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zu beziehen, ist es heute infolge seiner großen Koksfabrikation und der dabei als Nebenprodukt auftretenden großen Teermengen vollständig vom Auslande unabhängig geworden. Deutschland erzeugt heute in seinen Kokereien und Leuchtgasanstalten allein soviel Teer, nämlich etwa 1,2 Mill. Tonnen, wie die ganze Welt zusammen vor 25 Jahren.

Die 7 oben zuerst genannten Teerbestandteile werden nun in den 70 Farbenfabriken, welche auf der Welt existieren, und von welchen sich die bedeutendsten in Deutschland befinden, auf Farbstoffe verarbeitet, deren Wert heute in Deutschland an 300 Mill. Mark betragen dürfte.

Wissenschaftliche Tätigkeit.

Es besteht darüber kein Zweifel, daß die beispiellose Entwickelung dieser Industrie in dem Zeitraume von kaum 60 Jahren aus den allerbescheidensten Anfängen zu ihrer jetzigen Höhe nur dadurch erfolgt ist, daß sie sich von Anbeginn auf die Wissenschaft stützte und sich deren Resultate zunutze machte.

So sind denn auch die ersten Erfindungen auf diesem Gebiete, die des Mauveïns und des Fuchsins (Anilinrots), die des künstlichen Alizarins, des Eosins und der Azofarbstoffe, welche bereits vor 1888 bekannt waren, in wissenschaftlichen Laboratorien aus rein wissenschaftlichen Erwägungen heraus hervorgegangen.

Und das ist heute in noch viel größerem Maße der Fall, denn jede Teerfarbenfabrik hat wissenschaftliche Chemiker in ihrem Dienste. In jeder der größeren Fabriken Deutschlands sind 200 bis 300 und mehr an der Arbeit. Ein Teil dieser Chemiker hat die Aufgabe, die oft sehr komplizierten Prozesse der Farbstoffbildung aus den farblosen Teerbestandteilen zu verfolgen und bis zum verkaufsfähigen Endprodukt zu führen. Andere müssen die von auswärts eingehenden Rohstoffe oder die Produkte der eigenen Firma untersuchen und kontrollieren.

Ein weiterer Teil dieser Chemiker hat die ganz besondere Aufgabe, die neuesten Resultate der Wissenschaft zu studieren und neue Erfindungen zu machen.

Um das zu ermöglichen, stehen diesen Chemikern vortrefflich eingerichtete Laboratorien, große Bibliotheken und reiche Mittel zur Verfügung.

Der Erfolg, welchen diese Industrie erzielte, indem sie zielbewußt auf dem bisher eingeschlagenen Wege fortschritt, hat bewiesen, daß dieser Weg der richtige war.

Täglich tauchen bei einer derartig intensiven Arbeit neue Erfindungen und deren Produkte auf. Von letzteren haben viele nur ein ephemeres Dasein, da sie bald durch ein eigenes, bald durch ein Produkt der Konkurrenz überholt werden. Es mögen heute vielleicht an 2000 Einzelindividuen und damit hergestellte Hunderttausende von Mischungen vorhanden sein. Aber von Anbeginn an ist ein gewisser Bestand der alten Farbstoffe geblieben, wie das Fuchsin aus dem Jahre 1858, wenn es heute auch längst nach einem ganz anderen Verfahren als vor 55 Jahren hergestellt wird.

Das deutsche Patentgesetz, welches bei chemischen Produkten nicht das Produkt selbst, sondern das Herstellungsverfahren schützt, hat naturgemäß die Erfindertätigkeit in höchstem Maße angespornt. Sobald ein gutes Produkt der Konkurrenz auftaucht,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/154&oldid=- (Version vom 11.9.2016)