Zwei Lehrer der Freiheit und Menschenrechte (1)

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Autor: Albert Fränkel
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Titel: Zwei Lehrer der Freiheit und Menschenrechte. 1. Voltaire.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 358–361
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
2. Teil: Jean Jacques Rousseau.
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Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
1. Voltaire.

In einer Mainacht des Jahres 1814, kurz nach der Rückkehr des bourbonischen Ludwig des Achtzehnten, fuhr an der schönen und geschichtlich denkwürdigen Genoveva-Kirche in Paris ein geschlossener Wagen vor, aus dem zwei Männer stiegen. Bei ihrer Ankunft öffnete sich leise eine Thür der Kirche; sie traten ein, kehrten aber schon nach kurzer Zeit mit einem gefüllten Leinwandsack zurück, den sie vor sich in den Wagen legten, welcher hierauf eilig mit ihnen davon jagte. Die Straßen waren um diese Stunde schon ziemlich verödet, Paris lag bereits im Schlummer, oder hing im Innern der Häuser seinen nächtlichen Zerstreuungen nach, die stumm und in scheuer Hast sich abspielende Scene auf dem Genoveva-Platze war unbemerkt geblieben. Der Wagen fuhr nach einem wüsten Abladeplatz bei Berey, wo fünf Männer seiner harrten, die schweigend eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Grube umstanden. In diese wurde sofort der unheimlich durch einander klappernde Inhalt des Sackes ausgeschüttet und hier schnell von der Zerstörungskraft des Kalks verschlungen, während der eine von den zwei aus Paris gekommenen Männern die Ceremonie mit einem herzhaften Fluche beschloß. Dann schaufelte man sorgfältig die Erde wieder zu, und nur ein Eingeweihter hätte am nächsten Morgen die Stelle des Bodens bezeichnen können, auf welcher eine schnöde Unthat sich vollzogen hatte. Die Geschichte der Menschheit aber hat alle Ursache, den Vorgang dieser Frühlingsnacht mit unauslöschlichen Zügen in ihr Erinnerungsbuch zu schreiben. Denn es handelte sich dabei nicht um einen Exceß gewöhnlicher Privatleidenschaft, sondern um einen berechneten Handstreich roher Feindseligkeit gegen pietätsvolle Empfindungen der gesammten civilisirten Menschheit, es war an stolz gehüteten Heiligthümern des französischen Nationalgeistes eine verbrecherische Schändung verübt, es waren die Spuren denkwürdiger Geisteshelden, die Gebeine eines Voltaire, eines Rousseau aus ihrer Ruhe gerissen und in dieser beschimpfenden Weise vernichtet worden.

Als im dritten Jahre der großen Revolution (1791) die Genoveva-Kirche in ein nationales Pantheon verwandelt worden war, hatte man die Ueberreste jener unvergeßlichen Lehrer der Freiheit und des Volksrechts aus ihren Gräbern geholt und auf Beschluß der Volksvertretung unter der begeisterungsvollen Theilnahme des Volkes in dem neu errichteten Mausoleum beigesetzt. Napoleon der Erste hatte zwar nach dem Concordat mit dem Papste das Gebäude dem römischen Cultus zurückgegeben, aber niemals, weder in jenen Tagen noch später, hätte die Geistlichkeit es wagen dürfen, vor den Augen Frankreichs ihre Hand an die Denkmäler oder gar an die Asche der hier für ewige Zeiten bestatteten Lichtverkünder zu legen. Was sie aber unzweifelhaft längst gewünscht hatte und öffentlich nicht unternehmen konnte, das ließ sie nun heimlich und unter dem Schleier der Nacht von gedungenen oder fanatisirten Menschen vollführen, als ihr Uebermuth nach der Wiederkehr der Bourbonen wieder einmal siegrech emporzuschwellen begann. Oder sollte Jemand im Ernste glauben, daß jene beiden Männer - wie man jetzt weiß, waren es zwei Brüder Namens Puxmorin - aus eigenem Antriebe den Plan des Wagstückes ersonnen, daß sie ohne priesterliche Erlaubniß und Mitwirkung den Diebstahl an einem Eigenthum der Kirche hätten begehen können?

