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Autor: Levin Schücking
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Titel: Die Herrin von Arholt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–36
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Novelle in 10 Teilen
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[441]

Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.


Unter den eben aufknospenden Baumreihen der Ringstraße Wiens – zwischen Kolowrat- und Stubenring – ging an einem sonnigen Apriltage um die Mittagsstunde ein junger Mann auf den vom Gedränge freien Kieswegen, die Hände auf dem Rücken, langsam dahin und drückte mit einem gewissen Selbstbewußtsein oder jugendlichen Kraftgefühle seine Schritte dem Boden ein. Zu solchem Selbstgefühle schien freilich die ganze Gestalt desselben berechtigt, wenn anders Dinge, welche die äußere Erscheinung bilden, dazu berechtigen können. Der dunkelblonde männliche Kopf war offenbar vor Wind und Wetter nie sehr ängstlich gehütet worden und hatte doch einen vorherrschenden Ausdruck bewegten Geisteslebens in den feinen Zügen und den groß und scharfblickenden blaugrauen Augen bekommen, und mit diesen faßte er die ihm zur Linken über das Trottoir dahin fluthende Menge auf, die Reihe der kunstgeschmückten Paläste und die Erzeugnisse des rastlos nach den schönsten Formen und Farben jagenden Luxus in den Läden. Es war etwas wie eine philosophische Betrachtung, als er sich jetzt sagte, wie wenig anerkannt doch die bewundernswürdige Phantasie von Tausenden von erfinderischen Köpfen bleibe, die all diese Formen und Gebilde erzeuge und diese Farben zusammenstelle, wie unbelohnt alles Das, was von wahrer Kunstschöpfung in diesen Dingen stecke, und welch wunderliche Welt es sei, in der sich so selten die tüchtige Leistung und die gute That lohne, während so unausbleiblich „die Schuld sich räche“, wie Goethe sagt. –

Unser Spaziergänger war wirklich ein Philosoph. Aber jetzt nahm plötzlich eine Erscheinung seine Aufmerksamkeit in Anspruch, wie sie nur ein junger Mann und kein Philosoph so fest ins Auge zu fassen pflegt.

Es war eine Dame in einem dunklen Stoffkleide, einem ebenso einfachen, mit seiner Form noch dem Winter angehörenden Hut, den nichts weiter schmückte, als der grün umhergeschlungene Schleier, und in einem warm die Schultern umhüllenden Tuche. Es konnte zweifelhaft sein, ob das junge Mädchen, das etwa zwanzig Schritte weit vor dem Wandelnden auf dem Promenadenwege stehen geblieben, eine Dame sei oder eine Zofe oder ein Fräulein vom Ladentische. Aber nicht der Wunsch, über diese Frage ins Klare zu kommen, ließ unsern Spaziergänger sie so betroffen ins Auge fassen; auch nicht die auffallende Schönheit der Gestalt, die, sie mochte nun sein was sie wollte, sie zu einem ausgezeichneten Modell für jeden Bildhauer machen mußte. Es war ihr feines, von wenig Farbe angehauchtes geradliniges Profil, das ihm auffiel, weil es eine dämmernde, längst halb erloschene Erinnerung in ihm heraufbeschwor. Er nahm dies Profil wahr, weil sie eben vor einer ihr begegnenden Frau aus dem Volke stehen blieb und dabei auf ihre Schulter zurückblickte, auf welche sie eben mit großer Anmuth die feine Hand legte, um das herabgesunkene Tuch höher heraufzuziehen.

Mit der ihr begegnenden, ärmlich und hexenhaft aussehenden Alten sprach sie eifrig und leise und wandte, als er an ihr vorüberschritt, das Gesicht von ihm ab. Wie seltsam deutlich doch die Erinnerung war, welche das Gesicht dieser ihm noch gänzlich fremden Dame in ihm wachgerufen hatte! Bis in seine früheste Jugend reichte diese Erinnerung zurück. Er sah sich in Knabenjacke und Strohhut als etwa zwölfjährigen Knaben mit seinem Erzieher, einem würdigen Candidaten und jetzt längst ehrwürdigen „Pastor auf dem Lande“, in den zu seinem väterlichen Gute gehörenden Wiesengründen, die eine Thalmulde zwischen waldbewachsenen Höhen ausfüllten, umherstreifen. Wie wohl jeden Knaben von regem Geiste erfüllte auch unsern Spaziergänger einst der Trieb, sich allerlei Sammlungen aus der Natur einzuheimsen, und so schritt er, Raban von Mureck, an einem schönen Sommernachmittage über das karge, sonnverbrannte Gras der Fläche, auf der die schon niedersinkende Sonne seine aufgeschossene Gestalt mit der Botanisirbüchse und die höhere des Erziehers mit einer Ledertasche von langen, lächerlich dünnbeinigen Schatten begleiten ließ. Botanisirbüchse und Ledertasche waren ziemlich gefüllt, und man strebte heimwärts, und zwar auf einem Waldwege, der weiter thaläbwärts über eine Mühle führte, wo der Müller eine in gutem Rufe stehende Schenke hielt. Als man den Wald erreicht hatte, der an der Wiesenmulde entlang sich abwärts senkte, und unter dem grünen Laubdache eine Strecke weit dahingeschritten war, sagte der Candidat plötzlich lächelnd:

„Sehen Sie, Raban, da ist die merkwürdigste Pflanze von allen, die wir heute noch gefunden haben – welch wunderliche Pilzgebilde hier im Holze vorkommen!“

Raban war schon auf den seitwärts liegenden kleinen Mooshügel gesprungen, auf dem die entdeckte Pflanze stand, die freilich hier so überraschend erscheinen mußte, als wäre man plötzlich auf die blaue Blume der Romantik gestoßen.

Blau war diese Blume auch, und sah aus wie eine große Glocke über einem schönen schlanken weißen Stengel – aber ein Gebilde der Romantik war sie nicht, sondern nur ein, ganz zierliches freilich, der Schirmmacherkunst – es war ein feiner seidener Sonnenschirm, der mit dem Handgriffe in den moosigen Boden gesteckt worden und nun als Attribut feinster Civilisation hier im

[442] wilden Walde seine Eleganz den alten grauen Stämmen zeigte, die nicht die geringste Empfänglichkeit für das kokett sich unter ihnen spreizende Ding zu haben schienen.

Raban hatte es aus dem Boden gerissen, und während der Candidat die feinen Quästchen bewunderte, welche an seidenen Schnüren an der Handhabe hingen, sagte der Knabe:

„Es müssen Damen bei einem Spaziergang sich hier aufgehalten und den Schirm vergessen haben.“

„Wir treffen sie vielleicht, wenn wir eilen, noch in der Mühle,“ antwortete der Candidat, „und holen uns einen freundlichen Dank von ihnen.“

So gingen sie denn fürbaß, und nach zehn Minuten hatten sie die Mühle erreicht. Neben dieser, über dem Teich, in den das schäumende Wasser von den Rädern stürzte, lag der Garten mit der langen vorn offenen Laube; und unter dieser stand in der That eine Gruppe von jungem Damen, drei Mädchen im blühendsten Backfischalter, neben einer älteren, sie durch ihre stattliche, wohlgenährte Gestalt überragenden Frau, aber alle offenbar im Begriff aufzubrechen, ihre Handschuhe knöpfend, ihre Tücher umnehmend. Raban eilte eifrig seinem Candidaten vorauf, um noch im rechten Augenblick da zu sein und ihnen das von ihnen im Walde vergessene Kleinod zu überreichen – hochgeröthet stand er plötzlich vor ihnen, und seinen Schirm erhebend sagte er, ein wenig außer Athem:

„Wir fanden das im Walde – es gehört gewiß Ihnen, und Sie sind wohl schon bekümmert gewesen, es verloren zu haben …“

Die jungen Mädchen wandten sich ihm zu, aber sie antworteten nur alle im selben Augenblick mit einem schallenden Gelächter. Selbst die ernst aussehende ältere Dame begann zu lachen – die jungen Mädchen aber schienen Krämpfe vor Lachen bekommen zu wollen.

Raban stand wie mit Blut übergossen. Und dann ging die Verlegenheit, womit ihn dieser seltsame Empfang erfüllte, in etwas wie zornige Gereiztheit über.

„Was lachen Sie denn?“ sagte er, von Einer auf die Andere schauend.

„Juliane, Dein alter Schirm! Es ist gar zu komisch!“ rief eines von den Mädchen aus.

„Es ist ein alter Schirm,“ sagte jetzt die ältere Dame freundlich erklärend, „den wir im Walde zurücklassen wollten – aber der uns mit komischer Hartnäckigkeit verfolgt. Wir haben ihn schon vorher einmal unter einen Strauch gelegt, aber kurz nachher ist uns eine Bauernfrau, die da umher Beeren sammelte, schreiend nachgelaufen gekommen, um uns den vergessenen Schatz wieder einzuhändigen ...“

„Und hat noch einen Groschen als Finderlohn verlangt,“ kicherte das kleinste der Mädchen.

„Verlangen Sie auch einen Finderlohn?“ brach das neben ihr stehende spöttisch aus.

„Haben Sie denn nicht gesehen, daß er sich, gar nicht mehr schließen läßt, und daß die Seide ganz verschlissen ist?“ fiel naseweis das mit Juliane angeredete Dämchen ein.

Raban, der vor Beschämung und Gereiztheit immer röther geworden, biß die Lippen zusammen und wollte den Schirm geärgert weit von sich schleudern, als die dritte, die größte von den Dreien, vortrat und ihn ihm aus der Hand nahm. Sie sah ihn dabei mit einem weichen leuchtenden Blick an und sagte:

„Wir danken Ihnen aber doch – es war ja doch so gut von Ihnen, uns den Schirm so weit nachzutragen – vielleicht ist er auch noch gar so schlecht nicht – geben Sie ihn mir – ich will ihn mit heimnehmen.“

Raban fühlte sich durch diese gütigen Worte aus seiner grausamen Verlegenheit gezogen, durch sie war in die Wunde, die seinem reizbaren Knaben-Ehrgeiz geschlagen worden, so sanft Oel gegossen. Er antwortete, während er den Schirm hergab, nur mit einem Aufblick in das fromme schöne Mädchenantlitz vor ihm – dieses wandte sich aber jetzt rasch ab; sie gingen jetzt fort, die zwei andern noch immer lachend und kichernd, während die ältere Dame mit einer huldvollen Kopfneigung grüßend an dem unterdeß auch angekommenen Candidaten vorüberschritt.

„Marie ist doch immer die Gutmüthige,“ hörte Raban noch Julianen sagen – daß sie hinzusetzte: „wir können den Schirm jetzt da unten in’s Wasser werfen,“ vernahm er nicht mehr, auch nicht Mariens Antwort: „nein, ich hab’ ihm gesagt, ich wolle ihn mit heimnehmen, und muß es jetzt doch auch thun.“

Als sie aus dem Gesichtskreise waren, fragte Raban den Candidaten, ob er die Damen kenne?

Er kannte sie natürlich nicht – aber „der Müller wird sie kennen“, und dieser in der That kannte sie, auch die Frau Müllerin, die bald herauskam, um den neu angelangten Gästen das gewünschte Bier zu bringen. Die Damen waren Niemand anders als die gnädige Frau von Tholenstein zu Arholt mit ihrer Enkelin, dem Fräulein Marie, und die beiden Andern waren Freundinnen von Fräulein Marie oder Cousinen oder so etwas aus der Stadt, die zum Besuche des Fräuleins auf Arholt waren, das nur eine halbe Stunde entfernt lag, sodaß sie öfter Spaziergänge bis hierher zur Mühle machten, – und Fräulein Marie war die reichste Erbin im Lande und würde einmal, da sie keine Brüder hatte und Vater und Mutter todt waren, ganz Arholt und viele andere Güter erben.

Das waren die Auskünfte, die bereitwillig die Müllerin gab – unzulänglicher war die, welche Raban von dem Candidaten erhielt, als er diesen fragte:

„Ist Arholt nur eine halbe Stunde von hier? Dann ist es bis dahin ja auch nur eine kleine Stunde von Mureck, von unsrem Hause. Wie kommt es dann, daß wir die Leute dort nicht kennen – daß der Vater und diese sich nie besuchen – daß bei uns nie die Rede von so nahen Nachbarn ist?“

Der Candidat hatte nichts darauf zu erwidern, als: „Das müssen Sie Ihren Herrn Vater fragen, Raban. Ich kann nicht den geringsten Aufschluß darüber geben.“

Der Candidat hatte ihn niemals darüber reden hören und auch niemals darüber nachgedacht, weshalb der Vater seines Zöglings, der noch in den besten Jahren stehende und der Geselligkeit sonst keineswegs abholde Gutsherr von Mureck, der manchen Verkehr mit befreundeten Familien auf weiter entlegenen Gütern pflog, außer aller Berührung mit seinen nächsten Nachbarn, der Familie auf Arholt, blieb. Vielleicht hätte er sich sonst nach dem Grunde erkundigt und damit freilich nur unnütz seine Zeit verloren; er hätte nichts erfahren, als daß vor Jahren, in der Zeit, wo noch der wunderliche Junggeselle, der Freiherr Martin Tholenstein, bei, der alten Dame, seiner Mutter, auf Arholt gelebt, Herr von Mureck nicht selten dort gewesen, auch die Arholtschen auf Mureck; daß er aber nach dessen Tode bald allen Verkehr eingestellt: augenscheinlich weil einem Manne wie ihm der Umgang mit solch einer alten Dame, wie die Tholensteinsche Großmutter, langweilig und lästig war.

Das genügte ja auch zur Erklärung. Nur genügte es Raban nicht, als er heimgekommen war und so etwas, nachdem er sein kleines Abenteuer dem Vater erzählt, aus dessen eigenem Munde vernahm. Raban hatte ihm sehr lebhaft geschildert, wie gut ihm Marie Tholenstein gefallen habe und wie man ja einmal hinüber fahren könne, nach einiger Zeit, wenn die garstigen Mädchen, ihre Freundinnen aus der Stadt, glücklich abgezogen – der Vater aber hatte ihn sehr nachdenklich angeblickt und dann nach einer Pause sich abwendend gesagt:

„Was gehen Dich die Mädchen an? Spiele, wenn Du willst, mit den Söhnen des Amtmanns und muthe mir nicht zu, mich bei den Weibsleuten auf Arholt zu langweilen! Ich denke nicht daran!“

Damit war die Angelegenheit zwischen Vater und Sohn erledigt – nicht aber aus dem Denken und Sinnen des Knaben das Bild des jungen Mädchens verschwunden. Im Gegentheil, in den nächsten Tagen hatte er gar nichts anders denken können, als wie reizend dieses so fromm dreinschauende junge Wesen sei, wie leuchtend sie ihn angeblickt; er hatte noch fortwährend diese guten blauen Augen sich anleuchten sehen – bis nach und nach freilich, im Laufe all der kleinen, und großen Ereignisse eines Knabenlebens, im Laufe der Tage und der Wochen dieser Glanz erloschen und das ganze Bild allmählich verflüchtigt und verdrängt – wenigstens sehr tief in den Hintergrund solch einer vielbeschäftigten Knabenseele gedrängt war.

Aber seltsam, heute wo Raban als erwachsener junger Mann, der seine Studienjahre hinter sich und von seinem Vater bereits ein Gut zu eigner Verwaltung erhalten hatte, auf der Ringstraße zu Wien spazierte, trat dies Bild mit größter Lebendigkeit wieder vor ihn hin. Er wußte selbst nicht, warum das junge Mädchen, an dem er vorübergegangen und deren Züge er nur flüchtig erblickt hatte, ihn so plötzlich lebhaft an jene kleine Retterin [443] aus einer knabenhaften Verlegenheit erinnerte und an jenes erste Aufdämmern eines ebenso knabenhaften Verliebtseins, den ersten Anhauch eines Gefühls, der so rasch dahingegangen wie der Hauch eines Kindermundes auf einen Spiegel. Aber er mußte daran denken, und zugleich verließ ihn der Gedanke an das Schicksal der auffallend schönen und graziösen Erscheinung nicht, die in so verdächtiger Unterhaltung mit der Alten dagestanden, und ein Gefühl unendlichen Mitleids überkam ihn über die Tausende von Wesen, die in diesem großen wilden Weltgetriebe wie arme schwache willenlose Körner auf die Räder eines erbarmungslosen Mühlwerks geschüttet und darin zu Staub zermalmt werden.

Als Raban am Ende des Rings angekommen war und noch einen Blick auf die schöne Architektur des Gewerbemuseums geworfen hatte, wandte er sich, schritt quer über die Straße und ging den Weg, den er gekommen, nun an der andern Seite der Straße zurück bis zu den Anlagen des Stadtparks, durch welche er nun, linkshin abschweifend, seinen Weg nahm. Als er an das Ende derselben, in denen der Lenz schon an allen seinen Blüthenwundern wirkte, gelangt, fiel sein Blick auf eine ihm halb noch durch Gesträuch verborgene Bank, auf welcher ein eisgrauer alter Mann mit einem weißen Schnurrbart vornübergebeugt den warmen Sonnenschein auf sich wirken ließ. Neben ihm, auf der Bank aber, wie eifrig ihm zuredend, saß zu Raban’s Ueberraschung dasselbe schlanke junge Mädchen – dasselbe junge Mädchen, dessen Erscheinung ihn vorhin betroffen gemacht und das so nun noch einmal vor ihm auftauchen sollte! Er faßte zuletzt ihre Züge voll in’s Auge, und wieder kam ihm auf’s lebhafteste die Erinnerung an seine Knabenbekanntschaft; jetzt um so stärker, als sie mit einem offnen Aufschlag der Augen seinem Blicke begegnete – es waren Augen, die ihn wie mit einem Zauber, welcher Vergangenheit zur Gegenwart machte, anleuchteten! Aber gleich darauf auch blickte sie zur Seite, auf ihren Gesellschafter – Raban sah jetzt, daß der alte Mann einen Stelzfuß trug – und wandte ihre Züge von dem Vorüberwandelnden ab.

Vielleicht ist der alte verstümmelte Invalid ihr Vater . . . wahrscheinlich ist er es, dachte Raban; und sie hat ihn vielleicht zu ernähren, hat für sich und den alten Mann zu sorgen, und hat schwache Arme und weiche Hände! Es kam ihm das heftige Verlangen, sich der armen Person, wenn sie es wirklich bedürfen sollte, anzunehmen und rettend in ihre Lage einzugreifen – eines jener Verlangen, welches beim Anblick fremder Noth und fremden Kummers ja leicht in uns emporsteigt, für Augenblicke uns beschäftigt, auch wohl über die Mittel und Wege dazu nachdenken läßt und dann, bevor aus dem Gedanken etwas wie eine That geworden, von andern Eindrücken verwischt und vergessen wird.

Eine That folgte aus der Begegnung Raban’s mit dem jungen Mädchen, das ihn so lebhaft in frühere Tage versetzt hatte, aber doch. Er schrieb’ am Abende noch an seinen Vater und bat diesen um eine Aufklärung, weshalb er eigentlich seit so viel Jahren den Umgang mit der ihm doch nahe benachbarten Familie auf Arholt vermieden habe.




2.

Als der Brief geschrieben war, machte Raban Toilette, um im Salon der würdigen Dame zu erscheinen, bei der er, seit er nach Wien gekommen, die meisten seiner Abendstunden zubrachte, als erklärter, wenn nicht Verlobter, doch Verehrer ihrer zweiten Tochter. Er hatte Leni von Eibenheim im vorigen Herbst auf einem Gute in seiner Heimath kennen gelernt, wo sie ein Paar Wochen hindurch zum Besuche gewesen – ihre glänzende Erscheinung hatte ihn angezogen und gefesselt, ihre Bildung war ihm außergewöhnlich erschienen, so gründlich und vielseitig, verglichen mit der Bildung der ihm bekannt gewordenen Töchter des Landes; dabei hatte ihr Wiener Dialekt, die Freimüthigkeit, womit sie sich aussprach, das natürliche frische Wesen der Süddeutschen etwas so Reizendes für ihn gehabt, daß er ihr leidenschaftlich den Hof gemacht. Und nun, nachdem der Vater sich mit Muße und Gründlichkeit nach den Verhältnissen der Eibenheims zu erkundigen Zeit gehabt, war er nach Wien gekommen, um sich von dorther die Frau zu holen, die „es ihm angethan“, deren Stammbaum seinen Vater mit der nöthigen Achtung erfüllte.

Im Salon der Frau von Eibenheim überwog das aristokratische Element, ohne andere auszuschließen, ohne namentlich das gelehrte, das literarische, das künstlerische „hintan zu halten“. Ein dreimal neu aufgelegter Dichter war der, der das Privilegium hatte, die Gesellschaft mit Anekdoten aus seinem Verkehr mit erstaunlich viel Fürstlichkeiten und Hoheiten zu unterhalten, und ein Custode des kaiserlich königlichen Antiken- und Münzcabinets, der als erste Autorität auf dem Gebiete der Kenntniß alter Pfennige, Groschen und Heller galt; dann ein Professor, der das berühmteste Buch üher Moose, Flechten und ähnliche Parasitenbotanik geschrieben hatte. Die geistige Bedeutung hob hier auf denselben Rang wie die Geburt und der Reichthum, und natürlich und folgerichtig gab sie ganz vorzugsweise die Berechtigung, für die Unterhaltung zu sorgen und das Wort zu führen. Als Raban eintrat, war es eben der Custode, der, mit seinem langen Rücken, an eine Ecke des Kaminsimses gelehnt, es führte und den auf niederen Sesseln im Rundkreise um die Flamme sitzenden Damen von den oft so sinnreichen Devisen erzählte, welche man vielfach auf den Denkmünzen des fünfzehnten bis siebenzehnten Jahrhunderts finde.

„Ich bitte Sie, Doctor,“ unterbrach ihn dabei herantretend ein Graf Kostitz, ein pensionirter Cavalleriemajor; „suchen Sie mir aus allen diesen Sinnsprüchen nur einen einzigen aus, der sich zu einem schlagenden geflügelten Wort verwenden ließe.“

„Ach, Kostitz, Sie haben immer noch nicht Ihr geflügeltes Wort gefunden?“ rief lachend die Baronin Eibenheim, die Hausfrau.

„Wie sollt’ ich!“ versetzte er. „Zwischen uns und die Unsterblichkeit haben bekanntlich die Götter den Schweiß gesetzt.“

„Und zur Unsterblichkeit wollen Sie sich aufschwingen auf den Fittigen geflügelter Worte?“ sagte der Dichter.

„Geflügelter Worte? Bei Gott, ich wäre zufrieden, hätte ich nur eines an der Schwungfeder erfaßt! Nur Eines!“ entgegnete spöttisch lächelnd Graf Kostitz. „Haben Sie das nicht längst erkannt, daß die einzige Art und Weise, wie der Mensch auf die Nachwelt kommt, das geflügelte Wort ist, das er ihr hinterläßt? Glauben Sie denn, die Nachwelt werde sich Ihre Gedichte vorlesen lassen? Nein, man wird fragen; was Sie gesagt haben, und wenn Niemand darauf antworten kann, so werden Sie gründlich verschollen sein. Glauben Sie, man werde viel Zeit haben im zwanzigsten Jahrhundert, alle Bücher zu lesen, sich mit vorübergegangenen Menschen und Dingen zu beschäftigen? Wahrhaftig nicht! Aber man wird von Oxenstierna wissen, daß er gesagt hat: Mein Sohn, u. s. w,, von Talleyrand, daß er seine eigenthümliche Ansicht über den Zweck, wozu uns die Sprache gegeben sei, hatte, von Shakespeare, daß er der Erfinder des großen Worts: ‚Sein oder Nichtsein‘ war, und in dem Einen: „Ist Alles schon dagewesen“ wird sich das Andenken an Rabbi Akiba, an Uriel Acosta und an Karl Gutzkow zusammt der ganzen modernen Literatur zusammenziehen, verdichten, krystallisiren. Sehen Sie das nicht deutlich voraus?“

Man lachte, und machte nun dem Grafen scherzhafte und spöttische Vorschläge zu einem geflügelten Wort.

Raban hatte sich unterdeß zu Leni gewandt, die neben einer verheiratheten älteren Schwester auf einem Divan im Hintergrunde saß und mit ihr über ein Modekupfer sich berathen hatte. Leni schob das Heft von sich, und indem sie ihre schöne volle Büste emporhob und Raban mit ihren glänzenden, verheißungsvollen braunen Augen anblickte, wollte sie wissen, wie er den Tag zugebracht.

„Höchst gewissenlos,“ versetzte Raban, „ich habe in mein Bildungsconto nicht einen einzigen Posten einzutragen gehabt; weder ein Museum, noch eine Bildergallerie, noch ein Künstleratelier, noch sonst eine ausgesuchte Merkwürdigkeit; ich bin einmal wieder der Philosoph aus der Sperlingsgasse gewesen und habe den Tag mit Träumen und ‚Beobachten‘, um es euphemistisch auszudrücken, hingebracht – das heißt als Müßiggänger.“

„Na,“ versetzte Resi, die ältere Schwester, die an einen Sohn der Gräfin Lorbach verheirathet war, einen Reichstagsabgeordneten von der feudalen Partei, „das spricht für Sie, Herr von Mureck, das heißt wenn wir gutmüthig genug sind, es als Galanterie für uns auszulegen …“

„Du meinst, Resi, Herr von Mureck wolle damit sagen, daß es keine andere Merkwürdigkeit für ihn hier gebe als …“

„Was?“ fiel Resi ein, „das wäre ein zweifelhaftes Compliment; zu den Stadtmerkwürdigkeiten möchte ich doch nicht gehören – ich bedanke mich. Ich meine nur, es ist viel löblicher, Abends in der Gesellschaft mit frischen Geisteskräften zu erscheinen, als todtmüde von allerlei Studien, erschöpft von allerlei überflüssigen [446] Anstrengungen oder gar noch dampfend von einer fulminanten Rede im Reichstag, wie so oft mein edler Gatte.“

Leni lachte. Raban aber durfte das Lob, welches ihm gespendet wurde, nicht annehmen – er hatte am wenigsten während des Tages daran gedacht, seine Geisteskräfte frisch zu erhalten, um am Abend im Salon der Frau von Eibenheim glänzen zu können.

„Ich verdiene Ihr Lob doch nicht, Gräfin,“ sagte er. „Ich bin sogar so egoistisch, es als ein Recht der Männer in Anspruch zu nehmen, wenn sie den Tag über gearbeitet haben, in der Gesellschaft die Erholung bei den Frauen zu suchen, sich die Tagessorgen von ihnen wegplaudern zu lassen.“

„Kennen Sie Tagessorgen?“ fragte Leni Eibenheim.

„Sorgen gehören zum Leben. Wer sie nicht hat, macht sie sich.“

„Zum Beispiel, daß zur nächsten Lucca-Aufführung kein Billet mehr zu haben sein wird?“

„Oder daß Ihr Pferd sich eine Fessel verstaucht hat …?“

„Welch fürchterliche Anhäufung von Schrecklichkeiten!“ unterbrach Raban diese Scherze – „gut, daß nichts dergleichen auf mir lastet – ein Pferd besitze ich hier nicht einmal, und dem Ausgeschlossensein von Opernaufführungen setze ich die neidenswertheste Seelenruhe entgegen. Aber Tagessorgen kenne ich dennoch, und meine heutige bezog sich auf die Frage, ob Ihre Regierung hinlänglich für die Invaliden, die verstümmelten Krieger sorgt?“

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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 28, S. 457–460
Novelle – Teil 2

[457] Beide Damen, Leni Eibenheim und Gräfin Resi Lorbach, blickten verwundert auf Raban, wie um sich zu vergewissern, ob er im Ernst rede – dann sagte Leni lachend:

„Wie kommen Sie darauf? Man giebt schon, denk’ ich, den Soldaten im Dienst nicht genug, wie wird man für die Invaliden sorgen können?“

Damit zog sie das fortgeschobene Modeheft wieder an sich.

„Wenn Sie wirklich,“ fiel Resi ein, „darüber etwas wissen wollen, müssen Sie Lorbach, meinen Mann, fragen – vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben, vielleicht auch nicht!“

„Vielleicht auch nicht! Ich fürchte es fast. Ist es Ihnen nie aufgefallen, Gräfin, daß die Menschen, die zu essen haben, sich merkwürdig wenig um diejenigen kümmern, welche nicht zu essen haben?“

„Wenig?“ entgegnete Gräfin Resi. „Ah. – ich meine, man thut doch so viel.“

„Man! Wer? Wir?“

„Nun – man giebt ja auch. Aber da sind die Volksküchen, die Armenhäuser, tausend Anstalten ...“

„Tausend? Sagen wir hundert. Nun ja! Aber denken wir daran? Stehen wir ihnen bei in ihren Anstrengungen, thun wir namentlich etwas gegen die Noth und das Elend, das sich nicht an die Anstalten wendet, das in schamhaftem Ehrgeize sich verbirgt ...“

„Sie reden ja wie ein Socialist!“ sagte Gräfin Resi.

„Bin aber keiner. Ich verwundere mich nur!“

„Worüber?“

„Ueber die merkwürdig harte Haut, welche alle gesunden und wohlhabenden Menschen gegen den Kranken und Armen haben, gegen das Leiden in ihrer nächsten Nähe, auch gegen das der Thiere.“

„Zum Almosengeben fühlt sich doch Jeder verpflichtet.“

„Genügt das? Ich verwundere mich auch darüber, daß, wenn ein Volk es zu einem geordneten Staatswesen gebracht hat, seine erste Frage nicht die ist: wie richten wir’s nun ein, daß wir Alle zu leben haben und Keiner zu darben?“

„Welcher Philosoph Sie sind, Herr von Mureck!“ scherzte Gräfin Resi – „Sie müssen das durchaus meinem Manne auseinander setzen; vielleicht hält er eine seiner Reden im Reichstage darüber.“

„Schwerlich – aber ich will gehen, ihn nach der Versorgung der Invaliden in diesem Staate zu fragen.“

Er erhob sich und ging, mit dem Grafen Lorbach zu reden. Leni schaute ihm mit mißmuthigem, gelangweiltem Gesichte nach und unterdrückte einen Anfall von Gähnen – Gräfin Resi stand auf, um zu den älteren Damen am Kamine zu treten; die schöne Leni aber stützte das Haupt auf die blüthenweiße Hand mit den schmalen Fingern und gab sich, in tiefe Betrachtung versinkend, dem Zauber hin, den in ihrem Journal die Fülle der Gestalten in tausendfach gefältelten Roben, Volants, Schleifen und Schleppen auf sie übte, bis ein paar jüngere Herren, neben ihr Platz nehmend, sie der tiefen Gedankenarbeit entzogen.

Als Raban sich in ziemlich später Stunde – das donnernde Rollen der Equipagen, welches die Schlußstunde der Theater verkündet hatte, war längst verklungen – nach Hause begab, befand er sich in einer Stimmung, die mehr mattherziger als verzagender Natur genannt werden konnte. Er gestand sich zum ersten Male, daß er sich im Salon der Frau von Eibenheim gelangweilt habe, und daß die Anwesenheit der bewunderten Leni auch nicht vom geringsten Einfluß gewesen, dieses Gefühl der Langeweile, das seiner Natur etwas Fremdes war, nicht aufkommen zu lassen.

Was man gesprochen und geplaudert den langen Abend hindurch, war das mehr werth gewesen, als das Plätschern des Albrechtsbrunnens, an welchem er eben vorüberging? War nicht ein unendlich großer, der größte Theil dessen, was die Gelehrten des Salons vorbrachten, Kramen im Kleinsten und Unerheblichsten, eine Hamsterthätigkeit im Zusammenschleppen von Körnern, aus denen niemals ein Stück Brod, ein Quentchen Nahrung für das Menschengemüth zu gewinnen ist? Ueber die Invalidenverpflegung war auch der Reichstagsabgeordnete im Unklaren gewesen; sein Steckenpferd waren die römischen Grenzwälle in Obergermanien.

Und nun, was Leni anging – weshalb hatte der Zauber, den sie anfangs auf ihn geübt, hier, wo er sie in dem richtigen, zu ihr gehörenden Rahmen geschaut, mehr ab- als zugenommen? Er fühlte wohl, daß die Gesellschaft, die Leni umgab, ihm völlig fremd war, daß er sich in ihr nie heimisch fühlen würde. Dazu kamen außerdem andere Gründe, die er heute noch nicht klar erkennen konnte. Man war ihm mit einer rückhaltlosen, warmen, gemüthlichen Offenheit entgegengekommen – mit jener liebenswürdigen Natürlichkeit und Ungezwungenheit, welche die Wiener Sitten charakterisirt, die dem Norddeutschen auch den Verkehr beider Geschlechter mit einander von einer auffallenden Vertraulichkeit erscheinen läßt. Raban aber war ein Norddeutscher. Und er [458] deutete das Entgegenkommen, das vielleicht nur in der allgemeinen Sitte seinen Grund hatte, als ein ganz persönliches, das sein Mannesgefühl erkältete. Er hätte es sich von Leni Eibenheim und ihren Verwandten nicht so leicht gemacht sehen mögen – er wollte nicht ein Wesen finden, das ihm so rückhaltlos zu sagen schien: klopfe nur an und dir wird aufgethan, – denn es liegt einmal in der Natur des Mannes, daß er Preise nicht schätzt, welche nicht hoch über ihm schweben und sein Ringen nicht herausfordern – das leicht Erreichbare verliert für ihn seinen Werth in dem Maße, wie es sich greifbarer seinen Händen nähert.

