Ein Brief über die „Clavierseuche“

Textdaten
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Autor: Eduard Hanslick
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Titel: Ein Brief über die „Clavierseuche“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 572–575
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Wiederabdruck in: Eduard Hanslick, Suite – Aufsätze über Musik und Musiker (1884), S. 163–178
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Ein Brief über die „Clavierseuche“.

Von Eduard Hanslick.

 Geehrte Redaction!

Sie wünschen meine Ansicht über jene unbarmherzige moderne Stadtplage zu hören, die es heute glücklich bis zu der ehrenvollen Bezeichnung „Clavierseuche“ gebracht hat. Um Sie nicht etwa in Ihren Erwartungen zu täuschen, erkläre ich vor Allem feierlichst, daß ich dieser Epidemie gegenüber nur Patient bin und nicht Arzt; höchstens ein Doctorand jener Classe, welche, unfehlbar im Erkennen der Krankheit, doch kein Mittel weiß, sie zu heilen. Ja noch mehr: ich halte die herrschende Seuche für unheilbar und glaube, daß wir nur mittelbar, auf weiten ästhetischen und pädagogischen Umwegen dahin gelangen können, ihren verheerenden Fortgang allmählich einzudämmen.

Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lectüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fräulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. In diesem psychologischen Zwang, dem verwünschten Clavierspiel mehr oder minder aufmerksam zu folgen, liegt wohl hauptsächlich die quälende Specialität gerade dieses Geräusches.

Die eben erschienenen Briefe von Berthold Auerbach enthalten hierüber noch eine andere, sehr feine Bemerkung. Auerbach klagt aus seinem Sommeraufenthalt Gernsbach, daß allerlei unruhige Nachbarschaft ihn in der Arbeit wie im Schlafe störe, und fügt bei: „Das Rauschen der Murg und auch des Sturmes (wie heute Nacht) ertrage ich leichter, als das Geräusch, von Menschen erregt. Warum? Unsere Nerven haben auch Verstand. Was wir hindern könnten, ertragen wir schwerer, als das Unabänderliche in der Natur draußen.“

Was wir hindern könnten? Ja, wenn wir das Recht und die Macht besäßen, es zu hindern! Aber darin liegt es eben, daß wir gegen den Tasten-Vampyr nebenan dieses Recht, diese Macht nicht haben, niemals haben können. Er ist, so gut wie wir, Herr im eigenen Hause, Herr am eigenen Clavier. Wann er da spielen darf, wie oft, wie stark, wie gut oder schlecht, das entzieht sich der gesetzlichen Einmischung, und die Polizeigewalt wird uns höchstens jenseit der Grenzlinie schützen können, wo das öffentliche Aergerniß, der Skandal beginnt.

Es sind mir im Moment nur zwei Arten erinnerlich von behördlichem Einschreiten gegen die Belästigung durch Clavierspiel. Die Pariser Polizei hat einzelne Beschwerden dahin entschieden, daß ohne Erlaubniß der Nachbarn nicht vor sieben Uhr früh und nach elf Uhr Nachts musicirt werden darf. Aehnliche Beschränkungen bestehen in manchen deutschen Städten, mehr noch durch Gewohnheitsrecht als gesetzlich. Dadurch ist aber blos unsere Nachtruhe geschützt, nicht die uns gleich wichtige Arbeitsruhe bei Tage. Nur „den heiligen Schlaf zu morden“, wie Macbeth so schön sagt, verwehrt das Gesetz den pianisirenden Unholden, – verwehrt es „im Princip“, denn eine wirklich strenge Handhabung würde alle Hausbälle, alle Privat-Abendconcerte u. dergl. unmöglich machen.

Eine zweite polizeiliche Fürsorge besteht, den Zeitungen zufolge, jetzt in Weimar, wo es gegen zwei Mark Strafe verboten ist, bei offenen Fenstern zu musiciren. Es ist dies eine wohlthätige Verordnung, – beschämend nur durch den Gedanken, daß eine Obrigkeit erst befehlen mußte, was das eigene Anstandsgefühl einem Jeden von selbst dictiren sollte.

