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Optimisten sind der Meinung, daß der künstliche Indigo in den tropischen Ländern bald ganz den natürlichen verdrängen wird, so wie früher der natürliche ostindische Indigo unseren Waidbau oder vor nicht langer Zeit das künstliche, von Graebe und Liebermann 1868 erfundene künstliche Alizarin den blühenden Krappbau in Südfrankreich vernichtete.

Außer dem Indigoblau selbst wurden in neuerer Zeit eine größere Anzahl von Farbstoffen aus der Indigoklasse hergestellt, welche ebenfalls Küpenfarbstoffe sind. Darunter befinden sich nicht allein blaue, sondern auch anders färbende Körper, wie z. B. das prachtvolle Thioindigoscharlach.

Künstliche Heilmittel.

Außer den Teerfarbstoffen spielen im Gebiete der organischen chemischen Großindustrie die künstlichen Heilmittel eine große Rolle. Schon vor 40 Jahren wurde aus Karbolsäure die Salizylsäure im Großen hergestellt und hat als Konservierungsmittel und in der Medizin eine sehr große Verwendung gefunden. Später haben dann besonders Antipyrin, Antifebrin und Phenazetin, in neuerer Zeit Aspirin, Pyramidon als Fiebermittel und Novokokaïn und Alypin als schmerzstillende Mittel Eingang gefunden.

Auch die Schlafmittel Sulfonal, Trional und Veronal sind wie alle ältere Chloralhydrate Produkte der organischen chemischen Industrie. Dazu haben sich einige Arsenpräparate wie das Salvarsan (Ehrlich-Hatta 606) gesellt, von welchen sich auch die Veterinärheilkunde viel verspricht.

Auch die Industrie der Riechstoffe ist hierher zu rechnen. Schon vor längerer Zeit gelang es, das Kumarin, das aromatische Prinzip des Waldmeisters, auf künstlichem Wege aus Salizylaldehyd herzustellen; dann folgte das Vanillin, welches sich in der Vanille natürlich bildet, und das Jonon, welches dem Duft der Veilchen gleichkommt. Auch ist es gelungen, künstlichen Kampfer herzustellen.

Auch diese Industrie ist in Deutschland sehr bedeutend geworden.

Kautschuk.

Neuerdings beschäftigt man sich sehr viel mit dem Problem, den für unsere heutige Zeit unentbehrlich gewordenen Kautschuk billiger herzustellen, als es die Natur in verschiedenen Milchsaft führenden Pflanzen vermag.

Insofern ist man der Lösung der Aufgabe nahegekommen, als man künstlich ein mit Kautschuk identisches Produkt herstellen kann. Aber dieses ist dem natürlichen Kautschuk gegenüber noch nicht konkurrenzfähig. Die gestellte Aufgabe harrt also noch der definitiven Lösung.

Kunstseide.

Ein anderes Gebiet, welches zur organischen chemischen Großindustrie zu rechnen ist, ist jedoch bereits sehr weit fortgeschritten; es ist die Herstellung von Kunstseide und ähnlichen Stoffen aus Zellulose.

Von den vier Hauptverfahren war vor 25 Jahren bereits das vom Grafen Chardonnet 1884 erfundene bekannt, welches darin besteht, Nitrozellulose in Äther-Alkohol zu lösen und das so erhaltene Kollodium aus feinen Glasröhren in die Luft oder in Wasser

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/156&oldid=- (Version vom 2.10.2016)