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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[437]
Aufg’setzt.[1]
Eine baierische Bauerngeschichte.
Von Herman von Schmid.
Nachdruck und Dramatisirung verboten,
Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Es war gerade vor dreißig Jahren.

Die ältesten Leute wußten sich nicht zu erinnern, daß der Frühling so bald und so schön in’s Land gekommen war, und nicht blos draußen in Wald und Feld, um die Menschen und ihre Wohnungen herum hatte er den starren Bann des Winters gebrochen – auch in den Herzen der Menschen hatte sein milder Hauch einen unerwarteten Frühling geweckt. Auch hier war das Eis jahrhundertlanger Beschränkungen geborsten und ein belebender Hauch der Freiheit ging durch die Lande. Jauchzend, gleich dem entziehenden Vogel, schwebte das entfesselte Wort, schwebte der nicht mehr geknechtete Gedanke dahin; ungehindert fanden sich als Genossen zusammen Alle, die gleiche Gesinnung oder gleiche Absicht verband; ohne Schranken wagte es in den Städten der Bürger, seine ganze Kraft und Fähigkeit zu bewähren; dem Landmann war die Last alter Zeiten vom Nacken genommen und aufgerichtet durfte er Pflug und Sichel führen, denn der Ertrag seines Feldes und Fleißes sollte von nun an ihm gehören. Und triumphirend leuchtete über Allem das Morgenroth einer neuen Hoffnung; sie senkte einen Lichtstrahl in die Gemüther, der die wärmeren Naturen begeisterte und selbst die kühleren erwärmte – den lichten Morgenstrahl des deutschen Gedankens.

Wohl verdunkelte der Morgen sich wieder, und lange düstere Tage zogen herauf, ehe die Sonne der Erfüllung emporstieg, aber die Natur, die allzeit getreue, hatte sich auch damals bewährt, und was der Frühling jenes herrlichen Jahres versprochen, der Sommer hatte es reichlich erfüllt. Die Blüthen, deren Reichthum das Land zu einem Garten gemacht, waren lange verflogen, aber jede hatte ihren Fruchtknoten zurückgelassen; in den hohen Kronen der Kirschbäume wurde das Blattgrün beinahe von rothen und schwarzen Glanzkorallen verdrängt; die Aeste der Aepfel- und Birnstämme senkten sich überall wie ermüdet und der Stütze gewärtig, in der Flur aber, wo das reifende Getreide bereits in dunklerer Färbung durch einander wogte, hoben sich in den üppigen Wiesen die glänzenden Halme schon der zweiten Mahd entgegen.

Ueber dem reichen, reizenden Gelände wölbte sich der tiefe sommerblaue Juli-Himmel so rein, als wolle er wetteifern mit der Schönheit unter ihm, und die Sonne stand fest im hohen Mittag, wie ein flammendes Auge, das mit Wohlgefallen auf dem Segen verweilt, den es geschaffen; dennoch war die Hitze nicht übergroß, denn aus dem nahen Berg-Einschnitt, durch welchen der Luftstrom das ebene Land betritt, blies der kühle Erlwind wie spielend und doch so kräftig hervor, daß Niemand sich vor der Hitze flüchtete und eine große Anzahl von Landleuten, in allerlei Abtheilungen bunt durch einander geschaart, vor dem stattlichen Wirthshause zu Flintsbach beisammen stand. Die Einen hatten sich’s auf den Bänken vor dem Hause bequem gemacht. Andere standen auf der Straße und füllten die Kegelbahn oder hatten sich längs des Gartenzauns auf den Grasrain niedergelassen. Alle aber waren beschäftigt, Hunger und Durst zu stillen, als wenn sie sich für eine längere Entbehrung vorbereiten und den Beginn irgend einer besonderen Festlichkeit abwarten wollten.

So war es auch in der That.

Das Wirthshaus machte mit seinen hohen gemauerten Stockwerken, den starken, aber zierlich gebogenen Eisenkörben vor den Fenstern und den alterthümlichen Wandmalereien zwischen denselben einen fast städtischen Eindruck; ihm gegenüber, jenseits der breiten Straße, stand ein langgestrecktes, nicht sehr hohes Gebäude, das nach seinen Verhältnissen wohl für eine Scheune gehalten werden konnte, hätten nicht die an den Wänden angebrachten Kränze und Gewinde aus Tannenzweigen, die bunten Papier- und Bandstreifen erkennen lassen, daß es mindestens für heute zu einem festlicheren Zwecke bestimmt war. Das Hauptthor war zu beiden Seiten mit hellgrünen weißstämmigen Birkenwipfeln gezierte eine Tafel zwischen denselben rief den erwarteten Gästen mit rothen Buchstaben auf weißem Grunde ein nicht zu übersehendes „Willkommen“ entgegen; rings herum waren weißblaue Fähnlein in wehendem Kreise ausgestellt, und hoch über dem Ganzen, an mächtiger Stange, flatterte ein ansehnliches schwarz-roth-goldenes Banner.

Der Anblick des Platzes wie der auf ihm durch einander wogenden und summenden Versammlung war ein ungemein freundlicher und farbenreicher; gab es doch in den Trachten eine Menge wechselnder Erscheinungen, denn unter den niedrigen ausgebürsteten Hüten und den Langröcken der Bewohner des Ortes und der umliegenden Dörfer machten sich auch die breitkrämpigen bebänderten Hüte und Joppen aus den nahen tirolischen Innthälern, sowie aus den kaiserlichen Ortschaften jenseits des Stromes bemerkbar. Und noch immer wollte der Zufluß kein Ende nehmen; noch immer kamen neue Schaaren, und in kurzen Zwischenräumen rollte [438] allerlei Gefährt heran und hatte allmählich eine kleine, schwer zu entwirrende Wagenburg gebildet – leichte Schweizerwägelchen, die einem Wirth oder Müller der Umgegend angehörten, schwerere, altväterliche Landkaleschen, aus denen ein paar geistliche Herren gestiegen kamen, bekränzte Leiterwagen, auf denen die fröhliche Jugend einer entfernteren Hofmark zusammengepfercht war.

Es war kaum durchzukommen: das fühlte auch eine kleine Gesellschaft von Fußwanderern, welche bestaubt, mit von Hitze und Anstrengung gerötheten Gesichtern und dem Anscheine nach auch ziemlich ermüdet die Landstraße daher kam und mit zusammengerafften Kräften dem Wirthshause als dem Hafen ersehnter Rast und Erquickung zustrebte. Glücklicher Weise waren damals die Straßen noch nicht wie jetzt mit Vergnügungswanderern und Sommerfrischlern besetzt. Das Erscheinen derselben war gewissermaßen noch eine Seltenheit. Die Neugier der Herumstehenden war daher nicht ungern bereit, dem freundlichen Wunsche der Wanderer um freie Bahn stattzugeben und eine kleine Gasse zu bilden, um so mehr als dieselben durch ihr ganzes Auftreten einen feinen, unverkennbar städtischen Eindruck machten.

Die Gesellschaft bestand aus drei Personen, einem von Kopf bis zum Fuß in grauen Sommerstoff gekleideten älteren Herrn, der, als er den Strohhut lüftete, um sich den Schweiß abzutrocknen, eine würdige hohe Stirn und ein ernstes, aber wohlwollendes Antlitz erblicken ließ, welches mit dem kurzgeschorenen Haar, dem weißen Schnurr- und Knebelbart einem alten Soldaten oder Forstmann angehören mochte. Eine Art leichter Jagdtasche hing ihm über die Schultern; ein bequemer Schirm, der zugleich als Stütze dienen konnte, war über den Rücken gebunden. Ihm ganz ähnlich in der Erscheinung war der junge Mensch, der hinter ihm heranschritt, offenbar der Sohn und das getreue Ebenbild des Vaters, wie eben die Jugend dem Alter zu gleichen vermag; er war wie mit dem Storchenschnabel im verkleinerten Maßstabe nachgezeichnet, und es fehlte nur die Modellir- und Bossirarbeit von einigen Jahrzehnten, um die Aehnlichkeit zum Spiegelbilde zu steigern. Im Anzug waren sie dagegen völlig verschieden. Der Jüngling, der wohl zum ersten Mal den Bergen und ihren Herrlichkeiten nahe kam, war bereits vollständig für alle Mühen und Fährlichkeiten gerüstet, denen er entgegenging. Eine graue, grüngestickte Lodenjoppe hing lose um seinen Leib; die Beine steckten in massiven schwerbenagelten Bergschuhen, der Kopf in einem niederen runden Hütchen mit Edelweiß, Gemsbart und Adlerflaum – der grobe grüne Rucksack, der ihn trotz seiner Schlankheit mächtig überragende Bergstock, mit dem er sich abschleppte, vollendeten das Bild des Bergbesteigers in bester Form.

Ein Mädchen, das, wie in tiefe Gedanken verloren, in einiger Entfernung folgte, vollendete das Dreiblatt, wenn man nicht etwa noch den schneeweißen Spitzhund von der echten, jetzt gleich den Steinböcken ausgestorbenen Art dazu rechnen will, der, von dem Gedränge und Stimmengewirr aufgeregt, bellend und wedelnd von dem einen der Reisenden zu dem anderen sprang, als wolle er sich Raths erholen, ob es nicht gerathen sei, zum Angriff überzugehen.

Das Mädchen war nicht eben eine Schönheit zu nennen, aber in ihrer ganzen Art und Weise, in ihrer Haltung, selbst im Gange gab sich etwas Gewinnendes und Einschmeichelndes kund, sodaß ein paar Bäuerinnen, welche bei Seite traten, um sie hindurch zu lassen einander anstießen und sich zumurmelten:

„Du, das Dirn’l schau’ an! Die ist einmal sauber.“

„Hast schon Recht,“ war die ebenfalls geflüsterte Antwort. „Nur ein bissel mehr Farb’ sollt’ sie haben; sie ist ja schier so bleich, als wenn sie keinen Tropfen Blut im Leib’ hätt’.“

Die schlichten Bäuerinnen hatten ganz richtig beobachtet. Die ungewöhnliche Blässe war es, was der ganzen Erscheinung Eintrag that und beim ersten Anblick sogar befremdete; sie lag über dem Mädchen wie ein Schleier, den eine noch nicht völlig gehobene Krankheit oder ein noch unvergessenes tiefes Seelenleid über sie gebreitet hatte. Zu letzterem Gedanken stimmten die dunklen, ebenfalls wie von Schwermuth überhauchten Augen und auch die Kleidung ließ einen Zug von Schwärmerei erkennen. Unter dem breitrandigen, mit einem Kranz lebender Feldblumen geschmückten Strohhute fiel – eine damals ungeheuerliche Erscheinung – das reiche braune Haar aufgelöst auf Brust und Nacken herunter, während das einfache Kleid in eigenthümlicher Weise gefaltet und zum Zwecke der Fußwanderung aufgeschürzt war. Was an dem Bilde noch fehlte, vollendete die über die Schultern geworfene Zeichnungsmappe mit Farbkasten und kleinem Feldsessel; wie der Bruder die Ergebnisse seiner Bergwanderungen im der giftgrünen Botanisirbüchse, die er sich umgehängt hatte, zu sammeln gedachte, sann die künstlerische Schwester darauf, ihre Zeichnungs- und Malstudien wohlbehalten mit in die Heimath zurückzubringen.

Aus der allgemeinen Bewegung der Menge hatte der Wirth entnommen, daß irgend besondere Gäste eingetroffen sein mußten; er trat daher den Ankömmlingen schon auf der Schwelle des Hauses entgegen – ein echtes Bild alt-patriarchalischer Gastlichkeit, in Hemdärmeln, die blendendweiße Brustschürze über der rothen Weste, die grünsammtene Schlegelhaube zum Gruße mit einer Miene schwenkend, welche keinen Zweifel darüber ließ, daß der Gast auch wirklich ein willkommener war; eine Art von Wirth, wie sie inzwischen auch ausgestorben ist, gleich den Steinböcken und den Spitzen.

„Wünsche wohlauf zu leben,“ sagte er und bot dem alten Herrn die Hand, in welche dieser sofort einschlug. „Das ist schön von Ihnen, daß Sie uns auch einmal heimsuchen. Grüß’ Gott, Alle mit einander!“

„Grüß’ Gott hinwider!“ erwiderte dieser, „es freut mich, wenn wir willkommen sind. Ich fürchtete schon, bei der großen Menschenmenge, die hier versammelt ist, würde für uns kein Plätzchen übrig und kein Bissen mehr vorhanden sein; ich sehe, auch in den beiden Zechstuben summt es wie in einem schwärmenden Bienenstock.“

„Kein Platz übrig und kein Bissen vorhanden?“ rief der Wirth. „Das könnt’ mich freuen; das giebt’s nicht beim Wirth in Flintsbach. Die Bauern sind schon einmal so – die sind immer am liebsten dabei, wenn sie in der Stuben und recht dick auf einander sitzen können: sie sind sich halt unter der ganzen Woch’ genug in der freien Luft, aber hinter’m Haus ist der Obstgarten; da ist Platz genug; da ist’s schattig und kühl und eine Aussicht, wie von einem Kirchturm. Da wird’s Ihnen gewiß gefallen – so gut, daß Sie gar nimmer fort mögen.“

„Das Bleiben wird nicht angeh’n,“ sagte der alte Herr, indem er mit Sohn und Tochter durch die breite Hausflur dem Garten zuschritt; „wir wollen heute noch Andorf erreichen und werden uns zeitig wieder auf den Weg machen müssen, wenn wir uns ein wenig erfrischt und ausgeruht haben werden.“

„Ach nein, das dürfen Sie uns nicht anthun,“ entgegnete der Wirth. „Weil Sie jetzt einmal da sind, müssen Sie schon da bleiben und unsere Festivität mit anschau’n. Morgen ist auch ein Tag und Andorf läuft Ihnen nicht davon.“

„Und was ist denn für eine Festivität, daß sich eine solche Volksmenge versammelt?“

„So? Das wissen Sie gar nicht?“ rief der verwunderte Wirth. „Und ich hab’ mir eingebildet, Sie wären eigens deswegen gekommen. Sie müssen wissen, daß bei uns von Alterszeiten her die Leut’ keine größere Freud’ und kein lieberes Vergnügen kennen, als das Komödi-Spielen. Ueberall haben sich früher die jungen Leut’ zusammen gethan und haben ein paar Mal im Jahr’ gespielt, lauter schöne und fromme Sachen, von der heiligen Afra und vom heiligen Georg mit dem Drachen, daß Alles seine Erbauung gehabt hat und sein Vergnügen und seinen Verdienst obendrein. Aber die gescheidten Herrn drinnen in München, die Alles besser wissen wollen, haben gemeint, wir thäten damit zu viel Zeit versäumen. Wir sollten lieber arbeiten, haben sie gesagt, und es wär’ auch nicht recht, wenn man so Spott treiben thät’ mit den heiligen Sachen; so haben sie das Komödi-Spielen verboten, und so haben wir nimmer spielen dürfen volle achtzehn Jahr’ …“

Der Wirth hielt inne, wie von einem Gedanken überrascht, und sah den alten Herrn bedenklich von der Seite an. „Ich weiß nicht,“ sagte er dann, „Sie sind vielleicht auch Einer von denen, die in der Stadt drinn’ sitzen und uns heraußen auf dem Land’ die Schuh anmessen wollen – aber es macht nichts; jetzt ist es ja doch vorbei mit dem Verbieten und Schuh-Anmessen. Jetzt geht ein anderer Wind; jetzt dürfen wir wieder spielen, und heut’ ist die erste Vorstellung, und drum ist die ganze Gegend auf der Fahrt und will das neue Spiel seh’n.“

[439] „Sogar ein neues Stück also? Und welchen Inhalts?“

„Die Geschicht’ von der heiligen Genoveva,“ sagte der Wirth und ließ seine Gäste über die Schwelle der Gartenthür hinaustreten. „Sie werden’s wohl kennen die Geschicht’ vom bösen Golo und vom kleinen Schmerzenreich und von der Hirschkuh.“

„Das ändert freilich die Sache,“ rief der alte Herr. „Einen solchen Genuß dürfen wir uns nicht entgehen lassen und müssen also wohl übernachten, wenn Sie uns Herberge gewähren wollen.“

„Fehlt sich nichts,“ sagte der Wirth, „bei mir sind Sie aufgehoben wie im Himmelreich. Solche Betten finden Sie in der Stadt im ersten Gasthof nicht, und meine Zimmer …“ Er wollte in der Lobeserhebung seiner Einrichtungen fortfahren, aber der junge Bergsteiger unterbrach ihn. Er hatte in der Residenz schon oft das Hoftheater besucht und war also wohl dazu geeignet, zu wissen, was Schauspiel und Bühnendichtung sei; schon bei der ersten Erwähnung hatte es ihm spöttisch um die Mundwinkel gezuckt; er konnte es nicht über sich gewinnen – er mußte mit der Frage heraus, wer denn der Dichter des neuen Dramas sei, und wer die Personen desselben, vor Allem die Genoveva darstellen würde.

„O, junger Herr, da fehlt sich nichts,“ war die Antwort des Wirthes. „Wir haben gar geschickte Leut’ im Ort’ und in der Gegend. Das Stück, das hat der Maler-Anderl von Tegerndorf gemacht; das ist ein Ausgestochener, der mehr kann, als Birn’ braten. Der ist in seiner Jugend in der Stadt gewesen als Maler auf der Akademie, der kann mit der Feder so gut umgeh’n, wie mit dem Pinsel. Und Spieler – Spieler haben wir erst; der König selber kann keine bessern haben. Den Siegfried, den Pfalzgrafen, den eifersüchtigen Mann von der Genoveva, den spielt ein Hammerschmied von Kiefersfelden, und die Genoveva selber das ist eine reiche Müllertochter aus der Gegend, gescheidt, daß sie jeden Augenblick einen Professor abgeben könnt’, und bildsauber obendrein.… Nun, hab’ ich nicht Recht?“ fuhr er fort, als man in den Garten eingetreten war. „Ist das nicht ein lieb’s Platzl und ein schön’s dazu?“

Der Wirth hatte wirklich nicht zu viel gesagt; der Garten war in der That ein Aufenthalt, den man mit Lust begrüßen mußte und wohl nur mit Leid wieder verlassen konnte. Es war ein schön gehaltener Rasenplatz, auf welchem frisches Heu, in Hädern zusammengerecht, durch verstärkten Duft sein Welken verkündete; mit Vorliebe gepflegte Obstbäume haben in angenehmen Abständen ihre blatt- und fruchtreichen Kronen empor, und in der einen Ecke stieg der Boden zu einem kleinen Hügel an, von welchem aus sich über den dichten Heckenzaun hinweg ein überraschender Ausblick auf das ganze Flußthal und die es umgrenzenden Berge aufthat. Ein mächtiger Walnußbaum breitete seinen duftigen Schatten über die Anhöhe, über den um seinen Stamm angebrachten Tisch mit Rundbänken, den bevorzugten Ruheplatz, welcher besonderen Gästen zu Ehren angeboten wurde und an welchem an gewöhnlichen Zeiten der Lehrer, der Förster und der Wirth sich mit dem Pfarrer zu einem damals noch nicht verpönten Abendtrunk und Kartenspiel zusammen zu finden pflegten. Unweit des Hügels, die Rückseite des Hauses entlang, waren ebenfalls einige Sitze angebracht, in einer entfernteren Ecke aber befand sich ein mit hohen Brettern abgegrenzter Bretterverschlag, einem Gehege ähnlich, worin irgend ein nicht ganz alltägliches Hausthier verwahrt zu werden schien.