Auf diesem Gebiet musikalischer Attentate darf ich mich der schmerzlichsten Erfahrungen rühmen. Es war eine angeblich „ruhige“, etwas enge Gasse, in welcher ich vor einigen Jahren das Glück hatte, ein „clavierfreies“ Haus zu bewohnen. Aber mir gegenüber stürmten aus drei Stockwerken alle bösen Geister zu den stets offenen Fenstern heraus. Während im ersten Stock mehrere musikalische Schwestern von schwachem Gehör und stets verstimmtem Clavier Beethoven, Strauß, Offenbach und Chopin bunt durch einander schüttelten, blutete über ihnen ein junges Opfer musikalischer Dressur stundenlang unter Tonleitern und Uebungen. Am frühesten begann die Sopran-Dame im dritten Stock ihr Tagewerk mit italienischen Arien aus „Lucia“ und der „Nachtwandlerin“. Es schien ihr Appetit zum Frühstück zu machen, wir Anderen verdienten keine Rücksicht und Donizetti war ja längst todt. So ging es des Morgens. Der Abend pflegte im anstoßenden Hause durch vierhändiges Abschlachten altersschwacher Ouvertüren gefeiert zu werden, und wenn gerade Vollmond war, so stöhnte überdies eine Physharmonika ihren Weltschmerz in das liebliche Ensemble. Und niemals, gar niemals kam diesen kunstsinnigen Gemüthern der Gedanke, es könnten ihre musikalischen Orgien uns wehrlose Leute in der Nachbarschaft belästigen. Liegt nicht in diesem rücksichtslosen Musiciren bei offenem Fenster auch eine Barbarei, ähnlich jener der Drehorgelmänner, die sich vor unsere Wohnung postiren? Musikalisches Faustrecht – oben oder unten. Die Weimarische Polizei-Verordnung schützt wenigstens das vis-à-vis des musikalischen Ungeheuers, indem sie diesem die Fenster verschließt. Den Nachbar vermag sie nicht zu retten, welcher durch die dünnen Wände Alles und Jedes mit anhören muß.

In Oesterreich giebt es meines Wissens keinerlei gesetzliche Verordnung gegen nachbarliche Clavierinsulten, soweit diese nicht in das Gebiet des „öffentlichen Aergernisses“ überspringen. Vereinzelte Beschwerden, von denen ich erfuhr, wurden von der Behörde mit dem Bemerken abgewiesen, es bleibe dem Kläger kein anderes Mittel, als die Wohnung zu wechseln. Nun ereignete es sich, daß zur selben Zeit zufällig zwei ganz andere Beschwerden mit glücklicherem Erfolg bis vor Gericht kamen, Beschwerden, die im Zusammenhang mit unserem Thema sehr charakteristisch sind. Die Mutter einiger sittsamer Töchter führte Klage gegen einen ihr gegenüber wohnenden Schneidermeister, weil dessen Gesellen zur Sommerszeit in allerliberalstem Negligé bei offenen Fenstern arbeiteten. Der Klage wurde stattgegeben und den im Gladiatorencostüm befindlichen Schneidergesellen befohlen, ihre Fenster oder sich selbst zu verhängen. Ebenso erfolgreich verlief der zweite Fall: die Beschwerde mehrerer Miethsparteien gegen einen Seifensieder, dessen Laboratorium die Gasse verpestete; – er zog den Kürzeren und mußte das Feld räumen. Man sieht aus diesen zwei Beispielen, wie ganz anders das Auge und die Nase geschützt werden gegen verletzende Nervenreize, als das Ohr, dieser empfindlichste und wehrloseste der Sinne. Juristisch ist das freilich unanfechtbar. Eine Gesetzgebung, die es unternehmen wollte, uns vor dem Clavierspiel der Nachbarn zu schützen, müßte die Musik überhaupt verbieten. Denn im Wesen der Musik liegt es ja, daß man ihr nicht entfliehen kann, daß man sie hören muß, man wolle oder nicht, daß sie mit Einem Wort (es rührt von Kant her) eine „zudringliche Kunst“ ist.

Könnte und wollte man übrigens einige tausend Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben, den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Geklagter, Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; denn gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend. Wir fangen selber an, wann der Andere aufhört, und so dreht sich die Klage in ewigem Kreise. Wie man sieht, vermag die Händ des Gesetzes hier nichts auszurichten, oder doch nur ein verschwindend Geringes. Auch wir, die Partei der Defensive, besitzen wenig schützende Mittel; dicke Wände und Geduld sind vielleicht die einzigen.