Eine dunkle Kunde von dem Attentat war freilich auf unbekannten Wegen in weitere Kreise der Bevölkerung gedrungen, aber Niemand konnte so recht an das Unerhörte glauben, bis endlich Louis Napoleon sich Klarheit in dem Punkte verschaffen wollte und die Gräber öffnen ließ. Man fand sie in der That gänzlich ausgeräumt, und eine Untersuchung stellte dann weiter den oben erzählten Hergang an’s Licht. Gewiß, die Kirchen- und Ketzerhistorie, das große Schuldregister eines erbarmmugslosen Zelotismus, hat viel gräßlichere Handlungen aufzuweisen, vielleicht aber keine, die so nichtswürdig boshaft, so heimtückisch und dabei zugleich so feige gewesen wäre, wie dieser nächtliche Knochenraub in unserem 19. Jahrhundert. Und warum sollte diesen ohnmächtigen Resten hervorragender Denker eine so arge Schmach bereitet werden? Doch offenbar nur, um damit die Gedankenmacht zu schlagen, welche einst von diesen Männern ausgegangen war. Hier lag das Kindische des ganzen Beginnens. Denn die Gedanken Voltaire’s und Rousseau’s hatten weder unter den korinthischen Säulen der Genoveva-Kirche geruht, noch waren sie in die Kalkgrube bei Bery geworfen worden. Von den Werken ihrer Erzeuger aus hatten sie längst als ein warmer Verjüngungshauch sich in alle Lande ergossen, als ein färbendes und treibendes Element sich mit dem Safte aller Culturströmungen vermischt und gewaltige Umwälzungen, untilgbare Veränderungen herbeiführen helfen, nicht blos in den Staatsverhältnissen, sondern auch in den Köpfen und Herzen, dem täglichen Verkehr und Leben der Völker. Wer die Entwickelung der Zeitgeschichte seit dem elenden Ereigniß in jener Mainacht von 1814 kennt, der weiß auch, wie gänzlich gleichgültig dasselbe dem weiteren Aufstreben des Fortschrittsgeistes geblieben ist.

Auch in Frankreich selber hat er immer wieder siegreich aus den herabdrückendsten Umgarnungen clericaler Herrschaft sich losgerungen und dann auch immer seines Ursprunges so dankbar sich erinnert, wie es wiederum in diesem Augenblicke geschieht, wo dort in Stadt und Land der hundertjährige Todestag Voltaire’s zu einem überwältigenden Ausdruck des Volkswillens gegen die Feinde dieses Namens erhoben und als ein großartiges Sieges- und Auferstehnungsfest der freisinnigen Grundsätze begangen

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Marie François Arouet de Voltaire.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

wird. Es ist das ein französisches Fest, aber ein solches, dem alle gebildeten Kreise des weiten Civilisationsbereiches eine aufmerksame Theilnahme zu widmen haben. Denn der Mann, den es feiert, gehört der Weltgeschichte an und lebt noch heute aller Orten wirksam in allen den Kämpfen fort, welche das Licht in der Menschheit gegen die Mächte der Finsternis zu führen hat. Nicht blos gegen ihn, sondern gegen uns selber erfüllen wir eine Pflicht, wenn wir sein Bild uns vor die Seele zu rufen, das Wesen seiner Erscheinung uns zu vergegenwärtigen suchen.




Die Erinnerung an Voltaire ist in der Nachwelt, namentlich in der deutschen, keine ungetrübte. Sein Name ist nicht blos durch die Feinde seiner Ueberzeugungen verunglimpft und verkleinert worden, er hat ihn leider auch selber verdunkelt durch starke Gebrechen seines eigenen Charakters, die keine beschönigende Lobrede von ihm abzuwischen vermag. Wir haben nicht die Absicht, uns hier mit diesen so vielbesprochenen Fehlern des Mannes zu beschäftigen. Eine umfassende biographische Schilderung wird sie ohne Rücksicht bloßlegen müssen, für die rein geschichtliche Betrachtung jedoch gehören sie zu jenen persönlichen Schlacken, die immer mehr in den Erinnerungen sich abstreifen, je mehr die Bedeutung einer entschwundenen Erscheinung als segensreich erkannt wird und sich fühlbar macht.