Der angenehme Ruheplatz wurde von allen Seiten mit frohen Ausrufungen begrüßt und einhellig beschlossen, hier die Bergforellen und am Spieße gebratenen Hühner zu verzehren, welche der Wirth als in kurzer Zeit zu rüstenden Imbiß in Aussicht stellte. Das Gepäck wurde abgelegt, und während der Gymnasiast sich anschickte, an dem gelbblühenden Löwenzahne, der krausen Zaunrübe und den Brennnesseln, die am Fuße der Hecke wucherten, seine botanischen Studien zu beginnen, der Vater aber zur näheren Besichtigung der Oertlichkeiten noch einen kleinen Rundgang unternahm, hatte das schwermüthige Fräulein schon seine Mappe geöffnet und fing an mit sichtlich kundiger und gewandter Hand das sich darbietende Bild in flüchtigem Umriß festzuhalten.

Der Spitz lag ruhig im Grase; die Kühlung nach dem langen heißen Laufe schien ihm ebenso zu behagen, wie der halbabgenagte Knochen, den er unter den Halmen gefunden hatte.

Niemand gewahrte und beachtete, daß es in der Ecke, wo der lebende Zaun besonders dicht war, sich manchmal regte und raschelte, als ob irgend ein Geschöpf, etwa ein erschrockener Vogel oder ein verscheuchtes Häslein sich darin verberge. Der alte Herr, als er von seinem Ausgange zurückam, hielt bei den Tischen am Hause inne und schien mit besonderem Anteil den Gesprächen der dort sitzenden Gäste zu lauschen, welche jedenfalls zu den bevorzugten Persönlichkeiten des Ortes, den sogenannten Honoratioren, gehörten. Zwei davon waren durch die dunkelgrüne Uniform mit dem schwarzen Lederwerk und dem kurzen glanzlosen Gewehrstutzen als Grenzwächter gekennzeichnet, während dem Dritten, einem grauen schnauzbärtigen Trutzkopfe, unschwer der Waidmann anzusehen war, auch ohne das wetterharte und wetterbraune Gesicht, Jagdtasche und Büchse, die, von einem Dachshunde bewacht, neben ihm auf der Bank lagen.

Der Gegenstand ihres Gesprächs mochte den alten Herrn anziehen; nach flüchtigem Grüßen und ein paar entschuldigenden Worten nahm er auf einer Bank nebenan Platz und ersuchte den Grenzer, sich durch seine Gegenwart nicht beirren zu lassen und in der eben begonnenen Erzählung fortzufahren.

„Was ist da noch viel zu erzählen?“ entgegnete dieser, ohne viele Umstände zu machen. „Es war immer schlimm bei uns mit der Schwärzerei; die Gelegenheit ist eben gar zu verführerisch. Das österreichische Ufer, wie unser Gestad’, ist nicht viel bewohnt; der Inn ist ein wildes Wasser, das gar oft sein Bett wechselt und die Ansiedelung schwer macht. Mit Tabak, Salz und besonders der Seidenwaare schaut immer noch ein guter Gewinn heraus, und so ist die Verlockung immer noch groß genug. Seit wir nun vollends die neue Freiheit haben, ist dem Faß der Boden ausgestoßen; die Leute glauben, es sei Alles erlaubt, und thun was sie können, uns zu hintergehen und wohl gar zu foppen.“

„Sie meinen überhaupt, das Schwärzen sei nichts Unrechtes,“ schaltete, wie zur Erklärung, der Jäger ein, „sie denken, wenn etwas über’m Inn um sechs Kreuzer weniger kostet, müßte man ein Narr sein, wenn man es diesseits theurer kaufen wollte.“

„Ganz recht,“ begann der Grenzer wieder, „aber wir haben gar Viele, die wohl auch dem Gewinn nachgehen, denen es aber doch mehr um das Müßiggehn, das Streunen bei Nacht und Nebel und selbst um die Gefahr zu thun ist. Erst heute Nacht haben sie uns wieder ein Stückchen aufgeführt, das ihnen aber nur halb hinausgegangen ist. Sie wissen, daß wir Vollmond haben und daß die Nacht glöckelhell war, fast wie am Tage – wir haben daher unsere Patrouille am Ufer nur gemacht, weil es unsere Schuldigkeit ist, wir dachten aber nicht daran, daß sie wagen würden, irgend etwas zu unternehmen – dennoch sahen wir, wie es gegen Mitternacht ging, von der Rußdorfer Gegend her einen schwarzen Punkt über das Wasser herankommen und lautlos mit dem Strom treiben, damit das Geräusch des Ruderns vermieden werde. Leise schlichen wir der Stelle zu, wo das Ding landen mußte, und erkannten bald, daß es eine Waidzill’n war, daß in derselben ein Paar ansehnliche Päcke lagen und hinter denselben ein Bursche niederduckte, um nicht gesehen zu werden und doch für den Nothfall den Lauf des Schiffchens in der Hand zu haben. Wir standen athemlos – noch war es halbe Schußweite vom Ufer entfernt, und wir waren schon sicher, in einigen Augenblicken den Schmuggler sammt der Beute in Empfang zu nehmen. Da blieb ich, wie ich gebückt unter dem Gesträuch vorwärts schritt, mit dem Gewehrhahn an einem Aste hängen … der Schuß knallte durch die Nacht, und im selben Augenblicke that es auch einen Schlag in’s Wasser. … In ein paar Augenblicken konnten wir richtig den Kahn mit den Waarenpäcken an’s Gestade ziehen, aber der Schiffer war verschwunden – er war im Moment der Entdeckung in’s Wasser gesprungen und untergetaucht und muß eine Strecke unter’m Wasser fortgeschwommen sein.“

„Und Sie haben keinen Verdacht, wer der verwegene Schmuggler sein könnte?“ fragte der Fremde.

„Verdacht?“ entgegnete der Grenzer lachend. „Verdacht, so viel, daß es hinreichte, einen Heuwagen damit voll zu beladen, aber keinen Beweis. Ich wollte wohl einen Eid darauf schwören – es war kein Anderer als der, den ich meine, aber der Bursch ist mit allen Wassern gewaschen und läßt sich so leicht nicht fangen. Wie wir die Zillen an’s Ufer gebracht und die Waare etwas geborgen hatten, was doch ein halbes Stündchen dauerte, lief ich sogleich nach dem Haus desjenigen, den wir im Verdacht haben, denn wenn er nicht zu Hause war und sich nicht ausweisen konnte, wo er gewesen, hätten wir einen guten Grund gegen ihn gehabt, [440] aber wie ich an’s Haus kam, war Alles still und erst nach langem Klopfen und Poltern sah die steinalte halbblöde Großmutter des Burschen zum Fenster heraus. Ich brauchte den Vorwand, ich sei von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden, wofür sie mir aushelfen solle mit einem Gläschen von dem Kräuterschnaps, den sie brennt; die Alte ließ mich auch unbedenklich ein, und während ich das Gesöff hinunterwürgte, lugte ich im Zimmer herum – da lag der Hallunke ganz gemüthlich im Bett und schnarchte und ward erst wach, als die Alte Feuer anschlug. Nebenan auf dem Stuhl und unter demselben aber lagen seine Kleider und Stiefeln, beide fadentrocken und nirgends eine Spur des nächtlichen Bades.“

„Und wer ist dieser Ausbund von Kraft und Verschlagenheit?“ fragte der Fremde. „Das ist ja eine Figur, wie man sie sonst nur in den Räuber- und Schelmen-Romanen zu finden gewohnt ist; man wird beinahe neugierig, einen solchen Menschen zu sehen.“

„Das Vergnügen können Sie bald haben,“ sagte der Grenzer. „Sie dürfen nur, was Sie wohl ohnehin thun werden, in die Komödie gehen; da spielt er den bösen Golo, zu dem er auch ganz gut taugt, denn er ist sonst ein gewandter und anstelliger Bursche und hat die rothe Perrücke, die sonst die Bösewichter in der Komödie aufsetzen, schon auf die Welt mitgebracht. Er und seine Mutter haben eine einschichtige schlechte Hütte unten in der Au; sie brennt Schnaps, und er geht in die Bauernarbeit, bei der er aber nirgends lang aushält, weil er zu unbotmäßig und verwegen ist. Sie haben doch im Vorübergehen über’m Inn das Schloß und den Römerthurm von Neubeuern liegen sehen? Da geht eine fliegende Brücke über den Fluß; auf jedem Ufer ist ein hohes Balkengestell aufgerichtet und zwischen beiden ein starkes Schiffsseil gespannt, an welchem eine bewegliche Rolle mit einem Haken hin- und herläuft. Von dem Haken hängt wieder ein Seil herab, das an eine starke Plätte angemacht ist, aus der man bei Tag überfahren kann – bei Nacht ist die Plätte ausgehängt. Da können Sie nun die Verwegenheit des Schnapsbrenner-Gori sehen – so heißt man ihn, wenn er’s auch nicht gern hört. Einmal war er hinüber gegangen in’s Kaiserliche – am Abend aber war Tanzmusik bei uns – er hatte damals einen Schatz, der inzwischen gestorben ist, mit dem er aber gar zu gern getanzt hätte und dem er versprochen hat, daß er den ersten Umgang mit ihr machen wollt’. Er hat sich aber zu lang drüben verhalten im Kaiserlichen, und wie er an’s Gestad gekommen ist, war schon Gebetläuten vorbei; da geht die Fähre nicht mehr; der Schiffmann war schon fort, und eine andere Zillen zum Ueberfahren auch nicht zu haben. Was thut der Gori? Er besinnt sich nicht lang; wie eine Katze klettert er an dem Gerüstbaum hinauf, faßt das Seil und handelt sich so kirchthurmhoch über dem wilden Wasser an dem Seil an’s andere Gestad hinüber und kommt richtig noch gerade an, wie sich die Paare aufstellen zum ersten Landler.“

„In der That ein kühnes Bravourstückchen, worin der Bursche wohl nicht so leicht einen Nachahmer finden dürfte!“ bemerkte der Fremde und wendete sich dem alten Jäger zu, der kopfnickend die Erzählung mit angehört. „Wenn in der Bevölkerung der Gegend so abenteuerliche Gestalten vorkommen, wird es wohl auch in Ihrem Bereiche nicht an Störungen fehlen – Waldfrevler und Wildschützen werden Ihnen weidlich zu schaffen machen.“

„Da haben Sie Recht, Herr!“ antwortete der Jäger mit bitterem Lachen. „Wenn Sie gern solche Geschichten hören, könnt’ ich Ihnen bis auf den Thomastag forterzählen, ohne daß mir das Trumm ausging. Wilddiebe hat’s alleweil gegeben – ich bin jetzt in die vierzig Jahr’ hier in dem Revier und hab’ manchen Strauß mit solchen Hallunken gehabt, aber wie es jetzt zugeht, das geht über die Möglichkeit hinaus. Seit die Jagd frei ist, läuft jeder Bauernlümmel hinaus mit seinem Schießprügel und schießt das liebe Wildpret zusammen, das wir so lang gehegt und gepflegt haben wie unsere Kinder. Und wenn sie nur noch ’was davon verstünden! Wenn sie nur wenigstens ’was davon hätten! Aber sie schießen ja nur, damit es kracht … ist noch so lang nicht her, daß ich eine trächtige Rehgais gefunden habe, die solch ein elender Kerl niedergebrannt hat – Weiß Gott – wenn ich einen solchen Mörder thät erwischen, ich kehrt’ ihm den Hirschfänger dreimal im Leibe um, und wenn man mir den Kopf dafür herunter hauen thät. Aber ich mag nichts mehr hören von denen Sachen – geschweige erzählen – ich hab’ mich schon entschlossen; ich thu’ nimmer mit. In sechs Wochen hab’ ich den Siebenziger auf dem Buckel, da mach’ ich meine Eingab’ in die Regierung und geh’ in die Ruh’ – einen Denkzettel, daß ich einmal ein Jäger gewesen bin, nehm’ ich ja doch auch mit fort.“

„Einen Denkzettel? Wie so das?“

„Wie so? Der Denkzettel ist die Kugel von einem Wildschützen, die mich da am linken Arme getroffen hat, daß man ihn bei einem Haar hätt’ wegschneiden müssen … es ist aber doch besser ’gangen, die Kugel hab’ ich da an mein Uhrgehäng’ hin gemacht, und die Narben im Arme ersparen mir den Barometer. Es war eine merkwürdige Geschicht’,“ fuhr er auflachend fort, „auf Michaeli wird sich’s gerad’ jähren, und weil Sie so was gern hören, will ich’s Ihnen erzählen – ich hab’ just noch ein Viertelstündchen Zeit.“

(Fortsetzung folgt.)



Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
2. Jean Jacques Rousseau.

Nachdem wir in dem Jubiläumsartikel „Voltaire“ des Alten von Ferney ehrend gedacht, darf auch der Säculartag eines zweiten großen Schriftstellers, der zu den Zierden der französischen Literatur gehört, hier nicht unbeachtet gelassen werden, derjenige Rousseau’s. Welchen bedeutenden Einfluß Rousseau auf unsere Classiker ausgeübt, beweist Schiller’s Jugendgedicht in der „Anthologie“, welches mit zweien seiner besten Strophen auch in die Gesammtausgaben der Schiller’schen Werke übergegangen ist. Wer so begeisternd auf einen großen Dichter unserer Nation einwirkte, der hat ein Recht darauf, von dieser nicht vergessen zu werden, und wie vieles hat der Einsiedler von Montmorency einem Marquis Posa soufflirt!

Der Säculartag Rousseau’s ist der Todestag des Denkers, und er fällt in dasselbe Jahr mit dem Tode Voltaire’s. Beide großen Geister, so verwandt in der Hauptrichtung ihres Strebens, trotz des schroffen Gegensatzes ihrer Charaktere, sind das unsterbliche Dioskurenpaar der französischen Literatur; freilich nicht wie Schiller und Goethe sympathisch verbunden, nicht wie diese classische Meisterwerke schaffend, aber beide gleichmäßig Saaten des Gedankens ausstreuend, welche auf dem Boden der Geschichte zu weltbewegenden Thaten reifen sollten.

Wenn irgend einer, so zeigt uns Rousseau die Macht des Gedankens, der aus dem Dunkel eines unscheinbaren Lebens heraus ein ganzes Jahrhundert erleuchtet. Dieser dürftige Sonderling, dieser arme Notenschreiber mit seiner anscheinend verfehlten Existenz, dieser von vielen Verständigen bemitleidete, an den Grenzen des Wahnsinns umherstreifende Schwärmer hatte jene Eingebungen des Genius, welche das ganze Staatsrecht der Vergangenheit über den Haufen warfen und dem Leben der Menschen neue Bahnen vorzeichneten. Diese gleichsam in einem Winkel kauernde Gestalt, mit der Noth des Daseins ringend, in die Lumpen der Armuth gehüllt, machtlos im äußern Leben, wurde das Ideal der Machthaber, die einer Nation das Gesetz dictirten; der stille Pflanzensammler, der Blumen für sein Herbarium suchte, welche das Leben ihm nicht auf den Weg gestreut, wurde der Vorgänger der blutigen Gewaltmänner, welche mit dem Messer der Guillotine alle diejenigen aus dem Wege räumten, welche nicht glauben wollten an das Evangelium der Menschenrechte, das er verkündigt hatte.

Welch ein düsteres, nur selten von flüchtigen Glanze erhelltes Lebensbild entrollt sich vor uns, wenn wir den Bürger von Genf von der Wiege bis zum Grabe begleiten! In der Vaterstadt Calvin’s wurde Rousseau am 28. Juni 1712 geboren; seine Mutter starb bei seiner Geburt; der Vater, ein schlichter Uhrmacher, doch nicht ohne Bildung und Verständnis und Sinn für höhere Interessen, leitete anfangs seine Erziehung. Kaum konnte

[441]

Jean Jacques Rousseau.
Nach einem alten Stich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

der Knabe lesen, so studirte er schon Romane und allerlei ernstere Schriften in bunter Reihe, wie sie ihm in die Hand fielen. Im Alter von acht Jahren kam er dann in das Pfarrhaus zu Bossey, wo sich sein Natursinn lebhaft entwickelte und ein systematischer Unterricht auch seine geistigen Bestrebungen regelte. Eine unverdiente harte Züchtigung machte indeß diesem Pensionsleben ein Ende; Rousseau kam in das Haus eines Onkels, wo seinem geistigen Streben wieder die zügelnde Hand fehlte. Bisweilen besuchte er seinen Vater, der von Genf nach Ryon übergesiedelt war. Hier verliebte er sich alles Ernstes in zwei Mädchen, von denen das eine doppelt so alt war wie der Anbeter. Um diesen Liebeständeleien ein Ende zu machen, suchte man für den Knaben eine ernste Beschäftigung. Er wurde Schreiber bei einem Gressier oder Kanzlisten, doch erwies er sich hier gänzlich unbrauchbar; dann wurde er Lehrling eines Graveurs; hier als untergeordneter Lehrbursche selbst von den Gehülfen brutal behandelt, zeigte er sich bald selbst roh, ungezogen, naschhaft, ja diebisch. Aus Furcht vor den strengen Strafen verschwand er, als er einmal seinen Urlaub überschritten, plötzlich gänzlich aus seiner Heimath und wanderte in die Ferne. Er trieb sich eine Zeitlang in der Umgegend von Genf herum und fand bei einem bekannten Bauern eine Herberge. Als er in Consignon bei dem Pfarrer des Ortes vorsprach, glaubte dieser den flüchtigen Ketzer zum wahren Glauben bekehren zu müssen. Da seine Versuche nicht auf Widerspruch stießen, gab er dem Knaben Brief und Geld, daß er zu einer frommen Dame nach Annecy reise, welche das Bekehrungswerk an ihm vollenden sollte: sie war selbst zur katholischen Kirche übergetreten.

So kam Rousseau zu seiner zweiten Mutter, der Frau von Warens, einer schönen, feinen Weltdame, die ihr Metier als Proselytenfängerin mit Anstand und Gutmüthigkeit betrieb und im Uebrigen den Genüssen dieser Welt keineswegs abgeneigt war. Rousseau wurde von ihr auf den Rath ihrer Beschützer, nach Turin in das Hospiz der Katechumenen geschickt, wo der Sohn des calvinistischen Genf zur katholischen Kirche übertrat. Hierauf entlassen, mußte er sich, da seine Mittel ihm ausgegangen, bald als Commis, als Graveur, ja selbst als Bedienter in vornehmen Häusern durchschlagen. Mit einem Freunde, den er von Genf her kannte und in Turin wiedertraf, begab er sich indeß von Neuem auf die Wanderschaft und langte nach planlosem Umherschweifen wieder in Annecy bei Frau von Warens an, die ihn freundlich und liebevoll aufnahm. Auf seine geistige Bildung hatte sie großen Einfluß; seine sittlichen Begriffe verwirrte sie durch ihre rückhaltlose Hingebung, durch welche sie ihn von den Liebeleien mit seinen Schülerinnen zurückzuhalten suchte. Rousseau war inzwischen Musiklehrer geworden; die geistliche Capelle, die [442] bisweilen im Hause der Frau von Warens ihre Musikstücke executirte, hatte ihn in seinen musikalischen Neigungen bestärkt. Der Dirigent der Capelle gab ihm längere Zeit Stunden, bis der Schüler sich für fähig hielt, selbst als Lehrer aufzutreten. In diesem neuen Berufe zog er zwei Jahre umher, bis wiederum seine alte Freundin, die inzwischen nach Chambéry übergesiedelt war, ihm ihr gastliches Landhaus „les Charmettes“ öffnete. Eine ernste, langwierige Krankheit machte ihm die Fortsetzung seines Berufes unmöglich; in der reizenden Idylle dieses Aufenthaltes, die er so schön geschildert, gab er sich nun Studien hin, welche seine Krankheit ihm erlaubte, einer Lectüre, die ebenso umfassend wie anregend war, er las die Werke berühmter englischer, französischer und deutscher Philosophen, die französischen Classiker, studirte Astronomie und Mathematik.