Viel mehr vermag schon die gegnerische, die offensive Partei für uns zu thun, wenn sie humane Bildung und einiges Mitgefühl mit dem Nebenmenschen besitzt, – heißt es doch, daß Musik die [574] Sitten mildere und die Herzen veredele. Ueberdies ist anzunehmen, daß die Technik des Instrumentenbaues, die so riesige Fortschritte in der Verstärkung des Tones aufweist, auch noch Fortschritte in der beliebigen Abschwächung desselben machen kann und wird. Die erste Erfindung dieser Art ist mir 1862 in der Londoner Weltausstellung aufgefallen: eine gewöhnliche Militärtrommel, „Practice silent drum“ (stille Uebungstrommel) genannt, welche mittelst beliebiger Abspannung des Felles es ermöglichte, daß ein halb Dutzend Tambours sich in ihrer Kunst üben konnten, ohne die Nachbarschaft im Mindesten zu belästigen. Dieselbe Idee, auf das Clavier übertragen, tritt mir so eben in einer Annonce des Hamburger Pianofortefabrikanten E. Dührkopp entgegen; sein neu erfundener „Ton-Moderateur“ setzt den Spieler in den Stand, den Ton jedes Claviers beliebig abzudämpfen, „auf Wunsch bis zur Tonlosigkeit“. Ich weiß nicht, ob die neue Erfindung, die mir nicht zu Gesicht gekommen, ihren Zweck erreicht; die Idee selbst ist gut und ermöglicht wenigstens einen Schritt zum Besseren: daß man leise spielen kann.

Wer aber darf dem Nachbar befehlen, daß er leise spielen muß? Wer zwingt uns zum „Ton-Moderateur“? Die Macht eines Regiments-Commandanten, welcher seinen Tambours die „stille Uebungstrommel“ umhängt, sie erstreckt sich nicht über unsere claviertrommelnden Civilisten.

Die Klage über Belästigung durch nachbarlichen Clavierlärm ist keineswegs so alt, wie das Clavier selbst. Dieses war zur Zeit Haydn’s und Mozart’s ein schwächlicher, dünner Kasten mit zartem Ton, kaum bis in’s Vorzimmer hörbar. Die Klage entstand erst nach und nach mit dem immer stärker werdenden Ton und größeren Umfang des Pianofortes; sie ist zum Wehgeschrei, die Belästigung zur Landplage geworden seit den 30 bis 40 Jahren, da alles Streben der Clavierfabrikanten dahin zielte und noch immer dahin zielt, die Schallkraft dieses Instruments zu verstärken. Vor 100 Jahren war das Clavier nicht viel mehr als ein vergrößertes Hackbret (Cymbel), heute ist es ein verkleinertes Orchester. Der Klangfülle und schleudernden Kraft der heutigen Pianoforte entspricht der gewaltige Umfang und das durch die starke Eisen- und Metallarmatur bedingte colossale Gewicht derselben. Wie anders vor hundert Jahren! Der berühmte Wiener Clavierfabrikant J. B. Streicher hat mir oft erzählt, daß sein Großvater mütterlicherseits, Andreas Stein, als junger Mann sein Clavier oft stundenweit unter dem Arme getragen, wenn er in den benachbarten Ortschaften Sonntags zum Tanz aufspielen sollte. Und von Georg Benda, dem einst hochbeliebten Gothaer Operncomponisten, weiß man, daß er einmal spät Abends eigenhändig sein Clavier über die Straße trug, um seinem bereits zu Bette liegenden Textdichter eine eben componirte Arie in unabgekühlter Begeisterung vorzuspielen. Damals gab es Claviere genug, aber noch keine „Clavierseuche“. Erst in unseren Tagen gewann dieses Instrument offensive Kraft und leider auch offensiven Charakter. Mit dieser Qualität steigert sich auch fortwährend die Quantität der Clavierfabrikation; kaum giebt es in den Großstädten ein Haus, in welchem nicht ein bis zwei Pianos, auch mehr, zu finden wären.

Nothgedrungen sind wir bei dem wenig tröstlichen Resultate angelangt, daß die „Clavierseuche“ durch äußere Maßregeln nicht zu heilen oder zu vertreiben ist, daß wir vielmehr gut thun, sie wie manches andere unabwendbare Uebel unserer Civilisation mit möglichster Resignation zu tragen.