Darüber waren Stimmungen in ihm entstanden, welche ein schwankendes Aufschieben einer ernsten Bewerbung in ihm zur Folge gehabt, und von diesen Stimmungen war die, welche dieser Abend hervorgerufen, die drückendste. Leni Eibenheim war ja auch so seltsam unzugänglich für Gedanken gewesen, die, wie er fühlte, in jeder weiblichen Brust ein Echo finden sollten.


3.

Als Raban von Mureck am andern Tage, in einer etwas späteren Stunde, denselben Spaziergang wie am gestrigen machte, wurde er auf unerwartete Weise wieder in die Gedanken zurückgeworfen, welche sich ihm gestern an demselben Orte aufgedrängt hatten. Er sah auf dem Reitwege der Ringstraße zur Rechten eine kleine, aus drei Personen bestehende Cavalcade daher kommen, die aus dem Prater zurückzukehren schien: zwei junge Herren und eine Dame. Jene in elegantestem Reitcostüme auf edeln, muthig die Schaumflocken um sich werfenden Rossen; die Dame ebenfalls im modernsten Reitkleide ein auffallend schönes Pferd, einen wie Metall leuchtenden Goldfuchs zügelnd. Sie hatte den von dem leichten Männerhute herabflatternden Schleier zurückgeworfen, und so konnte Raban ihre Züge fixiren. Betroffen blieb er stehen und sah, wie sich das Antlitz der Dame ebenfalls mit dem Ausdruck einer gewissen Betroffenheit für einen Augenblick – ihm zuwandte; in der eleganten Reiterin erkannte er deutlich das junge Mädchen, dem er gestern begegnet war, dessen Erscheinung ihn gestern plötzlich mitten in eine vergessene Scenerie seiner Knabenzeit zurückversetzt hatte! Raban war überzeugt, daß er sich nicht täuschte – es war die gute Bekannte der verdächtig aussehenden Alten, die „Tochter“ des invaliden Stelzfußes mit dem grimmigen weißen Schnurrbart auf der Bank im Stadtpark!

Raban mußte sich zugleich gestehen, daß sie sehr schön sei, viel schöner als er gestern bei dem flüchtigen Streifblick auf ihr Antlitz hatte wahrnehmen können, und daß diese Begegnung in so verschiedener Umgebung zu den räthselhaftesten Vorkommnissen gehöre, auf die er in der Kaiserstadt je gestoßen. Mit dieser Betrachtung schaute er der graziösen, so sicher und leicht sich im Sattel wiegenden Erscheinung völlig gefesselt nach. Welche Räthsel dieser Art mochte die Kaiserstadt nicht aufgeben!

Wie dunkle Schatten zogen trübe Gedanken an großstädtisches Sittenleben Raban durch die Seele. Aber als er sich kopfschüttelnd wandte, um weiter seines Weges zu schreiten, sagte er sich schon, daß in dieser Erscheinung, auf dieser hellen Stirn und in den großen klaren Augen, die auf ihn gerichtet waren, etwas liege, was jeden Verdacht, jede argwöhnische Vermuthung weit abscheuchen müsse und zur Thorheit mache. Nur desto grübelnder aber sann er dem nach, was ihn bei dem Anblick der fremde Dame so unwillkürlich und jetzt eben mehr als gestern noch an seine junge Nachbarin auf Arholt erinnert hatte, die, seinem väterlichen Heim einst so nahe, doch nur einmal in seinem Leben von ihm gesehen worden war. Der Gedanke daran begann eine eigenthümliche Herrschaft auf ihn zu üben. Es liegt ein geheimer, still wirkender Zauber in solch einer Mädchenphysiognomie, die außer dem Reiz der Wirklichkeit und Gegenwart auch noch den hat, daß sie uns in stilles träumerisches Nachkosten einer theuren Vergangenheit versetzt.

Raban sollte jedoch nicht lange ungestört seinen Gedanken nachhängen.

Als er eine Strecke weiter gegangen war, begegneten ihm Graf Kostitz und ein Mann, zu dessen Lebensgewohnheiten es schwerlich gehörte, um diese Zeit, wo sich die schöne Welt hier Rendezvous gab, auf dem Ring spazieren zu gehen. Dies war Doctor Silbermann, der Münzen- und Anticagliencustode[1]. Der Doctor hatte ein sehr geröthetes Gesicht und blickte mit düster gerunzelter Stirn Raban an, als ob er Mühe habe, ihn zu erkennen. Graf Kostitz schaute ebenfalls sehr ernst darein – er hatte jedenfalls das gesuchte geflügelte Wort noch nicht gefunden und mußte sich mit einem schon vorhandenen begnügen, dem alten: „Schöne Seelen finden sich –“, als er Raban begrüßte und mit einer gewissen feierlichen Haltung ihm die Hand schüttelte.

„Nicht immer im richtigen Augenblick,“ versetzte Raban. „Die Herren scheinen in Anspruch genommen . . .“

„Das sind wir allerdings,“ fiel mehrmals mit dem Kopf nickend Doctor Silbermann ein, „von einem sehr unangenehmen Vorkommniß.“

„Der Doctor wird es Ihnen erklären,“ sagte Graf Kostitz, „wenn Sie Rechtsumkehrt machen und mit uns hinauf gehen wollen.“

Raban schloß sich ihnen an.

„Um was handelt es sich?“ fragte er.

„Um seine Münzen, natürlich!“ versetzte Graf Kostitz; „es sind ihm einige davon gestohlen, von diesen theuren Kleinoden!“

„Gestohlen – aus dem kaiserlichen Antikencabinet?“

„So ist es,“ fiel Doctor Silbermann ein. „Ich habe es erst an diesem Morgen entdeckt – und nun laufe ich schon seit zwei Stunden bei den Antiquaren umher, um sie zu verständigen und zu instruiren für den Fall, daß die Münzen ihnen zum Kauf angeboten werden sollten.“

„Sind es viele, werthvolle?“ fragte Raban.

„Ein halbes Dutzend – aber so ziemlich unersetzliche; der historische Werth ist natürlich größer als der Metallwerth, der den Spitzbuben verlockt hat. Es sind alte aragonesische Löwenthaler – äußerst selten – der Goldwerth mag für das Stück einen Dukaten betragen.“

„Also Goldmünzen – und wie ist es einem Diebe möglich geworden . . .“

Silbermann zuckte die Achseln. Er entgegnete:

„Es drängen sich so viele Menschen an den Tagen, wo das Publicum zugelassen wird, bei uns ein – es wird so leicht vergessen, eine der Glasscheiben, die man aus irgend einem Grunde öffnen mußte, gleich wieder zu schließen! Es brauchen sich nur zwei Schwindler zu verabreden; der eine zieht den diensthabenden Wächter in ein angenehmes Geplauder, und unterdeß führt sein Complice im nächsten Raume den Diebstahl aus. Wenn er dabei so discret ist, nur ein halbes Dutzend dieser Münzen, wie in unserem Falle, zu escamotiren, so können dazu doch Tage, Wochen vergehen, bevor die Lücke nur entdeckt wird. Wenn es nur nicht gerade die fast nahezu unersetzlichen Arholt’schen Münzen wären!“

„Wie nennen Sie dieselben?“ rief Raban aufhorchend aus.

„Die Arholt’schen Münzen. Es sind Münzen, die dem Cabinet gewonnen sind durch Ankauf eines Münzfundes, der vor langer Zeit auf einem Gute Arholt, da draußen im Reich irgendwo, gemacht worden. So steht es bei der Eintragung im Katalog bemerkt. Auch daß weitere Exemplare nur in der Sammlung zu Madrid und zu Brüssel vorkommen, sonst nicht. Das macht den Diebstahl eben so fatal und ärgerlich.“

„Ich habe nie von solch einem Funde auf Arholt etwas vernommen,“ sagte Raban. „Sie müssen nämlich wissen, daß dies Gut in meiner Heimath liegt, meinem väterlichen Heim benachbart.“

„In der That? Der Fund muß aber doch dort gemacht sein – unsere Kataloge sind durchaus zuverlässig; die Fundorte sind ja oft so wichtig, wenn die Echtheit der Anticaglien in Zweifel gezogen wird. Aber hier sind wir vor einem weiteren Antiquarladen angekommen, in den ich eintreten werde. Die Herren begreifen, daß die Sache noch völlig geheim und unter uns bleiben muß, um die Nachforschungen zu erleichtern.“

Die Herren versprachen Doctor Silbermann die gewünschte Geheimhaltung, und da Graf Kostitz hier in eine Nebenstraße einzubiegen hatte, trennten sich alle drei.

Raban schritt weiter, über die eigenthümliche Häufung der Erinnerungen an das heimische Gut Arholt nachsinnend. Wie oft hatte er es auf seinen von Murack aus unternommenen Jagdstreifereien von irgend einem Hügelrücken oder einem hohen Waldsaum aus in der Tiefe daliegen sehn! Ein massives, wuchtiges altes Gebäude – hinter einer Pappelreihe halb versteckt, durch deren Wipfel die hohen Essen und die zwei plumpen mit stumpfen [459] Schieferdächern bedeckten Eckthürme lugten. Die grauen Mauern mit den in größter Regellosigkeit angebrachten Fenstern würden sich sicherlich viel weniger romantisch ausgenommen haben, hätte das stellenweise sie verdeckende Baumgrün nicht ein Element des Malerischen dem Bilde eingefügt. Damals, wenn Raban sein Auge darüber hinschweifen ließ und die Rüsternallee verfolgte, die zwischen Wiesengründen bis zu den breiten schlammigen Gräben des alten Castellwesens führte – hatte er nur wenige Augenblicke lang seine Gedanken dort verweilen lassen. Das flüchtige Entflammen seines Herzens für die kleine Herrin von Archolt war ja halb vergessen.

Die Zurückhaltung des Vaters gegenüber den Bewohnern des Gutes schien wohlbegründet durch das, was ihm derselbe über sie mitgetheilt hatte – erst jetzt, wo er als gereifter Mann nachdenksamer Natur geworden, fand er in jener Mittheilung manches nicht Aufgeklärte. Und nun sollte gerade dort, auf Arholt, ein wichtiger Münzfund gemacht worden sein, von dem er nie hatte reden hören. Doch weshalb nicht, da ja jede Verbindung zwischen Mureck und Arholt abgebrochen war? Und alte spanische Münzen, auch seltenste, älteste, weshalb sollten sie nicht in einem Winkel solch einer alten Burg gefunden worden sein? Im Dreißigjährigen Kriege waren spanische Truppencorps, Marodeure, raubgierige „Landstorger“, eine wahre Volksplage, ein allgemeiner Landschaden in seiner Heimath gewesen. Aus den Niederlanden waren sie herüber gewechselt und hatten ihr Wesen getrieben, bis sie das Volk gegen sich in den Harnisch gebracht, bis sie, von den zusammengeschaarten Bauern angegriffen, geschlagen, sich in die nächstbeste Burg geworfen und dort vertheidigt hatten. Da mochte denn oft genug, ehe die Bande capitulirend abzog, einer der Ihrigen oder sie Alle die beste Beute vor der erzwungenen Herausgabe zu sichern gesucht und irgendwo in gutem Verstecke verscharrt und verborgen haben – bis zur Rückkehr in günstigeren Tagen, die nicht stattfand. Man fand ja öfter in den alten Häusern, in Kellern, Mauerfundamenten so etwas. Nur seltsam war es, wie solch ein auf Archolt gemachter Fund in das kaiserliche Cabinet in Wien gerathen war. Die Familie galt ja als reich – sehr reich sogar, meinte Raban wiederholt gehört zu haben. Hatte sie nicht den Ehrgeiz, so merkwürdige Gegenstände, deren Geldwerth in ihren Augen gering sein mußte, bei dem übrigen edlen Väterhausrath aus der Vergangenheit aufzubewahren?

Erst ein zufälliger Blick auf eine Anschlagsäule entzog Raban diesen Gedanken. Da stand mit großen Lettern angekündigt als Oper des heutigen Abends „Der Prophet“. Raban kannte die Oper nicht und sollte sie mit den Eibeheims – die Eibenheims hatten heute ihren Logentag – sehen. Sie lenkte seine Gedanken anderen Dingen zu: dem bizarrsten Charakter der Geschichte als Helden eines Kunstwerks, dem wunderlichen Widerspruche zwischen der Geschichte und der Kunst. Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht war, so bildete die Kunst eine höhere Instanz, die nach dem Codex der poetischen Gerechtigkeit die Urtheile der Geschichte umward und die großen Verbrecher zu ihren Helden machte. Die Wahrheit kam dabei freilich zu kurz, aber – was ist Wahrheit? Ist nicht am Ende Alles wahr, was geglaubt wird? Ob etwas in der Menschen Köpfen oder ob es in der Wirklichkeit lebt oder vorhanden war – ist es nicht dasselbe? Aus dem Zusammenspiel und Ineinanderwirken von vorhandenen Dingen und von bloßen Vorstellungen webt sich das Leben. Raban nahm sich lächelnd vor, Graf Kostitz als geflügeltes Wort den Satz vorzuschlagen: „Wahr ist, was geglaubt wird!“

Als er am Abende die Loge der Eibenheims betrat, fand er Frau von Eibenheim mit ihren Töchtern bereits angekommen, Leni in einer blendenden Toilette, deren raffinirte Zusannnenstellung Raban nicht entging. Er meinte, um Kunstgenüsse auf sich wirken zu lassen, solle man sich überhaupt nicht herausputzen, wie man sich für die Kirche nicht putze, da man mit dem Vorsatze der Selbstentäußerung und der Hingabe des Ichs an ein Höheres komme und in eine Welt der inneren Weihe doch nicht mit langen Schleppen und hochtoupirten Frisuren eintreten dürfe.

„Man kommt aber doch, um zu bewundern und bewundert zu werden,“ antwortete Leni und setzte mit kokettem Schmollen hinzu: „und findet sich oft genug in Beidem getäuscht! –“

„Um so in desto bessere Stimnnmg für die Aufnahme der Tragödie zu gelangen!“ sagte Raban ungerührt von diesem Vorwurfe.

Die musikalische Tragödie, welche sich vor ihnen entwickelte, versetzte ihn selbst in eine sehr ernste Stimmung. Die düsteren Chöre der gläubigen Männer auf der Bühne zogen ihm mit einer erschütternden Gewalt durch die Seele. Bewegt davon sprach er in den Zwischenacten von der historischen, hier völlig, ja ganz unglaublich entstellten Unterlage der dramatischen Handlung. Diese müsse noch ihren Dichter finden, ihren Shakespeare, meinte er. Es sei hier zu der großartigsten Tragödie der Rache der Kern von der wirklichen Geschichte gegeben. Jene Männer, deren Propheten man auf der Bühne sehe, stellten die Träger einer Bewegung, die Bekenner einer religiösen Ueberzeugung vor, welche die folgerechte Weiterentwickelung der Lehre des sechszehnten Jahrhunderts gewesen, – einer religiösen Ueberzeugung, welche heute so ungefähr das Gemeingut aller religiösen Naturen von tieferer Bildung geworden. Damals aber habe man diese Menschen mit Feuer und Schwert, mit schonungsloser Wuth verfolgt, hingemordet, geschlachtet zu Tausenden. So habe man die Empörung, die grenzenlose Erbitterung in ihnen großgezogen, den Schrei nach Rache auf ihre Lippen gelegt, den wahnsinnigen Durst nach Wiedervergeltung an den Gottlosen in ihnen genährt. Und so sei dies bizarre Prophetenkönigthum entstanden, das hier statt eines Shakespeare ein Scribe auf seine Art begriffen und behandelt habe.

Seine lebhafte Auseinandersetzung, was ein großer Dichter aus dieser Tragödie der Rache hätte machen können, fand wenig aufmerksames Gehör bei seinen Damen in der Loge. Von Freunden und Bekannten, welche zur Begrüßung eintraten, unterbrochen, schwieg er. Aber er war noch jugendlich genug in seinem Fühlen, um dadurch erkältet zu sein – er hätte aus den Wogen der ernsten Musik Leni’s Seele auftauchen sehen mögen wie einen zu jedem Fluge in’s Reich des Ideals bereiten Schwan, und nun plauderte sie mit dem eben eingetretenen Marinelieutenant sehr lebhaft über die Gründe, weshalb die Marchesi Wien verlasse und nach Paris gehe. Es war nichts Schwanenhaftes in – diesem Geschnatter! Raban sagte sich nicht just das – aber gedankenverloren blickte er auf die strahlende, lichtübergossene Scenerie. Wie jugendlich in all seinem Fühlen, so war er noch naiv und unerfahren genug, sich verwundern zu können. Er verwunderte sich, wie man ergreifenden Dingen so wenig Interesse entgegenbringen könne; wie man an die furchtbare Grausamkeit der Menschennatur erinnert werden könne, ohne bewegt zu werden, und wie er neulich seine Verwunderung über die Härte der Glücklichen gegen die Unglücklichen ausgesprochen, so empfand er jetzt einmal wieder eine erstarrende Verwunderung über die Thatsache jener Grausamkeit, deren schreckhafte Bilder ihm vor die Seele getreten waren ... er verwunderte sich endlich über das ganze Räthsel dieses widerspruchsvollen Menschenlebens – und nicht zum wenigsten, ganz zuletzt, über seine Neigung für Leni Eibenheim! –


4.

Es war als ob Raban von der Erinnerung an seine Knaben-Abenteuer nicht losgelassen werden sollte, denn, seltsam genug in der großen Stadt, schon zwei Tage später sah er die Unbekannte, die er zuletzt als elegante Reiterin erblickt, in einer andern Stadtgegend wieder. Es war in der Währingerstraße, in welche er hineinschritt, um einem dort wohnenden Bekannten einen Besuch zu machen; nachdem er eine Strecke gegangen, sah er sie raschen elastischen Schrittes ihm entgegenkommen. Sie war in demselben bescheidenen dunklen Anzuge, in welchem er sie zuerst gesehen – die Amazone war völlig abgestreift. Raban blieb stehen – vor dem nächsten Laden; er wandte anscheinend seine ganze Aufmerksamkeit hier der Ausstellunng von Klempnerwaaren zu, um, ohne aufzufallen, bei ihrem Näherkommen den Blick auf ihre Züge richten und diese sich einprägen zu können. Eine eigenthümliche Bewegung bemächtigte sich seiner, als sie an ihm, ohne seiner zu achten, vorüberging – ihr Blick war gesenkt, und es lag ein Ausdruck tiefen ernsten Sinnens auf ihrem Gesichte, ein schwermüthiger Ausdruck, mit dem sie, zerstreut und die Umgebung nicht achtend, durch die Menge schritt. Aber in diesen Zügen lag etwam von so milder Seelenhaftigkeit, in der weichen Anmuth der Linien des ovalen Kopfes mit dem zarten nur wenig gerötheten Teint lag ein solcher Wiederschein innerer Reinheit und Klarheit, daß Raban davon mit jenem Gefühle erfüllt wurde, das nichts [460] gemein hat mit dem Bezaubertsein eines Augenblicks, sondern die Empfindung einer dauernden Wirkung, eines uns bleibenden tiefen Eindrucks ist.

Wie unwillkürlich wandte sich Raban, als sie vorübergegangen war, und folgte ihr nach. Er beschloß sie bis an ihre Wohnung zu verfolgen – wußte er diese, so mußte er leichter dem Geheimniß ihrer Existenz auf die Spur kommen können. So ging er gleichen Schrittes mit ihr dahin. Aber nicht weit. Nach hundert Schritten ungefähr bog sie in einen offenstehenden Thorweg ein. Als Raban denselben ebenso betrat, sah er rechts die Steinstufen einer breiten Treppe, emporführen – er glaubte noch den Schritt der leichten Fußes Emporsteigenden zu vernehmen.

Auch er stieg empor. In den ersten, zweiten, dritten Stock – er hörte noch immer den leichten, aber sich allmählich verlangsamenden Schritt über ihm. Endlich stand er auf dem Absatz der Treppe im vierten Stockwerk und – blickte in das runzelvolle Gesicht einer alten Frau, das, von einer weißen Rüschenhaube umgeben, ihm aus der Spalte einer nur wenig geöffneten Thür wie neugierig entgegensah.

Sie mußte das junge Mädchen eben eingelassen haben und schien nun Raban’s Anrede zu erwarten. Da er, Athem schöpfend und verwirrt, damit zögerte, sagte sie:

„Zu wem wollen Sie?“

„Ich möchte die Dame, welche eben hier heraufstieg, bitten, mir eine Frage zu erlauben. Ich glaube, sie ist aus meiner Heimath und ich kenne sie …“

Das Gesicht der alten Frau verfinsterte sich.

„Dame?“ versetzte sie – „Es ist Niemand hier heraufgekommen – gehen Sie nur!“

„Niemand?“ rief Raban aus. „Aber ich sah sie doch …“

„Niemand!“ unterbrach ihn die Alte und schlug wie verdrossen die Thür vor ihm zu.

Raban blickte bestürzt auf dem kleinen Vorplatz sich um. Es war außer der eben vor ihm verschlossenen nur noch eine Thür da, welche auf den Vorplatz herausging. Aber an dieser hing ein altes Vorhängeschloß, welches Zeugniß dafür ablegte, daß sie nicht geöffnet worden war. Durch das Fenster, welches schlecht genug und nur dämmernd den Platz erhellte, konnte das junge Mädchen auch nicht verschwunden sein. Es war ein neues Räthsel zu denen, welche sie umgaben. Die alte Frau hatte offenbar – in tugendlichem Eifer, als sie den jungen Mann erblickt, einfach gelogen!

Raban mußte den Rückzug antreten, aber er that es nicht, ohne nach dem Namen zu sehen, den er auf einer Karte, die an der Thür der alten Frau angeheftet war, erblickt hatte. Er las die Worte: Heinrich Melber, Graveur.

Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 29, S. 473–476
Novelle – Teil 3

[473] Heinrich Melber, Graveur,“ lautete die Karte an der Thür der zornigen Alten. Melber – der Name kam Raban nicht ganz fremd vor. Wo nur hatte er ihn früher gehört – ach ja, während er die vier Treppen jetzt wieder niederstieg, besann er sich – sein Vater hatte ihm den Namen genannt – aber nicht Heinrich, sondern Wolfgang Melber war der Name eines Bildhauers, den er hatte besuchen sollen.

Raban hatte bisher nicht daran gedacht, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Die Ateliers der Bildhauer waren nicht leicht zu finden, viele lagen weit hinaus, hinter dem Belvedere. Jetzt, wo ihn die Hoffnung erfüllte, zwischen „Heinrich Melber, Graveur“ und „Wolfgang Melber, Bildhauer“ einen Verbindungsfaden zu finden, der ihn seinem Geheimniß näher bringen konnte, beschloß er, gleich am folgenden Morgen die Kunstwerkstätte des Bildhauers aufzusuchen.

Das große dickleibige Adreßbuch zeigte ihm die Wohnung desselben weit ab von der Währingerstraße, weit ab im dritten Bezirk, hinter dem Stadtpark, in der Landstraße. Nur mit Hülfe eines Fiakers fand Raban sie am folgenden Tage, in der Vormittagsstunde.

Als er dort eingetreten war, sah er in einem großen staubigen Vorraum ein Paar Arbeiter mit dem Aushauen eines ziemlich schablonenhaft entworfenen Grabdenkmals beschäftigt – die Kunst schien hier nach Brod zu gehen und statt der Götter-Ideale, die nicht gewünscht wurden, Gestalten zu schaffen, die man bestellte und bezahlte. In dem zweiten Raum, in den man ihn wies, fand Raban zwei Männer, einen größeren, hübschen, braungelockten Menschen, der an einer noch sehr ungefügen Thonmasse, aus der sich ein Faun schien gestalten zu sollen, herumknetete, und einen kleineren, älteren, der ein großes Medaillon, ein männliches Portrait in Relief, überarbeitete. Jener empfing Raban als Wolfgang Melber und hörte die Worte, womit er sich als Fremder einführte, der sich in den Kunstateliers umsehen zu dürfen wünsche, mit einer gewissen verlegenen Zerstreutheit an, mit unsteten Blicken Raban fixirend.

„Uns wird selten die Ehre zu Theil – meinem Freunde Rosbacher und mir – Fremde hier in unserer Werkstatt zu sehen,“ sagte er, „wir haben zusammen das Atelier – es giebt eben nicht viel darin zu schauen – aber, bitte, sehen Sie sich die Gypse an – unsereins bringt’s selten weiter als zu Gypsen – und wenn Sie das interessiren kann, die Skizzen hier auf den Börten.“

Damit deutete er, wie unruhig bewegt sich hin- und herwendend, auf die ausgestellten Sachen, Raban’s Kunsturtheil war kein sehr ausgebildetes; er hatte jedoch bald die Empfindung, daß in den in Gyps ausgegossenen Gestalten, welche der junge Künstler geschaffen, sich eine große und reiche, aber gewaltsam nach dem Ungewöhnlichen, Frappirenden, Absonderlichen ringende Phantasie zeigte, welche sich dabei oft über die Grenzen der Plastik hinaus verirrte und vortrefflich mit der flüchtigen und oberflächlichen Behandlung des Einzelnen vertrug. Die Skizzen, zahlreiche in Thon gebrannte Figuren und Figürchen, welche ziemlich bestäubt sich auf Holzborten an den Wänden drängten, waren deshalb das Interessantere, was Raban sah; hier traten die Fehler der Zeichnung, das Disharmonische in dem Zusammenspiel der Linien weniger hervor, der Reichthum der schaffenden Phantasie des Künstlers an Motiven und Ideen aber desto vortheilhafter.

Als tactvoller Atelierbesucher hütete sich Raban, andere als vortheilhafte Eindrücke laut werden zu lassen – Wolfgang Melber nahm diese Aeußerungen wie mit einer gewissen Ironie auf, wie eine gewisse Verachtung für sein eigenes Schaffen verrathend, die Raban nicht gerade überraschte – in übertriebener Bescheidenheit das Eigne gering zu schätzen, war ihm als allgemeiner Charakterzug der Wiener aufgefallen. Aber Wolfgang Melber in seiner zerstreuten unsteten Weise schien etwas Spöttisches in die Antworten zu legen, welche er dem Laien auf dessen Bemerkungen gab – es war ein Durchklingen einer gewissen sich überhebenden Selbstgefälligkeit dabei, die von der an den Tag gelegten Bescheidenheit wunderlich abstach.

„Ich denke, Sie haben an dem Zeug nun genug,“ sagte er, „es ist ja Alles nur so improvisirt, wie man sich’s durch den Kopf gehen läßt und so, wie man’s schaut, festhalten möchte – es später gründlich zu verarbeiten und auszutragen – wozu soll das dienen; bestellt wird’s bei einem jungen namenlosen Menschen doch nicht, bis zum Marmor bringt der’s nicht!“

„Es ist ein Unglück für den Bildhauer,“ entgegnete Raban, „daß er zur Ausgestaltung seiner Schöpfungen des Marmors bedarf, zu welchem sich doch nur wenige sehr wohlhabende Menschen aufschwingen können – es müßte ein wohlfeilerer Stoff als Marmor und Bronze zur Wiedergabe plastischer Werke gefunden werden.“

„Freilich – es thäte Noth, so etwas zu erfinden,“ versetzte Wolfgang Melber, indem er einen großen grünen Vorhang lüftete und Raban in einen dadurch abgeschlossenen letzten Raum einzutreten einlud.

[474] „Es ist da noch,“ sagte er dabei, „wenn Sie nicht genug haben und es Sie interessirt, eine Gruppe in Arbeit, etwas Größeres; das meiste noch flüchtig angelegt.“

Raban war in einen etwas wohnlicher und gemüthlicher ausschauenden Raum eingetreten; die Wände waren mit einigen gewirkten Teppichen, alten Majoliken, hohen Palmenzweigen, die sich aus blauen Japanvasen erhoben, geschmückt; den Fußboden bedeckte ein Teppich; umher standen ein Paar Modellirstühle, auf denen Büsten und Reliefmedaillons aufgestellt waren, und in der Mitte des Raumes erhob sich eine in Thon modellirte Gruppe, eine weibliche Gestalt, die einen sich an sie schmiegenden Knaben mit der Rechten an sich drückte, während die Linke im Begriff war, sich ihm wie segnend auf das von gekräuselten Locken umwallte Haupt zu legen.

Das den Blick leis senkende Haupt dieser Gestalt war von dem Künstler vollständig fertig gestellt, durchgearbeitet und vollendet, während manche übrige Theile der Gruppe noch sehr im Entstehen waren.

Raban aber starrte im höchsten Grade betroffen dieses Haupt an. Träumte er denn – oder ließ eine Art von Zauber ihn überall – nur sie erblicken? Es war aber nicht anders; es war dieses milde lächelnde, engelhafte Haupt der Gestalt, die schützend und segnend den armen Knaben an sich zog, kein anderes als das des jungen Mädchens, dessen Erscheinung ihn so erfüllte und beschäftigte. Es war ihr Haupt in jedem Zuge – nichts geändert, nichts idealisirt – der Künstler hatte – so schien es Raban – nur die Natur zu copiren gebraucht; zu idealisiren war da nichts gewesen; nur das auf dem Hinterkopf zusammen genommene und in einen Knoten geschlungene Haar, das faltig von den Schultern niederfallende Gewand war nach den Bedürfnissen des Künstlers angeordnet.

Raban athmete tief auf, in den Anblick versunken. Dann wandte er sich nach einer langen Pause plötzlich rasch an Wolfgang Melber. Das Herz schlug ihm hoch auf in der freudigen Bewegung darüber, daß er nun endlich seinem Ziele nahe gekommen, auf die Spur dieser bisher unfaßbaren Erscheinung. Doch hatte er das Gefühl, daß er diesem Künstler gegenüber einer gewissen Diplomatie bedürfe; daß er besser thue, nicht direct nach dem Original dieses holdseligen Frauenkopfes zu fragen; es war sicherlich eine Schwester, eine nächste Verwandte, die dem jungen Manne als Modell gedient – das ließ sich ja jetzt, da Raban seine Unbekannte in der Wohnung eines Heinrich Melber hatte verschwinden sehen, ziemlich sicher annehmen. Vielleicht war Heinrich Melber beider Vater, ein Graveur – es paßte zu der gewöhnlichen Erscheinung der Unbekannten, die nun freilich nicht das Mädchen aus den Knabentagen Raban’s sein konnte . . .

„Sie müssen,“ sagte er, „zu dieser Charitas, die ich von einer rührenden Schönheit finde, lange nach einem ganz genügenden Modell gesucht haben! Der Kopf ist Ihnen so wunderbar gelungen.“

„Gesucht habe ich nicht gerade nach einem Modell für diesen Kopf. Er bot sich mir dar – und gerade dadurch bin ich auf den Gedanken gekommen, eine solche Gruppe, die sonst nicht just in mein Fach schlägt, zu versuchen.“

„Er bot sich Ihnen ungesucht dar – in einer Nahestehenden, einer Schwester vielleicht?“ rief Raban lebhaft, wie nun schon seiner Suche sicher, aus.

„Einer Schwester?“ versetzte Wolfgang Melber mit einem Tone von Verwunderung und Spott. „Nein, einer Schwester nicht! Einer Schwester nicht!“ wiederholte er mit einem ganz eigenthümlichen Nachdrucke.

„Aber wo begegnete Ihnen denn ein Gesicht von einem so merkwürdig für Ihre Gestalt passenden Ausdrucke? Ich möchte wissen . . .“

„Was Sie doch nicht interessiren kann!“

„Was mich interessirt,“ entgegnete Raban so stürmisch, daß er sofort die Nothwendigkeit erkannte, auf möglichst gute Art sein Verlangen nach einer Auskunft über die geheimnißvolle Erscheinung, vor deren Thonbild er stand, zu motiviren – „was mich interessirt, ist ein psychologisches Problem; wie kommt ein Wesen, dessen Züge und geistiger Ausdruck von einem so rührenden Gepräge sind, wie dieser Kopf es trägt, dazu, einem Künstler als Modell zu dienen?“

„Zunächst doch wohl,“ versetzte mit einem wie schadenfrohen Lächeln über Raban’s nicht zu verkennende Betroffenheit der junge Bildhauer – „zunächst doch wohl dadurch, daß sie sich ganz merkwürdig gut dazu eignet, zu solch einem Modelle!“

„Nun ja freilich – aber ich meine, wie kommt sie dazu, das zu überwinden, was es dem weiblichen Gefühl doch peinlich machen muß . . .“

„Peinlich? Weshalb? Weshalb soll ein Frauenzimmer es peinlich finden, wenn ein Künstler seine Schönheit bewundert und – nachbildet? Andrea del Sarto und Rubens haben freilich ihre Frauen gehabt, aber Raphael, der weniger glücklich war, wird sich zu seinen Madonnen auch die Modelle haben suchen müssen und wird sie gefunden haben – in Maria de Bibbiena zum Beispiel, ohne daß diese es peinlich fand.“

Raban sah, er kam auf diese Weise Dem, was er ergründen wollte, nicht näher. Ungeduldig fragte er jetzt direct:

„Und Ihr Modell – wer ist es? dürfen Sie mir nicht den Namen einer Person sagen, die mich in so hohem Grade interessirt?“

„Den Namen?“ versetzte der Bildhauer gedehnt und Raban verschmitzt anlächelnd. Es lag in seinem Tone etwas, als ob er eine große Naivetät belehre, als er hinzusetzte: „Unsere Modelle verrathen wir nicht.“

„Auch nicht Dem, der kein Kunstgenosse, kein Concurrent ist?“

„Er könnte immer ein Kritiker, oder ein Freund von Kunstgenossen sein.“

„Was ich nicht bin, weder das Eine noch das Andere.“

Wolfgang Melber blieb bei seinem überlegenen verschmitzten Lächeln.