In diesem „Paradies der Jugend“ reifte seine Bildung; die Aussicht auf ein längeres Leben wuchs, in welchem er die erworbenen Kenntnisse hoffte verwerthen zu können. Ungünstige Vermögensverhältnisse seiner Beschützerin schieden ihn von dieser; er wandte sich anfangs nach Lyon, wo er als Erzieher eine Stellung in einem angesehenen Hause fand, dann nach Paris, wo er im Jahre 1741 eintraf. Seine Hoffnung, hier durch eine Ziffernschrift, mit der er die Notenschrift ersetzen wollte, sein Glück zu machen, scheiterte. Die Akademie prüfte dieselbe und fällte eine ungünstige Entscheidung. Rousseau suchte und fand Zutritt in den tonangebenden Salons, wo allerdings sein unbeholfenes Wesen abstieß, seine interessanten Züge und schönen Augen aber Eroberungen machten. Durch die neugewonnenen Beziehungen gelang es ihm, die Stelle als Secretär des Grafen Montaigu, des französischen Gesandten in Venedig, zu erhalten, eine Stelle, die ihm den Luxus einer Equipage und einer Theaterloge einbrachte; doch seine geistige Bedeutung, die der Gesandte anfangs wohl erkannte und sich nutzbar zu machen wußte, wurde diesem mit der Zeit unbequem, und da Rousseau sie keineswegs in den Schatten stellen ließ, so kam es bald zur Lösung des Verhältnisses. Die Versuche, als Componist Geltung zu gewinnen, mißglückten; doch die freundschaftlichen Beziehungen, in welche Rousseau zu Diderot getreten, sollten ihm bald eine andere Bahn des Erfolges öffnen. Auf den Rath des Freundes entschloß er sich, eine Preisfrage der Akademie von Dijon zu beantworten (1749), und seine Antwort errang den Preis, obschon sie, der allgemeinen Anschauung entgegen, den förderlichen Einfluß der Wissenschaften und den Segen der Civilisation in Frage stellte. Doch dies geschah in so scharfer schlagender Weise, die Paradoxen selbst wurden mit so eindringlicher Beredsamkeit verkündet, daß die Schrift das größte Aussehen machte. Nicht lange darauf erlangte Rousseau auch auf künstlerischem Gebiete einen schönen Erfolg; sein Singspiel „Le devin de village“ („der Dorfprophet“), das er im Stil der von ihm bewunderten italienischen Musik verfaßt hatte, wurde mit vielem Beifall anfangs in Fontainebleau vor dem Hofe, dann in Paris aufgeführt. Er trat dann in Flugschriften als Anwalt der italienischen Musik, mit heftiger Verurtheilung der französischen, auf. Als die Akademie von Dijon im Jahre 1753 die Frage nach dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen aufstellte, erschien Rousseau wieder unter den Preisbewerbern, doch ohne äußeren Erfolge; seine Schrift erhielt nicht den Preis, sie erlangte aber eine tiefeinschneidende geschichtliche Bedeutung: denn gerade diese Schrift wurde, als die Asche des Autors unter den Unsterblichen im Pantheon lag, das Evangelium und der Kanon der französischen Revolution.

Der Ruhm, welchen Rousseau als Schriftsteller gefunden, kam dem „Notenschreiber“ zu statten; er fand Beschäftigung. Bald nahmen sich auch die Damen der Pariser Salons des berühmten Autors an, und eine der geistreichsten, Frau d’Epinay, lud ihn zu sich ein, in den Park ihres nahen Landhauses La Chevrette, wo sie ihm eine passende Wohnung zur Verfügung stellte. Hier lebte der „Einsiedler in der Eremitage“ mitten im Grünen, unter dem erquickenden Einflüssen der frischen Natur. Eine weichere Stimmung kam über ihn, und wie er die amuthigen Erinnerungen seines Lebens niederschreiben wollte, gewannen sie von selbst die Form eines Romans. Suchte ihn doch ein neues Abenteuer in seiner Einsiedelei auf: hoch zu Pferde erschien die Gräfin d’Houtetot, eine Schwester des Herrn d’Epinay, vor seiner Einsiedelei. Er kannte die Dame schon; jetzt wurde ihr Verkehr ein inniger: die Gräfin, keine Schönheit, doch interessant und anmuthig von Gestalt, gewann bald seine leidenschaftliche Liebe. Sie selbst besaß einen Liebhaber in dem Marquis von Saint-Lambert, welcher, von dem Abenteuer der Gräfin benachrichtigt, diese alsbald zur Rede stellte. Die Folge davon war, daß sie Rousseau gegenüber sich immer kühler und ablehnender verhielt und das Verhältniß allmählich sich löste. Der Philosoph machte Frau von Epinay dafür verantwortlich; es kam zu einem Bruche, und auch mit Grimm und Diderot. Rousseau bezog jetzt ein ärmliches Gartenhaus in dem nahen Montmorency, wo er seine Schrift gegen das Theater verfaßte und seinen Roman: „Die neue Heloise“ vollendete. Der Gegner des schöngeistigen Treibens der Bühne erschien selbst als schöngeistiger Schriftsteller auf anderem Gebiete. Dieser Roman war weder reich an Erfindung, noch eigentlich spannend in seinem Inhalt, er nahm die Verwicklungen unseres socialen Lebens nicht in sich auf; am wenigsten zeigte sich in demselben eine humoristische Ader. Aber ein heißer Odem der Leidenschaft durchwehte ihn; die Freigeisterei der Liebe sprach aus ihm mit schwunghafter Beredsamkeit; die stimmungsvollsten Natur- und Landschaftsbilder vom Genfer See waren in das Seelengemälde mitverwebt, und der Stil selbst war melodisch und von wahrhaft classischem Adel. So konnte es nicht fehlen, daß das Werk großes Aufsehen erregte und auf die späteren Liebesromane eines Chateaubriand, einer Staël bestimmend einwirkte.

Der Marschall von Luxembourg, Besitzer der Herrschaft von Montmorency, lud den berühmten Einsiedler zu sich auf sein Schloß oder vielmehr auf ein im Park befindliches Schlößchen ein. Hier verkehrte Rousseau mit der vornehmen Gesellschaft; die Marschallin selbst bewies ihm stets warme Theilnahme. Mitten unter den Huldigungen der französischen Aristokratie schrieb Rousseau (1762) den verhängnißvollen „Contract social“ welcher gleichsam über das ganze ancien régime das Todesurtheil sprach, und seinen „Emile“ ein Werk, welches zuerst die Theilnahme der französischen Welt auf die bisher gänzlich vernachlässigte Erziehung lenkte und auf alle späteren pädagogischen Systeme den wichtigsten Einfluß ausübte. Das Glaubensbekenntniß, das er im „Emile“ dem Vicar in den Mund legt, wurde eine der Grundlagen jener deistischen Weltanschauung, welche in Frankreich zur Herrschaft kam und noch in dem Feste, das Robespierre dem „être suprème“, dem höchste Wesen, feierte, einen großartigen volksthümliche Ausdruck fand. Und wie er hier den reinen Deismus proclamirt, so im „Contract“ die reine Demokratie. Diese Offenbarungen schöpfte er als Gast eines hocharistokratischen Hauses im Schatten der alten Bäume des Parkes von Montmorecey; im Lärm und Tumult einer wildberauschten Pariser Volksmenge traten sie in’s Leben. Die Politik unseres Jahrhunderts steht noch unter ihrem Zeichen: nur ist es nicht mehr das Zeichen der Revolution; die Plebiscite des dritten Napoleon und der Appell des Fürsten Bismarck an das allgemeine Wahlrecht sind Huldigungen, welche dem Rousseau’schen Princip der Volkssouverainetät zu Theil geworden sind.

Es begann jetzt für den Schriftsteller eine Zeit der Verfolgungen. Er begab sich nach Yverdun in der Schweiz. Am 11. Juni 1762 wurde der „Emile“ in Paris auf Befehl des Parlamentes verbrannt; der Genfer Rath folgte am 19. Juni diesem Beispiele; vor dem Rathhause wurden die Blätter des „Emile“ durch Henkershand verbrannt. Auch der Berner Rath ließ ihm den Befehl zugehen, Yverdun zu verlassen. Er suchte eine Zuflucht im Canton Neuenburg, wo er hoffen durfte, unter dem Schutze des freisinnigen Königs von Preußen sicher zu sein. In der That fand er hier einen Anhalt an Lord Keith, dem damaligen Gouverneur von Neuenburg, obschon das Collegium der dortigen Pfarrer und der städtische Magistrat gegen seine Anwesenheit protestirten. In Motiers, einem Flecken im schönen Val de Travers, ließ sich der Flüchtling nieder, verkehrte mit dem orthodoxen Pfarrer des Ortes auf’s Freundlichste und nahm sogar an der öffentlichen Communion Theil, was ihm seine philosophische Freunde sehr verdachten. Von einem befreundeten Arzte, Dr. d’Ivernois, ließ er sich in die Botanik einweihen und wurde von jetzt ab ein eifriger Pflanzensammler. In seiner Zurückgezogenheit suchte ihn zahlreiche Fremde auf; noch größer war die Zahl der Zuschriften, die er empfing; besonders wandten sich angehende Schriftsteller und Dichter an ihn, sowie Eltern, welche wegen der Erziehung ihrer Kinder ihn um Rath angingen. Auch als Schriftsteller feierte er nicht: hier, aus der Idylle des [443] Val de Travers, gingen Schriften von polemischer Herbheit hervor, ein „Sendschreiben an den Erzbischof de Beaumont von Paris“, der seinen „Emile“ verbrannt hatte, und die „Briefe vom Berge“, eine Entgegnung auf die „Briefe vom Lande“, in denen der Generalprocurator von Genf, Trouchin, das Verfahren des Rathes gegen eine zunehmende Opposition der Genfer Bürger zu vertheidigen suchte. Rousseau’s Briefe enthielten den Katechismus seiner Weltanschauung in Religion und Politik, aber schärfer und schneidender formulirt als früher. Jetzt erhob sich Clerus und Volk von Neufchâtel erbittert gegen Rousseau, es war auch hier seines Bleibens nicht. Eine Zeitlang fand er eine Zuflucht auf der Insel Saint Pierre, die im Bieler See gelegen ist und ihn durch ihre anmuthige Stille und Einsamkeit angezogen hatte. Doch auch von hier vertrieb ihn der Berner Rath. Eine Zeitlang hegte er den Gedanken, nach Berlin zum Könige von Preußen zu gehen, doch sein erschütterter Gesundheitszustand hinderte ihn daran. So wandte er sich nach England, wohin Hume und andere Gesinnungsgenossen ihn eingeladen hatten.

Der Epoche der Verfolgungen folgt jetzt die unglücklichere des Verfolgungswahnes, welcher dem armen Flüchtlinge nirgends mehr Ruhe gönnte. Anfangs 1766 war er in England eingetroffen. Trotz einiger scharfen Kritiken der englischen Nation hatte ihn diese im Ganzen mit gewohnter Gastfreundschaft aufgenommen; von den verschiedenen Zufluchtsstätten, die ihm angeboten wurden, wählte er Wootton, ein in der Grafschaft Derby gelegenes Landgut des Herrn Davenport. Hier begann er in ländlicher Stille seine Memoiren, die „Confessions“, zu schreiben; doch bald vertrieben ihn die unheimlichen Mächte, die sich seines Geistes bemächtigt hatten. Ueberall sah er Feinde und Verräther, auch in Hume, der so freundschaftlich für ihn gesorgt hatte. Der Bruch dieser Freundschaft ließ Rousseau in den Augen der Welt als einen Undankbaren erscheinen und wandte auch die Herzen vieler Freunde von ihm ab.

So zerfallen mit aller Welt, verließ er England und wanderte durch Frankreich, wo er bald in der Normandie, bald in der Dauphiné sich niederließ, überall von Verfolgungen träumend, obschon durch den mächtigen Einfluß des Prinzen Conti geschützt. Seine romantische Tracht, sein anstößiges Verhältniß zu seiner langjährigen Lebensbegleiterin Therese Levasseur, die mit den Jahren zänkischer und unangenehmer wurde, regten allerdings die Meinung des Volkes oft gegen den Sonderling auf. Noch einmal hatte sein Leben einen kurzen Lichtblick: es war sein Aufenthalt in Paris, wenigstens das erste Jahr desselben, das Jahr 1770. Er wurde eine Zeitlang „Mode“; man suchte ihn auf wie eine Merkwürdigkeit; die Salons öffneten sich ihm. Dabei blieben seine Vermögensverhältnisse so ungünstig, daß er im fünften Stocke eines Hauses der Rue Platière wohnte und sich wieder mit Notenabschreiben zu ernähren suchte. In den Salons las er indeß seine „Confession“ vor, welche wegen der rückhaltslosen Offenheit der Mittheilungen, durch die er oft seine besten Freunde compromittirte, nicht dazu geeignet waren, die Zahl seiner Anhänger zu vermehren. Man zog sich immer mehr von ihm zurück. Dadurch wurde er auch in seinem bescheidenen Erwerbe beeinträchtigt; er sah sich genöthigt, sich durch ein Circulair im Jahre 1773 an die Humanität wohlwollender Freunde zu wenden. Endlich nahm er das Asyl an, das ihm ein Marquis von Girardin im Parke von Ermenonville anbot. Auch hier blieb er nicht frei von Regungen des Mißtrauens und Argwohns, doch ehe diese ihn bestimmten, abermals seine Wohnstätte zu wechseln, raffte ihn am 2. Juli 1778 ein Gehirnschlag hinweg.

Das ist in flüchtigen Zügen das Bild des Lebens und der Schriften von Jean Jacques Rousseau. Die Säculärfeier seines Todes ruft von Neuem die Theilnahme für den Einsiedler von Montmorency und Ermenonville wach. Dieses Leben, einer ewigen Wanderschaft vergleichbar, ist reich an tiefen Schatten, an bedauerlichen Inconsequenzen. Der Verfasser des „Emile“ übergab seine Kinder dem Findelhause; der Dichter der „Neuen Heloise“, eines Werkes voll der feinsten Empfindsamkeit, lebte mit der rohen Therese Levasseur; der Verfasser der „Bekenntnisse eines Vicars“ betheiligte sich im Val de Travers an der Communion; der Verfasser des „Contrat social“ und der „Briefe vom Berge“ war ein Schützling und Pflegling der hohen Aristokratie. Er war ein kranker Mann, doch die kranke Muschel barg die Perle, die einzige, unschätzbare. Irgend eine Saite seines Geistes war von Hause aus zerrissen; sein Genie und sein Leben waren nicht im Einklange, aber das Evangelium der Humanität, das ein Rousseau und Voltaire predigten, war aus dem Kampfe geboren. Verklärt zu ewiger Schönheit und Wahrheit erklang es erst aus dem Munde der deutschen Unsterblichen; doch jene waren die Vorläufer eines Schiller und Goethe, von diesen mit Begeisterung anerkannt, Pfadfinder, die, oft auf Irrwegen wandelnd, doch auch dem rechten Wege mit der Axt die Bahn brachen. Die großen Genien aller Zeiten reichen sich die Hand, und so mag am Gedenktage Rousseau’s das deutsche Volk auch dieses geistigen Wechselverkehrs der Nationen eingedenk sein und auf das Grab der geistigen Größen des oft so feindlichen Nachbarlandes einen Kranz dankbarer Anerkennung niederlegen.

R. v. G.




Livingstone’s Ende.

Lautlos hält vor nied’rer Hütte müd’ die Schaar der schwarzen Träger;
Auf der rohgefügten Sänfte sterbend ruht ein bleicher Jäger:
Der den unerforschten Ländern ihr Geheimniß abgerungen,
Livingstone, erliegt dem Sieger, den kein Kämpfer noch bezwungen.

5
Nicht vom Thier, das beutelüstern durch des Urwalds Dickicht irrte,

Nicht vom Pfeil, der rachegierig von des Wilden Sehne schwirrte,
Kam der Tod; sein grauser Scherge war der Hauch der sumpf’gen Triften,
Und er nahte fieberschwanger, ihm das Leben zu vergiften.

Wie ein Held dem Feinde trotzend, wankt er hin im Wüstensande,

10
Nachts vom rauhen Frost geschüttelt, Tags versengt vom Sonnenbrande,

Keine Klage auf den Lippen, wenn auch wild die Pulse pochen,
Wie ein Held, bis seine Leiden seines Lebens Kraft gebrochen.

In die halbverfall’ne Hütte hat ihn seine Schaar gerettet
Und auf’s trock’ne Laub des Waldes ihn zur letzten Rast gebettet.

15
Eines Kienspahns dürft’ger Schimmer hellt des kleinen Raumes Dunkel

Und durch die geborst’ne Decke eines Sternes matt Gefunkel.

Draußen vor der Hütte lodern fernhin leuchtend mächt’ge Scheite,
Und die schwarzen Wächter schauen sorgsam spähend in die Weite.
Alles ruhig! Nur in’s leise Knistern halbverglühter Kohlen

20
Klingt vom heißen Mund des Kranken todesschweres Athemholen.


Vor den fieberirren Sinnen ziehn vorüber bunte Bilder,
Mächt’ge Wälder, öde Steppen, kleine Dörfer schwarzer Wilder,
Unbetret’ne Bergesgipfel, welche Wolken dicht umschaaren,
Endlos weite Seen und Flüsse, welche nie ein Schiff befahren.

25
Große Heerden selt’nen Wildes sieht er scheu in’s Dickicht fliehen

Und in dichtem Schwarm zum Rastplatz farbenprächt’ge Vögel ziehen,
Hört des Löwen drohend Brüllen und der Schlange warnend Zischen,
Waffenklirren und die Laute fremder Sprachen wirr dazwischen.

Da, wie süßes Kindesplaudern, klingt’s in langentbehrten Tönen,

30
Ihm die letzte Stunde durch der Heimath Zauber zu verschönen;

Eines Weibes bleiches Antlitz läßt der holde Traum ihn schauen,
Und er fühlt, wie milde Thränen seine heiße Hand bethauen.

Süße Botschaft ferner Stätten! Labung für den Todeskranken!
Zu den längstverlass’nen Orten kehren selig die Gedanken,

35
Und wie er im Fieberwahne Weib und Kind und Heimath grüßte,

In Vergessenheit versunken ist die Einsamkeit der Wüste.

Alles lebt, was ihn erfreute in der Zeit der Jugendblüthe,
Was auf jahrelanger Wand’rung sein vereinsamt Herz durchglühte;
Seine Arme hebt er grüßend – noch ein Laut aus heißer Kehle –

40
Noch ein Hauch – und in die Heimath eilet die befreite Seele.


An dem Lager steht ein Schwarzer lauschend auf die Athemzüge,
Sucht in dem erstarrten Antlitz noch des Lebens holde Lüge,
Faßt die kalte Hand – erbebend trägt er hin die Schreckenskunde,
Wo bekümmert die Gefährten harrend lagern in der Runde.

45
Um das halb erlosch’ne Feuer sitzt die schwarze Schaar voll Trauer,

Leise flüsternd von der Rückkehr mühevoller, langer Dauer.
Wie ein Gruß des Friedens weht es in der Palmen dichten Zweigen,
Und den großen Todten ehret rings der Wildniß tiefes Schweigen.

Otto Buchwald.
[444]
Deutsches Frauenleben im Mittelalter.
Eine culturhistorische Studie von Fr. Helbig.