Nur mittelbar, so bemerkte ich gleich Eingangs, wird eine allmähliche Besserung dieser Zustände sich anbahnen lassen, nur mittelbar und auf weitem Umwege. Er besteht darin, daß wir in den heranwachsenden Generationen weniger Clavierspieler aufkommen lassen. Diejenigen, die heute bereits Clavier spielen – worunter wohl fünfzig Stümper auf Einen Künstler kommen – vermögen wir am Ausüben ihrer Fertigkeit nicht zu hindern; wir können aber – Jeder in seinem Kreise – dahin wirken, daß künftig nicht mehr so Viele Clavier spielen lernen. Nur dann wird weniger und wird besser gespielt werden. Es ist dies, meine ich, eine wichtige Angelegenheit, von einer weit über das Musikalische hinausreichenden Tragweite. Daß der Cultus der Musik, insbesondere des Clavierspiels, heutzutage übertrieben wird, auf Kosten höherer und dringenderer Interessen, gehört zu den nicht mehr bestrittenen Wahrheiten. Der pädagogische Werth des Musikunterrichts, den ich gewiß nicht verkenne, wird heute ohne Frage überschätzt und einseitig im Technischen gesucht. Jedes Kind zum Clavierlernen zu zwingen, es stundenlang an’s Piano zu schmieden, gleichviel ob es Lust und Talent dazu hat, ist ein Unsinn, eine Versündigung. Der unverhältnißmäßige Zeitaufwand, den unsere Jugend dem Clavierspiele opfert, wird zum Raube an der ernsteren wissenschaftlichen Ausbildung.

Wir sehen den Unterricht im Zeichnen auffallend vernachlässigt gegen das Musiciren, und in diesem wieder den Gesang vernachlässigt durch das Alles verdrängende Clavierspiel. Was Jeder lernen und können soll, ist: in einem Chor mitzusingen. Wie spärlich wird gerade dafür bei uns gesorgt![1] Ein hochgeachteter französischer Autor, Mr. de Laprade, macht in einer gegen das Ueberwuchern der Musik in Frankreich gerichteten Schrift unter Anderem folgende gute Bemerkung: „Die Opfer des Claviers sind nicht blos die Zuhörer der klimpernden Schüler, sondern diese Schüler selbst, vor Allem die zahllosen jungen Mädchen, welche ihre Nerven abnützen und so viel kostbare Zeit verlieren, um doch so selten gute Pianistinnen zu werden.“ Wie schön, wie werthvoll ist es, eine gute Pianistin in der Familie zu besitzen! Aber dieser glückliche Phönix findet sich äußerst selten. Möchte doch die Statistik folgende Aufgabe lösen: wie viele Millionen Stunden werden jetzt auf das Clavierspiel verwendet und wie viele Stunden wahrer, genußreicher Musik bringen sie zuwege? In der That, diese Menge dem Clavier gewidmeter Stunden sollte nur durch eine entschiedene, gebieterische Begabung gerechtfertigt werden.