„Jedes Gewerbe hat seine Heimlichkeiten,“ versetzte er achselzuckend und während der ganzen Unterhaltung in seiner unruhigen Beweglichkeit bleibend und sich hin- und herbewegend.

Raban aber blieb immer fester in seinem Vorsatze, den Schlüssel zu seinem Räthsel, das offenbar hier zu ergründen war, auch zu finden. Die seltsame Verschlossenheit des jungen Bildhauers, von der er nicht wußte, ob sie sich auf wirkliche gute und ausreichende Gründe stütze oder nur aus der Schadenfreude an Raban’s Enttäuschung herfließe, machte ihn nur noch hartnäckiger, noch leidenschaftlicher.

„Wohl denn,“ sagte er, „so will ich in Ihre ‚Heimlichkeiten‘, so wenig nöthig und motivirt sie mir scheinen, weiter nicht eindringen. Aber weil ich nun einmal ein lebhaftes Interesse für den Kopf Ihrer Gruppe gefaßt habe, weil er mich bewegt und rührt, will ich Ihnen einen Auftrag geben, falls Sie Zeit und Lust haben, ihn anzunehmen und bald auszuführen.“

„Die Auftraggeber drängen sich in meinem Atelier nicht gerade so, um mir das unmöglich zu machen,“ versetzte der Bildhauer jetzt offenbar erfreut und mit ruhigerem Blicke auf Raban.

„Nun wohl, führen Sie mir den Kopf in Marmor aus – als Büste – mit einer Schulterdraperie, wie sie Ihnen dazu passend erscheint.“

Der Bildhauer wendete jetzt plötzlich wieder den Blick unstet zur Seite; er sah bald seine Gruppe, bald die Wand jenseits, bald wieder Raban an.

„Nun – wollen Sie?“

„Den Kopf als Büste?“ versetzte Wolfgang Melber nachdenklich – „das gäbe eine Portraitbüste – die ich für Sie ausführen soll?“

„Den Preis hätten Sie selbst zu bestimmen . . .“

„Nun ja – ich glaube schon, daß Sie den Preis – etwa sechshundert Gulden – mehr oder weniger – nicht beanstanden würden . . .“

„Aber Sie nehmen Anstand – weshalb?“

„Weil ich denn doch nicht sicher bin, ob das Modell, wenn es auch zu einer allegorischen Gruppe seinen Kopf hergeliehen, mir damit das Recht gegeben hat, eine Portraitbüste für – einen fremden jungen Herrn daraus zu machen!“

„Sie sind stark in der Erfindung von Schwierigkeiten, Herr Melber,“ sagte Raban geärgert, und doch mit dem Gefühl, daß der Künstler etwas berührt habe, das er als gegründet werde anerkennen müssen.

„Meinen Sie?“ antwortete Wolfgang Melber mit einem ironische Tone. „Doch wohl nicht mehr als nöthig.“

„Und Sie lehnen also ab . . .“

„Ich werde mich hüten, einen solchen Auftrag abzulehnen,“ fiel der Bildhauer ein. „Aber ich kann ihn auch nicht annehmen, bevor ich die Einwilligung des Modells dazu erhalten habe.“

[475] „Wollen Sie sie erwirken?“

„Ich will es versuchen. Geben Sie mir, bitte, Ihre Karte. Den Bescheid werde ich Ihnen morgen um diese Stunde bringen.“

„Ich werde deshalb hier vorkommen,“ entgegnete Raban, ihm seine Karte gebend – „um diese Stunde also?“

„Wenn Sie sich herbemühen wollen, desto besser!“ entgegnete Wolfgang Melber. „Ja – haben Sie die Güte, zu kommen!“

Raban warf noch einen Blick auf die Gruppe und empfahl sich dann, von dem Bildhauer zum Ausgang geleitet.

Er ging, tiefbewegt von dem merkwürdigen Zufalle, der ihn gerade in diese Kunstwerkstätte geführt hatte, und nunnmehr fest entschlossen, den Faden, den er erfaßt, nicht wieder fallen zu lassen. Erhielt er am folgenden Tage einen abschlägigen Bescheid, so sollte auch das ihn nicht niederschlagen. Er gab diesem Wolfgang Melber dann einen andern Auftrag, der ihm erlaubte, den Künstler öfter zu besuchen, ihm näher zu kommen, sein Vertrauen zu gewinnen. – Raban war ganz bereit, die Bekanntschaft eines Mannes zu pflegen, der ihm persönlich doch einen mehr abstoßenden, als anziehenden Eindruck gemacht hatte, und zwar den Eindruck von einem innerlich unharmonischen Charakter, von einer jener Künstlernaturen, die als Gabe bei ihrer Geburt ein großes Talent erhalten haben, aber in ihrem Charakter nicht den Boden besitzen, auf welchem es wachsen und gedeihen könnte, kurz, bei denen das Talent wie ein schönes edles Roß ist, das einem armen Manne geschenkt wird. Der Himmel theilt eben sehr oft in solcher Weise die Rosenstämme großer Begabung an Menschen aus, deren übrige Eigenschaften einem wilden Gestrüpp gleichen, unter dem die Rosenstämme nicht zu einem blühenden Leben kommen können, sondern verkrüppeln und verdorren. Raban hatte zu wenig Welterfahrung, um sich nach einer einmaligen Begegnung sagen zu können, daß er einem solchen Charakter hier begegnet sei. Er hatte nur einen unangenehmen Eindruck von der Persönlichkeit erhalten, die so wenig von der Seelenruhe eines mit idealen Dingen beschäftigten Künstlers an den Tag legte. Freilich dachte er augenblicklich weniger daran, als an die Weise, wie der Künstler sich bedenklich gezeigt, seinen Auftrag anzunehmen – es sprach das wenigstens einen Respect vor dem Modelle des Bildhauers aus, der etwas in hohem Grade Wohlthuendes für Raban hatte. –


5.

Raban wünschte sich Glück dazu, daß er am Abend nicht im Eibenheim’schen Salon zu erscheinen brauchte; die Herrschaften folgten der Einladung zu einem Feste in einer befreundeten Familie – er konnte also Dem, was ihn vollauf beschäftigte, mit dem beglückender Gefühle dauernder Ungestörtheit nachhängen. Und doch sollte er nicht ungestört bleiben. Als er in seinen Hotelzimmer seine Kerzen entzündet hatte, überbrachte man ihm einen gewichtigen Brief – die so sehnlich erwartete Antwort seines Vaters.

Ueberrascht sah er, daß sein Vater, der sich sonst nicht gern ausführlich in Schriftlichem erging, eine ganze Anzahl von Blättern ausgefüllt hatte. Dieselben enthielten im Anfange des Briefes die Nachrichten aus der Heimath, welche Raban interessiren konnten, mit gewissenhafter Vollständigkeit, von dem Stande und Fortgang der Arbeiten zur Bestellung des Sommerkorns bis zum glücklichen Verlaufe der Staupe bei Inno, dem hoffnungsvollen jüngsten Mitgliede der Jagdmeute. Und alsdann hieß es weiter:. „Ich muß Dir nun die Frage beantworten, welche Dein letzter Brief mit einer gewissen Dringlichkeit, scheint es, enthält, obwohl ich aus Deinen Aeußerungen nicht ersehe, wodurch Du auf dieses Thema gebracht bist. Ich muß deshalb voraussetzen, daß Du, obwohl Du mir keine Andeutung darüber machst, den Bildhauer Wolfgang Melber aufgesucht hast, wie ich Dich ja darum bat, und daß dieser Herr bei Dir hat Aeußerungen fallen lassen, welche Dir für die Tholenstein’schen Familienverhältnisse ein Interesse einflößten.

Ich kann und darf Dir heute über diese Verhältnisse Alles sagen, was ich darüber weiß – natürlich im allerstrengsten Vertrauen, und ich bin froh, daß ich heute mit völligster Seelenruhe Dir den Grund sagen darf, weshalb ich in der Zeit, wo Du heranwuchsest, den Verkehr mit Arholt völlig abbrach und vermied. Der Grund, lieber Raban, war eine Sorge um Dich!“

„Um mich?“ sagte sich mit wachsender Spannung Raban – „um mich? Wie ist das möglich?“ Er las weiter.

„Ich hatte einst, in den Jahren, wo Deine arme, frühgeschiedene Mutter noch lebte, einen, wenn nicht sehr lebhaften, doch fortgesetzten Verkehr mit Denen auf Arholt. Die Familie bestand aus der verwittweten alten Dame, welche noch darauf lebt und die damals eine rüstige Frau in den besten Jahren war, ihrem erwachsenen Sohne Martin Tholenstein und einer Tochter Melanie, welche ich jedoch nur wenig gesehen habe, weil sie nur selten auf kurze Zeit bei ihrer Mutter auf Arholt erschien – sie hielt sich das ganze Jahr hindurch bei einer Tante, einer Stiftsdame, in Prag auf, auf deren Stelle im Stifte sie eine Aufnahme-Anwartschaft erhalten hatte, und die dagegen zur Bedingung gemacht, daß sie bei ihr dort lebe.

Der Mensch denkt und Gott lenkt – die Tholenstein waren sicherlich sehr erfreut gewesen, als durch der Tante Stiftsdame Verbindungen es erreicht worden, daß für des jungen Mädchens Zukunft so gut gesorgt sei, falls sie sich nicht verheirathen würde, was doch auch, da sie hübsch, liebenswürdig und von lebhaftem Temperament war, da sie ferner sich in den besten Kreisen bewegte, auch sehr möglich, ja wahrscheinlich erschien. Und doch, wie bitter hatten sie diese Fürsorge für die Zukunft zu beklagen, als sie sich nicht allein völlig überflüssig zeigte, sondern an den Aufenthalt des jungen Mädchens zu Prag, der dadurch veranlaßt wurde, sich die tragischsten Folgen knüpften.

Unnütz zeigte sich die Fürsorge für Melanie Tholenstein zunächst dadurch, daß ihr älterer Bruder Martin zu einem völligen Originale wurde, zu einem ‚Sterngucker‘, wie ihn die Leute nannten, obwohl Niemand in der Welt weniger zu den Sternen, den ewigen Lebenssternen, die ein vernünftiger Mensch in’s Auge zu fassen sucht, um sich von ihnen leiten zu lassen, aufblickte, als er. Dagegen vertiefte er sich mit wunderbarer Selbstgefälligkeit in allerlei kleinlichen Betrieb, wie ihn stupide Menschen lieben, spaltete Haare und hörte das Gras wachsen, stellte Untersuchungen über singende Mäuse an und trug im Frühlinge den Blüthenstaub von Birnbäumen auf Quittenstauden, um neue Obstarten zu schaffen. Ueber diese wissenschaftlichen Bestrebungen hielt er sehr gelehrte Vorträge den Bauern in der Schenke und war sehr stolz darauf, daß er unter diesen Leuten, die ihn verlachten, ‚das Niveau des culturellen Standpunktes‘ erhöhe. Was er zunächst dabei erhöhte, waren nur seine Lebensgeister; denn Martin Tholenstein trank mit den Bauern ihren Branntwein, und zuweilen, wenn die Sonntagnachmittagsgesellschaft aus der Kegelbahn sehr zahlreich und angeregt gewesen, bedeckend zu viel davon.

Frau von Tholenstein, seine Mutter, schüttete damals mir oft ihr kummervolles Herz aus über die seltsame Wendung, welche der Charakter ihres Sohnes, des Erben ihrer Güter und des Stammhalters der Familie nehme, der sich mehr und mehr in seinen Neigungen gehen ließ, sein Aeußeres vernachlässigte und nichts davon hören wollte, daß die Zeit für ihn gekommen, sich standesgemäß zu verheirathen. Ich that das Meinige, um sie zu beruhigen und zugleich auf Martin zu wirken und diesem die Einsicht beizubringen, wie gegründet die Vorstellungen seiner Mutter seien. Es ließ sich mit Martin Tholenstein ziemlich rund heraus und deutlich reden, ohne daß er es übel genommen und nachgetragen hätte; aber Alles, was ich erreichte, war die Entdeckung, daß es verhängnißvoll und gefährlich werden könne, Martin Tholenstein zu sehr zu einer Heirath zu ermuthigen. Martin Tholenstein hatte offenbar, wie ich aus der Wendung, die er seinen Antworten gab, schließen mußte, nun doch einige Sternguckerei getrieben – bis zur Entdeckung von zwei hübschen Augensternen im Gesichte einer Dorfschönheit, und er war am Ende im Stande, wenn man ihn wild machte, eine dralle Großmagd als Frau in das Schloß seiner Väter einzuführen.

So also war Martin Tholenstein der designirte Erbe und Stammhalter der Tholenstein zu Arholt. Leider sollte seiner bekümmerten Mutter noch größeren Gram, als er, die Tochter Melanie, die in Prag im Stifte lebte, bereiten. Was dort Alles vorgegangen, weiß ich Dir nicht genau anzugeben; ich erfuhr nur das, was Frau von Tholenstein mir etwa zwei Jahre später, nachdem sie ein Paar Mal eine plötzliche Reise nach Prag gemacht, anvertraute, und auch von diesem habe ich Manches in der langen Zeit aus dem Gedächtniß verloren. Das aber, was Frau [476] von Tholenstein mir mittheilte und wobei sie einen Freundesdienst von mir in Anspruch nahm, ist das Folgende:

Melanie Tholenstein hatte von der Natur eine schöne Stimme erhalten, zu deren Ausbildung sie den Unterricht einer bewährten Gesanglehrerin genoß, die unfern von dem Stift der Tante wohnte und in deren Wohnung sich Melanie zum Empfang des Unterrichts hinüberzubegeben pflegte. Leider wurde sie dadurch in nähere Beziehungen zu der Familie der Lehrerin gezogen, welche aus einem Mann, der sich mit Graveur- und Ciselirarbeiten beschäftigte, und dessen jüngerem Bruder bestand, einem Komödianten, der ehemals Officier gewesen war, dann den Dienst wohl nicht aus ganz klaren und durchsichtigen Gründen hatte verlassen müssen und nun auf einem Theater zweiten Ranges den Helden spielte. Von diesem Menschen, der Melber hieß …“

Der Name Melber ließ Raban wieder seine Lectüre für einen Augenblick unterbrechen – er war auf nichts weniger gefaßt, als auf diesen zu stoßen, der eine seltsame Verwickelung anzukündigen schien . . .

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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 30, S. 489–492
Novelle – Teil 4

[489] Von diesem Menschen, der Melber hieß,“ las Raban in dem Briefe seines Vaters weiter, „ließ Melanie Tholenstein sich umgarnen, sich seine wirkungsvollsten und rührendsten Effecte vorspielen und verirrte sich bis zur Verlobung mit ihm und zu allen möglichen Treuschwüren, denen zunächst die erregtesten Scenen mit der Tante im Stift gefolgt sein mögen – bis diese Tante, der Leidenschaft des unglücklichen jungen Mädchens gegenüber ohnmächtig, die Mutter Melanies zur Hülfe herbeirief. Frau von Tholenstein machte sich sofort auf den Weg – aber sie fand ihre Tochter nicht mehr in Prag – die verliebte Thörin hatte es vorgezogen, vor ihrer Ankunft mit ihrem Helden die Flucht zu ergreifen. Als die arme Frau tiefbekümmert nach Arholt heimkehrte, waren der einzige Trost, den sie mit sich heimbrachte, ein Paar Briefe Melanie’s aus einer ungarischen Stadt. Sie versicherte darin, daß sie glücklich und mit Melber getraut sei, daß dieser eine gute Stellung bei einem deutschen Theater in Ungarn gefunden, daß man sich um sie nicht grämen solle, und so weiter. Die Mutter hatte in ihrer Empörung sich lange nicht zu einer Antwort entschließen können; dann gewann doch die Sorge um die Tochter die Oberherrschaft im Mutterherzen, sie nahm den Briefwechsel wieder auf, sandte Unterstützungen – und reichlichere von dem Augenblick an, wo Melanie ihr die Mittheilung gemacht, daß sie im Begriff sei, Mutter zu werden, daß sie leidend geworden, daß ihr Mann sein erstes befriedigendes Engagement verloren und sich unstet in neuen ungenügenderen Stellungen aufreibe und umhertreibe.

Die Mutter Melanie’s las zwischen den Zeilen dieser Mittheilungen, daß ihr armes Kind in einen unsäglich elenden Zustand gerathen. Der Entschluß, Alles zu thun, um sie diesem zu entziehen, lag nahe – es wurde mit der Tante Stiftsdame darüber verhandelt, wer von den zwei Frauen selber nach Ungarn reisen solle, um Melanie zurückzuholen – da kam ein Brief des Herrn Melber auf Arholt an, welcher dieser Frage kurz ein Ende machte. Herr Melber meldete, daß seine Gattin Melanie von einem gesunden Mädchen entbunden, aber in Folge dessen zwei Tage nach der Geburt gestorben sei. Das Kind befinde sich wohl, es habe in der Taufe den Namen Marie erhalten. Er behalte sich alle seine Rechte vor und werde seiner Zeit sich weiter darüber äußern. Damit schloß der Brief.

Frau von Tholenstein und die Stiftstante hatten, nachdem sie den Schmerz über die erschütternde Nachricht überwunden, jetzt nur den einzigen Gedanken, das Kind Melanie’s in ihre Obhut und Pflege zu bekommen. – Dieses Kind war ja jetzt, da an Martin’s Verheirathung nicht zu denken war, die einstige Erbin von Arholt, auf ihm beruhte die ganze Zukunft der Familie. Es durfte nicht in den Händen eines fahrenden Komödianten in einem fernen Lande bleiben. Durch einen Prager Geschäftsmann gelang es auch in der That, den Vater des Kindes willig zu machen, das letztere der Großmutter auszuliefern, und zwar gegen eine bescheidene Jahresrente, welche ihm dagegen zugestanden wurde. Melanie’s Kind wurde von dem Geschäftsmann und einer Kammerfrau der Stiftsdame in Prag in Empfang genommen und dann nach Arholt gebracht.

Als es heranwuchs, von der Großmutter wie ihr Augapfel gehütet, und sich in liebenswürdigster Weise entwickelte, kam jene bei unserem Könige mit der Bitte ein, daß ihre Enkelin den Namen Melber fallen lassen und den ihrer Mutter von Tholenstein auf und zu Arholt führen dürfe, was ihr um der Erhaltung eines so achtbaren historischen Namens willen ohne Schwierigkeit bewilligt wurde.

So standen die Sachen – und für die Welt stehen sie noch jetzt so – bis Marie Tholenstein neun Jahr alt geworden; in dieser Zeit bekam Onkel Martin an einem schönen Sonntagnachmittag in der Dorfschenke einen heftigen Schlaganfall, von dem er zwar leidlich genas, der sich aber nach zwei Monaten mit tödtlicher Wirkung wiederholte. Mehrere Wochen nach seinem Tode war es, als Frau von Tholenstein meine Freundschaft in Anspruch nahm und mir ihr Vertrauen in ihren Angelegenheiten schenkte. Was sie dazu bewog, war das Folgende:

Bisher hatte es in unserer Gegend geheißen, Melanie Tholenstein sei in Oesterreich irgendwo mit einem Vetter desselben Namens verheirathet gewesen und mit Hinterlassung der jetzt von der Großmutter erzogenen einzigen Tochter gestorben. Bei dem Familienstolze der alten Dame war dieser alles daran gelegen, daß diese landläufige Deutung der Dinge, mit der man sich in einem so arglosen Lande, wie dem unserigen, gern zufrieden gab, unangetastet und ununtersucht bleibe. Nun aber war plötzlich und ganz unerwartet die seit langem verschollene Größe, der Heldenspieler Herr Melber, blühend und daseinsfroh, wie es nur von solch einer ehrenwerthen Persönlichkeit vorausgesetzt werden kann, bei der erschrockenen alten Dame auf Arholt erschienen. Er hatte von dem Tode Martins vernommen und mit den verworrenen Rechtsbegriffen, welche die Köpfe solcher Menschen erfüllen, sich eingebildet, Martin, als männlicher Sprosse des Hauses, sei der [490] Herr und Eigenthümer von Allem gewesen, und nach dessen Tode gehöre Alles seinem Kinde, in dessen ausschließlicher Vormundschaft er zu schwelgen sich bereit hielt. Frau von Tholenstein hatte nicht vermocht, ihn von seinen Wahnvorstellungen zu heilen, und gepeinigt von der Sorge, durch die Einmischung von Advocaten und gerichtliche Verhandlungen die wunde Stelle der Welt preisgegeben zu sehn, flüchtete sie zu mir. Sie bat mich, mit diesem Herrn Melber zu verhandeln, ihm Vernunft beizubringen und einen erträglichen Vergleich mit ihm zu schließen. Die Zumuthung war nicht angenehm, aber sie war nicht abzulehnen. Herr Melber erschien eines schönen Abends bei mir, und ich hatte die Genugthuung, einen Menschen in ihm zu finden, welcher Vernunftgründen nicht unzugänglich war. Anfangs freilich war es nicht gar leicht, seine falschen Vorstellungen über die Rechtsverhältnisse zu berichtigen. Er habe lange geglaubt, sprach er, nur ein Knabe könne erben; man habe ihm aber gesagt, wenn kein Knabe da, erbe auch eine Tochter: also jetzt Melanie’s Tochter Marie. Und er sei gekommen mit dem festen Entschluß, seine natürlichen Rechte als ihr Vater geltend zu machen, als ihr zunächst berufener Vormund.

Diese schönen Illusionen, die eine gewisse Berechtigung gehabt hätten, wenn das Vermögen, um welches es sich handelte, ein Fideicommiß gewesen, ein Majorat gebildet hätte, mußte ich ihm zerstören. Die Güter waren aus ehemaligen Lehngütern längst zu völlig freier Allode geworden, und der Ehevertrag des letzten Freiherrn und der Frau von Tholenstein, sowie das Testament des ersteren gaben den Besitz und die ganze Nutznießung des sämmtlichen Vermögens in die Hand der letzteren. Außerdem hatte Melber vor dem Geschäftsmann in Prag damals, als er Marie ausgeliefert hatte, auf die Führung der Vormundschaft über sein Kind verzichtet, diese war gerichtlich der Großmutter übertragen – und für den ehemaligen Bühnenkünstler blieb nichts zu holen.

Er sträubte sich, die Thatsache gelten zu lassen, daß Arholt nicht Majorat oder Fideicommiß sei. ‚Meine Melanie,‘ sagte er, ‚meine theure, vielbeweinte Melanie hat mir immer gesagt, daß dem so sei, daß alle adligen Vermögen hier im Lande Fideicommiß seien, daß ihr Bruder Martin als männlicher Sprosse ganz allein Alles geerbt habe . . .‘

‚Wenn sie Ihnen das sagte,‘ versetzte ich, ‚so hat sie es wohl auch geglaubt und irrte gründlich darin. Viele solche Vermögen im Lande bilden allerdings Majorate, welche stets auf den ältesten männlichen Erben übergehn, und erst dann, wenn diese fehlen, auf die älteste Tochter des Geschlechts. Viele andere werden dafür gehalten, von den Familiengliedern auch so betrachtet und anerkannt und vom Vater auf den ältesten Sohn nach dem alten Brauch vererbt, obwohl sie rechtsgültig keine Fideicommisse sind; und viele endlich sind es weder, noch werden sie dafür gehalten, und zu diesen gehören – unglücklicher Weise für Sie – die Tholenstein’schen Güter. Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, müssen Sie sich zum Amtsgericht, dem wir hier unterstehen, bemühen; man wird Ihnen den Einblick in die Grudacten nicht verweigern.‘

Herrn Melber’s Hautfarbe hatte sich während dieser Unterredung um ein Merkbares abgeblaßt; er saß vornübergebeugt in seinem Stuhle und schwieg. In mir aber stieg die Vermuthung auf, daß Melanie selbst in ihrem Gatten eine falsche Voraussetzung genährt haben könne, um ihn abzuhalten, ihrer Familie mit Anforderungen lästig zu werden, die dem Stolze derselben widerstrebt haben würden.

,Ich habe mich,‘ hob Herr Melber nach einer langen Pause und halb wie im Selbstgespräch wieder an, ‚ich habe mich so sicher darauf verlassen, daß nur der selige Martin habe erben können – so sicher – ich habe deshalb . . .‘

‚Was haben Sie?‘

Er antwortete nicht; mit tragisch gerunzelter Braue blickte er starr den Boden an.

‚Und selbst mein Recht, über das Kind, die Marie, die Vormundschaft zu führen, kann man mir absprechen . . .‘

,Sie haben darauf verzichtet – gegen die Rente, welche Ihnen gezahlt ist und vor wie nach gezahlt werden wird . . .

‚Verzichtet,‘ fuhr er wie eben halblaut fort, ‚verzichtet zu Gunsten dieses alten Weibes auf Arholt, das Alles hat, Alles nimmt, das mich zur Thür hinauswirft! ... Es müßte eine hübsche Vergeltung, eine verdiente Strafe für ihre Habsucht sein, wenn ich ihr nun sagte: Verehrte Gnädige, Muster aller Schwiegermütter, wenn Sie in mir einen Thoren, einen Theaterhanswurst sehen, so irren Sie – die väterlichen Rechte über sein Kind giebt ein Mann von Herz und Gefühl nicht auf – über das, was Ihnen da ausgeliefert ist, über diese Marie, die Sie als Ihre Enkelin herzen, habe ich auf die Vormundschaft verzichtet . . . wer sagt Ihnen denn aber . . . wer sagt Ihnen . . .‘

Betroffen horchte ich auf. ‚Nun, was?‘ rief ich aus, als er nicht fortfuhr.

Aber er schwieg, sein Kinn nachsinnend auf den Arm stützend, mit seinen dunklen, erloschenen und tiefliegenden Augen auf das Bild unseres geharnischten Vorfahren blickend, das ihm gegenüber über dem Sopha hing.

‚Diese stolzen Narren, diese hochmüthigen Rassemenschen,‘ murmelte er, ‚mit ihrem verrückten Glauben an ihr Blut! Was wissen sie von ihrem Blut; was weiß die alte Frau, die Alles an sich gerissen hat, von dem Blut in den Adern eines Kindes, das man ihr gebracht hat?‘

‚Und das denn doch auch wohl ihrer Tochter Kind ist, Herr!‘ fuhr ich erschrocken ihn an.

‚Gewiß,‘ sagte er boshaft, und wie schadenfroh über mein Erschrecken mich anblinzelnd; ‚gewiß, gewiß! Aber wenn ich nun so schlau gewesen wäre – es wäre doch möglich, daß meine Melanie mir eigentlich und in Wahrheit einen Knaben geboren hat – wenn ich so schlau gewesen wäre, ihnen ein beliebiges, irgendwo bei ärmsten Eltern geborenes und aufgelesenes Mädchen auszuliefern, um mir dagegen vorläufig die Zahlung meiner Pension zu sichern . . . mir meinen Knaben aber reservirt hätte – Sie wissen, ich habe lauge in der Voraussetzung gelebt, daß ein Knabe nur erben könne, erben müsse . . .‘

‚Aber Martin war ja da,‘ rief ich in wachsendem Erschrecken aus.

‚Martin? Nun ja – aber er konnte sterben. Eben deswegen!‘

,Und also – gehen Sie heraus mit der Sprache – heraus damit, Herr – haben Sie oder haben Sie nicht der Frau von Tholenstein ein Kind untergeschoben, das gar nicht ihrer Tochter Kind ist?‘

Er lächelte – er lächelte mit einem Gesicht, das ich in diesem Augenblick hätte ohrfeigen mögen, so unaussprechlich gemein, widrig, boshaft erschien es mir. Und mit diesem schadenfrohen Lächeln sagte er:

‚Wenn ich es gethan hätte und jetzt den Knaben brächte, würde es nicht gründlich die Sachlage ändern? Würde es nicht heillos der Alten auf Arholt die Rechnung verderben?‘

‚Es wäre denn doch zu ungeheuerlich, Herr – es wäre ein Bubenstück, das die alte Frau tödten müßte . . .‘

‚Man könnte,‘ fuhr er mit seinem dämonischer Lächeln fort, ‚man könnte mir dann doch die Führung der Vormundschaft nicht verweigern! Oder könnte man es dennoch, wie? Ich habe auf die Vormundschaft des Mädchens, das ihnen ausgeliefert ist, verzichtet. Schriftlich und für immer verzichtet. Und die Gerichte haben der Alten alle Macht über das Mädchen gegeben. Gesetzt aber nun, ich brächte den Knaben herbei – mein und Melanie Tholensteins echtes richtiges Kind? Wie dann? Auf meine Rechte über dieses habe ich nicht verzichtet; auf die Vormundschaft über den Knaben niemals!‘

‚Also Sie haben wirklich – in der That die unglaubliche Schlechtigkeit begangen‘ – rief ich erhitzt und diesem Menschen gegenüber ganz außer mir gerathend aus – ‚Sie haben den furchtbaren Frevel begangen, das Mädchen auf Arholt der Großutter unterzuschieben – es ist unerhört, es ist schrecklich . . .‘

,Wie Sie sich erhitzen,‘ sagte er, wie mit dem ruhigsten Gewissen von der Welt sein Kinn streichelnd – ‚sagen Sie mir lieber, was ich wissen möchte: ob es nicht die Lage der Dinge gründlich zu meinen Gunsten änderte?‘

‚Zu Ihren Gunsten? Sie wähnen das? Sie wähnen, daß eine solche That für Sie glückliche Folgen haben könne? Man würde einfach . . .‘

Ich unterbrach mich. Ich fühlte, daß ich im Begriffe stand, etwas sehr Unheilvolles auszusprechen. Ich hatte die Worte auf den Lippen: ‚man würde Sie einfach wegen des Verbrechens der Unterschiebung eines Kindes ins Zuchthaus bringen! Aber ich begriff im selben Augenblicke, daß solch eine Ankündigung ihn [491] erschrecken und bestimmen mußte, in seinen Geständnissen inne zu halten, sie zurückzunehmen. Und es kam doch Alles darauf an, ihn sich ganz erklären und aussprechen zu lassen.

‚Was würde man einfach?‘ fragte er.

‚Als Vater des Knaben Ihre Rechte achten müssen,‘ antwortete ich, ‚aber man würde Sie vielleicht zur Rechenschaft ziehen wegen der von Ihnen ausgeübten bisherigen Täuschung der Großmutter, der obervormundschaftlichen Behörde . . .‘

‚So, so – das würde man? Und würde das so schwer genommen werden?‘

‚Hinreichend,‘ entgegnete ich, ‚um mir für Sie räthlich erscheinen zu lassen, den Knaben auszuliefern und dagegen sich eine Erhöhung Ihres Jahrgelds versprechen zu lassen, welche Sie dann am besten thäten, im Auslande zu verzehren, außerhalb des Bereichs der Gerichte, welche Ihnen Schwierigkeiten bereiten könnten . . .‘

‚Hm,‘ meinte er darauf hin. ,Das wäre doch nicht, was ich wollte. Das könnte mich nicht locken, mein Herr von Mureck, durchaus nicht . . .‘

‚Ueber das, was am räthlichsten für Sie wäre,‘ fuhr ich fort, ‚läßt sich ja aber später sprechen; es läßt sich überlegen – das Nöthigste ist jetzt, daß Sie mir sagen, wo sich der fragliche Knabe befindet, wo Sie ihn haben.‘

‚Wo ich ihn habe?‘ entgegnete er, mich lange sinnend und wie zerstreut anblickend. Und dann lachte er kurz und gezwungen auf: ‚ja, wo ich ihn habe! Das möchten Sie wissen!‘

‚Freilich möcht’ ich das wissen, muß es wissen!‘

‚Ich bedaure, Ihre Neugier nicht befriedigen zu können,‘ sagte er mit einem Seufzer und plötzlich aufstehend.

‚Und Sie glauben, ich würde Sie gehen lassen – jetzt gehen lassen, ohne von Ihnen gehört zu haben . . .‘

‚Sie werden nichts mehr von mir hören. Das, was ich von Ihnen gehört habe, genügt mir fürs Erste. Ich sehe, daß vorläufig für mich hier nichts zu holen ist. Wann Sie Weiteres von mir hören werden, müssen Sie abwarten, mein Herr von Mureck. Damit empfehle ich mich Ihnen und lasse die respectvollsten Grüße an meine verehrte Schwiegermutter vermelden. Leben Sie wohl!‘

‚Halt – ich kann, ich darf Sie nicht gehen lassen, bevor Sie gestanden haben, wo . . .‘

‚Vertreten Sie mir den Weg nicht, Herr,‘ rief er, zornig auffahrend, aus – ‚Sie können mich zu Ihrem Hause hinauswerfen lassen, dazu bestreite ich Ihnen das Recht nicht, aber Sie haben kein Recht, mich darin gefangen zu halten – fort da!‘

Ich hatte freilich kein Recht, ihn gewaltsam zurückzuhalten, ich mußte ihn seines Weges ziehen lassen. Er verschwand und ließ mich in der größten Aufregung zurück. Was sollte ich thun – sofort zu der alten Dame auf Arholt fahren und ihr die Andeutungen, welche er mir gemacht, mittheilen? Die arme Frau, welche mit so unendlicher Zärtlichkeit an ihrer Marie hing, hätte den Tod davon haben können. Mich an die Gerichte wenden, an die Polizei, damit dieser Melber zurückgehalten werde? Er konnte die ganze Unterredung, welche er mit mir gehabt, ableugnen. Nein – ich konnte nichts thun, als mir selber Vorwürfe machen, daß ich in der Aufregung, in welche mich seine Geständnisse versetzt, ein so jämmerlich schlechter Diplomat gewesen. Mit einiger Klugheit und Gewandtheit hätte ich meine Antworten so eingerichtet, um ihn zu ermuthigen, sich rückhaltlos und ganz auszusprechen, um mir Alles zu gestehen. Statt dessen hatte ich ihn erschreckt, sein offenem Herausgehen zurückgescheucht, ihm Furcht vor den Folgen seines Verbrechens eingejagt – ich war sehr dumm gewesen. Aber freilich war ich auch so völlig unvorbereitet auf das, was ich zu hören bekommen hatte.