In’s Extreme gerathene Zeitrichtungen erzeugen meist die Sehnsucht nach dem Pole ihres Gegensatzes. So erwacht vielfach neben dem sehr stark in’s Materialistische gerathenen Zuge unserer Zeit das Interesse für die Zeit des ausgeprägtesten Idealismus. In Gustav Freytag, Victor von Scheffel und Richard Wagner erstanden ihm mächtige Bannerträger; Aufzügen und Festen leiht es die künstlerische Folie; in unseren modernen Villen an den Hängen der Berge, mit ihren Thürmen und Söllern, findet es ein bäuerisches Echo. Nicht ganz mit Unrecht bezeichnet ein älterer begeisterter Apostel jener Epoche, Vilmar, sie als „die eigentliche Jugendzeit des deutschen Volkes“, jene Zeit der ersten blöden, zurückhaltenden Liebe, „die mit den rothen Blumen aus dem Anger und der Haide erwacht, mit dem jungen Laube des Maienwaldes grünt und mit den Vöglein der Frühlingszeit jubelt und singt“. Gerade aber hierin liegt der beste Gegengrund gegen das romantische Streben, unsere Verhältnisse, unser geistiges Sein in das Mittelalter zurückzuführen, als ob es im Leben des Einzelnen, das doch immer ähnlich verläuft wie dasjenige ganzer Völker, möglich und vergönnt sei, ein zweites Leben der Jugend herbeizuführen.

Wenn wir uns nun anschicken, das Leben der Frau in jener Zeit des Ritterthums und Minnesangs den Lesern der „Gartenlaube“ in einzelnen Zügen aufzurollen, so dürfen wir vielleicht hoffen, damit einigem Interesse zu begegnen, das durch die stille Vergleichung jener einfachen, natürlichen Verhältnisse und Anschauungen mit manchen complicirten, der Unnatur und Geschraubtheit zuneigenden der Jetztzeit eine besondere Nahrung erhält. Wir vertheilen dabei den reichen Stoff in die nachfolgenden, durch einzelne Phasen des Frauenlebens markirten Abschnitte.


1. Minnen und Werben.


Wie das beim Erwachen des Tages verloren gegangene Wort und Gebild eines wohlthuenden Traumes klingt in die Gegenwart hinein das Wort „Minne“. Längst hat es sein Existenzrecht im gewöhnlichen Verkehre der Geschlechter eingebüßt. Als seltenes und köstliches, aber im Laufe der Zeiten umodisch gewordenes Brocatgewand zieht es nur der Poet hie und da aus der bunten Truhe des Sprachschatzes wieder hervor. Im Uebrigen aber geizt der erwachsene Jüngling heutzutage nicht mehr nach „holder Jungfrau’n Minne“, sondern bemüht sich um die Neigung des „verehrten Fräuleins“, auch desjenigen, „welches Samstags seinen Besen führt“. Um so mächtiger war der Zauber, den das Wort einst in der Zeit seines Modegebrauchs in sich schloß. Während die hochclassige Schülerin der höheren Töchterschule jetzt sich über die Fragen des Materialismus und Pessimismus, über Elektricität und Spectralanalyse, alte und neue Geschichte u. dergl. zu unterrichten strebt, fragte die zur Jungfrau herangewachsene Tochter des Mittelalters wißbegierig und schämig zugleich die Mutter: „Was ist Minne?“

Und die Mutter nahm nicht Anstand, über diese wichtige Frage, die fast den ganzen Kreis des Wissens für die Tochter in sich barg, eine umfassende und eingehende Antwort zu geben.

„Tochter,“ entgegnet sie (nach Heinrich von Veldecke’s „Eneit“), „die Minne ist vom Anbeginn der Welt so gewaltig in ihr, daß Niemand ihr vermag zu widerstehen, zumal sie so geartet ist, daß man sie weder sieht noch hört.“

„Mutter, dann erkenne ich sie ja gar nicht.“

„Du sollst sie wohl erkennen noch,“ erwidert die tröstende Mutter und fährt weiter fort in der Erklärung des Wesens der Rätselhaften: „So beschaffen ist Minne, daß Niemand sie so recht dem Andern weisen kann, in dessen Herz sie nicht selbst schon Einkehr genommen. Wer ihr aber recht nachstrebt und sich innig zu ihr kehrt, den lehrt sie Vieles, was ihm seither unbekannt war. Dann betrübt sie ihm aber auch Herz und Leib, ändert seine Farbe, macht ihn erst kalt, dann wieder heiß, daß er sich schier kaum zu rathen weiß, benimmt ihm das Schlafen, das Essen und das Trinken und stürzt ihn in grübelnde, sorgende Gedanken.“

„Ach, Mutter, dann ist ja Minne ein Ungemach.“

„Nein, Tochter, sie ist gut, denn ihr Ungemach ist süß.“

„Gebe Gott, daß sie möge mich lange meiden, wer möchte sonst die Noth all leiden?“

Die Frau Mutter versenkt sich jedoch immer weiter in tröstende Auseinandersetzungen, nur den zagenden Muth der Tochter zu heben. Sie belehrt sie, wie die Minne die Wunden auch wieder heile, die sie erst geschlagen; wie die bleiche Farbe ja auch erst dem Lichte entstamme, und Furcht guten Trost verleihe, Darben aber das Herz bereichere; wie nach Leid und Ungemach Lust und Freude komme. Und als die Furcht vor der räthselhaften Erscheinung noch immer nicht ganz von ihr weicht, ruft sie zum Schluß der Zagenden zu:

„Ich weiß, daß Du noch minnen mußt,
Wie ungern Du’s auch jetzt noch thust.“

Man spielte mit dem Begriffe, wie das Kind mit einem Spielzeuge, dessen Wesen es ergründen möchte und das es darum hin und her wendet, auseinanderlegt und – zertrümmert. „Minne, bist du ein Er oder eine Sie? Fliegst du auf die Hand oder bist du wild?“ fragt da in des Herzens Einfalt die „holde Magd“ Sigune. Sie konnte sich darüber Raths erholen bei Walther von der Vogelweide, denn dieser singt:

Die Minne ist weder Mann noch Weib,
Sie hat nicht Seele, hat nicht Leib.
Irdisch Bildniß war ihr nicht beschieden;
Ihr Nam’ ist kund, sie selber fremd hienieden.

War sie, die Unergründliche, nun heimlich in des Mädchens Brust eingezogen, erkannt erst, als sie schon da war – so wurde sie nun auch dort auf das Heimlichste gehalten und gepflegt.

Der Abendstern, der holde, birgt sich,
So thu’ dies, schöne Frau, wenn Du siehst mich,
Laß Deine Augen gehn auf einen andern Mann,
So weiß es schwerlich Jemand, wie’s unter uns Zweien ist gethan.

Da erkennt die liebende Frau, wenn sie am späten Abend aus der Zinne des Burgthurms steht, wohl die Nähe des Geliebten an der Weise seines Gesanges. „Das ist des Kürnbergers Weise; so singt ein Mann, der muß von hinnen weichen oder ich muß mich ihm sonst geben zu eigen.“

So besteht auch in der ganze Minnepoesie durchgehends die Scheu, den Namen der besungenen Geliebten zu nennen, obwohl die Lieder fast in allen Fällen auf eine wirklich lebende Person zurückzuführen sind. Besonders aber spricht sich die süße Heimlichkeit und Weltentrücktheit der Minne in den Wächterliedern aus, in welchen die Liebende Klage erheben, daß der Wächterruf den Morgen und damit die Flucht der Nacht verkündet, in deren Schutze das Leben der Liebe blüht. „Wie kommst du Wächter schon so früh gegangen? Sieh, Wächter, ob des Mondes Schein trügt!“ erschallt die Klage. Die bekannte hochpoetische Balconscene in Shakespeare’s „Romeo und Julie“ ist eine Art Nachdichtung dieser mittelalterlichen Wächterlieder, gegossen in die Form des Zwiegesprächs.

Mit besonderem Nachdruck betont das Mittelalter die Treue, in welcher die Liebe durch alle Fahrnisse des Lebens hindurch bis zum Tode ausharrt. Sie bildet fast das beständige Grundthema aller Romane und Gedichte der Zeit, wie der Begriff der Treue damals als die wesentliche Unterlage des ganzen socialen Lebens erscheint und ihm sein eigenartiges Gepräge lieh. So ist bekanntlich unser zweites Nationalepos „Gudrun“ ein solches Hohes Lied der Treue. Sieben Jahre trägt Gudrun um den heißgeliebten Verlobten Schmach und Unbill, wie solche nur die gekränkte Eitelkeit der Mutter eines verschmähte Freiers ersinnen kann; sieben Jahre weist sie die Werbung des Letzteren zurück, welche ihr Freiheit und alles äußere Glück verheißt.

„In meinem ganzen Leben ich keines Mannes Liebe sonst begehre,“ ist der beständige Refrain ihrer Entgegnung.

Die Liebe Sigunens zu Schionatulander war so mächtig, daß sie sich auch noch auf dessen todten Leib übertrug. Lange Zeit noch führte Sigune ihn künstlich erhalten und einbalsamirt mit sich herum, bis sie dann in einsamer Klause bis zum Ende ihrer Tage lebend mit dem Todten wohnte. „Sie minnete,“ so meint der Dichter, „den todten Leib.“

[445] War nun die Minne in die verschlossene Mädchenbrust eingezogen, so fehlte es auch damals nicht an jenen süßen Boten der Liebe, die als „duftige Büchleins“ (Liebesbriefe) oder als Schärpenband, Schleife, oder auch nur eine „Handvoll Seidenfäden“ hin und wieder gingen. Auch der erfinderische Sinn bei deren Beförderung fehlte der Liebe nicht. Da schlüpfte wohl der liebedürstende Jüngling, wie es in einem Minnelied des Meister Johannes Hadlaub zu lesen, in ein Pilgergewand, schlich sich so an die aus der Mette kommende Geliebte heran und heftete ihr in der Dämmerung den an einem Haken befestigten Brief heimlich an’s Kleid. Oft entstand freilich um diese zarten Büchleins große Verlegenheit, denn weder der vornehme Ritter noch das edle Fräulein, jener meist noch weit weniger als dieses, konnten die zierliche Wiedergabe des Griffels auf dem Pergament-, Elfenbein- oder Wachsblatt entziffern, sondern mußten sich erst nach einem der Schrift und des Lesens kundigen Schreiber umthun. So trugen sie wohl harrend in Sehnsucht die räthselvollen Boten tagelang mit sich herum.

Endete Minnen und Werben mit wirklichem Verspruche, so wurde derselbe wesentlich beurkundet durch die Darreichung des Ringes, die bei feierlicher Werbung mittelst des Schwertes oder eines Stabes erfolgte. In ältesten Zeiten oder in den niederen Ständen genügte wohl schon ein Band oder bunter Faden, um den Schwur der Treue symbolisch zu bekräftigen. An die Ringgabe schloß sich Umarmung und Kuß. „Geruht Ihr mich zu minnen, viel schönes Mägdelein, mit allen meinen Sinnen will ich immer bei Euch sein.“ Mit diesen Worten leitete der Bräutigam wohl den Act ein, und die Braut erwiderte das überschwängliche Gelöbniß mit gleicher Münze, indem sie ihm gelobte: „Du sollst immer mit mir haben Wonne“ (Gudrun und Herwig). Als ein weiteres Symbol der Verlobung galt auch die Verabreichung von ein paar Schuhen als Bräutigamsgabe zum Zeichen des Eintritts der Braut in das „Mundium“, das heißt den Schutz und die Herrschaft des Mannes. In seltsamer Umkehr der Dinge verwandelte sich freilich oft genug das männliche Regiment der Schuhe in das gefürchtete Frauenregiment des Pantoffels.

Die Verlobung dauerte der Regel nach ein Jahr, und mit dem Ablaufe des zweiten Jahres verlor sie ihre Gültigkeit. Und wenn die Zeit des Herzensfrühlings vorbei war, kam der Regel nach im Herbst- oder Winterbeginn die Hochzeit. Den Hauptschmuck der Braut bildete das lange lose Haar, das – ein Zeichen jungfräulicher Reine – „frei und ungebunden den Rücken hinabwallte“. Der Brautkranz ist nicht deutschen Ursprungs; erst die Kirche führte ihn ein als eine Reliquie des classischen Heidenthums. Im dreizehnten Jahrhundert war er jedoch bereits vollständig im Gebrauch. An der Hochzeitstafel tranken die Brautleute gemeinsam aus einem Becher. Junker und Jungfrauen geleiteten, wie es im „Parcival“ heißt, die Liebenden zum Brautgemach.

Am Morgen aber nach der Hochzeit band sich die Braut das wallende Haar am Haupte auf und barg es züchtig unter einer Haube. Die Zeit ihres Magdthums war nun vorüber; sie war eine Frau.


2. Des Hauses Wirthin.


Die Frau des Mittelalters stand, wie wir bemerkten, rechtlich in der Herrschaft des Mannes, aber diese scheinbare Härte wurde ausgeglichen durch die hohe Verehrung, welche sie genoß im Leben und im Liede. Der Mund der Dichter floß über von ihrem Lobe.

Wer Tugend liebt und Ehre,
Der merke sich die Lehre:
Er soll zu allen Zeiten
Der Frauen Lob verbreiten.
Manch wonniglicher Segen
Beginnt wohl sein zu pflegen,
Wenn er sie fröhlich grüßt
Und fein die Rede süßt,
Nie kalt und nie verwegen,

singt Christian von Hamle, der besten Sänger einer. Allen aber thut es zuvor Walther von der Vogelweide, der weder „in Lüften, noch auf Erden, noch auf allen grünen Auen etwas Wonniglicheres weiß zu finden, als wie holde Frauen“. Und wenn Mann und Weib, nach den Worten Reinmar’s von Zveter, galten als: „Ein Herz, Eine Liebe, Ein Mund, Ein Muth und Eine Treue und Eine Liebe wohlbehut, wo Furcht entschleicht und Scham entweicht: Zwei Eins geworden ganz“ –, so trug diese schöne Anschauung wohl nicht am geringsten mit dazu bei, der Frau im Leben eine höhere Stellung zu verleihen, als sie es im Rechte besaß.

Zudem war sie in einem Theile des Hauses Alleinherrscherin, in der „Kemenate“, in den Frauen- und Mägdekammern, die bei größeren Gehöften zu einem eigenen Frauenhause sich erweiterten, das besonders umfriedet und geschützt war. Hier in der „Frauen Heimlichkeit“ befinden sich die Insignien ihres herrschenden Waltens: Webstuhl, Stickrahmen, Kunkel und allerlei Werkzeug. Hier bergen sich in mächtigen Truhen die Schätze des Hauses, „die schimmernde Wolle, der schneeige Lein“; hier hingen in besonderen Kammern auf langen Stäben gebreitet Kleider und Gewänder. Sie alle verdankten ihre Erzeugung meist vom ersten Faden an der spinnenden, webenden, nähenden und strickenden Hand der Hausfrau und ihrer weiblichen Genossinnen, denn noch gehörten Schneider, Putzmacherinnen und Nähmamsellen, wie Manufactur- und Modewaarenhandlungen zu den unbekannten Dingen. Zwar brachten wandernde Händler die Stoffe – namentlich Tuch, Sammet und Seide – in’s Haus; auch bildeten sich, besonders nach Erschließung des Orients, größere Stapelplätze, Messen und Märkte, trotzdem aber tanzte die kreisende Spindel selbst im fürstlichen Frauenhause noch durch das ganze Mittelalter hindurch, und die Hand „lind und weiß, daran gelegt war Gottes Fleiß“, zog den Faden noch emsig aus dem flachsenen Rocken. Und dann heischte das Anfertigen und Ausschmücken der Gewänder noch manch fleißiges Mühen. Dafür bestand aber auch die Mode noch nicht, dieses Geschöpf moderner Cultur, mit den tollen Sprüngen ihrer Laune. So konnte ein großer Theil der Gewandung mehrere Generationen hindurch im Schreine liegen, wobei eine inzwischen unbekannt gewordene Güte und Dauerhaftigkeit der Stoffe die Entwickelung ihres conservativen Charakters wesentlich begünstigte. Um so größer war da auch die Fülle des Vorhandenen, denn es handelte sich dabei nicht blos um die vielerlei Insassen des Hauses bis hinab zum Knappen und Troßbuben, auch für die Kleidung der Fremden, die gastliche Herberge nahmen, mußte vorgesorgt sein. Sie konnten auf der Reise nicht große Koffer mit sich führen. Auf dem schmalen Bug ihres Rosses war oft kaum Platz für einen bescheidenen Mantelsack. Dafür hatten der Staub und die Hitze der Landstraße ihnen weidlich zugesetzt. So war es eine der hausfraulichen Pflichten, die Ankömmlinge nach einem erquickenden Bade mit frischen Gewändern aus ihrem eigenen Vorrathe zu versehen. Vorher hatte sie gegenüber dem Gaste, dem sie wohl mit dem Herrn vom Hause bis vor die Thore der Burg oder des Hauses entgegengegangen war, noch eine andere hauswirthliche Pflicht zu erfüllen gehabt. Eine strenge Sitte, deren Vernachlässigung übel verargt worden wäre, gebot ihr, dem ebenbürtigen Ankömmling „den rothen Mund zum Willkommskusse“ zu reichen. Zeigte der Baum ihres Lebens schon reiche Jahresringe oder war die Natur ihr zur bösen Stiefmutter geworden, so lag die Herbe der Pflicht auf dem Gaste; war aber im Prangen der Schönheit und Jugend ihr „Mund noch heiß und rund und roth“, so „erging wohl ein Kuß, bei dem man das Maß des Begrüßungskusses ein wenig vergaß“, wie es einmal im „Parcival“ heißt, als Ritter Gawan bei der jungfräulichen Königin Antikonie im Lande Ascalon seine Einkehr hielt.

Das künstlerische Walten der Hausfrau machte sich überall im Hause geltend. Besonders häufig war dort die Verwendung von Teppichen. Sie bedeckten nicht blos den Estrich des Fußbodens, sondern wurden auch an den Wänden aufgehangen und über und vor die Polsterbetten gelegt, die als Ruhesitze rings an den Wänden herum standen, in so reicher Anzahl, daß der Dichter in dem Hofe des Königs Artus im Prunksaale deren Hundert aufzählt. In diese Teppiche stickte man mit bunter Wolle und Seidenfäden allerlei Muster und ganze Figuren, ja selbst vollständige Scenen und Bilder. Ueber die am Boden liegenden Teppiche streute man – wohl um der lieben Schonung willen? – Gras und Binsen („grün und thauig naß“, wie es im Liede heißt), im Sommer und an hohen Freudentagen nicht selten Blumen, besonders Rosen.

Auch gewirkte Wandtapeten gingen aus Frauenhänden hervor, oft fein durchschlungen von Seiden- und Goldfäden, zierliche Handtücher kunstvoll gestickt und bunt gerändert, die nach beendeter Tafel mit Wasser zum Waschen der Hände herumgereicht [446] wurden, blendend weiße Tischdecken, oft gar von gelber oder weißer Seide, denn schon in frühester Zeit bestand die Sitte, Tücher über die Tafeln zu breiten; bei den Franken kannte man sie schon im sechsten Jahrhundert. Auf Bildern des vierzehnten Jahrhunderts bemerkt man auf den Tafeln zwei Tischtücher: das obere, gelb gestreift, bedeckt die Tischplatte; das zweite ist am Rande angefügt und fällt in kunstreichen Falten bis zum Boden. Ein besonderer Reichthum entfaltet sich in den Schlafräumen. Anfänglich auf dem bloßen Boden bereitet, wurde die Lagerstätte mit der fortschreitenden Zeit immer höher gelegt, sodaß zuletzt sie nur auf Bänken erstiegen werden konnte oder besondere Stufen zu ihr hinauf führten. Da lagen denn auf flaumgefüllten Unterbetten (Plumiten) seidene Steppdecken (Kultern), darüber weißleinene Tücher (Leilaken), ein kleines Kopfkissen (Ohrkissen) und eine Decke (Cuvertüre) aus Fell oder Teppichstoff; davor auf Bank und Stufe gebreitet weiche Teppiche. Durch das Gemach aber zog sinnberauschend der Duft des Weihrauchs.