Ist das Ueberhandnehmen des dilettantischen Clavierspiels, das obligate Zwangspiano in den Familien zu beklagen, so zeigt sich heute noch bedenklicher die maßlose, anschwellende Concurrenz der Pianisten von Fach, welche als Virtuosen oder als Lehrer das Clavierspiel zu ihrem Lebensberufe erwählen. Davon sollte allerorten so dringend als möglich abgemahnt werden. In erster Linie, glaube ich, wären die Conservatorien verpflichtet, dem Andrange von Clavierschülern entgegenzuwirken, aber gerade sie befördern im Gegentheil die massenhafte Drillung von Pianisten und dadurch das Anwachsen eines bedauernswerten musikalischen Proletariats. Die Musikconservatorien haben den Beruf, für die Ausbildung und den Nachwuchs von Orchestermusikern zu sorgen. Ehedem hielten sie auch fest an dieser Tendenz, gönnten dem Clavierspiele höchstens eine untergeordnete Stelle und überließen es in der Regel dem Privatunterrichte. Heute droht dieses Verhältniß sich umzukehren; die Zahl der Clavierschüler übersteigt in den meisten Conservatorien die der Geiger oder Bläser. Greifen wir die nächstbesten Jahresberichte des Wiener Conservatoriums heraus. Dasselbe war im Schuljahre 1875 besucht von 316 Clavierzöglingen, worunter 254 Mädchen; im Jahre 1876 von 448 Clavierschülern, worunter über 300 Mädchen; im Jahre 1880 hatte es an 400 zahlende Clavierschüler, davon 350 Mädchen! Als Beweis, daß dies nicht etwa so sein muß, oder allerwärts so ist, führe ich das Pariser Conservatorium an, das seine Aufgabe richtiger auffaßt. Im Jahre 1876 hatten sich daselbst 32 männliche und 160 weibliche Aspiranten zur Aufnahme in die Clavierclassen gemeldet; von Ersteren wurden nur sechs, von Letzteren nur elf angenommen. Im folgenden Jahre 1877 betrug die Zahl der für die Clavierclasse concurrirenden Herren 47, die der Damen 177; es fanden von jenen nur sieben, von diesen nur vierzehn die gewünschte Aufnahme. Das Pariser Conservatorium nimmt also in der Regel von hundert sich bewerbenden Pianisten kaum zehn auf; nur die allertalentvollsten, deren hervorragende Befähigung doch einige Gewähr leistet für ihre künstlerische Carrière. Das ist der richtige Standpunkt. Der absolvirte Geiger oder Bläser findet leicht sein festes Unterkommen bei einem der zahlreichen Theater-, Concert- oder Ballorchester; für den Pianisten existiren dergleichen sichere Asyle nicht. In Wien hat nach je drei bis vier Jahren stets ein neuer Schwarm [575] junger Pianisten und Pianistinnen mit guten Zeugnissen das Conservatorium verlassen; er überschwemmt zuerst erfolglos concertirend die kleinen Städte und Bade-Orte, um sich dann kümmerlich mit Lectionen fortzufristen.

Dem Leser wird bei obigen Zahlengruppen das unverhältnißmäßige Uebergewicht der weiblichen Pianisten aufgefallen sein. Ein schlimmes gesellschaftliches Symptom! In der That gebührt den Clavierspielerinnen eine eigene Strophe, und nicht die heiterste, in unserem heutigen Klageliede. Seit Jahren als ständiger Musikreferent an der Wiener „Neuen freien Presse“ thätig, kann ich in langem Rückblicke das stetige Anwachsen der weiblichen Concertgeber messen. Es geht mit der Claviervirtuosität in Deutschland jetzt ungefähr so, wie in England mit der Romanschriftstellerei – beide sind fast gänzlich in den Händen der Damen. Wenn wir englische Buchhändleranzeigen durchsehen, so kommt etwa auf ein Dutzend Romane von weiblichen Autoren einer von männlicher Herkunft; eine Heerschau über unsere Concertzettel ergiebt ungefähr dasselbe Verhältniß zwischen Pianisten und Pianistinnen. Ja, in mancher Saison verschwinden bereits die Claviervirtuosen völlig gegen die Uebermacht ihrer „tastenden“ Schwestern. Daß die jetzt überall etablirte Fräuleinherrschaft auf dem Clavier weder dem Fräulein noch dem Clavier zu großem Vortheil ausschlägt, wird jeder Kundige zugeben. Die Analogie mit den Romanschriftstellerinnen hört auch bezüglich der Qualität nicht ganz auf: wir haben viele tüchtige Pianistinnen, einige vorzügliche, nur hier und da erreicht einmal eine die Höhe ausgebildeter männlicher Kunst. Dies bleibt eine Ausnahme, welche die Regel nur bestätigt, die Regel, daß die Frauen durch ihre zartere physische wie geistige Organisation auf ein engeres Kunstgebiet, meistens das der Klein- und Feinmalerei beschränkt bleiben und selbst in ihrer glänzendsten Repräsentation ein Letztes, Entscheidendes in der Kunst vermissen lassen. Von den praktischen, socialen Nachtheilen des überhandnehmenden Virtuosenthums junger Damen möchte ich am liebsten ganz schweigen. Wer fühlt nicht das innigste Mitleid mit all diesen jungen Mädchen, die das Pianospielen zum Lebenszwecke erwählen und auf das bischen Virtuosität eine Existenz gründen wollen! Nur zu sicher kommt die Reue darüber, so unendlich viel Fleiß und Mühe auf eine Kunstfertigkeit verwendet zu haben, die als öffentliche Production sich nicht mehr lohnt, die ja kaum noch interessirt.