Ich konnte als discreter und behutsamer Mensch trotz allen Kopfzerbrechens über die Sache nichts thun, als am andern Tage Frau von Tholenstein die Kunde zu bringen, daß die Unterredung mit Melber stattgefunden habe und daß sie befriedigend verlaufen sei, insofern der ehemalige Schauspieler eingesehen, daß sein Verhältniß zu der Familie durch den Tod Martin’s in nichts verändert sei, daß er gegangen, ohne mit weiteren Anforderungen, wie etwa dem Verlangen einer Erhöhung seines Jahrgehalts, lästig zu werden. Frau von Tholenstein wurde nun durch diese Anspruchslosigkeit ihres Schwiegersohns gerührt. Ihre Melanie habe doch diesen Menschen einst geliebt, sagte sie, und er müsse sich doch unglücklich fühlen, da er so allein stehe in der Welt, geschieden von seinem Kinde, welches er jetzt nicht einmal zu sehen bekommen habe, welches nicht einmal seinen Namen trage. Ich hatte Mühe, Frau von Tholenstein abzuhalten ihm aus freien Stücken sein Jahrgehalt zu vermehren. ‚Eben dadurch,‘ sagte ich ihr, ‚daß er gar nicht verlangt hat, sein Kind zu sehen, zeigt er am besten, daß er sein Alleinstehen in der Welt und sein Lebensloos guten Muths erträgt!‘

Woher die Gleichgültigkeit gegen Marie, nach der er bei der alten Frau auf Arholt nicht einmal gefragt zu haben schien, bei ihm rührte – das wußte ich ja jetzt nur zu gut mir zu deuten.

Und dann harrte ich, harrte wochenlang auf das, was ich nun erwartete, auf weitere Schritte, die Melber thun würde. Er mußte doch nun weiter von sich hören lassen, in seinem Interesse, im Interesse seines Knaben. Es hätte keinen Sinn für ihn gehabt, die Interessen seines Kindes länger auf sich beruhen zu lassen, nachdem er von dem Irrthum geheilt war, der ihn sein Verbrechen hatte begehen lassen – von dem Irrthum, daß er mit dem Knaben den künftigen Herrn und ausschließlichen Erben von Arholt in seiner Hand und in seiner Gewalt behalte. Nachdem er von diesem Irrthum zurückgekommen war, mußte es ihn drängen, die Geburtsrechte seines Kindes geltend zu machen – so bald als irgend möglich!

Aber es wurde nichts weiter von ihm gehört. In meiner Unruhe um die Sache, in die ich, und ich allein mich eingeweiht fand, that ich Schritte, um Nachforschungen nach dem Herrn Melber anstellen zu lassen. Es war nicht leicht, zu Nachrichten über ihn zu gelangen. Seine Jahresrente wurde ihm durch ein Bankhaus in Prag ausgezahlt, aber er lebte nicht in Prag. Endlich wurde ermittelt, daß er in Wien lebte, in der Familie seines Bruders, derselben, in welcher Melanie Tholenstein einst seine Bekanntschaft gemacht hatte. Die ehemalige Gesangslehrerin war schon seit Jahren kränklich und siech geworden; ihr Mann setzte in Wien sein Geschäft als Graveur fort, aber ohne Glück und viel Kundschaft; sie lebten in dürftigen Umständen; es mochte der Jahrgehalt des jüngeren Bruders da das Meiste thun müssen, um auszuhelfen. Ein Kind war da, ein Knabe – er war völlig vom selben Alter wie Marie Tholenstein, und für diesen Knaben schien der ehemalige Schauspieler eine besondere Zärtlichkeit zu hegen, auch schien er, da die kranke Mutter sich wohl nicht um ihn kümmern und der Vater sich wegen seiner Arbeit wenig seiner annehmen konnte, zur Obhut und Aufsicht dem Onkel völlig überlassen. Man sah den beschäftigungslosen ehemaligen Schauspieler gewöhnlich von dem Knaben – es war ein kräftiger, sehr hübscher Junge mit einem Kopf voll dichten dunklen Kraushaares – begleitet, wenn er kleine Vorstadttheater besuchte, oder seine Zeit damit zubrachte, im Prater mit dem Kleinen an der Hand vor den Schaubuden zu stehen und zu gaffen. Von Zeit zu Zeit, während der guten Jahreszeit, verschwanden auch Beide für mehrere Tage, oft auch wochenlang, aus Wien. Sie mochten dann irgendwie auf Streifereien durch die benachbarten Landschaften die frische Bergesluft athmen und auf ihre Weise sich der Sommerlust hingeben.

Das war es, was ich mit einiger Mühe und leidlichem Geldaufwand über den Thaliajünger ermittelte. Es genügte, um aufs Schönste Dasjenige zu ergänzen, was in seinem halben Geständnisse dieser Mann mir bekannt hatte. Ganz ohne Zweifel hatten diese Menschen ihre Kinder verwechselt; Melber hatte eine Tochter seines Bruders, des Graveurs, als Melanies Kind ausgeliefert; man hatte dadurch dem Mädchen alle Vortheile einer besten und sorglichsten Erziehung gesichert; unterdeß hatte er den Knaben Melanies in seiner Obhut bei sich behalten, um sich alle Vortheile zu sichern, welche ihm seine väterliche Gewalt über den Erben von Arholt gab.

Freilich, als immer mehr Zeit verstrich, als eine Woche, ein Monat nach dem andern verfloß, ohne daß Melber etwas hätte von sich hören lassen, um endlich zu Ergebnissen und Früchten seines verbrecherischen Handelns zu gelangen und seines Kindes Rechte geltend zu machen, mußten mir Zweifel kommen, ob die Deutung, welche ich mir machte, die richtige sei. War es denn nicht auch möglich, daß der unselige Mensch einem in ihm aufgestiegenen Gedanken, den die Unterredung mit mir in ihm hervorgerufen, Worte gegeben hatte, um in boshafter Weise zu [492] ängstigen und zu erschrecken, um sich zu rächen an Denen, welche ihn resultatlos heimschickten, und um einen Stachel in ihrer Seele zurückzulassen? Es war das möglich, immerhin möglich! Aber sich so verwegen und leichtfertig zu einem Verbrechen zu bekennen, welches man nicht begangen hat – wer thut das? Und war es nicht auch nur zu erklärbar, daß dieser Mensch sich jetzt so still verhielt? Ich selbst war ja sicherlich schuld daran – ich hatte ihn erschreckt mit meinen Reden von der Gefahr, welche ihm drohe, den Criminalgerichten zu verfallen; er mochte klug genug gewesen sein, sich bei rechtskundigen Leuten über die Folgen, denen ein Mann in seiner Lage ausgesetzt sein könne, wenn er noch weiter mit der Sprache herausgehe, Raths zu erholen, und nun war nichts natürlicher, als daß er schwieg und sich still hielt.

Still bis zu dem Tage, wo einmal die alte Dame auf Arholt die Augen schließen würde, und wo er dann freilich auftreten und reden mußte für die Rechte jenes hübschen Jungen mit dem Kopfe voll dunklen Kraushaars. –

Damit, lieber Raban, weißt Du nun Alles, was die Verhältnisse bei unsern Nachbarn betrifft. Deine eigentliche Frage – ich glaube, ich habe sie Dir mit dieser Enthüllung schon beantwortet. Marie Tholenstein entwickelte sich zu einem sehr hübschen, auffallend anziehenden jungen Geschöpfe. Und sie war das einzige hübsche junge Mädchen in den Familien unserer Standesgenossen, mit denen wir Umgang pflogen. Ich durfte Dich der Gefahr nicht aussetzen, die Dir von dieser Seite drohen konnte. Ich mußte, so lange es Zeit war, gründlich Dem vorbeugen, daß sich Dein Herz nicht mit seiner ersten schönsten Jugendliebe an Marie Tholenstein verlor. In Deiner Natur liegt die Fähigkeit tiefen und dauernden Empfindens; und von der zähen Starrsinnigkeit, welche man ein allgemeines Eigenthum unseres Stammes nennt, hast auch Du ein gutes Theil bekommen. Es hätte einen heillosen Conflict zwischen uns gegeben, hättest Du Dich in Marie Tholenstein verliebt. Es war nichts Anderes zu thun; es mußten die Beziehungen zu Arholt allmählich gelöst und endlich völlig abgebrochen werden.

Und nun, nachdem ich Dir Alles gesagt habe, was bisher nie und gegen keine Menschenseele über meine Lippen gekommen ist – es war mir eine Wohlthat, einmal so rückhaltslos über etwas reden zu können, was einst lange Zeit mir wie eine eigene Sorge auf der Brust lag – nun zum Schlusse nur die Bitte, diesen ganzen langen Brief sofort zu verbrennen! Man weiß nicht, welches Spiel der böse Dämon Zufall mit solchen schriftlichen Mittheilungen, die eigentlich nie schwarz auf weiß gemacht werden sollten, treiben kann!
Dein treuer Vater.“ 

Raban legte aufathmend von der Spannung, womit er gelesen, und hochgerötheten Gesichts den Brief aus der Hand. Er verbrannte ihn nicht, er verschloß nur sorgfältig dies inhaltreiche Aktenstück, das ihm ein Räthsel gelöst – so viele andere dafür aber nur dunkler gemacht hatte. Den Grund, aus welchem sein Vater ihn aufgefordert, sich nach dem Bildhauer WolfgaNg Melber umzuschauen, konnte er sich ergänzen – aus dem Knaben des Schauspielers war ein Künstler geworden; Raban’s Vater hatte ihn bis soweit im Auge und ein Interesse für ihn behalten. Aber was war weiter aus Marie Tholenstein geworden? war sie dort, in Arholt, oder war sie hier, wo Raban sie wiedererkannt zu haben glaubte? Sicherlich war sie hier, wo Raban sie ja zu Melbers hatte gehen sehen, ihren Verwandten also! Und weshalb denn war sie hier – und weshalb erschien sie wie ein weiblicher Proteus in so mancherlei und in so fragwürdigen Gestalten? Hatte sie, sie selber das Geheimniß ihrer Herkunft entdeckt – kannte es dieser Wolfgang schon, und war das junge Mädchen dadurch, wie sich selbst entfremdet, zu etwas wie einem haltlosen Blatt geworden, in eine Existenz hinabgesunken, die – – doch nein, das war unmöglich, das zu denken war ein Frevel an dem Wesen, dessen Haupt zum Modell der Charitasgruppe hatte dienen können – und all diese Räthsel mußten sich ja lösen, nach und nach, mit Geduld und Ruhe, von denen freilich in dieser Stunde und der schlummerlosen Nacht, die ihr folgte, wenig in Raban’s Seele zu finden war.

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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 31, S. 505–507
Novelle – Teil 5
[505]
6.

Von der Begierde getrieben, der geheimnißvollen Unbekannten einen Schritt näher zu kommen, erschien Raban am andern Tage zur festgesetzten Stunde in dem Atelier Wolfgang Melber’s. Er fand in dem ersten Raum nur den kleinen älteren Kunstgenossen Wolfgang’s und ein wie eine Zofe aussehendes junges Mädchen, das wie wartend in seiner Nähe saß und mit ihm plauderte.

„Herr Melber,“ sagte der Kunstgenosse, „ist ausgegangen, wird aber sehr bald wieder hier sein – bitte, treten Sie nur hier ins andere Atelier ein! Sie werden darin eine Schülerin Herrn Melber’s beschäftigt finden, aber durchaus nicht stören – bitte, treten Sie ein! – in wenig Augenblicken ist Herr Melber da.“

Raban trat unter dem Vorhang, den der kleine Mann vor ihm aufhob, hinein in den hinteren Raum, dessen Mitte Melber’s Gruppe einnahm, – aber auf’s höchste betroffen blieb er stehen – sofort die „Schülerin“, die junge Dame ins Auge fassend, die seitwärts, nahe dem einzigen großen Fenster, vor einem Modellirstuhl saß und an einem großen Reliefbilde in Medaillonform arbeitete.

Sie hatte bei seinem Eintreten langsam den Kopf gewandt und ihm einen prüfenden Blick zugeworfen, dann sich ruhig ihrer Arbeit wieder zugekehrt, als ob sie eine Anrede nicht erwarte. Ihm aber hatte das flüchtige Erblicken des Profils genügt, das sich für einen kurzen Moment ihm gezeigt, um zu sehen, daß er sie selbst, die von Räthseln umgebene Gesuchte, die ärmlich aussehende Bekannte des stelzfüßigen Invaliden, die elegante Amazone, das Modell zu der Gruppe des Bildhauers vor sich habe.

Die plötzliche, so völlig unerwartete Begegnung ließ augenblicklich Raban’s Herz auf’s heftigste schlagen. Er stand eine Weile ohne den Muth, ohne die Worte zu einer Anrede zu finden. Dann stotterte er die Bitte hervor, welche sich wie von selbst auf seine Lippen drängte: die Störung, welche er verursache, zu entschuldigen.

„Sie sehen, daß ich mich nicht stören lasse,“ antwortete sie mit einer weichen wohlklingenden Stimme, und fuhr dabei ruhig in ihrer Arbeit fort – in der That kneteten ihre zierlichen, rosenroth durch den grauen Thon schimmernden Finger mit den Modellirhölzern weiter an den schwellenden Formen der zwei spielenden Kinder, welche sie auf ihrem Relief ausarbeitete.

„Dürfte ich aber auch auf Ihre Verzeihung rechnen, wenn ich eine Frage ausspräche, die mir sehr am Herzen liegt ...“

„Und die ich Ihnen beantworten kann?“ versetzte sie, jetzt ein wenig befremdet zu ihm aufschauend.

„Sie selbst am besten,“ entgegnete er lebhaft, „Sie tragen die Züge eines jungen Mädchens, das ich zwar seit vielen Jahren nicht sah, das ich nur gesehen habe, als es vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt war, und das doch ganz lebendig in meiner Erinnerung steht ...“

„O, das ist viel,“ antwortete sie mit einem ironischen Tone und leisem Aufzucken der Lippen, als ob sie einen Anflug von Mißtrauen über diese Art, ein Gespräch einzuleiten, verrathen wolle.

„Und doch ist es wahr,“ fuhr er eifrig fort; „das junge Mädchen hieß Marie von Tholenstein zu Arholt und ist ...“

„Ah,“ fiel sie ihm lachend in’s Wort, „dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrem Talente, Aehnlichkeiten zu entdecken – es konnte Ihnen bei mir nicht schwer fallen, denn ich bin ja Marie Tholenstein.“

„Sie sind es – Sie sind es wirklich – o, wußt’ ich’s doch, nur Sie könnten es sein – nur Sie könnten ...“

Er hielt inne, er fühlte, daß er im Begriff stand, in seiner Lebhaftigkeit, in der Erregung des Augenblicks etwas zu sagen, was sie für unpassend und tactlos halten würde.

„Ein gutes Gedächtniß müssen Sie aber doch haben,“ fuhr sie fort, „wo sahen Sie mich denn, als ich ein Kind von zwölf Jahren war?“

„Ich sah Sie – ich bedauere, Sie an eine etwas lächerliche Scene, in der ich keine vortheilhafte Rolle spielte, erinnern zu müssen; entsinnen Sie sich einer Mühle, in der Nähe Ihres Gutes – der Gespielinnen, mit welchen Sie sich dort unter Obhut Ihrer Großmutter befanden – und eines verlegenen Knaben, der mit einem alten Sonnenschirm – oder war es ein Regenschirm? – beschämt, verspottet vor Ihnen stand ...“

Marie Tholenstein zog leise und wie sinnend eine kleine Falte zwischen ihren Brauen zusammen.

„An der Mühle – ja, ja, ich entsinne mich dessen – es waren Juliane Fellberg und Bertha Gernspach bei mir.“

„Zwei oder drei junge Dämchen waren bei Ihnen, mit denen Sie einen Spaziergang durch den Wald gemacht – aber Sie, nur Sie waren so engelgut, meinem tief verwundeten und blutenden Knabenehrgeiz zu Hülfe zu kommen.“

Sie unterbrach ihn, indem sie mit einem fröhlichen Lächeln sagte: „Und Sie – ach, ich weiß jetzt, Sie können nur Raban von Mureck sein?“

[506] „Der bin ich, und wir sind also Heimathgenossen.“

„In der That – die daheim sich so fremd sind, müssen hier, in der großen Stadt sich finden, um,“ setzte sie lächelnd hinzu, „so heitere Kindheit-Erinnerungen auszutauschen. Aber nehmen Sie doch Platz – Herr Melber wollte gleich zurück sein – Sie werden, wenn Sie hierher gekommen sind, um einen Blick auf seine Werke zu werfen, doch auch die Bekanntschaft des Künstlers machen wollen? Werden Sie längere Zeit in Wien bleiben? Und interessiren Sie sich für plastische Kunst?“

Sie hatte sich auf ihrem Stuhl gewendet, um das Gespräch mit dem Heimathgenossen fortzusetzen – Raban antwortete, sich einen Sessel herbeiziehend:

„Ich interessire mich freilich für die Kunst – Herrn Melber lernt’ ich schon gestern kennen – ich möchte ihm sogar,“ fuhr er leis erröthend fort, „etwas wie einen Auftrag geben . . .“

„Ah, das ist brav . . .“

„Aber . . . hat er Ihnen nichts davon gesagt?“ Raban sprach das mit einer wachsenden Verlegenheit.

„Mir gesagt? Nein. Weshalb sollte er?“

„Weil – nun, weil ich an seiner Gruppe hier großes Gefallen fand – aber, zu arm, um sie für mich ganz in Marmor ausführen zu lassen, ihn bat, mir wenigstens den Kopf der Hauptgestalt als Büste in Marmor auszuführen. Er nahm Anstand, dies zu versprechen, weil er damit zugleich eine Portraitbüste herstelle und nicht wisse, ob das Original in eine Nachbildung für einen Fremden einwillige. Das Original dieses Kopfes ist nun unverkennbar der Ihrige, Sie haben die Güte gehabt, ihm als Modell zu dienen, und da Melber mir Ihre Einwilligung zu erwirken versprach, so setzte ich voraus . . . kam eben deshalb heute auf seinen Wunsch hierher . . .“

„Ich weiß von dem Allen nichts,“ versetzte sie sehr ernst und nachdenklich, „also den Kopf der Gruppe wünschen Sie zu besitzen – und er wünscht gewiß sehr, einen solchen Auftrag ausführen zu dürfen . . . ich möchte freilich Anstand nehmen, es zu erlauben, wenn es sich wirklich um ein Portrait handelte; aber ich habe Melber bei seiner Arbeit nur, wie er’s eben wünschte, hier und da als Modell gedient; meinen Kopf hat er so idealisirt, daß ich glaube, ich thäte Unrecht, durch übertriebene Aengstlichkeit ihn um einen solchen lohnenden Auftrag zu bringen.“

„Und Sie geben also Ihre Einwilligung?“ rief Raban aus, „o wie glücklich Sie mich dadurch machen!“

„Sie scheinen wirklich ein Kunstenthusiast zu sein, Herr von Mureck!“ versetzte sie kühl und plötzlich ihre unterbrochene Arbeit wieder aufnehmend. „Reden wir jetzt von Anderem. Wann verließen Sie die Heimath?“

„Vor etwa drei Wochen . . .“

Und sind also noch ziemlich ein Neuling in der Gesellschaft – ich bin schon über Jahresfrist hier – gefesselt zunächst durch den leidenden Zustand einer Großtante, der Schwester meiner Großmutter. Die alte Dame hat das Stift in Prag, in welchem sie den größten Theil ihres Lebens zubrachte, verlassen, weil sie ein besonderes Vertrauen auf die Wiener Aerzte setzt – und will mich nun nicht wieder von sich und zurück zu der lieben Großmutter auf Arholt lassen, nach dem ich mich oft sehr lebhaft zurücksehne; die Großmutter ist auch sehr unglücklich darüber, aber was ist da zu machen? Die Großtante ist wirklich leidend und so bestimmt von ihrem baldigen Ende überzeugt . . .“

„Und unterdeß wird auch Wien Sie fesseln – die Kunstübung, von der ich Sie in Anspruch genommen sehe . . . und sicherlich auch die mannigfachsten Verbindungen, die sich bei einem so langen Aufenthalt anknüpfen . . .“

Raban sprach diese Worte wie tastend, wie eine scheue Frage – er dachte an die räthselhaften Situationen, in denen Marie Tholenstein vor ihm aufgetaucht war, obwohl jetzt ja Alles, was diese Räthselhaftigkeit Beängstigendes für ihn gehabt, von ihm genommen und geschwunden war. Es war nur noch das Gefühl des Glücks, sie endlich erreicht, in ihr wirklich die Bekannte seiner Jugend gefunden zu haben und nun so ruhig und ungestört in diesem stillen Raume, der wie ein der Welt entrücktes Reich für sich war, mit ihr reden zu können. O, wie er sie liebte, immer geliebt hatte – diese heimlichen Kunstwerkstätten!

„Es ist eigentlich beleidigend,“ gab sie ihm mit einem nachdenklichen Lächeln zur Antwort, „uns zu fragen, ob eine große Stadt, eine Weltstadt uns fesselt. Fesselt Sie Wien? Gefällt Ihnen Paris? Gefällen Sie sich in Rom? Mein Gott, wie die Menschen reden können! Weshalb nicht auch fragen: Interessirt Sie die Welt?“

„Ich habe Sie aber sicherlich nicht beleidigen wollen, Fräulein von Tholenstein, indem ich ein müßiges Wort hinwarf,“ fiel lebhaft Raban ein; „ich bin völlig überzeugt, daß Ihnen ein Schönheitsgefühl eigen ist, welches begierig all die tausend Hervorbringungen schaffender Phantasie, menschlicher Gestaltungskraft und die Schätze, welche eine solche Stadt davon aufgesammelt hat, in sich aufnimmt – sind Sie doch selbst, wie ich sehe, Künstlerin!“

„Künstlerin! Weil ich einen unbesieglichen Drang habe, mich in solchen Versuchen abzumühen? Während ich die Stunden, die sie mir rauben, so viel besser verwenden könnte,“ setzte sie mit einem Seufzer hinzu.

„Besser – aber wozu könnte man seine Zeit besser verwenden, als ein Talent, das uns die gütige Natur gab, auszubilden?“

„Um damit endlich – was zu erreichen? Im besten Falle was?“

„Etwas Schönes, Großes!“

„Darnach ringen tausend Begabtere, Stärkere, als wir armen Dilettanten. Und einige von ihnen erringen es ja auch, schaffen es, geben der Welt dessen so viel, wie sie bedarf – oder nicht bedarf, denn man sieht ja nicht, daß sie sich’s viel zu Herzen nimmt und besser dadurch wird.“

„Mag sein – dem Künstler kann es darauf, kann es auf die Welt so sehr nicht ankommen. Er denkt bei seinem Schaffen nicht an sie, sie hilft ihm nicht, sie versteht ihn nicht einmal, im Grunde haßt er sie und – geht seinem Ideale nach, dem Genius, der in ihm ist, gehorchend.“

„Nach Ihrer Vorstellung ist der Künstler also – ein großer Egoist? Sie mögen Recht haben! Es ist ein mächtiges Nachinnenleben in ihm, das ihn abschließt von der Welt und unzugänglich für deren Interessen macht, die von so ganz anderer Natur als seine Bestrebungen sind.“

„Gewiß, und Niemand kann ihm Vorwürfe über diesen natürlichen, gerechtfertigten Egoismus machen!“

„Wenn er aber sich selber Vorwürfe macht? Wenn er nun aber auf der andern Seite eine starke Empfindung hat, die sich in das Elend der Welt nicht zu finden weiß, die helfen möchte und zugreifen, beistehen, lindern, wo sie nur kann, wo nur das Elend an sie herantritt; die wie mit einem unruhigen Gewissen ihrem Kunstschaffen nachhängt, als ob sie die Stunden den Leidenden, denen, die sich nach ihrer Theilnahme und ihrer Hülfe sehnen, raube – wie dann?“

Raban schwieg auf diese Frage, die sie wie halbzerstreut durch die Arbeit, an welcher sie langsam fortfuhr, in einzelnen Sätzen aussprach. Es war ihm, als ob ein plötzlich aufflammendes Licht aus ihren Worten auf die Situationen falle, in welchen er Marie Tholenstein erblickt hatte.

In diesem Augenblicke wurde der Vorhang des Ateliers zurückgeschlagen, und Wolfgang Melber trat ein.

„Ah,“ sagte er, sich leicht vor Raban verbeugend, „ich sehe, die Herrschaften haben sich auch ohne mich verständigt, und es bedarf wohl meiner Vermittelung bei Fräulein von Tholenstein nicht mehr?“

„Deren bedarf es allerdings nicht mehr,“ versetzte Raban; „Fräulein von Tholenstein hat bereits die Güte gehabt, ihre Einwilligung auszusprechen, und mich dadurch sehr glücklich gemacht. Wenn Sie also jetzt die Arbeit für mich in Angriff nehmen wollen . . .“

„Dann mit Vergnügen,“ fiel Melber ein, mit einem eigenthümlichen Blicke in Marie Tholensteins Züge, den sich Raban nicht zu deuten wußte; lag doch in ihm etwas Schlaues, fast auf ein Einverständniß Deutendes.

Der Bildhauer sagte dann Einiges über die Art, wie er die Büste, welche er ausführen solle, abschließen könne, und wollte die Form wissen, die Raban für diese Basis vorziehen werde. Während dessen war die Zofe, welche Raban im vorderen Raume bei dem Kunstgenossen Wolfgang’s gesehen, eingetreten; sie sprach leise einige Worte mit Marie Tholenstein und schien diese zu mahnen, daß es Zeit sei, die Arbeit abzubrechen und heimzugehen; das Fräulein begann wenigstens, sich dazu mit ihrer Toilette zu [507] bereiten. Raban wandte sich noch einmal an sie – mit ein wenig beklommener Stimme sagte er:

„Sie haben mir mit so großer Güte die Rechte der Landsmannschaft zuerkannt – würde ich dieselbe Güte bei Ihrer Verwandten finden, wenn ich darauf hin mir erlaubte, ihr meinen Besuch abzustatten?“

„Daran zweifle ich nicht,“ entgegnete Marie Tholenstein lebhaft und wie erfreut. „Nur müßten Sie in den Abendstunden kommen, den größtem Theil des Tages bringt meine Tante im Bette zu. Ich will sie auf Ihren Besuch vorbereiten, sie wird gern mit Ihnen von der Heimath plaudern, die sie so lange nicht mehr sah. Herr Melber wird Ihnen beschreiben, wo wir wohnen.“

Raban hatte keinen Grund mehr, länger zu verweilen. Er empfahl sich, von Melber hinaus begleitet. Dieser gab ihm dabei die unferne Straße und die Nummer des Hauses an, in welchem die alte Stiftsdame wohnte.

Dann kehrte Melber in sein Atelier zurück, wo Marie Tholenstein eben noch mit dem Knöpfen ihrer Handschuhe beschäftigt war.

„Weshalb haben Sie mir von dem Verlangen dieses Herrn von Mureck nichts gesagt?“ fragte sie ihn mit einem Tone des Vorwurfs.

Melber lachte auf.

„Ich war nicht so dumm,“ entgegnete er mit einer eigenthümlichen Vertrautheit und völligem Sichgehenlassen in seinem Wesen ihr gegenüber. „Hätte ich’s Ihnen gesagt, so würden Sie geantwortet haben: Nein! ich kann nicht zugeben, daß ein fremder Mensch Etwas besitzt, was er den Leuten als ein Portrait von mir zeigen kann. Nun kommt mir aber der Auftrag gerade im rechten Augenblicke, just recht gelegen. Darum sagte ich mir: mag sie diesen jungen Herrn und Kunstliebhaber erst kennen lernen, und mag er dann selbst ihr sein Anliegen vorbringen; sie ist viel zu gutmüthig, ihm dann eine abschlägliche Antwort zu geben!“ –

Marie Tholenstein antwortete nichts. Nur ein Schatten von Mißmuth glitt über ihre Züge. Sie stand noch sie folgte jetzt mit einem Blicke, welcher eine ängstliche Spannung verrieth, seinen Bewegungen, während er sagte:

„Der Herr von Mureck ist ja wohl ein Landsmann von Ihnen – sagte er es nicht?“

„Er ist ein Landsmann – er stammt von einem Gute, das keine Stunde weit von dem meiner Großmutter entfernt liegt.“

„Ah – das muß Ihnen diesen jungen Herrn ja sehr interessant machen; Sie wenigstens schienen es ihm in hohem Grade zu sein, und zwar nicht blos Ihr Kopf in meiner Gruppe . . . nehmen Sie sich in Acht . . .“

„Vor wem?“ fragte sie mit zitternder Lippe und einem Tone, in dem etwas Gereiztes lag.

„Vor wem? Nun ja, Sie haben Recht. Er ist ein hübscher Mensch, ein Herr von Mureck – ein Baron vielleicht gar – dabei des Nachbars Kind . . .“

Sie wandte sich mit einer heftigen Bewegung ab.

„Ich wollte,“ sagte sie halblaut mit zorniger Stimme, „ich hätte Ihnen nie erlaubt, meinen Kopf zum Modell Ihrer Gruppe zu nehmen.“

„Weshalb nicht?“ fragte er spöttisch. „Ist er mir nicht gelungen? Bin ich ihm nicht gerecht geworden?“

„Adieu,“ gab sie nur zur Antwort – „ich muß gehen. Komm, Anna!“

Damit verließ sie, gefolgt von ihrer Jungfer, den Raum. Wolfgang Melber blickte ihr mit einem selbstzufriedenen, wie triumphirenden Lächeln nach – dann zog sich seine Stirn zusammen, und er sah wie in Gedanken verloren lange starr auf den Boden zu seinen Füßen.


7.

Raban begab sich in einer eigenthümlichen Stimmung heim – erfreut, wie auf Wolken getragen, völlig bezaubert von der Erscheinung, der er endlich sich hatte nähern dürfen, und glücklich, daß diese Erscheinung nun in dem vollen reinen Lichte vor ihm dastand, in dem es schon ein Bedürfniß seines Herzens war, sie zu sehen. Und dann auch wieder beklommen, fast bestürzt, daß sie nun wirklich, wie er beim ersten Erblicken geahnt, gewußt, Marie Tholenstein war – dieselbe Marie, über welche er eben die Enthüllungen seines Vaters erhalten, dieselbe, aus deren Lebenskreis er als junger Mensch so ängstlich war fern gehalten worden, dieselbe, deren dunkle unaufgeklärte Herkunft ihn ewig fern von ihr halten sollte.

Sollte! Aber auch mußte? Weshalb mußte? fragte er sich mit einem stürmischen Aufwallen. Gesetzt auch, Marie Tholenstein wäre nicht die richtige Erbin des Geschlechts, dessen Namen sie trug, sie hätte nicht den geringsten Anspruch auf diesen Namen den sie führte, nicht das geringste Recht auf alles Das, als dessen Erbin sie bezeichnet wurde – was ging es ihn, Raban von Mureck, weiter an? Er hatte sicherlich nicht sein Herz verloren an einen Namen und ein glänzendes Erbe; brauchte er es zurückzunehmen, wenn der Name und das Erbe genommen wurden? Mochte sie immerhin die Tochter des Graveurs sein – der Trieb nach einer Kunstübung in ihr schien ja außer seines Vaters Gründen auch dafür zu sprechen – was änderte das an dem bezaubernden Wesen ihres Selbst, das ihn nun einmal gefangen hielt und all sein Sinnen und Denken nicht mehr los ließ – er fühlte das, von heute an war er ein sich selbst entrückter Mann, von einer Gewalt erfaßt, die in ihrer Alles besiegenden Stärke so wenig Aehnlichkeit hatte mit seinen jugendlichen Gefühlen für das freundliche junge Geschöpf an jener Mühle, und mit seinem Geblendetsein durch die glänzende Erscheinung Leni Eibenheim’s.

Leni Eibenheim! Der Gedanke an sie war ihm schon zu einem ernüchternden, beklemmenden geworden. Er konnte, er wollte nicht täuschen und seufzte bei dem Nachsinnen darüber, wie wenig Anlage ihm die Natur zu der Diplomatie gegeben, deren er jetzt bedurfte, um allmählich und mit guter unverletzender Wendung sich aus dem Kreise der reizenden Leni zurückzuziehen!