Denn wie dem Sinne des Geschmacks durch starke Würzen an Speis und Trank, so wurde auch dem Organe des Geruchs in grellen Effecten gehuldigt. In den Kaminen brannte wohlriechendes Holz (lignum aloë, „Parcival“ dritter Theil, zweites Buch); auf den Teppichen am Boden standen (wie es im „Parcival“ weiter heißt)

– in Muscheln, Büchsen, Töpfchen
Und serpentinenen Näpfchen
Die kostbarsten Aromata.
Es streuten Ambra und Theriak
Ihre Düfte; auf dem Boden lag
Cardamom, Jeroffel[WS 1] und Muscat,
Daß man mit Füßen darauf trat,
Wodurch ihr Wohlgeruch sich mehrt.

Auch in den Kleidertruhen fehlte es nicht an allerlei Wohlgerüchen.

Unter der fleißig gerührten Nadel der Frauen gingen noch weiter hervor Altardecken, Gürtel, Hauben, Handschuhe, Decken für Roß und Reiter, Schärpen, Lanzenfähnchen u. dergl., nicht zu vergessen der „Docken“, eines schon früh beliebten Spielzeugs der Kinder.

Aber selbst das Gewerbe der Buchbinder, das der Bäcker und ein weiteres, von dem man wohl am wenigsten hätte glauben sollen, daß die Männerwelt es sich hätte entgehen lassen, das des Bierbrauens, fiel mit in den Kreis fraulicher Thätigkeit. Geschick im letzteren wurde in früherer Zeit als eine große Frauentugend besonders gerühmt.

Auch in Küche, Keller und Waschhaus herrschte noch überall die Frau vom Hause. Der mittelalterliche Speisezettel war bereits ein recht mannigfaltiger, dabei der Appetit sehr rege und der Geschmack nicht zimpferlich. Die zweimaligen Mahlzeiten des Tages (Frühmahl oder Imbiß und Spätmahl) setzten sich oft aus den heterogensten Dingen zusammen. Da gab’s Eiersuppe mit Saffran – der Saffran spielt in der mittelalterlichen Kochkunst als Zuthat eine große Rolle, wie heutzutage noch in vielen ländlichen Küchen – Pfefferkörnern und Honig, frische Bohnen in Milch gekocht, Kapaunen gefüllt mit Zucker, Mandeln und Gewürz, Stockfisch mit Oel und Rosinen oder gebratenen Aal mit Pfeffer und Senf, gebratene Gänse mit Aepfeln, Quitten und Knoblauch und andere tapfere Gerichte, die unserem cultivirten Geschmackssinne gelindes Gruseln verursachen. Und die Wäsche?! Karl Weinhold, ein bedeutender Specialist auf unserem Gebiete, sagt hierüber in seinem Buche „Die deutschen Frauen im Mittelalter“: „Königinnen selbst beschäftigten sich mit der Wäsche. Bis in die neueren Zeiten war der Waschtag auch für die Frauen der höheren Stände ein Tag lebendigster Geschäftigkeit.“

So war im Leben einer Hauswirthin des Mittelalters Arbeit die Parole des Tages und damit das Aufkommen jener Blasirtheit des Empfindens, an der die Frau der modernen Cultur so vielfach kränkelt, eine Unmöglichkeit.


Um hohen Preis.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Raven ging. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als Frau von Harder mit großer Lebhaftigkeit rief:

„Das ist doch endlich einmal eine vernünftige Idee meines Schwagers! Ich fürchtete schon, er würde uns zumuthen, in dieser aufgeregten Stadt zu bleiben, wo man nicht einmal seines Lebens sicher ist und bei jeder Ausfahrt fürchten muß, von dem Pöbel insultirt zu werden. Mich wundert nur, daß Arno sich um meine Nerven und die Verordnungen des Arztes kümmert. Er pflegt sonst sehr rücksichtslos in solchen Dingen zu sein. Meinst Du nicht, Gabriele?“

„Ich meine, daß er uns entfernen will um jeden Preis,“ erwiderte Gabriele, ohne sich umzuwenden.

„Nun ja,“ sagte die Baronin unbefangen. „Er sieht es ein, daß R. jetzt kein angenehmer Aufenthalt ist, zumal für Damen. Ich sprach ihm allerdings nicht ohne Absicht von der Einladung der Gräfin; ich hoffte, er würde darauf eingehen, aber damals schwieg er hartnäckig, und so wagte ich es nicht, die Sache weiter zu verfolgen. Wie sehne ich mich, die Residenz wieder zu sehen und all die früheren Beziehungen wieder anzuknüpfen! Hier ist und bleibt man doch nun einmal in der Provinz trotz all des großstädtischen Ansehens, welches die Stadt sich geben möchte. Aber jetzt müssen wir vor allen Dingen Musterung über unsere Toilette halten. Komm’, mein Kind! Wir wollen überlegen.“

„Verschone mich damit, Mama!“ bat das junge Mädchen in mattem, gedrücktem Tone. „Ich habe jetzt keinen Sinn dafür. Bestimme, was Dir gut dünkt! Ich füge mich in Alles.“

Die Baronin sah ihre Tochter mit unverhehltem Erstaunen an; diese Gleichgültigkeit überstieg alle Begriffe. „Keinen Sinn dafür?“ wiederholte sie. „Gabriele, was ist eigentlich mit Dir vorgegangen? Ich habe diese Veränderung schon während unseres Landaufenthaltes bemerkt, aber seit den letzten Tagen erkenne ich Dich gar nicht wieder. Ich fürchte, es ist auf der Rückfahrt irgend etwas zwischen Dir und dem Onkel vorgefallen, was Du mir verschweigst. Er zürnt Dir offenbar; er hat Dich ja vorhin kaum angeblickt. Wann endlich wirst Du es lernen, die nöthigen Rücksichten gegen ihn zu beobachten?“

„Du hörst es ja, er schickt uns fort,“ sagte Gabriele mit aufquellender Bitterkeit. „Er will allein sein, wenn eine Gefahr ihn bedroht, wenn ein Unglück ihn trifft – ganz allein!“

„Ich begreife Dich nicht,“ erklärte die Mutter ärgerlich. „Was soll denn dem Onkel drohen? Ich dächte, er hätte die Empörungsversuche energisch genug niederschlagen, und im schlimmsten Falle ist ja das Militär zu seinem Schutze da.“

Gabriele schwieg, sie hatte nicht an die Gefahr gedacht, aber trotz ihrer Unerfahrenheit in solchen Dingen fühlte sie doch, daß ein Angriff wie der Winterfeld’s nicht unbemerkt vorübergehen konnte, und ahnte den heranziehenden Sturm. Sie und die Mutter sollten freilich davor geborgen werden. Deutlicher konnte der Freiherr ihr nicht sagen, daß Alles zwischen ihnen zu Ende sei, als indem er sie nach der Residenz sandte, wo Georg jetzt weilte und wo eine Begegnung mit ihm leicht zu ermöglichen war. All die Härte und Heftigkeit, mit der sich Raven dieser Verbindung widersetzte, hatte das junge Mädchen nicht so geschmerzt, als dieses Aufgeben seines Widerstandes dagegen. Er zeigte ihr, daß er jeden Einspruch fallen ließ, daß er ihr volle Freiheit gab, und sie kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß die vermeintliche Verrätherin bei ihm nie auf Verzeihung rechnen konnte. Vielleicht hätte Gabriele versucht, ihn zu überzeugen, wie unrecht er ihr mit diesem Verdachte that; sein Eisesblick hatte sie zurückgescheucht. Der Blick sagte ihr, daß sie doch keinen Glauben finden werde, und bei diesem Gedanken flammte auch ihr Stolz und Trotz empor. Sollte sie es zum zweiten Male ertragen, daß ihre Vertheidigung nicht gehört, daß sie selbst zurückgestoßen wurde, wie es schon einmal geschehen war? Nun und nimmermehr!

Die Baronin war weit entfernt, diesen Gedankengang ihrer Tochter zu ahnen. Sie dachte nicht einmal daran, daß sich Assessor Winterfeld in der Residenz befand und daß man ihn eigens [447] dorthin gesandt hatte, um eine Annäherung zu verhindern. Die Dame hatte jetzt wichtige Dinge im Kopfe, und da sie bei Gabriele so gar kein Verständniß für die Toilettenangelegenheiten fand, klingelte sie ihrer Kammerjungfer und begann eine ausführliche Berathung mit derselben. Es war merkwürdig, wie sehr diese Reise die Lebensgeister der Baronin anzuregen vermochte ihre Krankheit und Mattigkeit schienen auf einmal verschwunden; sie traf die nöthigen Anordnungen mit einem Eifer und einer Lebhaftigkeit, die schon jetzt den besten Erfolg von dieser „Luftveränderung“ hoffen ließ.

Der Freiherr war unmittelbar, nachdem er seine Schwägerin verlassen hatte, zu dem Oberst Wilten gefahren. Er hatte von jeher freundschaftlich mit ihm verkehrt, und in der letzten Zeit war dieser Verkehr noch enger und vertrauter geworden, wenigstens von Seiten der Wilten’schen Familie, die mit vollem Eifer die Verbindung zwischen dem Sohne des Hauses und der jungen Baroneß Harder anstrebte. Heute aber lag in dem Empfange und der ganzen Haltung des Obersten eine gewisse Gezwungenheit, die er sich zwar Mühe gab zu verbergen, indem er lebhafter und angelegentlicher sprach, als es sonst seine Art war. Der Freiherr achtete nicht darauf; er war von ganz anderen Gedanken erfüllt und nicht in der Stimmung, auf solche Dinge Gewicht zu legen. Er wollte eben das Gespräch auf die Sicherheitsmaßregeln in der Stadt lenken, die noch größtentheils in den Händen des Militärs lagen, als Wilten ihm zuvorkam und mit einer gewissen Hast fragte:

„Haben Sie schon nähere Nachrichten aus der Residenz erhalten? Sie erwarten ja wohl Antwort auf Ihren Brief hinsichtlich der Winterfeld’schen Broschüre.“

Die Stirn des Freiherrn verfinsterte sich auffallend bei der Frage, und es vergingen einige Secunden, ehe er antwortete.

„Ja,“ sagte er endlich. „Die Antwort ist heute Morgen eingetroffen.“

„Nun?“ fragte der Oberst in größter Spannung.

Raven lehnte sich in den Sessel zurück, und in seiner Stimme lag ebenso viel Spott wie Bitterkeit, als er erwiderte:

„Man scheint in der Residenz vollständig zu vergessen, daß ich als Vertreter der Regierung in ihrem Namen gehandelt habe, und daß man mein Wirken jahrelang mit allen Kräften unterstützte. Sie hatten Recht, mich vor den Intriguen zu warnen, die dort gegen mich gesponnen werden. Ich sehe es erst jetzt, wie unterwühlt der Boden ist, auf dem ich stehe. Vor wenigen Monaten noch hätte man es nicht gewagt, wir eine solche Antwort zu geben.“

„Wie, man hat doch nicht etwa versucht, Ihnen anzudeuten –?“ der Oberst hielt inne, er mochte den Satz nicht aussprechen.

„Man hat mir sehr Vieles angedeutet. Allerdings in verbindlichster Form und mit einem ungemeinen Aufwande von Redensarten, aber die Sache selbst bleibt die gleiche. Ich glaube, es wäre den Herren in der Residenz nicht unlieb, wenn ich ginge. Es giebt dort verschiedene Persönlichkeiten, denen ich sehr im Wege bin und die jeden Angriff nach Kräften gegen mich ausbeuten werden. Ich bin aber vorläufig noch nicht gesonnen, ihnen Platz zu machen.“

Oberst Wilten schwieg und sah vor sich nieder.

„Auch die jüngsten Ereignisse hier in der Stadt geben Anlaß zu ernstlichen Differenzen,“ fuhr Raven fort. „Ich habe deswegen einen lebhaften Depeschenwechsel mit der Residenz gehabt. Man begreift durchaus nicht, daß das Einschreiten des Militärs nothwendig war. Man giebt mir Allerlei anzuhören, von schwerer Verantwortlichkeit, maßloser Erbitterung der Bevölkerung und dergleichen mehr. Ich habe einfach geantwortet: Aus der Ferne lasse sich dergleichen nicht beurtheilen. Ich sei zur Stelle und wisse, was Noth thue, und ich würde genau dasselbe thun, wenn die Unruhen auf’s Neue ausbrechen sollten.“

In dem Gesichte des Obersten zeigte sich wieder jene Gezwungenheit, die im Laufe des Gespräches allmählich gewichen war.

„Das dürfte kaum möglich sein,“ bemerkte er. „Es ist wahr, die Erbitterung ist größer, als wir anfangs glaubten, und ich sagte es Ihnen ja schon früher, man wünscht bei solchen Anlässen die militärischen Maßregeln durchaus zu vermeiden.“

„Es kommt nicht darauf an, was man wünscht, sondern auf das, was nothwendig ist,“ erklärte der Freiherr mit jener Schroffheit, die bei ihm stets eine große innere Gereiztheit barg.

„So wollen wir hoffen, daß die Nothwendigkeit nicht wieder eintritt,“ sagte Wilten, „denn ich bin leider – ich wäre gezwungen – mit einem Worte, ich müßte Ihnen meinen Beistand versagen, Excellenz.“

Raven fuhr auf und richtete einen funkelnden Blick auf den Sprechenden.

„Was soll das heißen, Herr Oberst? Sie kennen doch meine Vollmachten? Ich kann Ihnen versichern, daß sie noch in ihrem vollem Umfange bestehen.“

„Daran zweifle ich nicht, aber die meinigen sind beschränkt worden. Ich habe künftig nur den Weisungen meiner Vorgesetzten zu folgen.“

„Sie haben Gegenbefehl?“ fragte der Freiherr rasch und heftig.

„Ja,“ war die etwas zögernde Antwort.

„Seit wann?“

„Seit gestern.“

„Darf ich die Ordre sehen?“

„Ich bedaure, sie ist nur für mich allein bestimmt.“

Raven wendete sich ab und trat an das Fenster; als er sich nach wenigen Minuten wieder umwandte, lag eine fahle Blässe auf seinem Gesichte.

„Das heißt also, man bindet mir vollständig die Hände. Wenn die Revolte sich wiederholt und die Polizei zu deren Bewältigung nicht ausreicht, so bin ich machtlos und die Stadt ist preisgegeben.“

Wilten zuckte die Achseln. „Ich bin Soldat, Excellenz, und muß gehorchen.“

„Allerdings, Sie müssen gehorchen – ich sehe das ein.“

Es folgte eine sehr unbehagliche Pause. Der Oberst schien nach irgend einer Ablenkung zu suchen, aber Raven kam ihm zuvor.

„Wenn die Sache so steht, ist die Rücksprache, die ich mit Ihnen nehmen wollte, überflüssig,“ sagte er mit erzwungener Ruhe. „Bitte, keine Entschuldigung, ich begreife, daß es Ihnen persönlich sehr peinlich ist, aber Sie können es nicht ändern, also brechen wir davon ab! – Ich möchte noch eine Privatangelegenheit mit Ihnen besprechen. Sie bereiteten mich darauf vor, daß Ihr Sohn eine Bitte an mich richten würde. Lieutenant Wilten hat sich allerdings noch nicht erklärt, und das war in dieser Zeit der Unruhe und Aufregung auch wohl nicht möglich.“

„Ganz unmöglich,“ stimmte der Oberst bei. „Ich habe es Albrecht begreiflich gemacht, daß es ein Mangel an Zartgefühl wäre, wenn er Sie jetzt, wo so Vieles auf Sie einstürmt, mit solchen Dingen behelligen wollte. Er ist auch meinen Gründen gewichen; überdies muß er morgen abreisen.“

„So plötzlich?“ fragte Raven befremdet. „Wohin denn?“

„Er geht in einer dienstlichen Angelegenheit nach M. und wird voraussichtlich mehrere Wochen dort bleiben,“ entgegnete der Oberst, der unter dem finsteren, forschenden Blicke des Freiherrn sichtlich verlegen wurde. „Ich hatte zwar ursprünglich einen anderen meiner Officiere dazu bestimmt, aber ich kann diesen jetzt nicht entbehren, und mein Sohn als der Jüngste ist am leichtesten abkömmlich. Die besprochene Sache kann also vorläufig ruhen; später, nach Albrecht’s Rückkehr, wird sich ja wieder daran anknüpfen lassen.“

Um Raven’s Lippen legte sich ein sehr herber Ausdruck, als er erwiderte:

„Ich wünsche im Gegentheil diese Sache jetzt ein für alle Mal zu erledigen. Meine Schwägerin ist leider nicht im Stande, die Hoffnungen zu erfüllen, die sie dem jungen Baron gemacht hat. Sie hat sich überzeugt, daß ihre Tochter doch nicht genug Neigung für ihn besitzt, um sich zu dieser Verbindung zu entschließen, und weder sie noch ich werden irgend einen Zwang auf Gabriele ausüben.“

„Das würden wir auch niemals zugeben,“ fiel Wilten eifrig ein. „Nur keinen Zwang, nur keine Ueberredung in solchen Dingen! Mir freilich wird es sehr schwer, die langgehegte Hoffnung aufzugeben, und mein Sohn vollends wird außer sich sein, aber wenn er auf keine Gegenliebe hoffen darf, so ist es besser, er entsagt bei Zeiten seiner Neigung. Ich werde ihm ernstliche Vorstellungen deswegen machen.“

[448]

Schrecken in der Pension.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von Toby E. Rosenthal.

[449] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [450] „Thun Sie das!“ sagte der Freiherr, dem weder der Eifer noch das erleichterte Aufathmen des Obersten bei der Absage entgangen war. „Ich bin überzeugt, Sie werden einen gehorsamen Sohn finden.“

Er wandte sich zum Gehen. Der Oberst begleitete ihn artig bis zur Thür und wollte ihm dort in gewohnter Weise die Hand zum Abschiede reichen, aber Raven zog die seinige zurück, verneigte sich kühl und verließ das Zimmer. Draußen auf der Treppe blieb er einen Moment lang stehen und warf einen Blick zurück, während er halblaut sagte:

„Also so weit ist es bereits gekommen! Man sucht die Verbindungen mit mir zu lösen – es müssen doch eigenthümliche Nachrichten sein, die Wilten empfangen hat.“

(Fortsetzung folgt.)


Zum hundertjährigen Jubiläum des Weimarischen Parkes.
Von Robert Keil.
Mit Abbildung.

Unter all den classischen Stätten, welche den Namen Weimars in der Geschichte deutscher Kunst und Literatur für alle Zeiten verherrlicht haben, nimmt der Park eine der ersten Stellen ein. Es giebt größere, schönere Parkanlagen in Deutschland, aber es giebt keine, welche eine solche Fülle von Poesie und bedeutsamen Erinnerungen in sich birgt, wie der Weimarische Park, – sind es doch die schönsten Dichtungen Goethe’s, die hier verkörpert uns entgegentreten, sind es doch die köstlichen Tage genialen Lebens und Schaffens, an welche hier jeder Baum, jeder Fels, jedes Gebäude erinnert. Am 9. Juli 1778 war es, als diese „Parkdichtungen“ begannen. Jenem Tage und den sich daran reihenden Schöpfungen eines Karl August und Goethe sei jetzt, nach hundert Jahren, dieses Erinnerungsblatt geweiht.

