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von 66 Grad der große Fortschritt zu verzeichnen, daß man die sehr teuren Platinapparate zur Konzentration nicht mehr braucht. Denn mit Hilfe der rauchenden oder Kontaktschwefelsäure kann man viel billiger als früher Schwefelsäure von jeder Stärke herstellen.

Rauchende Schwefelsäure.

Während die Fabrikation der englischen Schwefelsäure nach dem Bleikammersystem bis vor nicht langer Zeit so ausgearbeitet war, daß sie nahezu theoretische Ausbeuten lieferte und keiner Verbesserung und Verbilligung weiter zu bedürfen schien, hat sich vor längerer Zeit zunächst in aller Stille ein Konkurrent aufgetan, welcher von Tag zu Tag ernster zu nehmen ist und das alte bewährte Verfahren ganz zu beseitigen droht.

Dieser Konkurrent ist die oben erwähnte rauchende Schwefelsäure, auch Kontaktschwefelsäure oder Oleum genannt.

Das Produkt als solches ist nicht neu; es ist vielmehr die älteste Form der Schwefelsäure, welche schon lange vor der englischen Säure durch Destillation von Vitriol und Alaun in Thüringen hergestellt und, weil von Nordhausen aus verschickt, als Nordhäuser Vitriolöl in den Handel kam.

Diese Verbindung soll der arabische Alchimist Geber schon gegen 700 aus Eisenvitriol durch Destillation erhalten haben.

Während des Dreißigjährigen Krieges ging diese Industrie in Thüringen ein und wurde erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Böhmen in der Nähe von Pilsen wieder ins Leben gerufen.

Dort ist sie in den Starckschen Werken bis vor 15 Jahren in größerem Maßstabe ausgeübt worden.

Heute ist die Darstellung der rauchenden Schwefelsäure aus Vitriol vollständig aufgegeben, weil inzwischen die nach dem Wincklerschen Verfahren erhaltene Kontaktschwefelsäure so leicht darstellbar und so billig geworden ist, daß sie in absehbarer Zeit auch die englische Schwefelsäure aus dem Felde schlagen dürfte. Schon jetzt rechnet man, daß in Deutschland allein 400 000 Tonnen Kontaktsäure fabriziert werden.

Bedarf der Teerfarbstoff-Fabriken.

Die steigende Produktion dieser Säure ist besonders durch immer größer werdenden Bedarf der Teerfarbstoffabriken veranlaßt worden.

Zunächst war es die Herstellung des künstlichen Alizarins, welche, Anfang der siebziger Jahre vorigen Jahrhunderts in größerem Maßstabe begonnen, jährlich steigende Mengen davon benötigte. Jedoch konnten diese lange Zeit in dem Vitriolöl geliefert werden.

Als jedoch vor etwa 20 Jahren die Herstellung des künstlichen Indigos von Seiten der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik größere Mengen der Säure benötigte, wurde dort das bereits bekannte Kontaktverfahren von Clemens Winkler durch den genialen Chemiker Knietsch ausgearbeitet und in den Betrieb eingeführt. Das Winklersche Verfahren beruht auf der Vereinigung von schwefliger Säure und Luftsauerstoff durch Vermittelung einer Kontaktsubstanz, welche gewöhnlich auf Asbest fein verteiltes Platin ist.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/146&oldid=- (Version vom 5.7.2016)