Er seufzte bei diesem Nachsinnen darüber, aber er sann nicht lange darüber nach. Seine Gedanken waren bald wieder von der sie beherrschenden Strömung fortgerissen; er grübelte über das Verhältniß von Marie Tholenstein zu Wolfgang Melber nach – weshalb nahm sie ihren Kunstunterricht bei dem jungen Manne, da doch sicherlich die Ateliers älterer, berühmterer Künstler ihr dazu geeigneter hätten scheinen müssen? Weshalb erlaubte sie ihm ein auffallend ungebundenes Wesen, etwas merkwürdig Formloses im Verkehr mit ihr, ein eigenthümliches Sichgehenlassen in Gegenwart der vornehmen jungen Dame? Die Lehrereigenschaft konnte das bei einem so jungen Manne nicht mit sich bringen! Konnte es die Verwandtschaft, die freilich so nahe war, wenn Melber, wie nicht zu zweifeln, der Sohn des Graveurs oder der vorgebliche Sohn desselben war? Und diese Verwandtschaft mußte sie zusammengeführt haben – Marie Tholenstein in den Kreis dieser Leute, ob sie nun durch Enthüllungen der Tante, oder durch Eröffnungen, welche ihr von den Angehörigen Wolfgang’s gemacht worden, dahin geführt war. Das Eine nur blieb fraglich: wußte durch solche Enthüllungen und Eröffnungen, welche ihr von dem ehemaligen Schauspieler Melber am ehesten gemacht sein konnten, Marie um das Fragliche, Dunkle ihrer Herkunft? Lebte überhaupt jener Schauspieler noch, dem einst Melanie Tholenstein auf seinem Wanderleben gefolgt war?

Das letztere war leicht zu erfahren. Auch das andere aus der eigenen Beobachtung wahrzunehmen, konnte nicht schwer sein, wenn Raban Marie, wie er hoffen durfte, nun öfter sah. –

Für den Abend mußte er sich entschließen, im Salon der Frau von Eibenheim zu erscheinen. Er fand die gewöhnlichen Gäste dort und zu seiner Herzenserleichterung Leni von einem jungen Vetter, einem in Urlaub aus Ungarn gekommenen Officier in Anspruch genommen, der gar viel aus dem magyarischen Paradiese zu erzählen hatte und Erstaunlichkeiten zum Beweise der Landes- und Volksblüthe in Fülle vorzutragen wußte. Auch Graf Kostitz hörte ihm aufmerksam zu, mit einem ironischen Lächeln, wie auf ein geflügeltes Wort sinnend. Vielleicht fand er keines, sicher ist, daß er mit keiner Bemerkung in dem Redestrome des jungen Mannes Platz fand. Der Doctor Silbermann zeigte ein umwölktes Antlitz. Er mußte noch immer seinen aragonischen Löwenthalern nicht auf die Spnr gekommen sein – Raban wagte nicht, hier in der Gesellschaft ihn darnach zu fragen, da ja der Verlust strenges Geheimniß bleiben sollte.

Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 32, S. 521–523
Novelle – Teil 6

[521] Raban wurde von Frau von Eibenheim in Beschlag genommen, die ihn über die Vorbereitungen zu einem Bazar zu Gunsten einer durch Ueberschwemmungen ruinirten Gemeinde unterhielt, bei welchem die Damen der Gesellschaft als Verkäuferinnen der Gegenstände thätig sein sollten. Die Damen freuten sich sämmtlich außerordentlich auf dies Fest; Frau von Eibenheim hatte mit ihrer Tochter Resi eben weitläufig die Frage um Leni's Costüm erörtert. Raban fragte ironisch, ob nicht ein „fescher“ Ball das Ganze beschließen werde?

„Würden Sie das wünschen?“ entgegnete Resi Lorbach.

„Ich? wünschen? Ganz sicherlich nicht! Aus dem Boden, den eben ein tückisches Element armen Leuten auf Jahre hinaus für ihre Frucht verdorben hat, sich einen Tanzboden machen, finde ich nicht geschmackvoll, Gnädigste. Und solch eine große Landescalamität benutzen, um ein großes Kokettirfest, ein allgemeines Bundesschießen von bestrickenden Blicken zum Anlocken der Käufer auf dem Bazar zu veranstalten – auch das, wenn Sie mir es nicht übel nehmen, scheint mir nicht ganz tactvoll!“

„Aber ich bitte Sie, welche Ketzereien! – Man veranstaltet doch überall in der Welt bei solchen Anlässen derartige Festlichkeiten, um den Leuten Gelegenheit zu geben, für Verunglückte etwas zu thun,“ meinte Frau von Eibenheim.

„Freilich, freilich, überall in der Welt ist der Egoismus sehr stark und scheut sich nicht, das Unglück selbst zu seinem Vergnügen auszubeuten – oder zu seinen Zwecken! Diese Wohlthätigkeitsfeste, Concerte, Aufführungen, Bazare, Albums sind doch wohl ein Beweis, wie gering der unmittelbare Wohlthätigkeitsdrang, der dem Unglücklichen ohne besondere Reizmittel zu helfen eifert, unter uns ist, und wie groß die Zahl der Menschen, welche sich in die Oeffentlichkeit zu bringen wünschen ...“

„Sich in die Oeffentlichkeit bringen? Sie glauben also, nur das sei es, was ...“

„Ich bin verwegen genug, es zu glauben – von all diesen Wohlthätigkeitsmusikern, Wohlthätigkeitssängerinnen und Wohlthätigkeitsdichtern, die sich dem Landesunglücke noch als eine weitere Plage auferlegen ...“

„Hören Sie einmal“. unterbrach ihn Gräfin Lorbach, indem sie den in ihre Nähe kommenden Graf Kostitz anrief, „welche griesgrämische Erörterungen hier Herr von Mureck anstellt ...“

„Den Zeiger der Weltenuhr vorwärts stellen,“ entgegnete Graf Kostitz wie aus tiefen Gedanken auffahrend – „das wäre so etwas! Was denken Sie, Gnädigste? Oder sagte man besser: ‚Den Zeiger voran rücken?‘“

Raban entzog sich dem nun beginnenden Geplauder und bald dem ganzen Kreise, indem er still verschwand – er hatte ein drückendes Gefühl des Fremdseins hier, wie er es so stark nie empfunden, und es drängte ihn fort – fort in sein einsames Zimmer, wo er sich vornahm, noch einmal den Brief seines Vaters zu lesen.

Am Tage darauf gegen Abend schlug er den Weg nach der Wohnung der Stiftsdame ein. Er wurde in einen sehr dämmrigen, in den Hof eines großen neuen Gebäudes gehenden Salon geführt – es herrscht eine eigenthümliche Lichtlosigkeit in so vielen Neubauten der großen Stadt – und nach einigem Harren betrat er das schon durch eine Lampe erhellte Wohngemach der alten Dame. Marie kam ihm entgegen und stellte ihn der Tante vor – es war eine große hagere Dame mit einem langen, sehr blassen Gesichte. Sie grüßte Raban mit mattem freundlichen Lächeln, bot ihm die Hand zum Kusse und entschuldigte sich, daß sie ihn in ihrer ruhenden Lage auf dem Sopha empfange, da ihr jede Bewegung Nervenschmerzen mache. Er mußte sich in einem Fauteuil am Kopfende ihres Ruhebettes niedersetzen, während Marie eine Stickerei, welche sie hingeworfen, wieder aufnahm.

„Ich habe,“ sagte das alte Fräulein, „Ihren Vater sehr wohl gekannt. Als junges Mädchen war ich sehr oft bei meiner Schwester auf Arholt, und von dort kamen wir nicht selten zu Besuche nach Mureck. Es ist ein sehr hübscher Ort, Mureck, das Herrenhaus liegt schön und frei und ist so behaglich eingerichtet ...“

„Es ist doch lange nicht so imposant wie das stattliche Arholt mit seinen mächtigen Thürmen,“ sagte Raban.

„Mit seinen Thürmen, ja,“ fuhr das Fräulein mit ihrer leisen gedämpften Stimme fort – „in denen ich so oft herumgeklettert bin, auf die Gefahr hin, auf den ausgebrochenen morschen Stiegen den Hals zu brechen. Man ist so verwegen und kopflos, wenn man jung ist. Aber solch eine feudale Herrlichkeit, wie Arholt, ist recht gründlich unbequem, wenn man darin wohnen muß. Welche Mühe meine Schwester hatte, sich darin leidlich einzurichten, Sie glauben es nicht! Mein Schwager, ihr Gatte, hatte gar keinen Sinn dafür – aber Ihr Vater, Herr von Mureck, ging ihr mit manchem guten Rath zur Hand. O, ich erinnere mich Ihres Vaters so gut! Er war ein Original, ein wahres Original; er ging meist ganz in Leder, in Hirschleder gekleidet, [522] in ledernem Wamms, Weste und Beinkleidern, mit Stiefeln à la Caspar Larifari – dem Knappen aus dem Donauweibchen, muß ich wohl hinzusetzen, denn wer kennt heute noch das Donauweibchen? Man behauptete auch, er habe sich in seinem vollen Leder trauen lassen, was aber gewiß nur ein schlechter Scherz war . . .“

„Aber,“ unterbrach hier Raban das Stiftsfräulein, das sich offenbar mit Befriedigung in diese Jugenderinnerungen vertiefte – „mein Vater in so befremdlichem Costüme? Ich kann meiner Phantasie durchaus nicht abgewinnen, ihn mir so – ledern vorzustellen . . . wirklich nicht!“

„Es ist aber so, wie ich Ihnen sage,“ fiel lebhafter das alte Fräulein ein – „ich sehe ihn ja noch vor mir mit dem großen rothen Flecke unter der linken Schläfe . . .“

„Ach,“ rief Raban aus, „das war mein Großvater – den ich gar nicht mehr gekannt habe . . .“

„Ihr Großvater war es? Nun ja, nun ja, Sie haben Recht, Ihr Großvater wird es gewesen sein – mein Gott, wenn man so alt wird! – man denkt immer nicht daran, daß die Menschen, die Dinge, die Welt in ewiger Strömung bleiben, während man selber stehen geblieben und etwas wie ein Fossil geworden ist. – Also Ihr Großvater war es – ein Original war er aber doch – und sonst ein ganz praktischer Mann. Er war es, der meiner Schwester rieth, die alte Wendelstiege in Arholt ganz abtragen und dafür ein geräumiges helles Stiegenhaus herstellen zu lassen – es war damals, weißt Du, Marie,“ wandte sich das Stiftsfräulein an ihre Nichte, „als man im Mauerwerke bei den Arbeiten die kleine eiserne Kiste mit allerlei alten Münzen fand . . .“

„Ich weiß, liebe Tante,“ sagte Marie, sich tiefer auf ihre Arbeit bückend.

„Man fand alte Münzen,“ fiel Raban, jetzt wieder des Silbermann’schen Kummers gedenkend, ein – „die später hierher in das kaiserliche Cabinet kamen?“

„Hierher?“ sagte das Stiftsfräulein. „Das weiß ich nicht. Aber es ist sehr möglich. Weißt Du es, Marie? besitzest Du nicht selbst solche Münzen; hast Du mir sie nicht gezeigt – vor längerer Zeit?“

„In der That, liebe Tante, habe ich Dir einige davon einmal gezeigt. Ein halbes Dutzend der größten und werthvollsten hat die Mutter schon vor vielen Jahren, wie sie mir erzählte, an einen Herrn verkauft, der auf alte Kunstsachen fahnden ging und der einen großen Werth darauf legte, sie zu bekommen. Einige wenige davon hat die Mutter aber für sich behalten und nachher mir geschenkt. Ob die anderen hierher nach Wien in ein Cabinet gekommen, davon weiß ich nichts zu sagen. Ich hörte nie davon.“

Marie hatte rasch und mit jener Tonlosigkeit gesprochen, womit man Dinge, die uns nicht interessiren oder über die man rasch hinweggleiten möchte, erledigt. Sie hatte dabei sich tiefer über ihre Arbeit gebückt. Und so ließ man das Gespräch über die Münzen, das Raban ja nicht ergänzen durfte, fallen.

Die Stiftsdame fragte Raban, wie ihm das Klima Wiens gefalle, ob er sich wohl darin fühle, ob er von dem kalkigen Staube nicht leide, und dann fuhr sie fort, wie sie es anfangs gefürchtet, wie sie aber finde, daß es besser als sein Ruf sei. Die alte Dame war dabei auf etwas, das eine Lebensfrage für sie schien, gerathen, denn sie sprach viel darüber und klagte am Ende über ihre Nichte, die mit soviel jugendlicher Unbekümmertheit bei jedem Wetter ausgehe und so gar keine Scheu habe, überall hinzugehen in der großen Stadt, während in vielen Häusern doch sicherlich ansteckende Krankheiten herrschten, und ein junges Mädchen doch nie davor sicher sei, auf unangenehme Begegnungen zu stoßen . . .

„Ich gehe doch nie in ein mir noch unbekanntes Haus, ohne die Anna bei mir zu haben, liebe Tante,“ gab Marie zur Antwort.

„Als ob die Anna ein Schutz wäre!“ fiel die Großtante ein.

„Gegen ansteckende Krankheiten freilich nicht,“ entgegnete Marie lächelnd – „da schützt mich am besten meine Furchtlosigkeit; ich denke nicht an mich, nicht daran, daß mir etwas zustoßen könne.“

„Leider,“ seufzte die Tante, „bis es zu spät und Dir etwas angeflogen ist! Aber Du hast einmal Deinen Beruf verfehlt, Du bist einmal eine geborene ‚barmherzige Schwester‘ . . . Es ist schrecklich mit meiner Nichte, Herr von Mureck, sie hat eine wahre Manie, sich mit allerlei armem Volke einzulassen, von dem sie ausgeplündert, ausgebeutet wird – ich bin überzeugt, sie ist unter diesen Menschen schon überall bekannt. Einer weist sie dem Andern zu, und so vermehrt sich diese schreckliche Kundschaft, die sie sich gemacht hat, und die Last mit jedem Tage ... in die höchsten Stockwerke, in die Dachkammern klettert sie empor, um da, weiß Gott, in welche Scenen und Dinge zu blicken, die doch, das werden Sie mir zugeben, Herr von Mureck, nichts für die Augen eines jungen Mädchens sind . . .“

„Ich fürchte,“ fiel Marie von Tholenstein ein, „Herr von Mireck, liebe Tante, wird Dir nichts zugeben. Er begreift es, daß man, von Nothleidenden angegangen, mehr thun möchte, als sich durch einige Kreuzer mit ihnen abfinden. Wenn ein alter, durch die Arbeit oder im Kriege invalid gewordener Mann uns seine Klagen vorbringt, so thut man ihm doch mehr wohl, wenn man geduldig seine Geschichte anhört, mit Theilnahme auf seine Lage eingeht und mit ihm darüber spricht, als durch die geringe Gabe, die man ihm hinterlassen kann. Und armen verlassenen Kranken hilft man gar nicht durch ein Almosen, das im Augenblicken verzehrt ist, man muß zu ihnen gehen, man muß sehen, wo es und was am Nöthigsten fehlt, und ihnen das zu verschaffen suchen . . .“

„Ja – wenn man canonisirt werden will, wie die heilige Elisabeth,“ sagte spöttisch die Tante.

Raban blickte mit leuchtenden Augen auf die neue Heilige – heilig schien sie ihm in der That mit ihren feinen weichen Zügen, die etwas so Hinreißendes und Bezwingendes für ihn hatten. Es waren ihm ja nun auch alle letzten Räthsel, die anfangs um ihre Erscheinung für ihn gelegen, geschwunden – er wußte, wie es zuging, daß er sie in so auffallenden Unterredungen mit Invaliden und alten Frauen erblickt, und wenn man sie damals, wo er ihr nachgegangen, vor ihm verleugnet hatte, so war auch das nicht schwer zu erklären – er hütete sich jedoch, darnach zu fragen und seine Verwegenheit zu gestehen. Nach ihrem Amazonenthume fragte er aber doch, indem er erwähnte, daß er sie einmal als kühne Reiterin zu sehen Gelegenheit gehabt; er hörte. daß sie zuweilen ein Pferd einer entfernten Verwandten benutze und deren Vater und Brüdern sich auf einem Ritte durch den Prater anschließe. Daheim in Arholt war sie ja gewohnt, auf diese Art häufig ihre Ausflüge zu machen.

„Was ja auch wahrhaftig besser ist, als Deine Ausflüge unter die Dächer,“ fiel die Tante dabei ein.

„Die Sie dem gnädigen Fräulein doch auch nicht übel nehmen dürfen,“ meinte Raban. „Jeder folgt dem Antriebe seiner Natur, und wir haben doch dem Himmel zu danken, wenn diese Natur eine so edle und gute, so von dem Drange, wohl zu thun, erfüllte ist. Nur vor der Maßlosigkeit müssen sich, glaube ich, dabei alle Frauennaturen bewahren, da ihnen diese, wie unsere Psychologen behaupten, in allen Dingen so bedenklich nahe liegen soll. Wir gehören doch hauptsächlich und zuerst uns selber an und dann erst denen, die uns mit der Schilderung ihrer Noth gefangen nehmen – wir würden uns selbst krank und elend machen, wenn wir unsere Phantasie zu ausschließlich anfüllen ließen von den Bildern alles Elends, und wenn wir auch den Augenblicken nicht ausweichen können, in denen wir uns sagen müssen: ‚der Erde ganzer Jammer faßt mich an‘, so dürfen wir uns doch nicht dauernd durch diesen Jammer die frohe und frische Lebenslust verkümmern und verderben lassen, nicht das Dankbarkeitsgefühl gegen die guten Götter, die uns so viel Schönes, Großes und Beglückendes gaben, – Ihnen, Fräulein von Tholenstein, zum Beispiel das Talent, die Krone von Allem!“

„Angenommen, ich hätte ein solches,“ versetzte Marie sanft, „kann es nicht auch eine Versuchung sein, uns von höheren Pflichten fortzulocken?“

„Gewiß, sehr möglich – aber diese Pflichten müssen doch erst als vom Sittengesetz fest bestimmte vor uns hintreten und uns rufen. So lange dies nicht der Fall, müssen wir unserem Talente gehorchen. Das Talent kann nicht entwickelt werden, ohne unser Wesen immer mehr zu idealisiren, und giebt es eine schönere Pflicht, als solch einer Erlösung und Veredlung, einer Idealisirung unseres Seins zu leben, sich von der Hand der Kunst eine bleibende Wohnung ‚in den Gefilden hoher Ahnen‘ bereiten zu lassen?“

„Sie betrachten es mit einem sehr jugendlichen Enthusiasmus,“ versetzte Marie. „Wenn Sie so viele unserer Künstler mit sehr [523] ausgebildetem Talent und sehr, sehr geringer Idealisirung ihres Wesens kennten, würden Sie anders denken über die Macht der Talentübung zur Veredlung der Menschen.“

Marie sagte das mit einem Seufzer, als ob eine persönliche Erfahrung ihr diese Worte auf die Lippen lege. Dachte sie an ihren jungen Lehrer Wolfgang Melber? Raban sagte sich, daß er allerdings im Stande sein dürfte, seine Theorie bedenklich zu erschüttern, wenn der Eindruck ihn nicht täuschte, den ihm bis jetzt der junge Bildhauer gemacht.

Die Stiftsdame unterbrach das Gespräch über die Kunstübung, das ihr kein behagliches schien, als ob sie von den Modellirversuchen ihrer Nichte nicht gerade erbaut sei. Sie fragte Raban nach seinen Beziehungen und Bekanntschaften in Wien. Sie selbst sei von allen Beziehungen durch ihre Krankheit so abgeschlossen, daß sie auf den allerkleinsten Kreis beschränkt sei. Den Eibenheim’schen Kreis kannte sie nur vom Hören-Sagen. Raban umging ihn zu schildern und verabschiedete sich in dem Gefühl, nicht länger die Kräfte der alten Dame in Ansprnch nehmen zu dürfen. Die Stiftsdame forderte ihn lebhaft auf, seinen Besuch bald zu wiederholen.


8.

Raban sah von diesem Tage an Marie Tholenstein sehr oft. Er konnte sich nicht schmeicheln, daß seine Aeußerungen, die sie mahnen sollten, nicht zu selbstverleugnend von ihrem künstlerischen Talente zu denken, einen großen Eindruck auf sie gemacht. Aber er fand sie ziemlich regelmäßig an ihrem Modellirstuhl in dem Atelier Melber’s, wenn er in dieses kam, um nach dem Fortschreiten der für ihn bestimmten Arbeit zu schauen. Immer lebhafter und immer mehr von einem wachsenden wechselseitigen Vertrauen belebt wurden dann ihre Unterredungen, Marie vertraute bald sogar einige ihrer Pfleglinge Raban an und sandte ihn oft in weit entlegene Regionen, wohin er mit dem frohen Gefühl, ihr solche Last abnehmen zu können, hinauseilte. Aber freilich, ein ihnen doch nahe liegendes Gebiet der Erörterung und Besprechung mußten sie in Wolfgang Melber’s Atelier ruhen lassen. Es war das sich so natürlich aufdrängende der großen socialen Fragen, der Frage nach den Mitteln, durch gesellschaftliche Einrichtungen von Grund aus den Leiden vorzubeugen, gegen welche die vereinzelte Kraft der Wohlwollenden nicht ausreichte. Wolfgang Melber unterbrach dann stets mit spöttischen Bemerkungen und bezeichnete diese Pläne als Utopien barmherziger Seelen, die ihr Vergnügen darin fanden, sich ausbeuten zu lassen. Er sah eine Beschäftigung darin, die so gut wie jede andere zum Steckenpferd werde. Das Gespräch über diese Gegenstände mußte darum weiter geführt werden in dem Salon der Tante Stiftsdame, in welchem Raban jetzt ein Paar Mal in der Woche erschien und stets herzlicher Aufnahme begegnete. Dem Herrn Wolfgang Melber schien die Tante auch nicht sehr geneigt; nicht allein erschien er niemals bei ihr, es glitt auch über das blasse Gesicht der alten Dame jedesmal ein Schatten, wenn seiner erwähnt wurde. Auch stimmte sie nie Raban bei, wenn dieser seine lebhaften Reden hielt, welche Marie mahnen sollten, über ihrem barmherzigen Schwesterdienst ihre Kunstausbildung nicht zu vernachlässigen. Sie schwieg dazu. Sie fragte auch niemals nach dem, was Marie in Melber’s Atelier arbeite – diese ganze Seite von Mariens Existenz schien ihr etwas zu sein, was ihr unangenehm, bedrückend war, und das, weil sie es nicht verhindern konnte, von ihr mit Schweigen bedeckt wurde.

Aber sehr gern hörte sie zu, wenn Raban und Marie sich mancherlei zu erzählen hatten von den Gängen, welche sie zu armen Leuten gemacht. Da kam des Tragischen freilich genug zu Tage, Raban aber wußte manchen komischen Zug aus dem Volksleben, den er dabei belauscht, mit einem gewissen Humor vorzutragen, an dem die Stiftsdame ihre Freude hatte, der ihr von Zeit zu Zeit ein Lachen entlockte.

„Wie jung Sie noch sind, wie jung!“ sagte die Stiftsdame dann oft lächelnd, wenn er mit einem hübschen Vorstadtabenteuer kam, „wie jung, die Dinge so heiter fassen zu köulleu! Ich glaube, ich bin nie so jung gewesen; ich war immer so ernst, wie heute Marie es ist, die es ja schon zu einer philosophischen Ketzerin gebracht hat. Wenn man Sie beide über solche Dinge reden hört, Ihre weltverbessernden Ideen austauschen, staunt man ja förmlich, womit sich ein junges Mädchen von heute beschäftigen kann! . . .“

„Ich bin doch keine philosophische Ketzerin, liebe Tante,“ fiel Marie ein, „weit entfernt davon! Für Philosophie habe ich nicht das geringste Verständniß – dafür fehlt mir jedes Begriffsvermögen.“

„Und unsere weltverbessernden Ideen sind sehr einfacher Art,“ fiel Raban ein.

„Sie bestehen in einem Cultus der Liebe und des Wohlthuns gegen die Geschöpfe der Gottheit. Dazu gehört doch weiter keine Philosophie,“ meinte Marie.

„Nein,“ erwiderte die Tante, „wenig. Und wenn die neue Religion, welche Ihr stiften wollt, nur diese alten Wahrheiten enthält, so läßt sich nicht viel gegen dieselbe einwenden.“

Wenn Raban nach solchen Marie gegenüber zugebrachten Stunden heimging, fühlte er sich unendlich glücklich. Das leidenschaftliche Gefühl, das ihn mit wachsender Stärke für sie erfaßt und sein ganzes Wesen ihr zu eigen gemacht hatte – es schien ja unmöglich ihr verborgen geblieben zu sein, und dennoch begegnete es nur ihrem immer unbefangener und rückhaltloser sich ergebenden Vertrauen. Er durfte sich sagen, daß er, ohne ein Thor zu sein, den Glauben an eine Begegnung ihrer Gefühle hegen dürfe, welche ihn das schönste Lebensglück hoffen ließ.

Nur wenn er von einem Besuche in Melber’s Atelier zurückkam, lag gewöhnlich eine dunkle Wolke auf seiner Stirn. Er wußte sich in das Verhältniß der jungen Kunstschülerin zu ihrem ebenso jungen Lehrer nicht zu finden. Er beobachtete – so wenig scharf und ungeübt sonst seine Beobachtungsgabe auch noch war – doch ein ihm immer mehr auffallendes Benehmen beider gegen einander. Mariens Auge lag oft wie mit einer zärtlichen Sorge auf Wolfgang Melber. Sie folgte dann seinen Bewegungen, schien auf die Beugungen seiner Stimme zu hören, als ob sie dabei innerlich zu deuten habe, als ob seine Aeußerungen ihr nicht genügten und sie hinter denselben, über sie hinaus etwas suche. Melber’s Benehmen gegen sie dagegen hatte etwas Unbekümmertes, kurz Angebundenes – es schien Rücksichten gegen die Dame nicht zu kennen – es schien wie in einer Art Ablehnung gegen sie zu verharren und manchmal gerade so, als ob etwas von ihm Abzuwehrendes, Belästigendes in ihrem Wesen sei.

Zuweilen, wenn er kam, hörte er im Vorraum schon ihren Stimmenwechsel im Innern durch den leichten Vorhang dringen. Nach dem Ton der Stimmen war es alsdann jedoch, als ob Marie Tholenstein Vorwürfe mache, Mahnungen ausspreche, die nur kurze trockene Erwiderungen von seiner Seite fanden. Sobald Raban eintrat, erstarben diese Gespräche sofort.

Rabatt hatte ein Paar Mal Gelegenheit gehabt, den Auftrag seines Vaters beachtend, Erkundigungen über Wolfgang Melber einzuziehen. Er hatte von seinem bedeutenden Talent reden hören, aber nichts Günstiges über seine Persönlichkeit. Er stieß durch schroffes hochmüthiges Benehmen ab, er war leichtsinnig und hatte einen Hang zu schlechter Gesellschaft – wohl deshalb, weil er darin seiner Ueberhebung als großer Künstler ein Genüge thun konnte und seine Eitelkeit hier Huldigungen genoß, welche er anderswo nicht fand.

Es war nicht anders möglich unter diesen Umständen, als daß Raban sich sagte: es ist offenbar, Marie Tholenstein hat durch ihn das Geheimniß ihrer Herkunft erfahren; sie weiß nicht allein, wie nahe verwandt er ihr ist, sondern glaubt auch, daß er alle Rechte auf den Namen besitzt, den sie trägt, auf Alles was sich daran knüpft, ihr ganzes Erbe. Er wird ihr, von seinem Vater, dem Graveur, unterrichtet, gesagt haben, daß dieser Mann nicht sein Vater, daß er der Sohn des verstorbenen Gatten Melanie Tholenstein’s ist! So muß es ja auch sein – sein Betragen gegen sie beweist es am besten. Sie weiß es, sie haben sich darüber ausgesprochen, sind aber überein gekommen, es der Welt noch verborgen zu lassen; die alten nichtsahnenden Frauen, die Großmutter auf Arholt, die arme leidende Stiftsdame ruhig und ungehärmt ihre Augen schließen zu lassen. Bis dahin aber befindet sich Marie Tholenstein in einer Situation diesem Wolfgang Melber gegenüber, welche er roh genug ist, auszubeuten, und welche sie demüthig erträgt, welche sie als Buße für das Unberechtigte ihrer glänzenderen Existenz auf sich nimmt, welche sie zu seiner Unterworfenen macht!

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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 33, S. 537–542
Novelle – Teil 7

[537] Eine quälende, eine bittere Frage stieg bei der Betrachtung des Verhältnisses von Maria Tholenstein zu Wolfgang Melber in Raban auf – eine Frage, welche all sein Blut in Wallung versetzte. Glaubte dieser Bildhauer nun auch, wenn nach der Großmutter Tode er in seine ursprünglichen Rechte eingesetzt würde, Marie Tholenstein bei ihrem Namen und in ihrem Besitzstande erhalten, ihr zum Danke für ihren Verzicht auf Alles, den sie ja bereitwillig aussprechen würde, die Hand reichen zu müssen? Raban’s eifersüchtigem Herzen lag diese Frage ja so nahe, und Allem zum Trotz, was er sich zur Beruhigung darüber sagte, ward sie bei der Beobachtung von Melber’s und Mariens Art des Verkehrs mit einander so quälend, daß er beschloß, um jeden Preis zur Klarheit über diese Lage zu gelangen.

Er konnte diesen Entschluß nicht fassen, ohne mit schwerem Herzen seines Vaters zu gedenken; des Kampfes, der mit ihm bevorstand, wenn er um Mariens Hand geworben und deren Zusage erlangt hatte. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, daß sein Vater ja Marie Tholenstein nicht kenne, daß er versöhnt mit ihr werden würde, wenn er sie ihm auch als das Kind einer kleinbürgerlichen Familie zuführe. Mein Vater, sagte er sich, kennt die Tiefe und Innigkeit meines Gefühls für sie nicht; er kann nicht ermessen, wie zerstört und für ewig vernichtet und verloren mir ohne sie das Leben sein würde – er kennt das Alles nicht, und wer kann Richter sein wollen über eine Sache, die er nicht kennt?

Aber konnte Raban denn reden und werben um Marie, so lange nicht vollständige Klarheit war zwischen ihm und – Leni Eibenheim? Auch das legte sich ihm schwer auf die Seele. Aber die Klarheit war ja eigentlich schon da. Und Leni, schien es, empfand keinen großen Kummer darüber. Sie hatte nichts in ihrem um kleine Dinge sich bewegenden Leben geändert, nichts gethan, was ihn hätte wieder anziehen und fesseln sollen – sie that, was sie immer that, was alle im Eibenheim’schen Hause thaten: sie amüsirte sich.

Und doch empfand es Raban wie eine moralische Verpflichtung, hier ein Schlußwort zu sprechen. Vielleicht war es eine Pedanterie, so zu empfinden. Er hatte Augenblicke, wo er sich völlig klar darüber war, und in einem dieser Augenblicke sagte er sich auch: Marie Tholenstein besitzt dein Vertrauen in Allem und Jedem – es ist nichts in dir, was du nicht ihr sagen, bekennen, worüber du sie nicht entscheiden lassen möchtest! Sag ihr auch das, laß sie es dir künden, ob in einer solchen Lage der Dinge ein schwer auszusprechendes, peinliches, letztes Wort gesagt werden muß oder ob es verschwiegen bleiben kann!

Es hatte nur einige Schwierigkeit, diesen Entschluß auszuführen, da Raban Marie nie allein sah. Bis jetzt war bei ihren Unterredungen stets entweder Wolfgang selber oder die Tante Stiftsdame zugegen gewesen. Marie hatte es abgelehnt, von ihm aus dem Atelier Wolfgang’s nach Hause begleitet zu werden – sie schien immer noch, nachdem Raban sich von dem Bildhauer verabschiedet hatte, mit diesem einige Worte auszutauschen zu haben. „Gehen Sie jetzt,“ sagte sie dann scherzend und die Spritze herbeiholend, um den Thon ihres Bildwerks zu befeuchten; „ein Laie, wie Sie, braucht nicht hinter die Coulissengeheimnisse der Kunstarbeiter zu schauen. Und Raban ging dann und überließ sie dem Schutze ihrer Anna.

Raban war jedoch zu erregt und zu ruhelos geworden durch Alles, was ihn bewegte, um geduldig abwarten zu können, bis ein günstiger Zufall ihm die Gelegenheit bringe, Marie allein zu sprechen. Als er das nächste Mal zu ihrer Wohnung ging, nahm er sich vor, sie um die Gunst zu bitten, auf dem nächsten ihrer Mildthätigkeitsgänge sie begleiten zu dürfen.

Als er die Bitte dann aussprach, sah sie ihn betroffen an. Es war, als ob sie darüber erschrecke und unschlüssig sei, welche Antwort sie geben solle.

Auch die Stiftsdame sah Raban an, aber mit einem eigenthümlichen Blicke des Verständnisses – sie mochte aus seiner gespannten Miene etwas herauslesen, was sie vielleicht nicht zum ersten Male an diesem Abende in derselben las und was ihr durchaus nicht unangenehm sein oder bedenklich erscheinen mochte.

„Ich meine, Du magst immerhin Herrn von Mureck einmal mit Dir wandern lassen,“ sagte sie; „es wird mich beruhigen, Euch unter männlichem Schutze zu wissen, Dich und Deine Anna!“

Marie schien doch ein inneres Widerstreben zu empfinden, erst nach einer Pause sagte sie halblaut:

„Nun wohl, dann seien Sie morgen um halb elf Uhr im Stadtparke. Ich will Sie dort erwarten, da ich eine kranke Wöchnerin hinten in der Landstraße besuchen möchte.“

„Ich werde pünktlich sein,“ antwortete Raban erfreut.