Vor Kurzem sprach Dr. Otto Gumprecht in Berlin in gleichem Sinne sehr eindringliche Worte, die gerade für den Leserkreis der „Gartenlaube“ nicht verloren gehen sollen.

„Der massenhafte Andrang des weiblichen Geschlechts zum Virtuosenthum,“ schreibt Gumprecht, „ist eine böse Krankheitserscheinung der Zeit. Alle Väter und Mütter sollten sich zwei- oder dreimal besinnen, bevor sie den höchst verantwortlichen Entschluß fassen, ihre Töchter zu Künstlerinnen oder auch nur zu Musiklehrerinnen zu erziehen. Die Frage, von deren Beantwortung hier Alles abhängt, die nach dem Talent, kommt dabei gewöhnlich gar nicht in Betracht. Köchinnen, Näherinnen, Verkäuferinnen sind ungleich nützlichere und fröhlichere Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, als jene bedauernswerten Geschöpfe, die ohne jeden inneren Beruf zu Pianistinnen gedrillt werden, um ihr Lebenlang nur sich und Anderen zur Last zu sein. Gerade das Clavier leistet mit seinen von Haus aus fertigen, von aller Unreinheit bewahrten Tönen der leidigen musikalischen Massendressur den verhängnißvollsten Vorschub. Genug des Unfugs wird auf den Tasten jahraus jahrein in den Familien und in den Salons getrieben. Zu verhindern, daß er sich nicht auch in der Oeffentlichkeit breitmache, ist eine gebieterische Pflicht der Tageskritik. Die Sache hat wirklich ihre sehr ernste Seite. Wie viel Zeit und Kraft wird nicht fort und fort an den Erwerb der danklosesten, unfruchtbarsten Fingerbravour verschwendet! Selbst dem Talente ist heutigen Tages die Claviervirtuosen-Laufbahn mit Dornen besäet. Von ihr gilt Wort für Wort, was Goethe einst von der dichterischen Production gesagt: ,Das ganze Unheil entsteht daher, daß die poetische Cultur in Deutschland sich so sehr verbreitet hat, daß Niemand mehr einen schlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke senden, sind nicht geringer als ihre Vorgänger, und da sie nun jene so hoch gepriesen sehen, so begreifen sie nicht, warum man sie nicht auch preiset. Und doch darf man zu ihrer Aufmunterung nichts thun, eben weil es solcher Talente jetzt zu Hunderten giebt und man das Ueberflüssige nicht befördern soll, während noch so viel Nützliches zu thun ist. Der Welt kann nur mit dem Außerordentlichen gedient sein.‘“

Nur wenn einflußreiche Stimmen, wie die eben gehörte, nicht müde werden zu warnen, – wenn unsere Conservatorien der Ueberproduction an Pianisten und Pianistinnen entgegenwirken, anstatt sie leichtsinnig noch zu befördern, – wenn endlich Jeder von uns im eigenen Kreise seine Kraft dagegen einsetzt, dann und nur dann ist es zu hoffen erlaubt, daß die Geißel, die man schauerlich genug „Clavierseuche“ nennt, allmählich mildere Formen annehmen und künftighin weniger Opfer, auf der spielenden wie auf der hörenden Seite, fordern werde.


  1. In diesem Punkte übertreffen wir allerdings weit die Franzosen, könnten aber Manches von den Engländern lernen. So hat die „Bristol Musical Festival Society“ in London (eine Privatgesellschaft, welche alle drei Jahre große Musikfeste veranstaltet) in verschiedenen Theilen der Stadt Singclassen etablirt, in welchen im letzten Winter z. B. 794 Zöglinge im Chorsingen und besonders im prima vista-Lesen ausgebildet wurden; von den Schülern passirten 260 die Prüfung mit Auszeichnung. Das Honorar für den Unterricht beträgt 25 Pfennig für die Stunde. Welchen vortheilhaften Einfluß eine derartige Pflege des Gesanges auf die Leistungsfähigkeit des Chors ausüben muß, ist unschwer einzusehen.