Wohl bestanden schon zu jener Zeit Parkanlagen bei Weimar, doch wesentlich anderer Art. Südlich vom Schloß war der italienische oder welsche Garten, welchen Herzog Wilhelm der Vierte im 17. Jahrhundert hatte anlegen lassen. Im Geschmack jener Zeit, mit verdeckten perspectivischen Bogengängen und grün durchwachsenen Pyramiden möglichst gradlinig und steif angelegt, hatte dieser fürstliche Lustgarten in seiner Mitte ein originelles Gebäude: einen hohen hölzernen Bau, der, ein Oval bildend, von innen und außen bis zur Spitze von künstlich geführten Lindenzweigen bekleidet war. Zwei sich schneckenartig über einander wegwindende, nirgends zusammen kommende Treppen liefen oben in zwei kleine Pavillons aus, von denen man eine weite Aussicht über den ganzen Garten und über die Stadt genoß. Von seiner Form hatte dieser Bau den Namen „Die Schnecke“ erhalten. Auf dem andern, dem rechten Ufer der Ilm, in dem Thalgrunde zwischen der Stadt Weimar und dem Dorfe Oberweimar, hatte früher ein großer und schöner Baum- und Lustgarten bestanden, bis die Gewässer der sogenannten Thüringer Sündfluth (1613) ihn verschlämmt und verwüstet hatten. An seiner Stelle war dort der Ilm entlang oder vielmehr auf der von der Ilm und dem sogenannten Floßgraben gebildeten Insel eine Parkanlage von mannigfaltigen Gängen und namentlich acht unter dem Schatten dichter Bäume sternartig zusammen laufenden Wegen entstanden, welche deshalb den Namen „Stern“ führte; es fanden sich dort, um mit den Worten Goethe’s zu reden, uralte gradlinige Gänge und Anlagen, hoch in die Luft sich erhebende stämmige Bäume, daher entspringende mannigfaltige Alleen, breite Plätze zu Versammlung und Unterhaltung.

Unmittelbar an den Stern, durch einen Steg mit ihm verbunden, grenzte der Garten und das Gartenhaus, welche der zunächst als Gast des Herzogs Karl August nach Weimar gekommene junge Dichter Goethe am 21. April 1776 „in Besitz genommen hatte“. Lebhaft theilte er die Neigung zum frischen Naturgenuß, zum Leben, Verweilen und Genießen in freier Luft, aber auch die Sympathie für die natürlich-schönen englischen Parkanlagen im Gegensatz zu den steifen Formen der Zopfzeit. Im Geiste jener freieren, schöneren Richtung sollte sich zunächst der eigene, ihm liebgewordene Garten umgestalten. Schon am 20. Mai konnte Goethe in sein Tagebuch notiren, daß die untere Anlage des Gartens angefangen war. Fleißig pflanzte er dort Bäume, die er mit dem sinnigen Wunsche begleitete:

Wachset wie aus meinem Herzen,
Treibet in die Luft hinein,
Denn ich grub viel Freud’ und Schmerzen
Unter Eure Wurzeln ein!

Als Muster einer englischen Parkanlage war der Wörlitzer Park unter Herzog Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau entstanden. Im December 1776 waren Goethe und Karl August in Wörtitz, und hierdurch angeregt, wurde in Beiden der Gedanke, in solcher Weise die Gegend zu verschönern und als eine Folge von ästhetischen Bildern darzustellen, rege und lebendig. Schon im Jahre 1777 kam es zu vorbereitenden Schritten. Am 23. Juli wurde, wie sich Goethe notirte, „die Mauer des welschen Gartens eingeworfen“, und es entstand daselbst „ein neuer Platz“. Am 11. Januar 1778 theilte Goethe seinem Freunde Merck vertraulich mit, „die Gegend um seinen Garten werde aufs Frühjahr unendlich schön werden, er habe einige seltsam romantische Fleckchen ge- und erfunden“. Ein betrübender Todesfall förderte die Ausführung. Ein Fräulein von Lasberg hatte aus unglücklicher Liebe zu einem Schweden, von Wrangel, im Januar 1778 an der Floßbrücke nahe dem Goethe’schen Gartenhause den Tod in der Ilm gesucht und gefunden; man erzählte sich, daß sie dabei „Werther’s Leiden“ in der Tasche getragen. Goethe war von dem Tode des jungen Mädchens tief ergriffen und trug sich mit dem Gedanken, der Unglücklichen ein Denkmal zu setzen. Er erfand, wie er an Frau von Stein schrieb, „ein seltsam Plätzchen, wo das Andenken der armen Christel verborgen stehen werde“, aber er setzte auch sofort hinzu „das war, was mir heute noch an meiner Idee mißfiel, daß es so am Wege wäre, wo man weder hintreten und beten, noch lieben soll. Ich habe mit Jentschen (dem Hofgärtner) ein gut Stück Felsen ausgehöhlt; man übersieht von da in höchster Abgeschiedenheit ihre letzten Pfade und den Ort ihres Todes. Wir haben bis in die Nacht gearbeitet, zuletzt noch ich allein bis in ihre Todesstunde.“ Am felsigen Ilmufer ließ er einigen Raum schaffen, um ein kleines Denkmal für die arme Christel anzulegen, und kam auch das letztere selbst nicht zur Ausführung, so wurde doch auf diese Weise die Felsen- und Uferarbeit gefördert, welche im März und April rasch vorrückte. Unermüdlich wühlte Goethe sich am Felsen und Ufer in der Nähe der Floßbrücke fort.

Oberhalb der Felsen des Ilmufers wurde nach Goethe’s Plan und Idee der Parade- und Exercirplatz angelegt, und unten am Wasser entstanden, wie Wieland es bezeichnete, „die neuen poëmata, die der Herzog nach Goethe’s Invention und Zeichnung anlegen ließ und die eine wunderbar künstliche, anmuthig wilde, einsiedlerische und doch nicht abgeschiedene Art von Felsen und Grottenwerk vorstellten, wo Goethe, der Herzog und Wedel oft selbdrei zu Mittag aßen oder in Gesellschaft einer oder der andern Göttin oder Halbgöttin den Abend passierten.“

Im Mai 1778 waren Karl August und Goethe wieder in Wörlitz. Seine Tour durch den dortigen schönen, im frischesten Grün prangenden Park vergleicht der Dichter in seinem Tagebuche und seinen Briefen mit dem Vorüberschweben eines leisen Traumbildes. Als er des Abends durch die Seen, Canäle und Wäldchen schlich, war er tief gerührt davon, wie die Götter dem Fürsten erlaubt hatten, einen Traum um sich herum zu schaffen. Auf Goethe und dessen jungen fürstlichen Freund übte der Wörlitzer Park auf’s Neue die nachhaltigste Anregung. Schon am Abend des 1. Juni 1778, des Tages seiner Heimkehr, weilte Goethe wieder in dem neugeschaffenen „Felsenwerk und Grottenwesen“ an der Ilm; Wieland traf ihn dort in Gesellschaft „der schönen Schröterin (Corona Schröter), die in der unendlich edlen attischen Eleganz in ihrer ganzen Gestalt wie die Nymphe dieser anmuthigen Felsengegend aussah“. Der Juli aber sollte, durch einen besonderen Zufall veranlaßt, ganz in der Nähe die weiteren Goethe’schen Park-Dichtungen und damit den Park selbst entstehen lassen.

[451] Man hatte beschlossen, den Namenstag der regierenden Herzogin Louise im Stern durch ein heiter geschmücktes Fest zu feiern, das an die älteren italienischen Wald- und Buschfabeln geistreich erinnern sollte. Schon war manche Vorbereitung im Stillen getroffen, als Gewitter und Wasserfluth, Wiesen und Stern überschwemmend, alles vereitelten. Man mußte auf etwas anderes denken, und Goethe war es, der den Gedanken faßte und ausführte, die Festlichkeit auf eine vom Wasser nicht erreichte Höhe zu verlegen; dieselbe befand sich nahe dem Grottenwerke und unweit eines damals noch dort vorhandenen unbenutzten Pulverthürmchens unter der alten Schießmauer, wo eine Gruppe alter Eschen sich erhob, die, ein Oval bildend, in ihrer Größe und Schönheit Bewunderung erregten. Dort unter den alten Eschen ließ er heimlich einen Platz ebenen und gleich davor eine Einsiedelei bauen, ein Zimmerchen von mäßiger Größe, welches eilig mit Stroh überdeckt und mit Moos bekleidet wurde. In drei Tagen und Nächten kam es zu Stande, ohne daß man bei Hofe oder in der Stadt etwas davon vermuthete. Eine Gesellschaft geistreicher Freunde, unter ihnen auch Goethe als Pater Decorator, kleidete sich in weiße Kutten, Kappen und Ueberwürfe und lud den Hof ein. Am 9. Juli kamen die Herrschaften den Weg vom Fürstenhause her. Am erweiterten Felsenraume wurden sie von den Mönchen empfangen, indem dort ein vom Kammerherrn Siegmund von Seckendorf gedichtetes humoristisches Dramolet gesprochen wurde. Pater Orator begann:

Memento mori! Die Damen und Herr’n
Gedachten wohl nicht uns zu finden am Stern,
Es sei denn, sie hätten im Voraus vernommen,
Daß, eben am Tag wie das Wasser gekommen.
Auch wir mit dem Kloster hierher sind geschwommen.
Zwar ist die Capelle, der schöne Altar,
Die heiligen Bilder, die Orgel sogar,
Erbärmlich beschädigt, fast alles zerschlagen,
Die Stücke, Gott weiß! wo hinabwärts getragen;
Doch Keller und Küche, zwar wenig verschlemmt.
Hat auch sich, Gottlob, mit uns feste gestemmt.
Als wir, durch brausende Fluthen getrieben.
Hier dicht an der Mauer sind stehen geblieben.

Ein Gespräch folgte zwischen dem Pater Provisor, dem P. Guardian, dem P. Küchenmeister, welcher bedauerte, daß das Kloster „nur etwas kärglich und enge logirt sei“, dem P. Decorator und P. Florian, welcher den P. Decorator (Goethen) mit den Worten vorstellte:

Und dieser hier, Pater Decorator,
Der all unsern Gärten und Bauwerk steht vor,
Der hat nun beinahe drei Nacht nicht geschlafen.
Um uns hier im Thal ein Paradies zu verschaffen.
Denn wenn der was angreift, so hat er nicht Ruh,
Stopft Tag und Nacht die Löcher mit Heckenwerk zu,
Macht Wiesen zu Felsen und Felsen zu Gänge,
Bald gradaus, bald zickzack, die Breit’ und die Länge.
Sogar auch den Ort, den sonst Niemand ornirt,
Hat er mit Lavendel und Rosen verziert.

Die Patres Provisor und Küchenmeister meldeten dem P. Guardian, daß die Glocke schon zwei geschlagen und die Speisen aufgetragen seien, und der hochwürdige P. Guardian bemerkte:

Will Jemand in’s Refectorium kommen.
So ist er mir und dem Kloster willkommen.

Auf seine einladenden Verbeugungen folgte der Hof durch die vordere Thür in das kleine Zimmer, wo, auf einer mit reinlichem, aber grobem Tischtuche gedeckten Tafel, um eine Bierkaltschale, eine Anzahl irdener tiefer Teller und Blechlöffel zu sehen war. Bei der Enge des Raumes und den kümmerlichen Anstalten wußte man nicht, was das werden sollte, und die Frau Oberhofmeisterin, Gräfin Gianini, rümpfte darob die Nase. Da begann wieder der Pater Guardian:

Herr Decorator, der Platz ist sehr enge,
Und unsre Clausur ist eben nicht strenge;
Ich dächte wir führten die Damen in’s Grüne.

       Pater Decorator:
Ja wenn die Sonne so warm nur nicht schiene.

       Pater Guardian:
Es wird ja wohl Schatten zu finden sein.

       Pater Küchenmeister:
Ich meines Orts esse viel lieber im Frei’n!

       Pater Guardian (zum Pater Decorator):
Es fehlt ihm ja sonst nicht an guten Ideen.

       Pater Decorator:
Nun, wenn Sie’s befehlen, so wollen wir sehen.

Während er abging, rühmte ihn

      Pater Guardian:
Es ist ein gar fürtrefflicher Mann.

Der P. Decorator aber kam wieder und meldete:
      Ew. Hochwürden, der Platz ist ersehen;
      Wenn’s Ihnen gefällig ist, wollen wir gehen.

Da öffnete sich die hintere Thür und bot den Ausblick auf eine gegen den engen Vordergrund abstechende, prächtig-heitere Scene. Hoch überwölbt und beschattet von den Aesten des Eschenrundes stand eine lange, wohlgeschmückte fürstliche Tafel, und vollständige symphonische Musik erklang. Es nahmen die Kloster-Gäste Platz, und auch die Mönche, deren angebotene Aufwartung dankend abgelehnt wurde, erhielten die sonst gewohnten Plätze bei Tafel. Das volle, reiche Grün ringsum und ein malerisch angelegter, über Felsen herabstürzender Wasserfall, der durch einen kräftigen Zubringer unablässig unterhalten wurde, gaben dem Bilde einen frischen, romantischen Charakter; das Ganze war künstlerisch abgeschlossen; man fühlte sich so nah und fern vom Hause, daß es fast einem Märchen glich.

Mit diesem Louisenfest am 9. Juli 1778 begann (wie Goethe selbst in seiner Beschreibung des Festes, doch mit Angabe unrichtigen Datums, bemerkt) die Epoche der Parkanlagen, indem die sämmtlichen Wege am Abhange nach Oberweimar zu von hier aus ihren Fortgang gewannen.

Die verwittwete Herzogin Amalie hatte an dem Louisenfest nicht theilnehmen können, da sie mit von Einsiedel und Fräulein von Göchhausen nach Frankfurt und an den Rhein gereist war. Als sie nach Weimar zurückgekehrt, lud Goethe sie in seinen Garten ein, um sie mit allen den Poemen, die er in ihrer Abwesenheit an den Ufern der Ilm zu Stande gebracht, zu regaliren. So speisten am Abend des 22. August 1778 Amalie, Wieland, von Einsiedel, Frau von Stein und Fräulein von Göchhausen mit Goethe in der „gar holden kleinen Einsiedelei“; sie gedachten des Freundes Merck und Goethe’s Mutter, der soeben erst in Frankfurt besuchten lieben Frau Aja. Und als sie nun aufgestanden waren und die Thür öffneten, siehe, da stellte sich ihnen (wie Wieland an Merck berichtet) durch geheime Anstalt des Archi-Magus ein Anblick dar, der mehr einer realisirten dichterischen Vision als einer Naturscene glich: das ganze Ufer der Ilm in Rembrandt’s Geschmack beleuchtet, – ein wunderbares Zaubergemisch von Hell und Dunkel, das im Ganzen einen Effect machte, der über allen Ausdruck ging. Alle waren entzückt. Als sie die kleine Treppe der Einsiedelei hinabstiegen und zwischen den Felsen und dem Gebüsch längs der Ilm gegen die Brücke hingingen, zerfiel die ganze Vision nach und nach in eine Menge kleiner Rembrandt’scher Nachtstücke, die man ewig hätte vor sich sehen mögen und die nun durch die dazwischen herumwandelnden Personen Leben bekamen. Wieland hätte, wie er sagt, Goethen „vor Liebe fressen mögen“.

Bald darauf schrieb Wieland an Merck: „Goethe will haben, daß Du erst kommen sollst, wenn die Nachtigallen wieder singen, und das muß auch sein, wenn Du an allen Poesieen Freude haben sollst, die er dies- und jenseits der Ilm geschaffen hat, und die der hochlöblichen Kammer zwar ein tüchtiges Geld kosten, dafür aber auch diese Seite von Weimar zu einem Tempel und Elysium machen.“

Vor allem aber hatte das einfache, kleine Kloster in seiner romantischen Lage zwischen Felsen und dunklem Grün, nahe dem rauschenden Flusse, den Beifall des jungen Herzogs gefunden. Unter seiner und Goethe’s Fürsorge wurde es wohnlich eingerichtet. Dieses mit Baumrinde bekleidete Häuschen oder Borkenhüttchen war fortan der Lieblingsaufenthalt Karl August’s; er wählte es zur Sommerwohnung. Hierher ließ er in frühester Morgenstunde den vortragenden Rath kommen. Hier speiste er allein oder mit seinem Freunde Goethe, dessen Gartenhaus jenseit der Ilm er vom Fenster aus sehen konnte. Nachts stieg der junge Fürst nicht selten zum Bad in den nahen Fluß und schlief dann in der kleinen, schlichten Hütte.

[452] Inzwischen schritten unter Goethe’s Leitung die englischen Parkanlagen an dem Abhange des Ilmthales munter vorwärts. Mit großer Umsicht wurden an jenen Hängen hin sanft sich schlängelnde Wege über einander angelegt, die, indem sie durch die bereits bestehenden Bäume und Gebüsche und durch neu angepflanzte fremde Bäume und Sträucher den Blick von dem einen zum andern Wege beschränkten, dem Ganzen den Schein einer weit größeren Ausdehnung gaben, als dasselbe in Wirklichkeit hatte. Mit Stolz konnte Goethe am 15. Juni 1780 an Frau von Stein schreiben: an den neuen Wegen werde Schönes bereitet. An einer der schönsten Stellen dieser Wege gedachte Goethe, in Erinnerung an die mit dem jungen Herzog glücklich vollbrachte „Geniereise“ nach der Schweiz, in Gestalt eines viereckigen mit Figuren verzierten Monuments dem guten Glück einen Stein der Dankbarkeit zu widmen. Diese Idee kam nicht zur Ausführung, aber an derselben Stelle wurde als sinnig-schöne Parkverzierung nach Virgil’s Dichtung ein antiker Altar aufgestellt. Eine Schlange, welche ihn umwindet, ist eben im Begriffe, eines der obenliegenden Brode zu verschlingen. „Genio hujus loci“ (dem Schutzgeiste dieses Ortes) lautet die Inschrift dieses in echt antikem Sinne von Klauer schön gearbeiteten Altars.

Auf dem Paradeplatze neben dem welschen Garten wurde Gebüsch angepflanzt und so dieser Platz in die Parkanlagen hereingezogen. Der welsche Garten mit der Schnecke bestand vorerst noch fort. Den Weimaranern war es eine Herzenslust, in der dortigen Lindenlaube oder bei dem frischen Grün des hohen Wendelthurmes (der Schnecke) zu weilen. Und vollends an den Sommersonntagen pflegte sich dort ein großes Publicum zum sogenannten Vauxhall zu versammeln, das heißt beim Klange von Orchestermusik gruppenweise auf und ab zu wandeln. Auch Goethe stieg bisweilen auf jenen Wendelthurm, der Aussicht halber und um bei Gewitter das Blitzen am Horizont zu sehen, aß im welschen Garten und ging dort mit Wieland und anderen Freunden spazieren.

Der Stern mit dem kühlen Schatten der bejahrten Linden, Espen, Pappeln und Tannen behielt im Allgemeinen noch den alten Charakter, aber es wurden die drei künstlichen Teiche, welche in der Nähe der Schloßbrücke lagen, ausgefüllt, das dortige Fischerhaus abgetragen, der Floßgraben beseitigt und an der Stelle der alten Floßbrücke die sogenannte Naturbrücke über die Ilm geführt. Es wurden dort neue Gänge, „buschichte Quartiere“, wie Karl August sie nannte, angelegt, auf einem freien Platze eine Statue des Pan, gefertigt vom Hofbildhauer Klauer, aufgestellt, daneben eine originelle Art Kegelschub (Trou Madame) unterhalten und ein künstlicher kleiner Wasserfall geschaffen. Das Wasser fiel aus einer Felsenkluft in ein mit Tuffstein ausgemauertes Becken, und in schauerlicher Felsengrotte ruhte – ebenfalls von der geschickten Hand Klauer’s gearbeitet – die noch jetzt dort befindliche Statue der Sphinx. Hier und bei der aus dem Felsen sich ergießenden silberreinen, plätschernden Quelle weilte Wieland gern.