Als er dann später heimging und durch die gaserhellten Straßen dem Gasthof zuschritt, in welchem er sein Quartier aufgeschlagen, fühlte er sich doch nicht wenig beklommen über die Energie, mit der er sich zur Entscheidung drängte. Es kam ihm [538] zum Bewußtsein, daß er doch nicht wohl von seiner Absicht, mit Leni Eibenheim entschieden zu brechen und sich aus ihrem Kreise zu befreien, reden könne, ohne Marie auch zu gestehen, was ihn denn dazu dränge, weshalb er solchen inneren Druck empfinde, bis ein Verhältniß gelöst sei, das sich ja auch ganz glimpflich und allmählich im Lauf der Zeit lösen lasse - ohne ausgesprochene „Zerschneidung des Tischtuchs“. Und würde er, wenn er Marie allein sprach, über seine Herzensempfindungen mit ihr sprach, dem Drange und Sturm seines Innern widerstehen können? Und war es nicht zu früh, Alles ihr zu sagen – mußte er nicht fürchten, die sinnige Seelenstille in ihr, aus deren Grunde er die knospende weiße Seerose einer ihn beglückenden Neigung emporwachsen sah, zu stören und sich das, was ihn beglückte, selbst zu verderben?

Aber auf der andern Seite – konnte Offenheit und Wahrheit, wenn er sie mit jener scheuen Ehrfurcht vor Mariens Wesen, die ihn ja erfüllte, aussprach und dann wie in Demutl von ihr die Entscheidung über sein Leben und sein ganzes Schicksal erflehte, sie erschrecken oder irgend etwas verderben? Und war es nicht am besten, ihr Klarheit über sein Gefühl für sie und über seine Absichten zu geben, um so auch sie innerlich zu befreien, um sie loszulösen aus dem Verhältnisse zu ihrem Vetter, das, es mochte nun sein wie es wollte, doch für Raban den Charakter einer Mariens unwürdigen Lage, einer verhängnißvollen und drückenden Gebundenheit hatte?

Ermuthigt und entschlossen in diesem Gedanken betrat am andern Morgen Raban vor der bestimmten Stunde den Stadtpark, der jetzt im schönsten Grün des völlig erblühten Frühlings prangte und von einem Sonnenlicht überfluthet war, das schon etwas von der kommenden Sommerwärme ausgoß.

„An einem solchen Tage, der in der Menschenseele nur ein süßes Echo des Lerchengeschmetters und aller Lenzlieder der Natur wachrufen zu können scheint, wandert sie zu düstern Stätten, in Schatten und Dunkel, wohin Bettler und Kranke sie rufen!“ sagte sich Raban. „Wunderbares Wesen, bist du von Gottes Hand aus demselben Stoff geformt wie alle diese Menschen, die hier, erfüllt von ihren egoistischen Verlangen, Betrieben und Geschäften vorüberströmen, die nur ihr Ich empfinden, ihr Ich denken, ihr Ich auf der Welt sehen? Und die für dies ihr Ich durch Noth, Gefahr und Schweiß, durch rücksichtsloses Niedertreten Anderer so oft nur das Werthloseste, Nichtigste, das Kindische erjagen wollen? Ein Wesen wie Marie kann nicht von demselben Stoffe sein. In der Menschenhülle bergen sich Wesen der verschiedensten Gattung und Art. Den Tiger verräth das Fell, und immer ist Tiger Tiger, Taube ist Taube; aber Mensch ist nicht immer Mensch, er ist Tiger oft und oft Taube! – Aber da kommt sie, die Taube!“

Marie Tholenstein kam elastischen Schrittes dahergegangen, in ihrer einfachsten Tracht, ein Fichu leicht um die Schultern geschlungen, mit einem Sonnenschirm von brauner Seide sich gegen das Licht schützend.

„Der verhängnißvolle von damals,“ sagte Raban nach dem Schirm blickend, während er Marie begrüßte, „der verhängnißvolle war heller, denk’ ich.“

„Er war blau,“ entgegnete sie lächelnd.

„Sie wissen es noch?“

„Wie sollt’ ich nicht? Er hat noch sehr lange in der Ecke in meinem Zimmer auf Arholt gestanden – als ein Andenken!“ fügte sie scherzend hinzu.

Der Gedanke, daß dem nutzloser Ding als einem Andenken da eine Stelle vergönnt worden, machte Raban glücklich. Marie hatte sich unterdeß auf die nächste Bank gesetzt.

„Warten wir hier einen Augenblick auf Anna,“ sagte sie dabei, „sie hatte noch einen Gang für mich zu besorgen und kommt zu uns, hierher.“

„Hoffentlich nicht zu bald,“ versetzte Raban, „sodaß mir die Gelegenheit wird, ganz ungestört Ihnen zu sagen, was es mich drängt, Ihnen anzuvertrauen, Fräulein Marie; womit eine innere Nothwendigkeit, ein Zwang des Herzens mich zu Ihnen flüchten läßt; wie ich mit Allem, was je Schweres auf mich kommen könnte, mich zu Ihnen flüchten möchte, nur zu Ihnen. Ich möchte Ihnen sagen, zu welchem Zwecke ich eigentlich anfangs nach Wien gekommen . . .“

Marie Tholenstein hatte bei seinen ersten Worten ihn groß angesehen, dann war sie leicht erblaßt, und jetzt unterbrach sie ihn, indem sie sagte:

„Das weiß ich ja – Sie kamen, um sich mit Leni Eibenheim zu verloben.“

„Das wissen Sie?“

„Gewiß weiß ich es. Ich hörte im Kreise meiner Verwandten, daß Sie mit Leni Eibenheim verlobt seien. Da Sie weder der Tante noch mir etwas darüber sagten, habe ich es auch nicht berühren wollen, bis Sie selbst es uns mittheilten.“

„Ah, das überrascht mich. Und ich sei verlobt, hat man Ihnen gesagt?“

„Gewiß.“

„Aber ich bin es ja nicht – dem Himmel sei Dank, daß ich es nicht bin!“

„Sie sind es nicht? Aber man hat es mir doch mit einer solchen Bestimmtheit versichert . . .“

„Und doch – ich versichere Sie ebenso bestimmt, bin ich es nicht!“

Marie Tholenstein sah wieder mit denselben großen Augen zu ihm auf – aber offenbar erschrocken, bleicher als sie eben gewesen.

„O,“ sagte sie halblaut, wie unwillkürlich in ihrem Erschrecken, „das thut mir leid!“

„Leid? Ihnen thut es leid? Ihnen leid, Fräulein Marie?“ rief nun Raban tief betroffen aus.

Sie schwieg zu Boden blickend.

„Ich bitte Sie, weshalb leid?“

Sie schüttelte nur leise den Kopf, ohne zu antworten; er ließ sich neben sie auf die Bank nieder, auf welche sie sich gesetzt hatte, schwieg eine Weile und sagte dann mit unterdrückter Heftigkeit:

„Also es thut Ihnen leid, daß ich nicht gefesselt bin, daß ich nicht einer Andern gehöre, leid, daß nicht ein Drittes trennend zwischen uns steht – wie mir das durch die Seele schneidet, können Sie gar nicht ermessen, Marie . . .“

„Mein Gott, begreifen Sie denn nicht, daß es für uns, unsern Verkehr . . .“ fiel sie ein und schwieg dann wieder, ohne eine Silbe zur Erklärung hinzuzufügen, was er begreifen solle!

Es war zum Verzweifeln! Raban fühlte sich ganz hülflos diesem grausamen Wort gegenüber. Schweigend, ruhig auf eine Erklärung warten, war ihm unmöglich. Leidenschaftlich fuhr er fort:

„Ich begreife Sie in der That nicht, Fräulein Marie. Ich war gekommen, Sie um die Aeußerung einer Ansicht, die Ertheilung eines Raths zu bitten, was ich zu thun habe, um ein Verhältniß zu lösen, in das ich unüberlegt gerathen bin, das freilich schon kein Verhältniß mehr ist, vielleicht gar einer Lösung nicht mehr bedarf. Sie sollten mir es sagen und dann, wann ich innerlich von einem bedrückenden Gedanken frei geworden, dann wollte ich Ihnen - was soll ich es nicht gestehen - Alles das ausdrücken, was mir das Herz übervoll macht, was der Inhalt meines ganzen Lebens und Seins geworden – die ganze Fülle der Leidenschaft, die – doch was rede ich, wer nahte sich Ihnen mit glühender Leidenschaft, wer . . .“

„Um Gotteswillen, hören Sie auf, hören Sie auf mit dieser Sprache,“ unterbrach ihn Marie Tholenstein mit zitternden Lippen, „mit dieser grenzenlos thörichten Sprache, die ich von Ihnen so gar nicht, so niemals erwartet habe, die ich nicht anhören kann, nicht darf . . .“

„Nicht dürfen – weshalb nicht dürfen, Marie? Was in aller Welt kann Ihnen verwehren, mich anzuhören, wenn ich mit dem tiefsten und innigsten Gefühl, mit der Ueberzeugung, daß von Ihnen allein mein ganzes Erdenglück abhängt, um Ihre Hand werben will?“

„Sie machen mich grenzenlos unglücklich,“ sagte sie, wie nun sich auch ganz hülflos fühlend, „o hören Sie auf, so zu reden. Ich habe in Ihnen so den ruhigsten zuverlässigsten Freund gesehen – und nun – o wir hätten uns nie kennen lernen sollen – nie, nie – es ist ja ganz unmöglich, daß . . .“

„Was ist unmöglich? Daß Sie die Meine werden . . . unmöglich? – Doch, ich verstehe Sie. Ich verstehe, was Sie sagen wollen, und was Sie glauben, mir nicht sagen zu dürfen. Sie dürfen mir Alles sagen. Denn sehen Sie, Marie, ich bin in Alles eingeweiht. Ich kenne das ganze Geheimniß, das um [539] Ihre Herkunft liegt. Sie wollen sagen: ich, die Tochter vielleicht fremder Menschen, die gar nicht das Recht hat, sich die Erbin von Arholt zu nennen, darf die Werbung des Erben von Mureck nicht anhören – das wollen Sie sagen! Ich begreife Sie völlig. Aber ich, ich sage Ihnen, daß ich nicht um die Erbin, nicht um die Enkelin der Tholenstein, daß ich um Sie werbe, und um Sie werben, nach Ihrer Hand ringen würde mit allen Kräften, die Gott mir gegeben hat, auch wenn Sie eine Bettlerin wären – und ebenso, wenn Sie eine Fürstin wären und ich ein Bettler, würde es mein Schicksal sein, nach Ihnen ringen und in diesem Ringen mich verzehren, darin untergehen zu müssen . . .“

Während er dies halblaut, aber in heftigster Leidenschaft sprach, hatte Marie Tholenstein, die bisher niedergeschlagen zu Boden geblickt, langsam das Haupt erhoben und ihm zugewandt. Mit großen verwunderten Augen, aber tödlich bleich, sah sie ihn an und sagte leise:

„Was reden Sie da? Ich die Tochter fremder Menschen? die gar nicht das Recht hat . . .“

„Nun ja,“ entgegnete Raban – „daß Sie das wissen oder annehmen, denn es ist ja so ungewiß – daß Wolfgang Melber oder wer sonst es Ihnen mitgetheilt hat – das allein kann doch der Grund sein, wenn Sie mir sagen, Sie dürfen nicht anhören . . .“

„Ich weiß nichts, gar nichts – die Tochter fremder Menschen, sagen Sie, sei ich – welcher Menschen? – o mein Gott, erklären Sie das!“ rief sie in unbeschreiblicher Erregung jetzt aus – „was soll Wolfgang Melber mitgetheilt haben – sagen Sie Alles, Alles!“

Raban war bei dieser plötzlichen Entdeckung, daß er vorschnell und blindlings etwas ausgesprocheu, was er nicht hätte aussprechet sollen, der kalte Schweiß auf die Stirn getreten. Auch er war erblaßt. In grenzenloser Bestürzung sah er sie wie um Vergebung flehend an – mit dem vernichtenden Gefühle, daß es zu spät sei, etwas zurückzunehmen. Er mußte jetzt auch weiter sprechen und Alles sagen. Aber nur stotternd versetzte er:

„Habe ich wirklich unentschuldbar unbedacht Dinge berührt, die Ihnen verborgen waren und weit, weit besser Ihnen verborgen geblieben wären?“

„Und die ich nun ganz und völlig unverhüllt sehen will – ich verlange es – Alles zu wissen – reden Sie!“ rief zitternd Marie aus.

„Nun wohl – ich will es Ihnen ja nicht verhehlen, kann es Ihnen nun nicht mehr verschweigen wollen. Ich besitze einen Brief meines Vaters, der mir ausführlich mittheilt, was ich eben ausgesprocheu habe. Es ist, um es möglichst kurz zu machen, das Folgende . . .“

„Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß meine Mutter einen Schauspieler Melber heirathete, daß ich in Ungarn geboren bin, daß ich nach der Mutter Tod von meinem Vater der Großmutter übergeben bin – ich weiß das. Mein Vater ist todt, aber sein Bruder, der Graveur ist, lebt hier in der Stadt; er hat mich aufgesucht, mich in Verbindung mit seinem Sohne Wolfgang, meinem Vetter, gebracht – aber nun reden Sie!“

Raban redete und gab kurz den Inhalt des Briefes seines Vaters an.

„Welche Enthüllung!“ sagte, als er geendet, Marie, indem sie wie in tiefem Verzagen ihre Hände im Schooße faltete. „Dies Alles ist schrecklich. Ganz schrecklich. Meine arme Großmutter! Und ich – ich Aermste! Ich Unglückliche!“

Sie brach in Schluchzen aus - ein Strom von Thränen netzte ihre Wangen.

„Ich fühle auf’s Tiefste und mit zerrissenem Herzen das nach, was Sie empfinden müssen, Marie,“ hob nach einer Pause Raban wieder an – „und habe noch den Schmerz obendrein, daß ich es sein mußte, von dem Ihnen etwas so Schreckliches, Vernichtendes kam . . .“

„Haben Sie den Brief Ihres Vaters noch?“ sagte sie.

„Ich habe ihn noch.“

„Ich will - ich möchte ihn lesen.“

„Wenn Sie es wünschen - Sie können ihn lesen.“

„So gehen Sie, bringen Sie ihn mir. Doch nein – ich sehe Anna dort auf uns harrend auf- und abgehen. Nehmen Sie Anna mit sich in Ihre Wohnung und geben Sie ihr den Brief eingesiegelt. Sie wird ihn mir in meine Wohnung bringen; ich gehe heim, da ja unsere Wanderung für heute mir unmöglich geworden . . .“

Sie erhob sich.

„Darf ich später zu Ihnen kommen – den Brief zurückholen?“ sagte Raban tonlos, aber mit flehender Stimme.

„Kommen Sie immerhin, heute am Abende, um die gewöhnliche Stunde – ich werde dann mich gefaßt und mich ja besonnen haben, was ich nun thun, nun beschließen muß “

Sie erhob sich von der Bank, welche, von Gebüschen umhegt, bisher ihre Unterredung ungestört von den Vorüberwandelnden erhalten hatte, und eilte mit flüchtigen Schritten, ohne Abschiedsgruß, hastig davon –

Mit der blutenden Wunde im Herzen, sagte sich in seiner Verzweiflung Raban – mit der Wunde, die er ihr geschlagen!

Er ging mit nicht weniger blutendem Herzen, um Anna herbeizuwinken und durch diese ohne Verzug den Wunsch ihrer armen Gebieterin erfüllen zu lassen.

Als es geschehen war, als er daheim in seinem Zimmer Anna in einem versiegelten Couverte den Brief für Marie Tholenstein übergeben hatte, sank Raban in seinen Sessel, sich so zerschmettert und hülflos fühlend, wie er nicht geglaubt, daß ein Mann sich fühlen könne; so kraftlos und gebrochen, wie ein kranker Mensch.

Er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Sie wollten nicht weichen von der einen Vorstellung, von dem, was Marie Tholenstein jetzt empfinden müsse bei diesem Schlage, der ihr ganzes Leben wie um und um kehrte, der die theuersten Bande ihres Herzens zerriß und viel schlimmer war, als der Richterspruch einer ewigen Verbannung – es war eine Verbannung von allem Dem, was sie je geliebt, was sie als das Ihre betrachtet, was zu ihrem Leben gehörte.

Und daß er, Raban, in seiner blinden Leidenschaft das Schreckliche über sie gebracht! Und daß er nun zu seiner Strafe dasitze, ebenso unglücklich, ebenso zerschmettert durch den völlig unerwarteten Erfolg, den seine Werbung gehabt! Durch das unerklärliche Wort, welches sie ihm gesagt und wieder gesagt: „ich kann, ich darf Ihre Sprache nicht anhören – es ist ja ganz unmöglich“ . . . durch diese nun wieder ganz räthselhafte Abwehr seines offenen ehrlichen Werbens.

Weshalb in aller Welt hatte sie ihn nicht anhören dürfen, wenn es nicht so zu erklären war, wie er es, nur mit unseliger Voreiligkeit, sich erklärt hatte? War denn ein anderer Grund auch nur irgend denkbar? War sie nicht frei mehr? Gehörte sie einem Andern? Gehörte sie nun doch diesem Wolfgang Melber? Es war zum Verzweifeln, sich solche Fragen vorlegen zu müssen, ohne den geringsten Anhalt zu einer Antwort finden zu können; ohne einen andern Trost als den: und wenn ich es bin, der sie jetzt so unglücklich gemacht, so that ich es doch nur, um ihr zu sagen, daß ihr Unglück keines sei, daß ich nicht um eine Erbin werbe, daß Alles ihr ersetzt werden solle, was sie umgeben und besessen, und meine ganze Seele, meine Treue, mein ganzes Ich dazu!

Langsam und träge schlichen ihm die ferneren Stunden des Tages dahin. Als sie endlich vergangen, als die Dämmerung sich nahte, bereitete er sich, zu gehen, um sich, nach der Erlaubniß, welche sie ihm ertheilt, zu ihr zu begeben und, wenn keine tröstenden, doch wenigstens einige aufklärende Worte von ihr zu vernehmen.

Als er eben im Begriffe war, sein Zimmer zu verlassen, klopfte es an seine Thür, und Anna trat herein. Sie übergab Raban ein Billet ihrer Herrin, welches die wenigen Zeilen enthielt:

„Bitte, lassen Sie mir noch eine Weile den Brief Ihres Vaters und kommen Sie nicht – ich fühle mich zu krank, zu schwach, um Jemand zu sehen – zu schwach auch noch, um nun mit Wolfgang zu sprechen, ihm Alles zu sagen und ihm alle meine Rechte abzutreten, wie ich fest entschlossen sein muß. Ist das geschehen, so werde ich ruhiger sein und dann Ihnen sagen

lassen, wann es mich freuen wird, Sie wieder zu sehen.
Marie.“ 

Also auch die Hoffnung auf nur einige aufklärende Worte war eitel gewesen. Von Anna vernahm Raban noch, daß ihre Herrin sich den ganzen Tag über eingeschlossen gehalten, daß sie Niemand habe sehen wollen, auch den Arzt nicht, nach welchem ihre Tante gesendet. –

[542] Raban’s Sorge um sie war nun auf’s Drückendste vermehrt durch den Gedanken, daß sie viel zu rasch und unbedacht Wolfgang Melber in’s Spiel ziehen und diesem Rechte einräumen werde, welche ja noch immer zweifelhafter Natur waren. Konnte denn seines Vaters Voraussetzung nicht immer noch ungegründet sein – konnte Mariens Vater damals nicht, um sich zu rächen, um einen ewigen Grund der Beunruhigung in die Familie, die ihn mit seinen Ansprüchen zurückwies, zu schleudern, gesprochen haben? Hatte er denn bestimmte Erklärungen abgegeben? Nein, nur Andeutungen hatte er gemacht. Nichts als unbestimmte Andeutungen! Und wenn diese die Wahrheit enthielten, weshalb war von ihm nicht Wolfgang, der alsdann sein eigener Sohn war, eingeweiht? Weshalb hatte Wolfgang dann seine Rechte nicht schon geltend gemacht? Sein Vater – vorausgesetzt, der Schauspieler Melber wäre es gewesen – sein Vater war ja todt. Eine strafrechtliche Verfolgung wegen der Verwechselung der Kinder konnte ihn nlcht mehr treffen. Es war gar nicht denkbar, daß Wolfgang selber nicht längst mit der Geltendmachung seiner Geburtsrechte aufgetreten wäre, wenn er solche gehabt hätte!

Aber was konnte Raban thun, um sie jetzt aufzuhalten? Er hatte nicht das geringste Recht, sich einzumischen. Niemand auf Erden hatte es ihm gegeben. Sollte er den als Vater Wolfgang’s geltenden Graveur aufsuchen? Sollte er von diesem Manne die Wahrheit zu erkunden versuchen? Es war nicht die geringste Wahrscheinlichkeit da, daß dieser ihm, dem Wildfremden, die Wahrheit gestand!

Nur Eines konnte er thun – Wolfgang Melber in dessen Atelier sprechen. Vielleicht ergab sich im Laufe des Gesprächs mit diesem, wenn Raban es sondirend lenkte, etwas, wenn auch nur Geringes, was zur Aufklärung diente. Es war jedoch zu spät dazu für den Abend; Raban konnte erst am andern Vormittage den Künstler treffen.

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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 34, S. 553–555
Novelle – Teil 8
[553]
9.

Als Raban am Morgen des folgenden Tages über den Ring schritt, um sich in die Vorstadt, in Melber's Atelier zu begeben, begegnete er hier einmal wieder seinem alten Bekannten Graf Kostitz. In seine Gedanken vertieft, erkannte er ihn nicht gleich, aber Graf Kostitz hielt ihn auf.

„Sie sehen ja furchtbar niedergeschlagen aus, Mureck, und erkennen Ihre Freunde nicht mehr. Erfüllt Sie so die Sehnsucht nach der Entflohenen?“

„Entflohenen – welcher Entflohenen?“ versetzte Raban befremdet.

„Nun, Ihrer Flamme, der schönen Leni.“

„Die ist entflohen – mit ihrem Vetter nach Ungarn?“

„So arg ist’s nicht,“ gab Graf Kostitz lachend zur Antwort; „Sie lassen Ihre Phantasie ja sofort wie ein Pußtapferd galoppiren! So arg nicht! Nach Steiermark – mit den Ihrigen.“

„Leni ist mit den Ihren nach Steiermark gereist?“

„Ja, und das wissen Sie nicht einmal? Auf ihr Gut, zum Sommeraufenthalt.“

„Ah – und wann?“

„Gestern – nachdem vorgestern der große Bazar stattgefunden, auf welchem Sie durch Abwesenheit geglänzt haben.“

„In der That!“ sagte Raban mit einem tiefen Seufzer, aber einem solchen der Erleichterung.

„Und nun – werden Sie den Ulrich von Liechtenstein machen und als irrender Ritter ihr nachziehen in das schöne grüne Land?“

„O,“ entgegnete lächelnd Raban, „man braucht nicht gleich irrender Ritter zu werden; ich ziehe es vor, hier in Wien zu bleiben. Auf Wiedersehen!“

Er schritt, bewegt von der erhaltenen Botschaft, weiter. Es lag etwas tröstlich Befreiendes in dieser Nachricht. Sein Ausbleiben auf dem Bazar war, so schien es, als etwas Entscheidendes betrachtet worden. Man war gegangen, ohne ihm eine Kunde davon zukommen zu lassen – das sprach nun deutlich genug – es war die beste diplomatische Art einer Lösung, um die er sich mit schwerfälligerer Natur gesorgt hatte. Die Sorge war überflüssig gewesen!

Ob Marie nun auch dazu sprechen würde: es thut mir leid – ihr verhängnißvolles „das thut mir leid“, das Raban von vorn herein so außer sich gebracht?

Er fand Wolfgang Melber ruhig bei seiner Arbeit. Im Vorraum punktirte der ältere Arbeitsgenosse Wolfgang’s an dem Marmor herum, aus welchem die Büste Mariens herausgemeißelt werden sollte; in dem innern Raume knetete und strich Wolfgang, eine Cigarre zwischen den Zähnen, an der Gewandung eines Grabstein-Engels. Mariens Modellirstuhl stand verhüllt in den Winkel geschoben.

„Sie werden,“ sagte Wolfgang, als Raban eingetreten war und ihn begrüßt hatte, „Sie werden das Fräulein“ – er betonte immer eigenthümlich, fast wie ironisch, wenn er, ‚das Fräulein‘ sagte – „heute wohl nicht finden. Sie ist gestern nicht gekommen und wird auch wohl heute nicht zur Arbeit antreten. Sie hat immer so Zeiten, wo sie nicht auftaucht – nach Frauenzimmerart, bei denen alles stoßweise geht. Heut Feuer und Flamme für ihr Werk – und morgen ist ihr eine alte Frau, die eine Kellertreppe hinuntergestürzt ist, interessanter.“

Raban schwieg darauf; nachdem er sich gesetzt und eine Weile Wolfgang’s Thätigkeit mit anscheinendem Interesse zugesehen hatte, sagte er, so unbefangen als möglich:

„Ist das Fräulein nicht ein wenig Ihre Verwandte?“

Wolfgang streifte ihn mit einem flüchtigen prüfenden Blick.

„Freilich. Ein wenig meine Verwandte ist sie allerdings. Hat sie’s Ihnen gesagt?“

„Nicht sie. Aber Sie wissen – wir haben dieselbe Heimath. Und dort hat man mir gesagt, daß der Vater des Fräuleins Marie Tholenstein so hieß, wie Sie sich nennen.“

„Nun ja,“ entgegnete Wolfgang, zurücktretend, um seine Arbeit ein wenig aus der Entfernung zu betrachten, „so wie ich, Melber, hieß er in der That; er war meines Vaters Bruder und ein curioser Hansl von einem Menschen. Er hielt sich für den ersten Heldenspieler der Welt, und wenn die Welt ihn als solchen nicht anerkannte, so war das nur eine ganz infame Intrigue, die ihn nicht aufkommen ließ, weil er mit einem adligen Fräulein durchgegangen war. Alle Höfe und Potentaten Europas hatten die Hände in dieser Intrigue, und alle Theater ihre geheimen Instructionen von oben her wider ihn bekommen. Und so stahl er denn dem lieben Herrgott den Tag ab, hatte den Edelmuth, keinem ‚Mimen seine Kränze‘ zu beneiden, weil er viel schönere [554] und reichere, um welche die große Intrigue des Jahrhunderts ihn gebracht, ‚innerlich‘ trug, und verkehrte viel in ‚Schwemmen‘ und ländlichen Schenken.“

„So daß Sie – ihn wohl wenig gesehen haben?“ ließ Raban forschend fallen.

„Wenig? O nein, er hatte einen Narren an mir gefressen und war immer bereit, mich um die Schule herumzuführen – ich war sein Publicum, ich Aermster!“

„Um seine Tochter, um Fräulein Marie, hat er sich wohl wenig gekümmert?“

„Wahrscheinlich wenig genug. Ich weiß es nicht! Er war schon todt, als das Fräulein hierher kam. Mein Vater hat mir zuerst von ihr geredet, von dieser Cousine, und ist zu ihr gegangen und hat sie hierher in mein Atelier gebracht – wo sie denn ja auch recht heimisch geworden ist,“ setzte Wolfgang wieder mit etwas ironischer Betonung hinzu.

Raban schwieg, über die Mittheilungen nachdenkend, aus denen sich keinerlei Folgerungen ziehen ließen und die nur eine Bestätigung dessen enthielten, was sein Vater ihm geschrieben.

„Sie,“ fuhr nach einer Weile Wolfgang mit seinem spöttischen Tone fort, „Sie, Herr von Mureck, scheinen ein sehr lebhaftes Interesse an dem Fräulein zu nehmen – wie? Leugnen Sie nicht, Sie lassen sich den Kopf meiner Gruppe nicht umsonst aushauen . . .“

Raban sah den Künstler mit einem sehr ernsthaften Blicke an.

„Nun ja,“ lachte Wolfgang, ohne sich dadurch stören zu lassen. „Gestehen Sie ein, daß ich Recht habe. Fräulein Marie hat es Ihnen angethan. Und weshalb wollten Sie es leugnen? Hat es jemals ein passenderes Paar gegeben? Sie ist eine Erbin, und Sie selbst sind doch auch wohl so etwas wie ein Erbe? Oder nicht? Ferner sind Sie Nachbarskinder – einem und demselben mütterlichen oder stiefmütterlichen Boden entsprossen. Und dann – es ist ja geradezu rührend, wie zwei schönen herzerwärmenden Flammen gleich Ihre Passionen, sich mit Bettlern, scrophulösen Kindern und von der Kellertreppe gefallenen Familienmüttern abzugeben, Ihre humanitären und weltverbessernden Gedanken zusammenschlagen. Also – was hält Sie noch zurück? Weshalb sprechen Sie nicht, weshalb verloben Sie sich nicht mit Marie Tholenstein?“

„Weshalb fragen Sie darnach?“ gab Raban heftig bewegt und empört zur Antwort.

„Als Mariens Vetter, denk’ ich, darf ich doch so fragen? Und dann . . .“

„Dann? Fahren Sie fort.“

„Dann,“ sagte Wolfgang Melber, einen Thonkloß in den Händen ballend, „dann wär’s mir eben recht – sehr recht! – Sind Sie so sicher, daß, wenn Sie noch lange zögern, nicht Gefahr im Verzuge ist?“

„Sie reden wirklich, als wenn . . .! Aber vorausgesetzt, Sie hätten Recht, woher sollte die Gefahr kommen?“

„Von einer andern Neigung, die sich in dem Fräulein Marie so festsetzte und sie so zu beherrschen begönne, daß sie endlich nicht mehr darüber hinaus könnte und – Ihnen einen Korb gäbe!“

„Von einer Neigung zu Wem? Zu Ihnen?“

„Zu mir? Nun – vielleicht! Halten Sie das für unmöglich? Sie sind sehr skeptisch, Herr von Mureck!“

„Nicht so skeptisch, um eine Unmöglichkeit da zu suchen!“

„Wo würden Sie denn eine suchen?“

„Darin, daß Sie nicht sehr eifrig zugreifen würden, wenn sich Ihnen die Hoffnung böte, daß die Erbin von Arholt . . .“

„Frau Melber werden wollte? Ich würde sehr dafür danken!“

„Sie?“

„Ja, ich. Ich hätte durchaus keine Lust, mir aus dummer Eitelkeit solch eine weiße Rose in’s Knopfloch zu stecken! Solch eine sensitive Pflanze. Wahrhaftig, ich hätte keine Lust, mein Leben im Schatten einer Trauerweide zuzubringen. Denn würde sie nicht sehr bald so etwas werden? Sie leidet und klagt schon jetzt genug – das Leben, das ich führe, findet durchaus ihre Billigung nicht – sie hat eine ganz besondere Gabe, mich durch wehmüthig anklagende Blicke zu langweilen! Kurz, das ewig Weibliche gefällt mir besser, wenn es in weniger hoheitsvoller Weise in die Erscheinung tritt. Begreifen Sie das nicht?“

„O ja – ich begreife Sie – recht gut, Herr Melber!“

„Also! Und dann gestehe ich Ihnen gern, nach meiner Ansicht ist es verächtlich, hinter einem reichen Weibe drein zu laufen, das uns dann hofmeistert, weil Alles von ihm kommt, weil wir sein Geschöpf sind. Ein ordentlicher Mann schlägt sich aus eigener Kraft durch. Mein Talent ist dazu groß genug. Und dann, wissen Sie, bildhauert sie ja selber. Sie hat eine ganz respectable Anlage für die Kunst – wirklich höchst achtbar. Mit einigem größeren Fleiße wird sie über das Dilettantenthum sehr bald hinausgewachsen sein – entschieden hinaus! Das kann mir aber nicht passen, auch das nicht. Ich will nicht, daß mir die Leute einmal – die Leute sind boshaft – nachsagen: der Melber läßt sich das Beste von seiner Frau modelliren! Ich danke für eine solche Kunstgenossin als Frau!“

Wolfgang Melber trat von seiner Arbeit zurück und warf einen halb triumphirenden, halb forschenden Blick auf Raban. Wollte er in dessen Miene die Bewunderung seiner idealen Denkungsart lesen?

Raban that ihm nicht den Gefallen, diese zu zeigen. Was er gehört hatte, bewegte ihn hinreichend in anderer Weise. Wolfgang Melber’s Herzensergießung war ihm eine niederschmetternde Enthüllung gewesen.

Er wußte jetzt ja Alles sich zu deuten: Mariens Wesen, ihr Betragen diesem Menschen gegenüber, und ihr grausames Wort: ich darf Sie nicht anhören. Sie durfte nicht, weil sie eine andere Neigung hatte, der sie treu zu bleiben sich gelobt. Marie Tholenstein liebte diesen Vetter Wolfgang Melber.

Es war eine traurige Entdeckung, die nun Raban’s Hoffnungsstern endgültig, für immer und ewig auslöschte. Er hatte Mühe, sich so weit zu fassen, um seine ganze Bewegung vor Wolfgang zu verbergen und das Gespräch mit anscheinender Unbefangenheit so weit fortzusetzen, daß er, ohne zu sehr aufzufallen, abbrechen, aufstehen und sich entfernen konnte.