Ebenso wenig soll hier von den Verdiensten Voltaire’s als Dichter und Aesthetiker eingehend gesprochen werden. In der Zeit, wo er seine Gedichte und Dramen schuf, befand sich die seit lange schon sehr herabgekommene deutsche Bildung in einer wahrhaft knechtischen Abhängigkeit von der Gedankenwelt und den Geschmacksmoden der Franzosen. Als Muster beherrschte namentlich Voltaire die Literatur und das Theater unserer doch so wesentlich anders gearteten Nation. Um hier Wandel zu schaffen, der ebenso [360] so schimpflichen als verderbliche Nachäfferei zu steuern und einem natürlichen Aufkeimen nationaler Selbstständigkeit die Bahn frei zu machen, mußte vor Allem der fremde Dichtergötze auf deutschem Boden gestürzt werden. Diese nothwendige Rettungsaufgabe hat Lessing vollführt, und es war das eine seiner größte Reformthaten. Die hierauf folgenden Jahrzehnte haben sodann bei uns ganz andere und viel richtigere und tiefere Erkenntnisse von dem Wesen echter Poesie zur Geltung gebracht durch neu erblühte Schöpfungen deutschen Geistes, vor denen der dichterische Glanz Voltaire’s und seiner Landsleute schnell erbleichen mußte. Zugleich aber führte dieser ganze Verlauf auch zu einer einseitigen Geringschätzung der poetischen Gestaltungen Voltaire’s und zu einer Voreingenommenheit wider dieselben, die sich vor dem unparteiischen Wahrheitsgefühl unserer Tage nicht rechtfertigen läßt.

Auch von der wissenschaftlichen Thätigkeit Voltaire’s, von der Methode seiner Forschung, dem Gesichtskreise seines Wissens läßt sich sagen, daß dies Alles von den Fortschritten und Entdeckungen unserer Jetztzeit überholt ist. Namentlich hat sich unsere ganze Stellung zur Vergangenheit, unsere Kenntniß und Betrachtung der Menschheits- und Völkergeschichte unendlich erweitert und zugleich vertieft. Voltaire zeigt in seinen Leistungen als Geschichtsschreiber allerdings schon große Züge, merkwürdige Einblicke und Ahnungen, die eine glänzende Zukunft dieser Forschungen ankündigen, aber er kennt jenes in der Folge der Zeiten sich offenbarende Gesetz der geschichtlichen Entwickelung noch nicht, das für uns eine so mächtige Grundlage geworden zum Verständniß unserer Gegenwart. Nach diesen Seiten hin haben seine Bücher für uns nur noch die Bedeutung einer wichtigen und hochinteressanten, aber bereits hinter uns liegenden Etappe auf dem stufenmäßigen Befreiungsgange der wissenschaftlichen Forschung.

