kurze Überblick über die Leistungen der heutigen chemischen Industrie zeigt, wie dieser Zweig der Technik sich in Deutschland in den letzten 25 Jahren geradezu beispiellos entwickelt hat.

Die Gründe hierfür sind darin zu suchen, daß die chemische Industrie nur dann mit Erfolg gedeihen kann, wenn sie sich auf die Wissenschaft stützt, wie das hier geschehen ist. Dazu kommen deutscher Fleiß, deutsche Gründlichkeit und Zuverlässigkeit und eine weise Fürsorge der leitenden Stellen.

  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „25 Tonnen“ statt „25 000“
  2. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „1858“ statt „1868“