Gewiß gab es in der großen volkreichen Stadt keinen Menschen an diesem Vormittage, der sich unglücklicher fühlte als Raban Mureck – hoffnungsloser und hülfloser. Er hatte das Gefühl, etwas thun, etwas zur Entwirrung einer Katastrophe, die durch ihn herbeigeführt war, leisten zu müssen, und war doch ohnmächtig etwas zu thun. Wenn er nur noch hätte ein paar Worte mit Marien wechseln können, nur die beruhigende Versicherung hätte von ihr zu erhalten vermocht, daß sie nicht vorschnelle Eröffnungen ihrem Vetter machen wolle! Aber es wurde ihm ja unmöglich gemacht, sie zu sehen und zu sprechen. Als er heimgehend an ihrer Wohnung vorüberschritt, wagte er trotzdem den Versuch; er stieg hinauf und läutete. Der erscheinende Diener meldete ihm, daß das gnädige Fräulein noch krank sei und Niemand empfange.

Es war am Ende etwas Gutes an der Krankheit: daß sie beide von vorschnellem Aussprechen zurück gehalten wurden, ehe Alles klar war.

Aber wenn sie diesen Menschen liebte, dann gerade mußte es sie drängen, ihm die Eröffnungen zu machen, zu denen sie entschlossen war. Und wie sollte Alles klar werden? Der Einzige, durch den Klarheit zu erhalten gewesen wäre, war ja, wie schon gesagt, Wolfgang’s Vater, der alte Graveur. Er war der einzige Mensch auf Erden, der die Wahrheit wußte. Aber welche Mittel gab es, diesen Mann zu zwingen, die Wahrheit zu sagen?

Er war bisher nie hervorgetreten, er hatte bisher geschwiegen. Weshalb? Wenn Marie Tholenstein seine Tochter war, so mochte er schweigen, weil er den Dingen ihren Lauf lassen, weil er sein eigenes Kind nicht aus einer glücklichen und glänzenden Stellung reißen wollte. Oder er mochte auch schweigen, weil er die üblen Folgen einer gerichtlichen Feststellung des einst mit seinem Bruder geschmiedeten Complots fürchtete. Ein etwaiger Wechsel, ein Uebergang der bisherigen Erbrechte Mariens auf Wolfgang müßte ja bei den Gerichten gerechtfertigt werden, hätte ernste und gründliche Untersuchungen zur Vorbedingung gehabt. Er war jedenfalls jetzt ein alter Mann. Schweigen, durch Enthüllungen unbekannter und still ruhender Dinge sich nicht Unruhe und Last aller Art schaffen, mußte jedenfalls das sein, was ihm zunächst lag!

Wenn aber Raban zu ihm gegangen wäre, wenn er ihm klargelegt, was er wußte, und dann ihn auf sein Gewissen gefragt hätte, ob Wolfgang seines Bruders, des Schauspielers, oder ob [555] er der Sohn dessen sei, den er Vater nannte – was war auf die Antwort zu geben? Es blieb immer aufs Aeußerste ungewiß, ob die Antwort von der Wahrheit eingegeben war oder von der Furcht vor drohenden Folgen; von der Wahrheit oder von dem Verlangen, die Umstände zu benutzen und seinem Sohne Wolfgang die glänzende Lebensstellung zugewendet zu sehen, welche bisher das Erbtheil Mariens war. Von der Wahrheit oder dem Wunsche, Marien, seinem eigenen Kinde, seinem Fleisch und Blut, dies Erbtheil zu bewahren, auch wenn es Wolfgang zugekommen wäre.

Es litt Raban nicht daheim. Er verließ die Stadt, er wanderte über die Linien hinaus; er streifte stundenweit umher, und als er heimkehrte, hätte er schwer angeben können, wo er gewesen. Von allen den Bildern, welche die durchirrte Landschaft wechselnd und vorüberziehend ihm vorgehalten hatte, stand, als er wieder daheim war, nur ein einziges noch wie tiefer eingegraben in seiner Seele. Es war das Bild eines breiten, in raschem Gange majestätisch dahinziehenden Stromes, eines mächtigen Gewässers, das durch die Auen der schweigend ruhenden Flur, an dem Fuße der unbewegten Hügel entlang dahinfluthete, wie das einzig Lebendige, einzig Mächtige, wie der bewegte Herrscher in dieser todten Welt. Und sich selber sah er am Ufer dieses Stromes stehen, auf denselben hinunterblickend, mit den Augen seine Tiefe zu ermessen suchend – und im Herzen das Gefühl, daß auch er zu der todten Welt, durch welche der Strom als lebendiger Herrscher dahinzog, gehöre. Ein innerlich todter Mensch, auf dessen Lebensflamme erstickend sich die Asche verglühter Hoffnungen, hoher Entwürfe und idealer Zukunftsbilder gelegt hatte. Ein todter Mensch, nun für alle Zeit verurtheilt, so am Ufer des Zeitenstroms, der dahinziehenden Wellen der Weltgeschehnisse zu stehen, sie an sich vorübergleiten zu lassen, eine nach der andern, und ihnen mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen, wozu und warum! – –

Am folgenden Vormittage schritt Raban abermals zu der Wohnung Mariens. Als ihm hier von dem Diener wie gestern die Nachricht geworden, daß das Fräulein zu krank sei, um irgend Jemand zu empfangen, ließ er ihre Zofe Anna bitten, zu ihm herauszukommen. Anna erschien und gab Bericht über Mariens Befinden; das Fräulein sei ganz bedenklich angegriffen, von Herzklopfen gepeinigt, von Schlaflosigkeit – aber der Arzt hoffe, daß der Zustand in einigen Tagen gehoben sei, ohne daß sich, wie er anfangs gefürchtet, eine ernstere Krankheit daraus entwickele.

Raban konnte, beruhigter über diesen Punkt, sich entfernen; er konnte wieder einen seiner weiten Spaziergänge antreten, wobei er sich die Frage vorlegte, ob er nicht besser thue, wenn er Wien, das für ihn kein glücklicher Boden mehr war, verlasse und in seine Heimath zurückkehre, die vielleicht mit mildernden, tröstend zerstreuenden Einflüssen ihm über die kommenden Tage hinweghelfen würde.

Als er dann am Abende ziemlich spät seine Wohnung im Hotel wieder betrat, wurde ihm mitgetheilt, daß ein ältlicher Herr dagewesen sei, um ihn zu sprechen. Er sei zweimal gekommen, in den Abendstunden noch, und habe großes Bedauern geäußert, Herrn von Mureck nicht treffen zu können. Als er das zweite Mal fortgegangen, habe er hinterlassen, daß er am andern Morgen in der Frühe wiederkommen werde.

„Und hat er keine Karte zurückgelassen?“ fragte Raban.

„Eine Karte schon!“ sagte der Portier, indem er eine solche hervorholte; „diese hier.“

Raban erstaunte nicht wenig, als er den Namen las, den die Karte zeigte. Der Name lautete nicht anders, als:

„Heinrich Melber, Graveur.“ .

Es stand wirklich so da: Heinrich Melber! Also dieser Mann war es, der nun aus eigenem Antriebe zu ihm kam! Wozu, weshalb kam er?

Raban fragte es sich und wiederholte es sich, während er, oben in seinem Zimmer angekommen, beunruhigt auf- und abschritt. Und doch war die Frage nicht schwer zu beantworten. Wenn Heinrich Melber das Bedürfniß fühlte, sich ihm zu nähern, so konnte es nur sein, weil „das Eis gebrochen“, der entscheidende Schritt geschehen war; weil Marie Tholenstein Wolfgang Melber hatte zu sich berufen lassen, weil sie ihm Alles gesagt, ihm alle ihre Rechte übertragen zu wollen erklärt hatte, und weil nun Heinrich Melber, von Wolfgang unterrichtet, das Bedürfniß empfand, mit Raban zu sprechen, von ihm zu vernehmen, was eigentlich sein Vater ihm geschrieben, von ihm den Brief seines Vaters selbst übergeben zu erhalten.

Nichts Anderes konnte des Mannes eifriges Verlangen, Raban zu sprechen, bedeuten, und nichts Anderes war für Raban zu thun, als sich entsagungsvoll in die Lage der Dinge, in die weitere Entwickelung dessen, was nun kommen würde, zu ergeben. Wenn Mariens Herz an Wolfgang hing, so unwürdig dieser ihrer sein mochte, so war sie für ihn auf ewig verloren, mochte nun ihr edelmüthiges Verzichten ihr das Herz Wolfgang’s gewinnen, oder mochte dieser bei dem Widerstreben gegen solch eine still und sanft mahnende Lebensgefährtin, gegen solch eine Trauerweide, wie er sich ausdrückte, beharren. Es gab nichts, was einen Lichtschimmer, eine tröstende Helle in Raban’s Zukunft warf, als der Gedanke, daß er durch diese Zukunft doch wandern könne auf Wegen, die neben denen einherliefen, welche sie wandelte. Er konnte mit ihr dieselben Pfade schreiten, zu den Hütten der Armen und zu den Leidenden, den Hülflosen. Er konnte sich in eine ihn glücklich machende Gemeinsamkeit des Herzenslebens mit ihr hinein fühlen, wenn er wie sie seine suchenden Gedanken auf die Umgestaltungen unserer gesellschaftllchen Einrichtungen wandte, die zur Abwehr der Noth der Enterbten führten; zur Umgestaltung vor Allem der Anschauungen der Menschen und ihrer Art zu fühlen bei fremdem Leide, und zur Christianisirung eines noch ganz heidnischen Verhaltens der Menschen zu den schwerwiegenden Fragen der Humanität.

Er konnte ihr verwandt, er konnte Marien ein geistiger Bruder bleiben. Er konnte streben, gut zu werden wie sie. Er konnte sich sogar sagen, daß so vielleicht eine Stunde kommen werde, wo sie selbst fühlen und sich gestehen würde, sie hätte besser daran gethan, wenn sie ihr Herz statt Wolfgang einem andern Manne zugewandt . . . Doch nein, nein, vielleicht war sie dann die Gattin Wolfgang’s, und dann wäre es ein Frevel gewesen, so etwas zu wünschen und darin eine Genugthuung zu empfinden!

Es war am andern Morgen noch ziemlich früh – Raban hatte sich eben erst erhoben, nachdem ihm spät erst der Schlaf gekommen – als der Kellner Herrn Melber meldete und dieser zugleich eilig eintrat. Es war ein kleiner ältlicher Mann, vorgebeugt gehend, mit hoher gewölbter Stirn und einem leidenden Ausdrucke in seinem anziehenden Gesicht, das von langem ergrauenden dünnen Haare umrahmt war – er trug es hinter die Ohren gestrichen und von einer Brille dort festgehalten. Wie vom raschen Treppensteigen außer Athem, schien er nicht gleich die Worte zur Anrede finden zu können. Raban sagte, ihm entgegengehend:

„Herr Melber – ich kann mir denken, weshalb Sie zu mir kommen – um eines Briefes willen, den mein Vater . . .“

„Um eines Briefes willen?“ fiel ihm der Graveur in’s Wort „o mein Gott, nein, leider handelt es sich wenig um Briefe, sondern –“

„Nicht? Aber um was denn? Bitte, nehmen Sie Platz. Um was denn handelt es sich?“

Heinrich Melber ließ sich wie erschöpft in einen Sessel fallen.

„Um etwas sehr Fatales, um etwas ganz Schreckliches . . . man hat meinen Sohn, meinen Sohn Wolfgang, den Bildhauer Wolfgang Melber am gestrigen Mittage verhaftet –“

„Verhaftet? Ihren Sohn?“

„Verhaftet, zum Landgericht eingeliefert . . .“

„Aber ich bitte Sie, weshalb?“ rief jetzt ebenfalls erschrocken Raban aus.

„Ja – weshalb! Das ist’s eben, was mich zu Ihnen treibt! Wegen eines Mißverständnisses, eines ganz falschen Verdachts, einer Dummheit . . .“

„Ist das möglich! Aber weshalb denn, wegen welches Verdachts?“

„Er soll gestohlen haben – Münzen gestohlen – Goldmünzen – aus dem kaiserlichen Cabinet . . .“

Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 35, S. 569–571
Novelle – Teil 9

[569] Raban war im höchsten Grade erstaunt, daß man Wolfgang des Diebstahls bezichtigte, und vermochte erst nach einer Pause den alten Graveur nach den näheren Umständen zu fragen.

„Ich will es Ihnen erklären,“ erwiderte Melber, „gerade deshalb komme ich zu Ihnen. Deshalb, und weil ich Ihren Beistand erbitten muß. Sehen Sie, das Fräulein von Tholenstein, das bei meinem Sohne Unterricht nimmt – sie ist ein wenig meines Sohnes Cousine, das Fräulein, doch das gehört nicht hierher – besaß solche Goldmünzen, die wohl sehr selten sein mögen, und hat sie eines Tages neben einigen anderen alten Sachen, alten künstlichen Schmucksachen, meinem Sohne gezeigt. Mein Sohn hat die Münzen besonders hübsch, von interessantem künstlerischen Gepräge gefunden, und sie hat sie ihm geschenkt. Vor zwei Tagen nun hat ihn der Böse verführt, diese Münzen weiter, einem Mädchen, zu schenken, einer Freundin, wie er ja leider deren mehrere hat, und das Mädchen ist am andern Morgen gleich gegangen, die goldenen Münzen in dem Laden eines Antiquitätenhändlers zu verkaufen. Der Mann hat die Münzen untersucht, gezögert, das Mädchen aufgehalten, und dann sind Polizisten erschienen, denen er erklärt hat, die Münzen seien aus dem kaiserlichen Cabinete gestohlen. Das Mädchen hat meinen Sohn als den genannt, von dem sie die Münzen erhalten. Man hat sie nun zu meinem Sohne geführt, der sofort durch seine Erklärung das unglückliche Geschöpf aus dem Spiele gebracht hat – selbst aber, da seine Angabe, er habe die Münzen von einem Fräulein von Tholenstein zum Geschenke erhalten, nicht genügend erschienen, verhaftet worden ist. Er hat auf der Polizei, wohin er zuerst geführt, stürmisch verlangt, daß man das Zeugniß des Fräulein von Tholenstein einhole; man hat auch einen Beamten in deren Wohnung geschickt, dieser ist aber mit der Meldung zurückgekehrt, das Fräulein sei krank und könne Niemand sprechen. Unterdeß ist auf der Polizei auch der Custos des kaiserlichen Cabinets erschienen und hat erklärt, die fraglichen, dem Antiquitätenhändler zum Kaufe angebotenen Goldmünzen seien identisch mit den der kaiserlichen Sammlung gestohlenen und von äußerster Seltenheit. Und darauf hin hat man meinen Sohn zur weiteren Untersuchung an’s Landgericht abgeliefert. Ich hab’s von einem Herrn von der Polizei bald darauf erfahren und bin zum Landgericht gegangen, man hat mir aber den Zugang zu Wolfgang verwehrt – dann bin ich selbst zur Wohnung des Fräulein von Tholenstein geeilt und bin da ebenfalls abgewiesen, weil sie Niemand sehen könne – und darauf bin ich hierher gelaufen, hierher in Ihre Wohnung, um – Sie nicht zu finden! Es war zum Verzweifeln Alles das!“

„Was hofften Sie von mir in dieser Sache?“ fiel Raban, der in größter Spannung diese Geschichte angehört hatte, ein.

„Von Ihnen, Herr von Mureck, hoffe ich, daß Sie uns aus dieser schrecklichen Fatalität retten. Sie sind – ich weiß es von meinem Sohne, mit dem Fräulein befreundet, sind auch mit der Stiftsdame befreundet, stammen ja aus einer und derselben Gegend – Ihnen wird man in einer so dringenden Sache den Zutritt nicht weigern, Sie werden mit dem Fräulein reden und, wie krank es auch sein mag, dieses bewegen können – es handelt sich ja um den Vetter des Fräuleins und dessen Existenz und Ehre – sogleich ein schriftliches Zeugniß auszustellen, daß sie die Münzen Wolfgang geschenkt, daß er unschuldig ist. – Wenn wir nur das erst vorlegen können, wird man ja Wolfgang sicherlich gleich entlassen, und dann, wann sie genesen ist, kann man sie ja, falls es dem Gerichte noch nöthig scheint, gründlicher vernehmen, für’s Erste handelt es sich ja nur um ein Zeugniß, das Wolfgang frei macht – denken Sie, wenn er länger sitzen müßte, wenn es ruchbar und kund würde ...“

Raban hatte Melber bei diesen Worten gedankenvoll angesehen, und sinnend schwieg er auch jetzt noch eine Weile, bevor er, den Graveur fest fixirend, antwortete:

„Sie haben Recht, Herr Melber, mit solch einem Zeugnisse ist sicherlich die augenblickliche Freilassung Ihres Sohnes zu erreichen – und ich verspreche es Ihnen, dieses Zeugniß zu besorgen, wenn Sie vorher eine Bedingung erfüllen. Erfüllen Sie dieselbe nicht, so werde ich verhindern, daß Sie das Zeugniß erhalten. Es kommt vor Allem darauf an, daß man Fräulein von Tholenstein, jetzt, wo sie krank ist, nicht die beunruhigende Aussicht, als Zeugin vor Gericht erscheinen zu müssen, eröffnet ... Ob Wolfgang noch heute frei wird, von allem Verdachte gerechtfertigt, oder ob er eine noch gar nicht zu bestimmende Zeit wird in seiner Zelle im Landgerichte sitzen müssen – das hängt ganz von Ihnen selbst ab ... von Niemand sonst!“

„Von mir – aber ich bitte Sie, welche Bedingung ...“

Raban, der klar durchschaut hatte, welche Handhabe sich ihm hier darbot, eine offene und rückhaltlose Auskunft von diesem Manne zu gewinnen, eine Aufklärung, wie er sie nie sonst von ihm zu erhalten hoffen dürfte, ging ohne Umschweife auf sein Ziel los und erwiderte mit fester Stimme: „Es handelt sich um [570] die Frage: ist Wolfgang in der That Ihr Sohn und ist Fräulein von Tholenstein die Tochter Ihres Bruders, des Gatten der verstorbenen Melanie von Tholenstein, oder – ist es anders, ist das Umgekehrte der Fall?“

Der Graveur sah ihn mit einem offenbaren Erschrecken, mit großen verwunderten Augen an.

„Aber – um Gotteswillen,“ fiel es dann von seinen Lippen, „wie kommen Sie zu der Frage?“

„Das ist meine Sache – ich habe meine Gründe zu dieser Frage. Und beantworten Sie dieselbe der Wahrheit gemäß, denn die Antwort, welche Sie mir geben, werden Sie mir auch beweisen müssen . . .“

„Der Himmel steh’ mir bei,“ erwiderte Heinrich Melber tief aufathmend, „es ist eine unglückselige Geschichte das, mit dem Jungen, dem Wolfgang – schon als er noch ein Kind war, habe ich mit meinem seligen Bruder mich um den Knaben zu zanken gehabt – und wäre nicht meine Frau gewesen, die mir ehrlich beistand . . .“

„Nun beantworten Sie aber meine Frage endlich klar und deutlich!“ unterbrach ihn Raban fast heftig – „ist Wolfgang Ihr Sohn oder ist er es nicht?“

„Freilich ist er es!“ rief der Graveur aus – „und daran soll mir Keiner zweifeln und Keiner soll mir mein Kind nehmen und mir ein falsches unterschieben, und wenn auch hundertmal diese adligen Menschen im Reiche da drüben einen männlichen Erben für all ihr Besitzthum nöthig haben und mit einer Tochter nichts anzufangen wissen, ich kann ihnen nicht helfen!“

Der Graveur hatte dies, sich in Zorn redend, ausgerufen und wischte sich jetzt die Stirn, während Raban auffahrend, aber halblaut, mit vor Bewegung zitternder Stimme sagte:

„Nun, dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank – also Wolfgang ist Ihr Sohn, – o, fürchten Sie nicht, daß irgend Jemand auf Erden Ihnen diesen Sohn rauben will – wahrhaftig nicht! Also Ihr Sohn ist er, und Alles war nur eine böse Chimäre, eine dämonische Eingebung . . .“

„Aber wie – wie kommen Sie, Herr von Mureck, zu dieser Frage – was wisseu Sie davon, daß mein verstorbener Bruder . . .“

„Ich weiß, daß Ihr Bruder in einer Unterredung mit meinem Vater diesem zu verstehen gegeben hat, Wolfgang sei sein Sohn – er habe der alten Frau auf Arholt nicht sein Kind übergeben, als er, um ein tüchtiges Jahrgehalt von ihr zu erhalten, ihr Verlangen nach der Auslieferung von Melanie’s Kind befriedigte . . .“

„Das hat er Ihrem Vater eingeredet? Damals, als er nach dem Tode des letzten Herrn von Tholenstein drüben bei Ihnen war? Ja, ja, kann mir’s denken – kann mir’s denken,“ sagte der Graveur, nachdenklich den Kopf wiegend. „Sehen Sie – um Ihnen Alles zu sagen, es war so: Wir hörten, daß dieser Herr von Tholenstein, Herr Martin von Tholenstein gestorben sei. ‚Jetzt,‘ sagte mein Bruder, ‚darf ich nicht säumen – ich muß hinüber. Jetzt ist die nächste, die alleinige Erbin das Kind, die Marie. Und ich bin Mariens Vater. Mir, mir allein kommt die Vormundschaft zu – der Nießbrauch vielleicht, der ganze Nießbrauch, jedenfalls die Verwaltung von Allem und Jedem, was da ist . . . ich bin der Vater, und das kann mir keine Macht auf Erden bestreiten.‘

‚Triumphiren Sie nicht zu früh,‘ sagte ihm meine Frau da – sie hat so viel mit den adligen Herrschaften verkehrt und von solchen Sachen reden gehört – ‚in vielen Familien,‘ sagte sie, ‚erbt ein Mädchen gar nicht die Güter, sondern sie fallen an den nächsten männlichen Verwandten, einen Vetter – und wenn er auch nur im zwanzigsten Grade verwandt ist, er geht doch der leiblichen Tochter vor!‘

‚Das kann nicht sein, das wäre ja himmelschreiend,‘ versetzte mein Bruder.

Meine Frau aber blieb dabei, und so fiel es wie ein böser Frost auf die blühenden Hoffnungen meines Bruders. Er hielt Nachfrage danach bei Leuten, die es wissen mußten, und hörte, daß dem wirklich so sei, in vielen Familien, aber freilich nicht in allen. ‚Was ist da zu machen?‘ sagte er endlich – ‚herrscht auch bei diesen Tholenstein eine solche infame Einrichtung, eine solche gotteslästerliche Ungerechtigkeit, so muß man ihnen einen Knaben als Erben liefern. Kann Dein Wolfgang nicht ebenso gut mein Knabe sein, als Deiner? Wer weiß etwas darüber auszusagen? Wir lassen einen Taufschein Mariens aus Ungarn kommen, die nöthigen Veränderungen darin machst Du, Heinrich – wozu bist Du Graveur, das ist Dir ein Kinderspiel – und die Folge ist, daß Dein Junge für seine ganze Lebenszeit versorgt und glücklich und ein großer reicher Herr ist.‘

Das waren nun sehr leichtsinnige Redensarten, diese und viele andere mehr, und wir, meine Frau und ich, waren weit entfernt, darauf einzugehen – er aber sprach ein Langes und Breites darüber, wollte in seiner Thorheit gar nicht die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen unredlichen Handlung einsehen und bedrängte uns mit allen möglichen Vorschlägen. Endlich reiste er ab, voll schönster Voraussetzungen und Hoffnungen – um dann nach einiger Zeit sehr kleinlaut zurückzukehren.

‚Es ist da nichts, gar nichts zu machen,‘ sagte er verdrossen. ‚Eine ungerechte Weit ist’s – eine schmachvoll ungerechte Welt. Auch wenn mein Kind ein Knabe wäre, würde da nichts zu erben sein für ihn – es gehört Alles, Alles noch der alten Frau auf Arholt, Alles nur ihr! Ist gar nichts zu hoffen. Und was die Sache mit Deinem Wolfgang, verstehst Du, betrifft, so hätte sie auch einen ganz verdammten Haken gehabt – man hätte mich wegen der Unterschiebung eines Kindes beim Kragen genommen und eingesteckt – Du siehst, Heinrich, es ist für uns eben nichts zu machen in dieser ungerechten, niederträchtigen Welt, wo solch ein habgieriges altes Weib Alles, just Alles an sich reißt und Unsereins das Nachsehen hat! Reden wir nicht mehr davon. Kein Wort mehr davon!‘

Und es ist auch zwischen uns nicht mehr davon geredet worden, Herr von Mureck, bis zu dieser Stunde ist kein Wort mehr davon über meine Lippen gekommen, bis jetzt, wo Sie mich darnach fragen und ich Ihnen nun Alles gesagt habe, was ich weiß – Alles!“

„Ich glaube es Ihnen, und ich danke Ihnen,“ antwortete Raban hocherfreut – „haben Sie ein Taufzeugniß Ihres Sohnes?“

„Nein – aber ich könnte es beschaffen – aus Böhmen kommen lassen.“

„Bitte, thun Sie das – zur vollständigen Sicherheit; ich möchte es meinem Vater, um ihn völlig zu überzeugen, vorlegen.“

„Es soll geschehen – aber hängt von der Beschaffung des Taufscheines das Zeugniß ab, welches Sie mir zugesagt haben? Das Zengniß für Wolfgang’s Unschuld?“

„Nein – ich glaube nicht, daß es noch von irgend Etwas abhängen wird – kehren Sie nach einer Stunde hierher zurück, und ich hoffe, es in Ihre Hände legen zu können – harren Sie hier auf mich, falls ich noch nicht da sein sollte!“

„Ich werde pünktlich da sein,“ versetzte Heinrich Melber, erhob sich und ging mit offenbar großer Herzenserleichterung.


10.

Eine Viertelstunde später klingelte Raban an der Thür von Mariens Wohnung. Er gab dem Diener ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt für das gnädige Fräulein. Es enthielt die Worte: „Ich muß Sie sprechen. Es handelt sich um Wichtiges für Sie, Wolfgang und mich.“ Der Diener kam zurück und führte Raban in den Salon mit der Bitte, zu warten. Bald nachher erschien Anna, um Raban zu ihrer Gebieterin zu führen. Er fand Marie in ihrem Zimmer auf dem Ruhebette ausgestreckt, sehr bleich und mit einem milden, verklärten Gesichtsausdrucke ihm entgegensehend, die eine Hand auf ihr Herz drückend, als ob sie dessen Schlag niederhalten wolle.

„Sie haben mir Wichtiges zu sagen – aber, bitte,“ sagte sie lächelnd, „geben Sie mir es tropfenweise, wie Anna mir ihre Medicin gegen meine Anfälle von Herzklopfen – auch wenn Ihre Mittheilung freudiger Art ist, wie ich an Ihrer Miene sehe . . .“

„Sie ist freudiger Art,“ versetzte Raban, sich gewaltsam fassend und zurückhaltend – „sehr freudiger Art sogar. Freilich zunächst nur für Sie und nicht für mich, der ich mit einer nur um so größeren Schuld bedrückt vor Sie treten muß. Ich habe Ihnen Enthüllungen gemacht, die auf ganz falschen Vorstellungen von den Thatsachen, auf völlig unwahren Voraussetzungen beruhten – auf rein aus der Luft gegriffenen Andeutungen, Aeußerungen eines Mannes, die völlig inhaltlos und leer waren. [571] Wenn ich mich nicht gewaltsam zu beherrschen hätte, weil Sie es wollen und mir auferlegen, so würde ich jetzt kniefällig vor Ihnen flehen: Vergeben Sie mir – was ich selbst mir nie vergeben kann – Sie in diesen Zustand gebracht, Sie unnütz, völlig unnütz in so schwere Sorge versetzt zu haben. Alle Schlüsse, die wir aus dem Briefe meines Vaters gezogen, sind unrichtig – es ist ein unseliges Verhängniß, daß dieser Brief je geschrieben wurde!“

Marie drückte ihre Hand stärker auf ihr Herz, mit der andern winkte sie Raban, als ob er schweigen, als ob er ihr Zeit lassen solle, sich zu fassen, und dann hochaufathmend sagte sie:

„Ist das möglich – möglich – Sie täuschen mich nicht? Nein, ich weiß, Sie, Raban, können mich nicht täuschen“ – und dabei streckte sie ihm glücklich lächelnd die Hand hin, die er ergriff und leidenschaftlich küßte. „Aber nun,“ fuhr sie fort, „erklären Sie mir . . .“

„Das bedarf einer langen Auseinandersetzung, der ganzen Mittheilung, die ich aus dem Munde des alten Melber erhalten habe. Für den Augenblick habe ich Ihnen etwas zu sagen, etwas von Ihnen zu erbitten, was mehr drängt als die Mittheilung der Enthüllungen Heinrich Melber’s. Es kommt darauf an, Wolfgang Melber einer sehr unangenehmen Lage zu entreißen, in welche ihn nicht just ein Verschulden, aber jedenfalls eine Handlung, die Sie selber beurtheilen mögen, gebracht hat.“

„Ah – und diese Lage ist . . .?“

„Ich hoffe, der Tropfen fällt nicht zu schwer auf Ihr Herz, Fräulein Marie, wenn ich antworte: diese Lage ist die eines Verhafteten, eines einer Schuld Verdächtigten, dessen sich das Gericht bemächtigt hat. Erschrecken Sie nicht darüber – Sie haben in der That nicht darüber zu erschrecken, liegt es doch in Ihrer Macht, seine Unschuld an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen darzuthun, da einige, nur schriftlich gegebene, Zeugniß für ihn ablegende Worte ihn aus seiner Lage retten . . . ihn ganz sicherlich sofort befreien werden.“

„Ich bitte Sie, was – o sprechen Sie rasch, was ist geschehen?“ rief Marie erregt aus.

„Erinnern Sie sich unseres neulichen Gesprächs über die auf Arholt gefundenen Münzen, von denen ein halbes Dutzend in das hiesige kaiserliche Cabinet gekommen, während in Ihren Händen noch drei derselben, welche Ihre Großmutter zurückbehalten, sich befänden?“

„Nun ja, nun ja . . .“

„Wohl – jene Münzen sind aus dem kaiserlichen Cabinet gestohlen und alle Antiquitätenhändler sind davon unterrichtet worden, aufmerksam gemacht für den Fall, daß dieselben ihnen zum Verkauf angeboten würden. Ihre Münzen dagegen haben Sie Wolfgang Melber geschenkt. Er aber hat sie einer Person, einer Bekannten geschenkt und diese sie zum Verkauf zu einem Händler getragen. Die weitere Entwicklung der Dinge können Sie sich denken: man hat Ihre Münzen für die aus dem Cabinet gestohlenen angesehen, man hat jene Person angehalten und dann Wolfgang verhaftet.“

„Ah – dann freilich,“ sagte Marie auffahrend, „muß ich für ihn zeugen, muß ihn retten. So rasch wie möglich! Was soll ich thun?“

„Fühlen Sie sich kräftig genug, schreiben zu können?“

„Sicherlich, wenn es sein muß. Holen Sie alles dazu Nöthige dort vom Schreibtisch herbei,“ antwortete Marie, indem sie zugleich klingelte und der eintretenden Anna befahl, etwas zu bringen, worauf sie schreiben könne. Anna legte ein großes Notenheft vor sie hin auf die Decke des Ruhebettes, und Marie sagte:

„Was soll ich schreiben – dictiren Sie mir, Herr von Mureck.“

Raban dictirte:

„Von den vor Jahren aus dem Gute Arholt bei H. gefundenen Goldmünzen aragonesischen Gepräges, welche dem dreizehnten Jahrhundert angehörig, sind sechs verkauft und später in das kaiserliche Cabinet dahier übergegangen. Drei dagegen sind im Besitz meiner Familie geblieben und mein Eigenthum geworden, und ich habe dieselben dem Bildhauer Wolfgang Melber dahier zum Geschenk gemacht. Im Augenblick unwohl, bin ich bereit, nach meiner Genesung dies Zeugniß persönlich abzugeben, auch eidlich zu erhärten.“

„So,“ sagte Raban, als Marie mit zitternder Hand dies Schriftstück zu Stande gebracht, „nun Ihre Unterschrift: Marie, Freiin Tholenstein zu Arholt, und dann, falls es zur Hand ist, Ihr Siegel.“

Anna brachte das letztere nebst Siegellack herbei. Endlich war das Schriftstück in aller Form vollendet, und Raban verabschiedete sich, um zu dem seiner sicherlich schon schmerzlich harrenden Vater Wolfgang’s zurückzukehren.

„Ja, eilen Sie,“ sagte Marie, „unterstützen Sie, indem Sie den Herrn Melber zum Gerichte begleiten, das Zeugniß durch Ihre Aussage und Versicherung, daß ich es in Ihrer Gegenwart geschrieben . . .“

„Gewiß, da Sie es wünschen, will ich Herrn Melber begleiten . . .“

„Und dann,“ fuhr Marie fort, „kommen Sie zurück, um mich zu beruhigen, daß dies Zeugniß hingereicht habe, um Wolfgang zu befreien – kommen Sie möglichst bald!“

„Jede Minute, die ich Sie noch besorgt weiß, wird mir schmerzlich sein,“ entgegnete Raban und eilte mit seinem Document davon.