Im Juni 1782 kam der Fürst von Dessau nach Weimar. Er gab seine Befriedigung und Freude über die geschmackvollen jungen Parkanlagen kund; sie hatten seine Erwartungen weit übertroffen! Ihm, seinem Freunde, dem Schöpfer des Parkes von Wörlitz, in den nach jenem Vorbilde geschaffenen Weimarischen Parkanlagen ein Denkmal zu weihen, war die Idee, welche nun der Herzog Karl August faßte. Mit gewohnter Energie schritt er sofort zur Verwirklichung. Aus einem Steinbruche jenseit der Belvedereschen Allee ließ, er einen großen kegelförmigen Tuffsteinblock in die neuen Parkanlagen schaffen, auf der Unterlage von cyklopisch über einander gewälzten Felsstücken aufrichten und mit einer Steinplatte versehen, welche die goldene Widmung erhielt: „Francisco Dessaviae principi“. Mit Stolz theilte Karl August am 14. October 1762 dem Freunde Knebel mit: „Heute wird das titanische Werk von Neuem angegriffen, der Stein dem Jägerhaus gegenüber fortgewälzt und auf seinen Platz gebracht,“ und einige Wochen später: „Wenn der große Stein in seinem Glanze steht und seine Bestimmung offenbar ist, sollst Du eine Zeichnung davon haben.“ Wieland sowohl wie Goethe spöttelten über die „titanische“ Arbeit. Immerhin bot der große Stein gerade an dieser Stelle des Bergabhangs, von Moos bedeckt und von Epheu umrankt, mit den Königskerzen und Malven, die aus den Fugen hervorwuchsen, und eingefaßt von frischgrünen Bäumen und Gebüsch, ein interessantes und harmonisches Bild und ist noch jetzt eine der hervorragendsten Zierden des Parkes.

In demselben Jahre 1782 war es, als Goethe den Plan faßte, „die Steine reden zu lassen“, das heißt Inschriften nach Art der griechischen Epigramme für seinen Garten und für die Parkanlagen des Herzogs zu dichten. So entstand auch die Felseninschrift, welche an dem unteren Parkwege an der Felswand neben der jetzt zum Römischen Hause emporführenden Treppe auf steinerne Tafel eingegraben ist. Dort, an einem der schönsten Punkte des Parkes, giebt sie den poetischen Zauber, den diese Parkanlagen auf Herz und Gemüth üben, in der tief gemüthvollen Bitte an die Nymphen des Haines, wieder:

Die ihr Felsen und Bäume bewohnt, o heilsame Nymphen,
  Gebet Jeglichem gern, was er im Stillen begehrt!
Schaffet dem Traurigen Muth, dem Zweifelhaften Belehrung,
  Und dem Liebenden gönnt, daß ihm begegne sein Glück!
Denn euch gaben die Götter, was sie den Menschen versagten:
  Jedem, der euch vertraut, hülfreich und tröstlich zu sein.

Ihm selbst, dem liebenden Dichter; gönnten die Nymphen, daß ihm sein Glück begegnete. Sechs Jahre später, im Sommer 1788 war es, als hier auf einem der nächsten Parkwege ein hübsches, lebhaftes Mädchen von jugendlicher Frische und Ueppigkeit, mit langen, goldbraunen Locken und lachenden Augen, an ihn herantrat, ihm eine Bittschrift für ihren Bruder zu überreichen: Christiane Vulpius, seine spätere Gattin.

Auf der Höhe über jenen Versen ließ Karl August in den neunziger Jahren sich in Form einer römischen Villa ein Sommer- oder Gartenhaus bauen, das deshalb den Namen „Römisches Haus“ erhielt. Es ist das Haus, von welchem Goethe singt:

Römisch mag man’s immer nennen;
Doch wir den Bewohner kennen,
Dem der echte deutsche Sinn,
Ja der Weltsinn ist Gewinn.

Der Herzog übertrug Goethen die Leitung des Baues; „thue“ – schrieb er ihm – als wenn Du für Dich bautest. Unsere Bedürfnisse waren einander immer ähnlich.“

Das säulengeschmückte Haus wurde einfach, aber behaglich eingerichtet. Von den Fenstern genießt man südlich die Aussicht nach dem Lustschloß Belvedere, und östlich schweift der Blick über die Wiesen und Baumgruppen des Ilmthales hinüber nach dem kleinen Landhause, das später der Geliebten des Herzogs, der Sängerin Karoline Jagemann, nachherigen Frau von Heygendorf, gehörte. Eine von Belvedere hierher geführte Röhrenfahrt ergoß ihr Wasser in das große steinerne Becken in der unteren Halle des Römischen Hauses; munter plätscherte hier ein Springbrunnen, und von dem Felsen neben der Tafel mit den Goethe’schen Versen rauschte das Wasser als malerischer Wasserfall in ein von Tuffstein gebildetes Becken hinab. Springbrunnen und Wasserfall bestanden noch zur Zeit von Schiller’s Aufenthalten Weimar und noch lange Jahre nachher, und der Platz da unten bei dem silberblinkenden, rauschenden Wasserfall neben den Goethe’schen Versen ist eine doppelt geweihte, klassische Stätte, denn er war das Lieblingsplätzchen Schiller’s.

Herzog Karl August benutzte das Römische Haus, wie einst das kleine improvisirte Kloster, zum Sommeraufenthalte. Es blieb ihm bis zu seinem Ende ein traulicher Ruheort. Hier war es, wo am 3. September 1825 sein goldenes Regierungsjubiläum gefeiert wurde; hier war es, wo schon in frühester Morgenstunde der treue Jugendfreund Goethe als erster Gratulant ihn liebevoll begrüßte und von ihm liebevoll an die vergangenen Tiefurter Tage erinnert wurde; hier war es, wo unter Leitung Hummel’s die von ihm componirte, von Riemer gedichtete Festcantate erklang und das Echo mit gedämpftem Tone aus den nahen Gebüschen antwortete, während die zahllose Menschenmenge in tiefster Stille lauschte; hier war es, wo gegen das Ende der Musik Karl August in Kraft und Frische unter der Säulenhalle hervortrat; hier war es aber auch wo nur drei Jahre später, am Abend des 21. Juni 1828, unter dem Trauergeläute der Glocken in feierlichem Zuge ein mit acht schwarz behangenen Pferden bespannter Wagen vor dem würdevoll decorirten Hause hielt und die Leiche des allgeliebten Fürsten provisorisch beigesetzt wurde.

Doch wir kehren noch einmal in sein rüstigstes Mannesalter zurück, da wir noch der Umgestaltung des welschen Gartens, wie er mit Goethe sie geschaffen, zu gedenken haben. Sein Großvater,

[453]

Aus dem Park von Weimar.
Nach K. Schwier’s photographischen Aufnahmen gezeichnet von H. Heubner.

[454] Herzog Ernst August, hatte im Jahre 1733 den Platz hinter diesem Garten den Bürgern zur Herrichtung eines Schießhauses geschenkt. Noch jetzt ist der untere Theil des letzteren im Hofe der Hofgärtnerei zu sehen. Der dazu gehörige Garten dehnte sich in der Richtung nach der Ilm zu bis zu einer Schießmauer aus. Um die Verbindung der neuen Parkanlagen mit dem welschen Garten und somit die einheitliche Neugestaltung des Ganzen zu ermöglichen, gaben die Schützen ihren Garten im Jahre 1785 dem Herzoge unentgeltlich zurück. Karl August ließ die Schießmauer unter Benutzung von Bautrümmern des niedergebrannten Schlosses in die Ruine einer alten verfallenen Burg umwandeln. Mit halbem Portale, verwitterten Simswerke, altem Wappen und versunkenen Gewölben bietet sich in der That das täuschende Bild einer mittelalterlicher Burgruine dar – im Schmucke blühender Kastanien eine der schönsten Partien des ganzen Parkes.

Mit der allmählichen Umgestaltung des welschen Gartens zu englischer Parkanlage mußte, als nicht passend zum Ganzen, auch die Schnecke weichen. Mehrmals war vom Publicum Fürbitte für dieses liebgewonnene Werk eingelegt worden, und der Herzog hatte dem Gesuche stets williges Ohr geliehen, endlich aber wurde das alte, ohnehin baufällig werdende Werk entfernt. Dafür erhielt dieser Theil des Parkes einen besonderen Schmuck in einem neuen schönen Baue. An die Stelle eines dort befindlichen ökonomischen Gebäudes trat eine alte gothische Capelle, der Rittertempel (so genannt wegen der Ritterstatuen auf den vier Dachecken), ein den Sommervergnügungen des Hofes bestimmter Gartensaal. Herzogin Louise liebte es, hier inmitten lieblich grünender und blühender Natur Theegesellschaften zu geben. Aber auch dieser Rittertempel wurde später in das jetzige sogenannte Tempelherrnhaus oder den Salon umgebaut, ein mit den grau verwitterten Ritterstatuen geziertes, von Kletterrosen umranktes Gebäude mit hohen gothischen Fenstern, das in seinem Saale jetzt die schöne Hertel’sche Statue „Poesie“ bewahrt. Unweit dieses „Salons“ war es, wo einst der Nestor der deutschen Kupferstecher, der jetzt dreiundneunzigjährige wackere Meister Schwerdtgeburth, den Großherzog Karl August allein nur in Begleitung seiner beiden großen Hunde, den Weg daher kommen sah, in ein nahes Bosquet trat und, selbst ungesehen, diese Scene mit Künstleraugen sich einprägte, um dann, nach Hause zurückgekehrt, das Bild zu entwerfen, welches vom alten Herrn, wie ihn das Volk in seiner Erinnerung hat, die treuste, wahrste Darstellung ist und für alle Zeit bleiben wird.

So hatte sich unter Goethe’s Leitung der weimarische Park auf an sich ungünstigem Terrain zu reiner, schöner englischer Parkanlage gestaltet. Der Herzog aber überließ den Park in edler Liberalität den Bürgern zur freien Benutzung, und so wurde derselbe als freie Promenade die höchste Zierde Weimars.

Hundert Jahre sind seit dem Louisenfeste verflossen[2]. Wohl sind die damals gepflanzten Bäumchen nun zu alten Bäumen geworden, mancher der Bäume aus damaliger Zeit und leider auch einzelne der von Goethe bewunderten Eschen sind gefallen, andere Baum- und Gebüschanlagen – zum Theil nach dem Rathe des Fürsten Pückler-Muskau – sind entstanden, und dagegen die kleinen Wasserfälle und das fürstliche Badehaus an der Ilm nebst der Fähre längst verschwunden; im Wesentlichen aber ist der Charakter des Parkes im Ganzen und in seinen Einzelheiten noch der alte. Mag man im Stern oder am Römischen Hause weilen, oder mag man von der Bank aus, die man zu Ehren unseres großen Dichters „Schiller-Bank“ genannt hat, der schönen Ausicht auf die sich schlängelnde Ilm und deren Ufer sich hingeben – überall werden die Erinnerungen an jene große Zeit vor hundert Jahren wachgerufen. Will man aber den ganzen vollen poetischen Reiz des Parkes genießen, so muß man an einem Frühlingsabende, beim Dufte des Flieders und dem süßen Gesange der Nachtigallen ihn durchwandeln. Der Mondschein schimmert aus Goethe’s Gartenhause jenseits der Ilm, huscht durch das Gebüsch und läßt das Borkenhüttchen in gespenstischem Lichte schimmern. Man glaubt aus dem kleinen Kloster weiße Gestalten nach dem Louisenplatze ziehen zu sehen; es rauschen die alten Bäume; es rauscht der Fluß. Alte trauliche Geschichten erzählen sie uns, von einem jungen Fürsten und einem genialen Dichter, welche in inniger Freundschaft hier gelebt und die Parkdichtungen geschaffen haben. – Möge ihre Schöpfung in frischer Schönheit ewig fortbestehen und so wie unser Herz auch das Herz und Gemüth der künftigen Geschlechter erheben und erquicken!


Zur Geschichte des Strumpfes.

Eine Skizze von Fr. Uwinger.

Auch der Strumpf hat seine Geschichte. Bücher sind freilich nicht darüber geschrieben worden, und Gelehrte haben weder Zeit noch Mühe darauf verwandt; trotzdem gebührt ihr vom sittlichen, culturhistorischen und künstlerischen Standpunkt aus eine nicht zu unterschätzende Stelle. Nur bescheiden sieht sie aus den Aufzeichnungen alter und neuer Zeit hervor, führt uns aber an einer Reihe höchst interessanter Culturmomente vorüber, die in Kürze hier berührt werden sollen. Für die zart besaiteten Gemüther will ich von vornherein bemerken, daß ich keine Toilettengeheimnisse verrathen werde, auch nicht gesonnen bin, mich in eine Polemik über die Strumpfkoketterie einzulassen.

Der Strumpf, dieses jedem civilisirten Menschen jetzt unentbehrliche Kleidungsstück, ist ein Kind der Neuzeit. Das classische Alterthum und der größte Theil des Mittelalters kannten ihn nicht. Seine Mutter war ein langes, von den Hüften bis zum Fuß reichendes Beinkleid, welches große Aehnlichkeit mit dem jetzt von uns getragenen hatte. Dieses Beinkleid ist urdeutsch, wie schon sein Name andeutet: „Hose“ (chausse). Die Römer fanden es bei uns, doch blieb es für sie stets ein Gräuel und ein Merkmal der Barbarei. Das älteste deutsche Beinkleid-Document haben sie uns trotzdem erhalten: auf der trajanischen und antoninischen Säule sehen wir unsere Ahnen – in Beinkleidern.

Anfänglich war das Beinkleid weit, formte sich indeß im Laufe des Mittelaltars derart um, daß es allmählich immer enger wurde und zuletzt, in einem Stück gearbeitet, Fuß, Bein und Schenkel bedeckte. Es machte hierin viele Phasen durch, behielt aber diesen Hauptcharakter ständig bei. Erst gegen Mitte des sechszehnten Jahrhunderts sollte mit ihm eine bedeutende Aenderung vor sich gehen. Die Mode hatte ihm damals eine sehr unbequeme Form gegeben. Vom Knie aufwärts war es bauschig, zerschlitzt und zerrissen, niederwärts dagegen immer noch eng anschließend. Vornehmlich den Soldaten machte die Tracht unbeholfen; denn das An- und Auskleiden war zeitraubend und eine Reparatur desselben im Felde schwierig auszuführen. Die deutschen Landsknechte sollen die ersten gewesen sein, die mit aller Macht gegen die Mode geeifert haben.

Der Name des Chirurgen, der zuerst die nun folgende Operation vornahm, ist uns nicht aufbewahrt, wir wissen nur so viel, daß plötzlich das bis dahin ganze Beinkleid mit kühner Hand am Knie durchschnitten wurde. Auf diese Weise tritt uns das haut–de–chausse, das eigentliche Beinkleid, und das bas-de-chausse, oder schlechtweg bas entgegen – der Strumpf war geboren.

Diese Modeänderung wurde sehr bald als äußerst praktisch erkannt, und mit Ausnahme Spaniens, wo noch lange das tricotförmige anschließende Beinkleid üblich blieb, sehen wir dieselbe sich schnell von Deutschland aus über die übrigen civilisirten Länder verbreiten.

Man fertigte den Strumpf anfangs aus Wolle oder Baumwolle. Gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts muß indeß schon Seide dazu verwandt worden sein: sonst könnte der französische Sittenschilderer Brantome nicht erzählen, daß er viele Liebhaber gekannt, die, wenn sie sich neue seidene Strümpfe gekauft, ihre Schönen ersucht hätten, sie erst acht bis zehn Tage anzulegen, wonach sie die also eingeweihten mit großer Befriedigung getragen.

Das neue Kleidungsstück fand fast gleichzeitig bei den Frauen Eingang; sie kannten bis dahin nichts Aehnliches. Farbige Seide oder filet de Florence war bei ihnen als Stoff am meisten beliebt. Obwohl das Stricken nicht unbekannt war, wurden doch [455] die Strümpfe vielfach genäht, und es gehörte große Kunstfertigkeit dazu, sie faltenlos, gut sitzend „proprement et mignonnement“ herzustellen.

Allgemeiner dehnte sich ihr Gebrauch erst aus, als die höchst sinnreiche Strumpfwirkmaschine erfunden war (1589 von William Lee in Cambridge). Das charakteristische Leben und Emporblühen des Strumpfes, sein selbstständiges Dasein wurde erst hierdurch ermöglicht; erst jetzt konnte den Anforderungen in vollem Maße genügt werden, welche die Schönheit von Bein und Fuß an ihn stellte. Nicht allein dem Beine und Fuße des Mannes, nein, auch dem der Frau schenkte man die größte Beachtung, und ein schönes Bein, ein schöner Fuß einer eleganten Frau übte weit mehr als früher seine Anziehungskraft auf die Männer aus. Mit Vorliebe wurde darüber discutirt; man besang sie und schrieb sogar Bücher, wie der oben erwähnte Brantome, von dem man eine Abhandlung „über die Schönheit des Beins“ besitzt.

Was war natürlicher, als daß auch die Damen auf den Gedanken kamen, mit dem Strumpfe zu paradiren. Da das lange Kleid noch immer den Fuß bedeckte und gelegentliches kokettes Heben desselben der gefallsüchtigen Zeit nicht genügte, ein bedeutendes Kürzen aber den klimatischen Verhältnissen nicht entsprach, mußte anderweit Rath geschafft werden. Die in Sachen der Mode stets vorangehenden Höfe brachten Hülfe. Sie erfanden die allegorisch-mythologischen Schäferspiele. Kein größeres Zusammensein fand statt ohne à la Nymphale und zum guten Ton gehörte es, das Hauptamusement in dergleichen Aufführungen zu suchen. Bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts können wir diese Aufführungen in reichster Abwechselung verfolgen.

Dieses plötzliche Geltendmachen eines bestimmten Körpertheiles übte seinen merkwürdigen Einfluß auf die malende Kunst aus. Betrachten wir die Werke, hauptsächlich unserer deutschen Maler, vor der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, so wird uns die wenige Beachtung ausfüllen, welche sie, im Gegensatze zum Kopfe, den unteren Extremitäten zollen. Letztere sind fast durchgängig äußerst stiefmütterlich, oft sogar kindlich naiv behandelt. Ganz anders gestaltet sich dies jetzt. Fuß und Bein ist nicht mehr Nebensache, und Accuratesse sehen wir auch dort, oft sogar mit einer gewissen Vorliebe, angewandt.

Der Strumpf ließ noch auf anderem Gebiet seine Macht fühlen.

Wir kennen Alle die Bedeutung, welche sich durch eine bestimmte Kleidung auf den Menschen überträgt. Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob ich mich im bequemen Morgenrocke oder im gestickten Staatskleide bewege. Gang, Sprache, Benehmen wird darnach gemodelt, und der Ton, der durch mein ganzes Leben hallt, ist mehr oder minder davon abhängig. Die Männertracht gestattete bis zur Einführung des Strumpfes wenig Beweglichkeit. Steif, gravitätisch schritt man daher, sprach ebenso hölzern, tanzte mehr trippelnd oder hüpfend, und dem ganzen Sein fehlte die Grazie. Der Strumpf sollte hierin als Reformer auftreten. Die durch ihn geschaffene freiere Bewegung ging auf den ganzen Habitus des Menschen über. Der Gang wurde leichter, in den Tanz Grazie gelegt; der zierliche Pas trat an die Stelle des unbeholfenen Schrittes, der Galanteriedegen für das schwere Schwert ein, und die ausschmückende phrasenreiche Redeweise entsprach dieser Wandlung.

Nur einmal drohte der Herrschaft des Strumpfes Gefahr, als während des dreißigjährige Krieges der kolossale, herunterklappende, oft mit Spitzen besetzte Reiterstiefel ihn ganz zu verdecken suchte. Es blieb ein ohnmächtiges Streiten. Das tonangebende galante Frankreich schüttelte ihn nach dem Friedensschluß schnell wieder ab, und in noch weit schärferem Maße trat der Strumpf in sein altes Recht, und mit ihm spannte sich die Forderung, die man an ein wohlgeformtes Bein stellte, noch höher. Man verlangte von letzterem möglichst plastische Schönheit, und mit äußerster Sorgfalt wurde die richtige Bekleidung von Fuß und Bein zu einer Art Studium gemacht. Wo die Natur Lücke zeigte, half die Kunst nach. Stoff, Farbe und Ausstattung des Strumpfes mit Zwickel, Band oder Schnalle erforderte genaueste Uebereinstimmung, denn die Augen Aller ruhten zuerst dort; die Bewegung von Bein und Fuß zeigte beim Manne, ob er zur guten Gesellschaft gehöre.