In seiner Wohnung fand er den Graveur bereits vor, ungeduldig im Zimmer auf- und abschreitend. Hocherfreut nahm dieser die Schrift Mariens entgegen und beide fuhren nun zu dem großen und weitläufigen Justizgebäude. Der Graveur, der ja am vorigen Tage hier gewesen, wußte bereits, welche Wege hier einzuschlagen seien, und nach einigen vergeblich durchmessenen Corridoren, vergeblich an Unterbeamte gestellten Anfragen wurden sie endlich in das Zimmer eines der Untersuchungsrichter geführt, der ihr Anliegen anhörte, das Zeugniß Mariens entgegennahm und es sorgsam durchlas. Er fixirte dann scharf sowohl den Graveur wie Raban, prüfte des letzteren Paßkarte, die Raban zum Glücke in seiner Brusttasche bei sich trug, und sagte endlich:

„Sie sind also bereit, eidlich zu bezeugen, daß diese Erklärung in Ihrer Gegenwart von einer Ihnen persönlich als solche bekannten Marie, Freiin Tholenstein zu Arholt geschrieben und unterschrieben worden ist?“

Auf Raban’s Versicherung, daß er jeden Augenblick dazu bereit sei, begann der Richter den Vorgang zu protokolliren, ließ dann das, was er geschrieben, von Raban unterzeichnen und entließ die beiden Herren mit der Versicherung, daß er Wolfgang Melber’s Freilassung, der nun nichts mehr im Wege stehe, im Laufe der nächsten halben Stunde veranlassen wolle.

Raban wünschte, während sie sich nun entfernten, dem Graveur Glück zu der raschen und ohne Schwierigkeiten gelungenen Befreinng seines Sohnes, der nun von allem Verdacht gereinigt dastand. Er selbst wollte nun zu Marien zurückeilen, um ihr diesen Ausgang zu melden. Heinrich Melber aber bat ihn inständig, noch mit ihm während der halben Stunde zu warten, bis Wolfgang wirklich entlassen werde, damit dieser selbst ihm für den großen Dienst, den er ihm geleistet, danken könne. So schritten sie in der Nähe des Gebäudes, in welchem sich die Gefängnisse und Haftzellen befanden, auf und nieder – bis sie endlich, ehe noch die halbe Stunde verflossen, Wolfgang aus dem Portal hervortreten und ihnen entgegenschreiteu sahen. Er drückte Beiden mit einem erzwungenen Lächeln die Hand – und dankte nach seines Vaters Erzählung, wie Raban sich für ihn gemüht, diesem ohne viel Lebhaftigkeit mit kurzen Worten.

„Das war brav von Ihnen,“ schloß er, „und,“ fügte er mit erzwungener Scherzhaftigkeit hinzu, „Sie können fest und sicher auf meine Gegendienste bauen, falls Sie deren einmal bedürfen sollten. Man muß ja auch so etwas im Leben durchmachen; man ist dann immer um eine Erfahrung reicher. Für die zwei Tage, welche man mir von meiner Arbeitszeit geraubt hat, hätte man mir übrigens billiger Weise eine Entschädigung zahlen müssen! An so etwas aber denken sie da oben nicht. Man muß schon zufrieden sein, daß man nicht noch eine Logisrechnung ausgestellt bekommt, für Zimmer, Bougies etc.“

Raban wurde unangenehm durch diesen erzwungenen Humor nach solch einem Erlebniß berührt – er eilte nun, fortzukommen und ohne weiteren Aufenthalt Marien Bericht zu bringen.

Textdaten
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Autor: Levin Schücking
Titel: Die Herrin von Arholt
aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 36, S. 585–588
Novelle – Teil 10

[585] Als Raban die beiden Melber verlassen hatte und nach eiligem Gange in Mariens Wohnung angelangt war, wurde er in dem Salon von Anna empfangen.

„Das Fräulein läßt Sie bitten, mir zu sagen, wie die Sachen abgelaufen!“ sagte diese aufgeregt.

„Gut - auf’s Beste,“ antwortete Raban, über Mariens Wunsch, seine Nachricht durch Anna zu erhalten, ein wenig erstaunt, „Herr Wolfgang Melber ist der Haft bereits entlassen, ist frei.“

„Es wird das Fräulein sehr freuen dann aber läßt sie Herrn von Mureck recht sehr bitten, erst morgen um Mittag zu ihr zu kommen, um ihr Alles zu erzählen ...“

„Fühlt sie sich kränker?“ fragte Raban erschrocken.

„Nein, nicht das - nur ein dringendes Bedürfniß, mit sich allein zu sein und vieles zu überdenken ...“

„Wie sie befiehlt!“ entgegnete Raban; „so will ich morgen zur Mittagszeit wieder erscheinen.“

Er ging, betroffen und enttäuscht, das Bedürfniß Mariens nach Einsamkeit nicht recht begreifend, da sie doch gespannt die Enthüllungen erwarten mußte, welche Raban ihr noch zu geben hatte: die Aufklärungen des Graveurs, die den Schlüssel zu allen Voraussetzungen im Briefe seines Vaters enthielten, die Mittheilungen über all diese Dinge, welche Marie so unmittelbar, so nahe betrafen.

Was gab es in ihrer Seele, was dies Alles ihr ferner rückte, sie gleichgültiger dagegen machte? Hatte Wolfgang’s Mißgeschick einen solchen Sturm darin erregt? Derselbe mußte nun doch vorüber gegangen sein: er war ja frei – der geliebte Vetter! Oder hatte ein solcher Sturm, wenn sie ihn für sich allein auszukämpfen hatte, einen andern Grund – war es der Gedanke, daß Wolfgang im Stande gewesen, ihr Geschenk fortzugeben, an eine Person, von deren Existenz sie vorher keine Ahnung hatte?

Es war ja auch das möglich!

In der Dämmerungsstunde dieses Tages sah Raban den jungen Bildhauer noch einmal. Dieser kam zu ihm in seine Wohnung, wo Raban eben die ersten Vorbereitungen traf, Wien zu verlassen. Er hatte mit einer gewaltsamen Anstrengung, einer Art Sieg über sich selbst den Entschluß gefaßt, in seine Heimath zurückzukehren. – Es that nicht gut für ihn, wenn er länger in Wien blieb, wenn er fortfuhr Marien zu sehen, oder sich nur in ihrer unmittelbaren Nähe zu fühlen. Verwundert sah er jetzt Wolfgang Melber bei sich eintreten.

„Ich komme,“ sagte dieser, „Ihnen noch einmal für Ihre Bemühung um mich zu danken, gründlicher und lebhafter, als ich es im ersten Augenblick heute gethan habe – ich war da noch ein wenig aus dem Gleichgewicht durch das Erlebte und durch das immerhin sehr angenehme Gefühl, wieder freie Luft zu athmen ...“

„Ich habe,“ versetzte Raban, ihm einen Stuhl hinschiebend, „weder etwas sehr Großes, noch etwas gethan, was nicht jeder Fremde für Jemand, der unschuldig in einen häßlichen Verdacht und in Ihre Lage gekommen, gethan hätte ... “

„Und doch,“ entgegnete Wolfgang sich setzend, die Beine behaglich von sich streckend und eine Cigarre aus dem Etui, das Raban ihm jetzt bot, nehmend und anzündend, „doch danke ich Ihnen besonders dafür, daß Sie nicht nur das Nothwendige thaten, sondern daß Sie es so schnell thaten! Ist Fräulein Marie ernstlich krank?“

„Nicht das – unwohl, angegriffen ...“

„Eine Damenkrankheit also!“ fiel Wolfgang ein; er sprach ungewöhnlich langsam, wie bedächtig heut, und ebenso waren seine Bewegungen – wie gedämpft, wie von einem eigenthümlichen Phlegma niedergehalten, während er sonst doch etwas Unruhiges, Unstätes in seinem Wesen zeigte.

„Eines kann ich Ihnen sagen, Herr von Mureck,“ fuhr er fort, aus seiner Cigarre sparsam die Rauchwolken ziehend und sie energielos, langsam ausstoßend, – „Eines kann ich Ihnen sagen, daß solch eine Haft in einer Verbrecherclause einen ganz wunderlichen Eindruck auf den Menschen macht. Sie kennen die Geschichte von dem Gelehrten, der im tiefsten Schlaf Nachts sich von seinem Diener wecken ließ, um das Bewußtsein vom Wohlgefühl dieses Schlafs und des Wiedereinschlafens zu haben. Es sollte Jeder, der auf freien Füßen umherläuft, einmal etwas Polizeiwidriges, irgend eine gemeinschädliche Dummheit begehen, um sich für einige Tage hinter Schloß und Riegel zu bringen und so zum Bewußtsein zu kommen, welches Glück er mit der Freiheit genießt. Man weiß es sonst wirklich nicht zu schätzen!“

„Ich glaube nicht, daß Sie mit diesem Vorschlag viel Gehör finden, Herr Melber,“ gab Raban lächelnd zur Antwort. „Besser wäre es dann wohl schon, wohlhabende und gesunde Menschen würden zuweilen in einen Zustand von Armuth und Krankheit versetzt, der ihnen neben dem Bewußtsein ihres Glücks das Mitgefühl für die, denen es fehlt, beibrächte!“

„Meinethalben auch das!“ sagte Wolfgang. „Aber solch eine Haft ist auch nach andern Richtungen hin von gar nicht zu verachtenden [586] Folgen und wohlthätigen Wirkungen. Eine wunderbare Schule der Vorsicht, sag’ ich Ihnen, der Gescheutheit . . .“

„Nun ja,“ erwiderte Raban – „man sagt ja, wenn auch ein ‚gescheuter‘ Mensch – das heißt vielleicht: einer, dem man, etwa durch eine Haft, wenn Sie wollen, Scheu beigebracht hat!“

„So ist es: Scheu, in die mancherlei uns rings umlauernden Lebensrisicos zu geraten.“

„Ich habe einmal bei einem Geschichtschreiber die Behauptung gefunden,“ fiel Raban lächelnd ein, „daß alle großen Kraftgenies der Geschichte, alle Weltstürmer, wenn sie einmal gefangen gewesen und in Kerkerhaft gerathen, nachher nur noch eine gebrochene Kraft gewesen. Selbst Franz der Erste, sogar Napoleon . . .“

„Der Mann mag Recht haben – obwohl ich dem kaiserlich königlichen Landgericht nicht gerade nachsagen will, daß es meine Kraft gebrochen habe. Freilich bin ich auch kein Kraftgenie. Es hat mich nur mit einem gewissen sanften Zwange über mancherlei nachdenken gemacht – zu dem man außerhalb jener stillen und stilvollen Harmonie von vier schmutzigen grauen Wänden so leicht nicht kommt.“

„Sie sind ‚gescheut‘ geworden!“ sagte Raban kopfnickend.

„Wenigstens zur Scheu gebracht vor dem flotten Trab, in dem ich mein Leben bisher so dahinschießen ließ. Es ist am Ende eine unsichere Gangart – wenigstens, so lang man nicht eine ganz offene Bahn ohne alle Hindernisse vor sich hat . . .“

„Das heißt? Was verstehen Sie unter dieser Bahn?“

„Das heißt, um kurz zu sein, eine ganz und völlig gesicherte Existenz, wie Unsereins sie nur gewinnt durch eine reiche Frau. Und wenn diese Frau noch dazu ein sanftes nachgiebiges Wesen, eigentlich ein Engel von einem Geschöpf ist und uns obendrein noch aus einer verzweifelten Lage rettet, so – nun, so müßte man doch ein Narr und Pinsel sein, wenn man nicht Gott dankte, sie gefunden zu haben. Sind Sie nicht auch der Meinung?“

„Freilich,“ versetzte Raban zögernd und innerlich heftig bewegt, „freilich bin ich dieser Meinung.“

„Natürlich,“ fuhr Wolfgang fort – „und sehen Sie, deshalb komme ich eigentlich zu Ihnen. Sie werden nun meine Bitte begreifen, dasjenige zu vergessen, was ich Ihnen unlängst von Fräulein Marie gesagt haben mag. Ich weiß nicht genau mehr, welches meine Aeußerungen über Fräulein Marie und über meine Art, ihr gegenüber zu empfinden, waren. Aber was ich auch gesagt haben mag, so hat es heute keine Gültigkeit mehr für mich. Meine Gedanken und meine Vorsätze sind ganz andere geworden – völlig verschieden . . .“

„Sie wollen sich also Fräulein Marie Tholenstein’s, der reichen Erbin von Arholt, Neigung gefallen lassen?“ sagte Raban mit bittrer Betonung.

„So – ungefähr so ist es,“ entgegnete Wolfgang – „und deshalb komme ich zu Ihnen, um es Ihnen mitzutheilen, obwohl ich gar nicht weiß und berechnen kann, wie Ihre Gefühle dabei sind. Aber wie diese auch sein mögen – ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, Herr von Mureck, und daß ich deshalb darauf bauen kann, daß Sie das, was ich zu Ihnen neulich gesprochen habe, vergessen werden; daß Sie nicht meine Aeußerungen, die im Vertrauen geschahen, etwa ausbeuten und benutzen werden, um Mariens Gefühle gegen mich zu erkälten . . .“

„O, darüber können Sie beruhigt sein,“ fiel Raban fast heftig ein – „ich werde Ihre Aeußerungen zwar nicht vergessen, denn unser Gedächtniß steht nicht in unserer Gewalt; aber daß ich nichts thun werde, um die Gefühle von Fräulein Marie zu erkälten, freilich auch ebenso wenig, dieselben für Sie zu erwärmen, davon können Sie sich überzeugt halten.“

Wolfgang sah mit seinem unstäten Blick zu ihm auf und schwieg eine Weile, wie um sich den Ton zu deuten, in welchem Raban geantwortet hatte.

„Nun ja – ich wußte das ja – Sie sind ein Ehrenmann; ich wußte es ja! Ich hätte es vielleicht gar nicht zu berühren gebraucht! Aber Vorsicht ist immer besser!“

Damit erstarb das Gespräch. Wolfgang ging zu anderen Gegenständen über, und da Raban ihm nur kurze und zerstreute Antworten gab, erhob er sich nach einiger Zeit; er wollte, sagte er, jetzt zu seinem Vater gehen und den Abend einmal „en famille“ zubringen. Es schien das ein ungewöhnliches Vorkommniß zu sein!

„Wunderlich,“ sagte, als er sich entfernt hatte, Raban zu sich selbst, „wunderlich, wie Menschen seiner Art, die charakterlosesten Menschen, immer auf’s Festeste auf die Ehrenhaftigkeit Anderer bauen, von dieser Ehrenhaftigkeit alles Mögliche verlangen und auf’s Unbefangenste von ihnen eine Großmuth voraussetzen, zu welcher sie selbst völlig unfähig wären!“

Was er von Wolfgang vernommen, das mußte ihn mit den düstersten Vorahnungen für Mariens Zukunft erfüllen. Wenn diese wirklich, von ihrem bösen Schicksal geleitet, verbunden werden sollte mit einem in seinen Entschlüssen so wankelmüthigen, unzuverlässigen Menschen ohne sittlichen Charakterhalt und am Ende doch auch ohne wahrhaftes, eine tüchtige Entwickelung zu großem Schaffen verbürgendes Talent! Denn das Talent jeder Art, das dichtende wie das Gebilde schaffende, besteht immer aus zwei Elementen: der Gabe, etwas machen zu können, und aus einer idealen, sittlich angelegten Natur.

Und so brütete denn Raban über diesen Charakter, über die Möglichkeit, ob Marie mit ihrer unendlichen Güte, ihrer Reinheit und ihrer Seelengröße, der Höhe ihres Denkens je einen leitenden, veredelnden und läuternden Einfluß auf Wolfgang gewinnen würde? Ob sie dieser modernen Menschenseele je zum Aufschwung in ihre eigenen reineren Aetherlüfte werde verhelfen können? Es war wenig Hoffnung dazu vorhanden. Marie mochte alle Gaben von der Natur empfangen haben – die, zu herrschen, ihrem innersten Wesen Widerstrebendes, Häßliches zu bekämpfen und zu besiegen, war wohl nicht darunter. Sie war nicht das Weib, einem Wolfgang Melber zu imponiren. Das Beste in ihr verstand dieser gar nicht – und würde er es verstehen, so vermochte er es nicht zu schätzen, zumal bei einer Frau, die er so leicht erringen sollte, die ihm halb entgegenzukommen bereit schien. Das war das Verhängnißvolle. Hätte Melber schwer und lange nach ihr zu ringen, große Hemmnisse ihretwegen zu besiegen gehabt, so hätte es vielleicht anders werden können. Das leicht Gewonnene, sich selbst Entgegenbringende schätzt auf die Dauer kein Mann.

„Wie der Menschen Loose seltsam vom Zufall des Begegnens, vom wirren Durcheinander der sich kreuzenden Lebenspfade bestimmt werden!“ sagte Raban sich schwermüthig und eine Centnerlast auf seinem Herzen fühlend. „Die Thiere sind besser berathen als die armen Menschen. Der Vogel gesellt sich nur dem, dessen Gefieder ihm verbürgt, daß er desselben Wesens ist, die Taube nur der Taube, die Nachtigall nur der Nachtigall. Uns sagt kein Gefieder, keine Farbe am Menschen, der uns begegnet, ob er von unserer Art und Natur oder ob ein uns fremdes Geschöpf und Wesen unter seiner Haut steckt.“

Raban beschloß, schon am folgenden Tage, nach seiner letzten Unterredung mit Marie Tholenstein, aus Wien abzureisen. Wien war ihm kein glücklicher Ort gewesen. Kein glücklicher Ort! Einen solchen gab es ja nun für ihn überhaupt und in alle Zukunft nicht mehr!


11.

Als er am folgenden Tage in Mariens Wohnung erschien, führte ihn Anna sofort und mit einem sehr sonnigen Lächeln auf ihrem Gesicht in das Wohnzimmer ihrer Herrin. – Raban sah bei seinem Eintreten gleich auch den Grund dieser erheiterten Miene – als ihm Marie wie verwandelt entgegenkam und ihm herzlich die Hand bot. Sie schien bereits völlig genesen, ihre Augen waren klar und strahlend wie früher, und auch der leise Anhauch von Röthe lag wieder auf ihren Wangen.

„Ich fühle mich gesund und fast ganz im Besitz meiner alten Kraft,“ sagte sie auf Raban’s erfreute Frage, „und wie Sie es sind, der mich krank gemacht, haben auch Sie mir – gestern – die Heilung gebracht! Aber nun setzen Sie sich hier, mir gegenüber, Herr von Mureck, und lassen Sie uns vernünftig und gründlich über Alles reden. Zuerst müssen Sie mir recht ausführlich erklären, was Sie berechtigt zu der Versicherung . . .“

„Daß der Brief meines Vaters, dieser unselige Brief . . .“

„Der vielleicht auch sein sehr, sehr Gutes hatte,“ fiel ihm Marie in’s Wort, mit einem ganz eigenthümlichen Lächeln . . . „aber,“ setzte sie, als Raban darüber verwundert ausschaute, hinzu, „fahren Sie fort.“

Raban setzte sich in den Sessel vor ihrem Ruhebett, auf den sie gedeutet, während sie auf dem letzteren Platz nahm. Er fuhr fort: „Daß der Brief meines Vaters völlig unrichtige Voraussetzungen [587] enthielt und Thatsachen annahm, die niemals geschehen sind; daß niemals ein solcher Betrug, wie er dort angenommen wird, verübt ist – kann ich Ihnen in einer Weise klarlegen, daß nicht der geringste Zweifel mehr übrig bleibt.“

Raban erzählte nun, wie die Noth um Wolfgang’s Verhaftung Herrn Heinrich Melber zu ihm getrieben, wie er, der ja durch eine zufällige Aeußerung der Tante Stiftsdame von den Münzen Martens gehört, sofort eingesehen, daß er im Stande sei, Wolfgang zu Hülfe zu kommen, daß er aber auch rasch entschlossen gewesen sei, die Situation zu benutzen, um von dem einzig competenten Zeugen die Wahrheit zu erfahren. Und dann berichtete Raban Alles, was Heinrich Melber über seinen Bruder und dessen Gedanken, dessen unreif gebliebene und bald wieder fallen gelassene Vorsätze erzählt hatte – genau und ausführlich, wenn er sich auch sagen mußte, daß er dabei in Marien schmerzliche Empfindungen wach rufe, da es sich doch immer um sittliche Verirrungen des Mannes, der ihr Vater war, handelte. Aber wenn Raban auch da nicht ganz schonen konnte, wo es galt, Marien die nöthige völlige Klarheit zu geben, so bestrebte er sich doch, die Sache im mildesten Lichte darzustellen.

Marie hörte ihm still zu, ohne ihn zu unterbrechen; als er schwieg, stand sie mit einem Seufzer auf und ging einige Male wie innerlich tief bewegt im Zimmer auf und ab – dann sich plötzlich wendend, legte sie die Hand auf seine Schulter, um nun über diese unwillkürliche Bewegung sogleich auch dunkel erröthend sich rasch wieder auf ihren Sitz niederzulassen und zu sagen:

„Ich danke Ihnen aus Herzensgrund für dies Alles, was Sie für mich gethan, und ich kann nicht anders, ich muß nun auch zu Ihnen reden, wie es mir heute um’s Herz ist – ich muß auch Ihnen eine Erklärung geben – über unsinnige Worte, die ich in einer Stunde, in welcher ich mich selbst nicht kannte, zu Ihnen gesprochen habe – ich erklärte Ihnen, ich dürfe Sie nicht anhören, als Sie mir sagten, daß . . . daß Sie mir gut seien, Raban, – und doch – mein Gott, weshalb hätte ich es nicht gedurft!“

„Marie!“ rief Raban tief erschüttert und mit einer Bewegung aus, als ob er ihre Hand ergreifen wolle . . .

„Still, still,“ sagte sie, „Sie dürfen mich jetzt durch kein einziges Wort erschrecken, – Sie müssen ganz still und ruhig mich zu Ende hören. Sehen Sie, damals, als ich es sagte, war ich in einer seltsamen Selbsttäuschung befangen – ich weiß nicht, ob andere Mädchen, Frauen sich so über sich selbst und ihre Gefühle täuschen könnten – aber ich habe es gethan, es ist so. Als ich meinen Vetter Wolfgang kennen lernte, da flößte er mir, weil er ja mein Blutsverwandter ist, ganz natürlich lebhaftes Interesse ein. Und dann imponirte mir sein ganzes, sich von den Lebensformen, in denen Unsereins sich bewegt, befreiendes Wesen, das mir als der Ausdruck einer freien Künstlerseele erschien; und endlich bewunderte ich sein großes schaffendes Talent, die bildende Kraft seiner Phantasie. Das fesselte mich, ließ meine Gedanken sich mit ihm beschäftigen, und das bald um so mehr, als ich bemerken und erfahren mußte, daß er ein ziemlich wildes Leben führte und mit nicht immer sehr verständigen Genossen dem Vergnügen nachjagte. Ich sorgte mich dabei um ihn, ich fürchtete, daß er sein Talent auf diese Art zu Grunde richten würde, ich ermahnte ihn, ich hatte ein Gefühl wie das einer für ihn verantwortlichen Schwester, es kam mir der Gedanke, als müßte ich, um ihn sicher einer großen und schönen Zukunft zuzuführen, sein Weib werden, ihn behüten, leiten, beherrschen.

Das, was ich für ihn empfand, wenn ich mir vorstellte, wie nahe ihm die Gefahr eines völligen Unterganges liege, eine Gefahr, die ich wohl mit den vergrößernden Augen eines unerfahrenen jungen Mädchens sah – dies Gefühl hielt ich für Liebe. Ich war so thöricht bis zu dem Augenblick, wo Ihre Enthüllungen mich trafen und wo die Nothwendigkeit an mich herantrat, auf mein ganzes Erbe zu seinen Gunsten zu verzichten. Der Gedanke daran brachte mir Offenbarungen über mich selber, brachte mir eine Erkenntniß, die in meiner Seele den Sturm hervorrief, welcher mich, wie Sie ja selbst sahen, völlig krank machte . . . Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was Alles in mir war und mir das ganze Herz umkehrte. Es widerstrebte mir zunächst auf’s Aeußerste, mich selbst blutarm zu machen, um alles, was ich als mein Erbe betrachtet hatte, Wolfgang zu überlassen! Ich gönnte ihm zur Ausbeutung für ein wildes Leben nicht das, was ich als mein betrachtet, und was ich für meine Armen bedurfte. Selbst arm zu werden, war mir ein schrecklicher Gedanke! Und war das nicht eine Offenbarung? Wenn ich ihn geliebt hätte, würde ich nicht mit Freuden Alles, was mein, ihm dahingegeben haben? Würde es mich nicht mit Jubel erfüllt haben, ihn für alle Zeit reich und mächtig machen zu können?

Und auf der andern Seite wieder hatte ich ein Gefühl der inneren Befreiung: wenn ich nun wirklich alle meine Rechte, meine ganze Hoffnung auf ein Leben, in welchem ich Gutes thun, Hülfe gewähren, Anderen beistehen kann, dahingab und Wolfgang, wie ich ja doch mußte, opferte, wenn ich Alles bedingungslos dahingab, hatte ich dann nicht vollauf genug für ihn gethan? Konnte ich dann nicht mit freiem Gewissen ihn sich selbst überlassen und mich damit begnügen, ihm, für den nun so reich gesorgt war, aus der Ferne nachzuschauen, wie er sein Leben nun zu führen und zu gestalten verstehe? Gewiß, ich durfte es und es lag für mich ein glückbringendes Gefühl, das mich wieder für Alles trösten wollte, in dieser Empfindung persönlicher Befreiung. Dabei blieb freilich ein dumpfer, mit Aufwallung tiefer Verzweiflung wechselnder Schmerz in mir – daß Menschen so schlecht sein können, wie es Ihr Vater von dem Manne annahm, der doch immer von mir als mein Vater betrachtet worden, und an dem ich im Stillen doch immer gehangen hatte, bei dem so oft meine Gedanken gewesen waren; und daß ich nun so völlig losgelöst mich fühlen sollte von der lieben alten Großmutter daheim, die mit so viel rührender Zärtlichkeit an mir gehangen, die meine Kindheit behütet, der ich Alles, Alles verdanke – o mein Gott, ich kann Ihnen nicht Alles sagen, nicht Alles deutlich machen, was mir durchs Herz ging und was mich krank machte! Ich brauche es Ihnen ja auch nicht zu sagen, es ist ja genug, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich im Sturm der Tage, die hinter mir liegen, vollständig eingesehen habe: es war eine große, wenn Sie wollen, mädchenhafte Selbsttäuschung, wenn ich glaubte, ich liebe Wolfgang. Ja, die thörichte Einbildung eines unerfahrenen jungen Mädchens. Ich liebe ihn gar nicht – jetzt, wo ich hören mußte, daß er etwas, was ich ihm geschenkt ... doch genug, genug – ich fühle nicht einmal mehr wie eine Schwester für ihn!“

Raban hatte dem Allen in äußerster Spannung zugehorcht; fast athemlos hatte er sie angeblickt, nur mit seinen Blicken ihre Reden beantwortet – jetzt ließ er sich, übermannt von all dieser Güte, mit der sie ihm ihr ganzes Herz erschlossen, auf die Knie vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und sagte leise:

„O mein Gott, wie ich Sie verstehe, Marie! Die Empfindung, in welcher Ihnen am stärksten Ihr Wesen bewußt wird: das Mitleid mit einer gefährdeten, vom Untergang bedrohten Menschenseele, das Mitleid mit einem Menschen, der Ihnen so nahe stehen müßte – dies Mitleid in seiner Unbegrenztheit wurde von Ihnen für die Kundgebung eines andern Gefühls gehalten, das es nicht war, nicht sein durfte . . .“

„Das es nicht war,“ versetzte sie, ihm ernst und sinnend in’s Auge schauend, aber ihn ruhig in seiner Stellung zu ihren Füßen lassend, „und daß es das nicht war, fühlte ich ja schon, als Sie mich so erschreckten mit der Erwiderung, daß Sie nicht gebunden, nicht verlobt seien ... es war mir so schrecklich, nun auf die Freundschaft verzichten zu sollen, in der ich allmählich so viel Glück gefunden, die mir mit ihrem unbefangenen Vertrauen schon so unentbehrlich geworden . . .“

„Aber weshalb sollte denn dies unbefangene Vertrauen dadurch ein Ende gefunden haben?“

„Das begreifen Sie nicht? So lange Sie einer Andern gehörten . . . mein Gott, verstehen Sie denn nicht, wie nun Alles anders für mich werden mußte, wie die Unbefangenheit und Vertraulichkeit, in welcher ein Mädchen mit einem Manne verkehrt, dessen Herz einer Andern gehört, die Zuversichtlichkeit und Sicherheit, womit sie seiner Freundschaft vertraut, wie Alles das dahin sein mußte . . . War es mir doch schon ein Seelenbedürfniß geworden, so rückhaltlos, wie ich es gethan, mit Ihnen zu verkehren. Mit dem Gedanken, Ihnen nun kühl und fremd gegenüber treten zu müssen, kam mir das Gefühl eines bitteren Verlustes . . .“

„Aber jetzt, Marie, jetzt haben Sie das Gefühl eines Verlustes nicht mehr?“ fiel Raban halb flehend, halb mit dem Tone aufjubelnden Glückes ein. „Denn, bei Gott, ich gehöre zu Ihnen, mögen Sie mich auch als Fremden betrachten, mein Leben gehört Ihnen, auf immer und ewig – in welchem Zeichen, mit welchem Namen auch, mit dem eines Freundes, eines Bruders . . .“

[588] Sie schüttelte den Kopf und legte zärtlich die Hand auf seine Schulter. Leidenschaftlich fuhr er fort:

„Denn Sie sind eine Heilige, Marie, um deren Hand zu werben Niemand würdig ist, und wenn mein Herz auch ganz und für ewig Ihnen dahingegeben ist, und ich seine Gluth nicht auslöschen kann, so verlange ich für mich kein Glück, wenn Sie nur desselben voll theilhaftig werden . . .“

„Ich bin nicht so heilig, wie Sie denken,“ unterbrach sie ihn lächelnd. „Ich weiß recht gut, daß Sie ja doch mit einem solchen Glücke nicht zufrieden sein würden. Und glauben Sie, unter Dem, was ich in den durchkämpften schrecklichen Stunden empfand, sei nicht auch der Schmerz um die tiefe Seelenwunde gewesen, die ich Ihnen habe schlagen müssen – nein, nicht müssen, sondern die ich in meiner Selbsttäuschung, aus einem verkehrten und ganz verwirrten Pflichtgefühl gegen Wolfgang Ihnen zufügen konnte? Glauben Sie mir, auch durch den Gedanken an Sie – und dieser Gedanke wurde ja bald der herrschende, der ausschließliche – habe ich schwer gelitten, daß, wenn ich nun ein ganz armes namenloses Geschöpf sei, wir für ewig getrennt und uns fremd werden würden . . .“

„O, das würden wir nie – niemals geworden sein,“ rief in seinem Jubelsturm, ihre beiden Hände ergreifend, Raban aus.

„Sie sind gut, so gut, Raban,“ sagte sie, sich zärtlich zu ihm niederbeugend – „und bin ich auch lange nicht so edel, wie Sie denken, so glaube ich doch, daß . . . daß der Himmel uns für einander bestimmt hat . . .“

Ihre Stimme wurde von Thränen erstickt. So legte sie, leise das Haupt senkend, ihre Stirn auf seinen Scheitel.


Raban hatte, wie er es ja vorausgesehen, einige Schwierigkeit, seinen Vater wegen seiner Verbindung mit Marie Tholenstein zu versöhnen; der alte Herr drückte sich, auch nachdem ihm seine Zweifel über Mariens Geburtsrechte gehoben worden, anfangs sehr ironisch über Raban’s Vorhaben, ihm solch eine heilige Elisabeth – ebenfalls aus Ungarn wie die richtige – in’s Haus zu führen, aus, fand dann aber schließlich nur noch eine wunderliche Ironie des Schicksals darin, daß er nun doch just die Erbin von Arholt zur Schwiegertochter erhalte, vor der er so sorglich jahrelang seinen Sohn in Sicherheit zu bringen gesucht.

Wie Wolfgang Melber die Verlobung eigentlich aufnahm, erfuhr man nicht; Marie hatte sie ihrem Vetter und dessen Eltern brieflich mitgetheilt, erhielt aber nur einen kurzen schriftlichen Glückwunsch von Herrn Heinrich Melber zur Antwort. Daß dieser vorher mit seinem Sohne eine stürmische Scene gehabt, worin Wolfgang seinen Zorn über Raban ausgetobt, weil dieser trotz seines Versprechens ihn schmählich verrathen und bei Marie verleumdet habe, worin er gedroht, Raban fordern und erschießen zu wollen, erfuhr weder dieser noch Marie. In der That hatte Wolfgang sich von seinem Vater beruhigen lassen und den Gedanken an eine Forderung bei kälterem Blute selbst unbehaglich gefunden. Aber um seinen empörten Gefühlen wenigstens in irgend einer Weise Luft zu schaffen, hatte er am andern Morgen das ganze Thonmodell der Gruppe, zu welcher Marie Tholenstein ihm gesessen, in Stücke zerschlagen – und am zweiten Tage hatte er in nicht ganz consequenter Weise die Arbeit an der Büste Mariens so fördern lassen, daß sie baldmöglichst an Raban abgegeben werden konnte – mit dem dafür erhaltenen Gelde reiste er in der nächsten Woche nach Italien.


  1. Anticaglien, kleine Alterthümer, z. B. Münzen, Waffen, Schmuck aus der Vorzeit.