So schritt der Strumpf über zwei Jahrhunderte, fast unberührt von allen Moden, ruhig seinen Weg, bis sich die französische Revolution auch an ihm vergriff. Seinem sichtbaren Dasein sollte ein Ende gemacht werden und des Strumpfes Mutter wieder zu Ehren kommen. Das Beinkleid des Mannes machte sich auf die Wanderung und begann in schneller Folge über seine bisherigen Endpunkte an Hüfte und Knie hinauszugreifen. Diese Halt- und Endpunkte rückten unter mancherlei Schwankungen immer weiter hinauf, am Ende bis unter die Achsel, und am Schienbein immer weiter hinab, bis eines Tages, um das Jahr 1796, das knappe Pantalon, die neue Stammmutter eines zahlreichen glücklichen Geschlechts, der Welt präsentirt wurde. Nicht lange währte es, da bekam es den langen anspruchsvollen blankgewichsten Stiefel unter sich uns ging nach kurzem Kampfe als unbestrittener Sieger über Schuh, Strumpf und Kniehose hervor. Das Pantalon und der Stiefel begruben beim Manne den eleganten Strumpf unter Stoff und Leder und jenes hüpfte süffisant in den Tanzsaal und an den Theetisch, wo wir es noch heute finden.

Die Zeit der Schäferspiele ist vorüber, und unsere Frauen lassen uns höchstens bei Regenwetter ein Streifchen des weißen Strumpfes zu Gesicht kommen. Ob sich die Geschichte des letzteren, bis hierher gelangt, ein für alle Mal der Forschung entziehen wird – wer kann es wissen? Betrachten wir die Damenmoden der letzten Jahrzehnte in ihrem raschen Wechsel vom ungeheuren Reifrocke bis zu dem anatomisch zeichnenden Gewande, von der langen Schleppe bis zum knappen Röckchen, von dem fußhohen falschen Haaraufbau bis zu den wunderbarsten Coiffuren – dann freilich sind wir nicht sicher, daß uns die Damen vielleicht auch einmal in Röcken à la Nymphale begrüßen und die goldene Zeit des Strumpfes von Neuem beginnt.



Blätter und Blüthen.


Der Teufel im Groß-Topp. Frisch und immer frischer wehte der Wind. Die Bram- und kleinen Stagsegel waren schon festgemacht. Ein feiner, dichter Regen vermehrte das Unangenehme einer finstern Nacht auf See. Das Schiff lief schnell durch die phosphorescirenden Wellen des atlantischen Oceans. Es war zwölf Uhr. Vom Achterdeck rief der wachthabende Officier: „Acht Glas und Reff in die Marssegel!“ Kurz darauf wurde die andere Wache mit dem gewöhnlichen aus voller Kehle gesungenen:

Rise,[3] Quartier is min Verlangen,
You mutten de Mann an’t Ruder verfangen,
Acht Glasen seind geschlahn.
Rise, Quartier in Gottes Namen!

und „Reff in die Marssegel!“ geweckt.

Alle Mann waren auf Deck; die Marsragen wurden heruntergeführt, und die Leute bekamen Befehl nach oben zu gehen. Kaum aber war der Erste bis unter den Mars, so kam er und mit ihm die ganze Gesellschaft in größter Hast wieder herunter. Ohne ein Wort zu sprechen, eilten Alle, wie auf Commando, nach dem Fockmast, und erst nach vielem Fragen wurde dem Officier die Antwort: „De Düwel is in’n Grot-Topp und he spreckt hollandisch.“

Kein Zureden, keine Vernunftgründe beruhigten die verstörte Mannschaft. Der Teufel ist im Groß-Topp, und noch einmal würden sie nicht nach oben gehen. Alle behaupteten deutlich die Worte: „wo mut yei natu“ gehört und Einige wollten sogar leuchtende Augen gesehen haben.

Der Wind nahm mehr und mehr zu; die heruntergeführten Segel schlugen und klatschten immer stärker. Statt des seinen Segels prasselte das Wasser in Strömen auf Deck. Die Segel mußten durchaus festgemacht werden.

Kurz entschlossen sprang der Officier die Strickleitern in die Höhe, um endlich Aufklärung in die Sache zu bringen und die Leute wieder zur Arbeit zu bekommen. Oben angekommen, wurde er mit dem Rufe: „Wo mut yei natu,“ empfangen. Unwillkürlich zusammenfahrend blieb er stehen. So sehr er auch seine Augen anstrengte, nichts Verdächtiges war zu entdecken. Da blieb also nichts Anderes übrig, als dem sprechenden Gespenst mit Licht auf den Leib zu rücken. Die Webeleinen hinab nach unten gehend, befahl er dem Koch, die Ankerlaterne anzuzünden, und so bewaffnet, stieg er wieder allein nach oben, da keiner von der Mannschaft den Muth hatte, ihn zu begleiten.

Nach einer Weile rief er den unten ängstlich zu ihm Aufsehenden lachend zu: „Nu kamt mal rup und helpt mi den Düwel fangen, sünst geit he uns noch äver Burd.“ In Lee, hinter dem Besansstengestagsegel saß, geschützt vor Wind und Regen ein niedlicher grüner Papagei. Der Teufel hatte diesmal eine besondere Gestalt angenommen und war ohne

[456] Pferdefuß und Hörner zu uns armen Seeleuten gekommen. Mit großem Jubel wurde er auf Deck und unter Dach gebracht.

Jetzt ging es schnell an die Arbeit. In kurzer Zelt lagen wir bequem vor den Sturmsegeln und der alte Bootsmann hatte Zeit, ein Garn zu spinnen, das, einmal angefangen, so leicht nicht abreißt. Erklärbare und unerklärbare Gespenstergeschichten wurden aufgetischt, um die heutige Furcht zu entschuldigen und zu beschönigen. Lange noch gab diese kleine Episode, mehr oder weniger vergrößert, Stoff zu Unterhaltungen, und Gott weiß, wie verändert sie heute in den Kreisen dieser wackeren Seehelden lebt; wer weiß, wie sie sich nach langer Zeit ihre Kindeskinder erzählen, und was dann aus unserem kleinen Teufelchen für ein Gespenst gemacht werden wird! Denn sicher stammen die unter den Seeleuten so beliebten Spukgeschichten vom „Fliegenden Holländer“, „Klabautermann“, der „Seekatze“ etc. alle von ebenso unschuldigen Ursachen her. Der Papagei blieb während der Reise der Liebling Aller. Zur Erinnerung an diese denkwürdige Nacht wurde er Düwel genannt.

Abends vor Dunkelwerden war ein holländischer Ostindienfahrer, nordwärts steuernd, an uns vorbeipassirt. Von ihm mußte „Düwel“ zu uns herübergezogen sein.

P. O.




Neue Untersuchungen über Farbenblindheit. Bekanntlich hat man früher die Farbenblindheit bei Menschen nur als ein Curiosum betrachtet oder gar solche Individuen, welche vorgaben, bestimmte Farben nicht unterscheiden zu können für Ueberspannte, ja für Simulanten gehalten. Ueber die bedeutendere Berücksichtigung, welche von Seiten der Behörden und Aerzte dem häufigen Vorkommen der Farbenblindheit in neuerer Zeit gezollt wurde, hat die „Gartenlaube“ mehrfach Mittheilungen gebracht. In der jüngsten Zeit haben nun zwei Breslauer Augenärzte, die Herren Professor Dr. Herm. Cohn und Docent Dr. Hugo Magnus, sich der mühsamen Aufgabe unterzogen, die heranwachsende Jugend auf Farbenblindheit zu prüfen, um der bezüglichen Statistik eine festere Grundlage zu verleihen. Bisher haben die Genannten gegen 6000 Schüler und Schülerinnen zu Breslau auf deren Capacität des Farbensinnes untersucht. Die Kinder wurden, um jegliche Täuschung zu vermeiden, durch vier Methoden auf Farbensinn geprüft; durch das Aussuchen farbiger Wollfäden, durch das Prüfen mit Farbebildern, durch das Prüfen mit Contrastfarben, sowie durch Prüfung mit dem physikalischen Spectralapparate. Unter 2561 Schülern fanden sich 67 farbenblind, = 2,7 Procent. Unter 2318 Schülerinnen fand sich nur eine farbenblind, = 0,04 Procent. Unter den Mädchen scheint also die Farbenblindheit zu den größten Seltenheiten zu gehören. Der einzige Fall, der beobachtet wurde, betraf ein Mädchen, welches sowohl für roth und grün, wie für blau und gelb unempfindlich war. Bei der Untersuchung der Schüler einer Realschule, welche von sehr vielen jüdischen Zöglingen besucht wird, ergab sich das überraschende Resultat, daß bei den jüdischen Schülern die Farbenblindheit sich bedeutend mehr verbreitet zeigte, als bei den christlichen. Unter 1947 christlichen Schülern fanden sich 42 farbenblind, = 2,1 Procent, unter 814 jüdischen Schülern 34 farbenblind, = 4,1 Procent. Es wurden also doppelt so viel jüdische als christliche Schüler farbenblind befunden. Auf den Mädchenschulen waren 836 Jüdinnen untersucht und alle normal befunden worden. Das Interessanteste bei diesen Untersuchungsergebnissen ist demnach: 1.) daß unter den Mädchen die Farbenblindheit fast nie vorkommt und 2) daß die Farbenblindheit unter den Juden noch einmal so verbreitet ist, wie unter den Christen. Letzterer Umstand hat noch das besondere Interesse, einen Beleg für die Vererbung menschlicher Eigenschaften zu bieten.

Bekanntlich hatte der berühmte Sprachforscher Lazarus Geiger aus vergleichend naturwissenschaftlich-philologischen Forschungen den Schluß gezogen, daß bei den alten Völkerschaften die Entwickelung des Farbensinnes (vergleiche Gartenlaube“ „Nr. 4, Jahrgang 1876 und Nr. 39 von 1877) eine ungenügende war und sich erst allmählich zu der Höhe der heutigen Empfindung entfaltet habe. In den jüngsten Jahren haben Dr. Magnus in Breslau und der auch als Sprachforscher bedeutende ehemalige Premierminister von Großbritannien und Lordrector der Universität von Glasgow, W. E. Gladstone, welcher schon früher ähnliche Untersuchungen veröffentlicht hat, die Geiger’schen Ansichten bestätigt. Der obenerwähnte merkwürdige Befund an den jüdischen Schülern der Breslauer Schulen dürfte nun einen neuen Anhaltspunkt dafür bieten, daß bei vielen alten Völkerschaften die Empfindlichkeit für Farbeneindrücke weniger entwickelt war, wie denn auch die Bibel wichtige Anhaltspunkte für jene Ansicht bietet, worüber schon früher Näheres in der „Gartenlaube“ auseinandergesetzt wurde. Da sich das jüdische Volk zum größten Theile in seiner Abstammungsreinheit bis heute erhalten hat, dürfte wohl das häufige Vorkommen der Farbenblindheit unter den Juden in der mehrerwähnten Theorie seine Erklärung finden. Merkwürdig und eigenthümlich bleibt es indessen immer, daß die Farbenblindheit bei dem weiblichen Geschlechte eine verhältnißmäßig so äußerst seltene ist, ein Umstand, für welche die Fachleute uns die Erklärung noch schuldig geblieben sind. Uebrigens hat ein Correspondent der „Gartenlaube“ (D. in B.) schon in Nr. 21. des vorigen Jahrgangs unter dem Titel: „Die Farbenblindheit in der Schule“ auf die merkwürdige Erscheinung hingewiesen, daß unter sämmtlichen in jener Anstalt untersuchten Mädchen keine einzige Farbenblinde zu finden war.
St.



Schrecken in der Pension. (Mit Abbildung S. 448 u. 449.) Der große Ruf, den C. von Piloty sich nicht blos als Künstler, sondern auch als Lehrer erworben, führte ihm auch aus dem fernsten Westen Amerikas Schüler zu, die wiederum im Stande waren, den Ruhm ihres Meisters durch hervorragende Leistungen zu vergrößern. Wir nennen hier nur D. Riel und Toby E. Rosenthal.

Von Toby E. Rosenthal bringt unsere heutige Nummer einen Holzschnitt nach einem seiner letzten Bilder „Schrecken in der Pension“. Das Bild selbst befindet sich jetzt in den Händen des Bestellers in San Francisco, nachdem es auf deutschen Ausstellungen seinem Autor neue Lorbeeren zu den alten erworben. Wie die früheren in unserem Blatt wiedergegebenen Rosenthal’schen Bilder: „Wer zuletzt lacht – lacht am besten“ – „Aus dem Regen in die Traufe“ – „Mahnt mich nicht, daß ich vergebens bin vom Frühling ausgeschlossen“ etc. spricht das Bild seinen Inhalt schlagend aus und ist in Bezug auf Licht und Farbe meisterhaft.

Den genannten humoristischen Darstellungen ging voran das tiefelegische Bild „Elaine“ vom höchsten künstlerischen Werth. Dasselbe wurde uns gleichfalls nach Amerika entführt. Dagegen besitzt Leipzigs Museum von Rosenthal’s Schöpfungen ein Werk innigster Darstellung: „Eine Morgenandacht in der Familie Joh. Seb. Bach’s“, das unbestritten zu den Perlen des Museums gehört. Noch ist der Höhepunkt unseres jungen Künstlers nicht erreicht, und wir dürfen mit Recht für die Zukunft Leistungen sehr hohen Ranges von ihm erwarten.



„Das Wort Pumpernickel“ schreibt man uns, „dürfte nicht, wie der Verfasser des Artikels in Nr. 28 der ‚Gartenlaube‘ von 1877 ausführte, von Pump oder Pomp und Nekel, sondern von einer Benennung von Seiten des Magistrats der Stadt Osnabrück stammen, der bei einer Hungersnoth um’s Jahr 1400 für die Armen der Stadt Brod backen und dieses ‚bona panicula‘ zu deutsch: ‚das gute Brödchen‘ nennen ließ. Aus diesem bona panicula ist vermutlich der Name Pumpernickel gebildet worden. Der Thurm, an dem der betreffende Magistratsbackofen lag, steht noch am Herrnteichswalle zu Osnabrück und wird noch jetzt der ‚Pernickel‘ genannt. Osnabrück ist mithin als die wahre Heimath des Pumpernickels anzusehen, der noch heute dort und in der Umgegend, insbesondere auf den Bauernhöfen, wohl am besten und größten (oft das Stück mehr als einen halben Centner schwer) gebacken wird.“ Weiß Jemand zwischen beiden Erklärungen zu entscheiden oder eine wahrscheinlichere dritte zu finden?



Zu den geographischen Merkzahlen, betreffend Art und Anzahl der das deutsche Reich bildenden Staaten (S. Nr. 25), liefert man uns aus Düsseldorf staatsrechtliche Merkzahlen, betreffend die Zusammensetzung des Bundesrates. Die Stimmführung im Bundesrate vertheilt sich in folgender Weise: Preußen hat 17 Stimmen, die 17 Kleinstaaten, welche je 1 Stimme haben, stellen zusammen auch 17 Stimmen, die anderen Staaten, welche mehr als je 1 Stimme haben, stellen zusammen 7 + 17 Stimmen, und zwar einer (Baiern) 6, 2 je 4 (Sachsen und Württemberg), 2 je 3 (Baden und Hessen) und 2 je 2 (Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig), also alles zusammen 58 Stimmen.



Kleiner Briefkasten.

L. L. in Prag. Was wir schon so oft gesagt, sei hier abermals wiederholt: es muß lediglich unserem eigenen Ermessen anheimgegeben werden, welche der uns zugehenden Anfragen wir einer Antwort werth erachten, sei es an dieser Stelle oder auf brieflichem Wege. Unberücksichtigt müssen wir jedefalls alle solchen Fragen lassen, welche jedes Conversationslexicon beantwortet. Die Revolvermanier der Beifügung einer Francaturmarke hat längst aufgehört uns zu imponiren. Wir werden von jetzt an alle nicht zur Rückantwort benutzten Marken der Armencasse einverleiben.

„Einer Frau.“ Sie beschweren sich über den häufigen Mangel von Perrons an Bahnstationen und über die Ungefälligkeit so vieler „Herren der Schöpfung“ reisenden Damen gegenüber. Die Beobachtung beider Uebel ist leider nicht neu, die „Gartenlaube“ kann jedoch denselben nicht abhelfen, sondern nur mit Ihnen und für Sie wünschen, daß es recht bald an jeder Station einen Perron und in jedem Zuge nur anständige und gebildete Männer geben möge.

R. R. V. G. in Berlin. Herr – – Sie sind reif für’s Irrenhaus.

L. D. F. In Nr. 40 des Jahrganges 1875.

M. K. in M. Die gewünschte Adresse lautet: Frau Auguste von Roeßler-Lade. Langen-Schwalbach, Wiesbaden.



Für die Hinterlassenen der verunglückten Seeleute vom „Großen Kurfürsten“

gingen wieder ein: Obertertia des Gymnasiums zu Sagan M. 25; Giese in Herzberg i. M. M. 1; J. Kinzig in Kehl M. 1.80; Dr. R. in Kloster Heilbronn M. 5; D. Elias in Geldern M. 5; gesammelt bei einem Festmahle vereinigter Mitglieder des landwirthschaftlichen Vereins, des Gemeindetages und des Militärvereins „Albertbund“ zu Lommatzsch M. 16; Theilertrag eines von der Liedertafel zu Steinichtwolmsdorf veranstalteten Concertes am 18. Juni zu Ehren des silbernen Ehejubiläums unseres hochverehrten Königpaares, durch Lehrer Aug. Kern M. 12; Gesangverein Pfullendorf M. 70; E. in Berlin M. 4; Gustav Lindner in Ellefeld, gesammelt gelegentlich des silbernen Hochzeitsfestes unseres Königspaares M. 12.37; A. K. in Schöppenstedt M. 3; H. von Schilling in Cannstatt M. 10; Edmund Maasdorf in Mühlberg a. E. M. 2.5; L. R. M. 3; C. K. in Wittenberg M. 10; Lina Litzrodt in Golchen bei Brüel M. 3; gespartes Taschengeld einer früh Vollendeten in Breslau M. 1.60; gesammelt in einer Hochzeitsgesellschaft in Cöslin durch Posteleve Krüger M. 14; eine Deutsche in Detta (Ungarn) 5 Fl. = M. 8.60; von der Besatzung der Burg Hohenzollern durch Hauptmann Müller M. 58; B. Niehus, Uhrmacher in Elmshorn M. 2. – Von C. W. in Mengeringhausen (Waldeck) wurde ein reizendes werthvolles Aquarell, ein Feldblumenstrauß auf dunkelbraunem Papiergrunde, eingesandt, mit dem Ersuchen, dasselbe im Interesse der Sammlung zu veräußern. Welcher unter unsern Lesern wagt ein Gebot? Wer am meisten Herz hat, gewinnt es!

Die Redaction.

  1. „Aufg’setzt, aufgesetzt“ bedeutet: „vorher bestimmt“.
  2. Zu dieser Säcularfeier läßt der Photograph Schwier in Weimar eine Sammlung von Photographien als „Erinnerung an den Goethe-Park“ erscheinen, welche wir unseren Lesern warm empfehlen. D. Red
  3. Rise, aus dem Englischen aufstehen. Vier Stunden (Quartier) dauert eine Wache auf Deck. Jede halbe Stunde wird durch Glockenschläge angezeigt, die in vier Stunden von eins bis acht zunehmen, sodaß z. B. einhalb ein Uhr ein Glas, zwei Uhr vier und vier Uhr acht Glas sind. Dann ist Quartier; die Wache wird abgelöst und die Rechnung fängt von vorn an.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Zeroffel