Was wir hier in Betracht ziehen wollen, das ist die in ihrer Energie und in ihrem Erfolge fast einzig dastehende Arbeit des Mannes für die Culturentwickelung der Menschheit auf socialem Gebiete. Wer Voltaire’s Bedeutung in dieser Hinsicht verstehen will, der muß eine deutliche Vorstellung von dem Charakter des Zeitalters haben, aus dem er hervorgegangen ist und auf das er zunächst eingewirkt hat. Es war das Zeitalter des höchsten Glanzes fürstlicher Machtvollkommenheit und einer so gewaltthätigen Herabtretung und Erniedrigung der Völker, daß die Menschen unserer Gegenwart sich kaum noch in diese Lage ihrer Vorfahren versetzen können. Unter dem gänzlich ungezügelten Willen der obersten Machthaber und unter den Füßen der bevorrechteten Kasten, welche um ihre Throne sich schaarten, seufzten zitternd und fast rechtlos die ungeheueren Massen der übrigen Bevölkerungen, die fleißigen Betreiber des Gewerbes und Handels, des Handwerkes und Ackerbaues, welche im Staate und in der Gesellschaft nichts waren als verachtete Gegenstände der Aussaugung und Mißhandlung von Seiten der herrschenden Personen und Stände. Und dies Alles war nicht blos da wie ein Uebel und eine böse Fügung des Geschickes, es galt noch obendrein als die beste, von „Gott“ so und nicht anders gewollte Ordnung der Dinge, es wurde von der ausschließlich im Dienste der Throne arbeitenden Wissenschaft, Dichtung und Kunst als die oberste Quelle aller staatsrechtlichen Grundsätze verkündet, vor Allem aber von der bestehenden Kirche bestätigt, durch die geltende Religion geheiligt, durch den Mund der Priester als unwidersprechlich gelehrt und gesegnet. Nichts war natürlicher, als daß unter der Gewalt dieses durch keine Gegenmacht eingeschränkten und täglich sich steigernden Druckes, unter dem Einflusse einer solchen Erziehung und unablässigen Dressur zu gehorsamer Unterwürfigkeit die große Menge des Volkes alle Kraft selbstständigen Denkens und Urtheilens, den Muth des Widerspruches und Widerstandes gegen das Unerhörteste verloren hatte. In dumpfer und regungsloser Ergebung, unwissend, abergläubisch und bigot, küßten sie die Ruthe ihrer als Gottgesandte sich aufspielenden Peiniger. Und zu den politischen und finanziellen Bedrückungen ohne Gleichen kamen fast aller Orten auch noch die kirchliche, die fortwährenden Kriege eines mit hoher Macht ausgerüsteten Pfaffenthums gegen jedes schüchterne Hervorwagen eines freien Gedankens, diese grausamen Verfolgungen anderen Glaubens, welche z. B. durch die abscheuliche Widerrufung des Edictes von Nantes nicht weniger als fünfhunderttausend friedliche, gewerbfleißige und wohlhabende Protestanten aus Frankreich trieben. Einer sicheren Berechnung zufolge belief sich im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts die Zahl der Mönche und Nonnen in Frankreich allein auf etwa neunzigtausend, und dazu kamen noch zweihundertfünfzigtausend Weltgeistliche!

Denkt man sich alle diese Zustände ohne jede Besserung verewigt, so hätte ein vollständiger Untergang der europäischen Menschheit die Folge sein müssen. Aber die Rettung kam, und sie kam aus dem erwachenden Denken, als schon in den letzten Tagen des vierzehnten Ludwig das künstliche Gebäude des Despotismus in sich selber zu wanken begann. Seine schwächer gestellten Nachfolger mußten die Zügel lockern und auch durch Förderung des Gewerbfleißes die versagenden Erpressungsquellen für ihren ungeheuren Geldbedarf zu stärken suchen. Dadurch kamen die arbeitenden Leute zu Wohlstand und Selbstgefühl. Noch ein kurzes Weilchen, und inmitten der Gesellschaft hatte sich ein neuer, der sogenannte dritte Stand herausgebildet, das erstarkte Bürgerthum, in dem sich eine reinere, von der oberen Fäulniß noch nicht angefressene Sittlichkeit mit tieferer Intelligenz, mit einem leidenschaftlichen Durste nach Wahrheit und nach ihrer muthigen Bezeugung verband.

Es wäre seltsam gewesen, wenn der jugendkräftige Trieb und Drang einer so gewaltig dem innersten Kern der Nation entsprießenden Bewegung für ihre frisch herausstrahlende Gedanken nicht auch den ihr entsprechenden literarischen Ausdruck gefunden hätte. Der große Aufschwung der Literatur und Dichtung in der Glanzepoche Ludwig’s des Vierzehnten hatte nur im Dienste des Thrones und für seine Verherrlichung gearbeitet. Jetzt traten mit einem Male Schriftsteller hervor, die auf die Nation sich stützen und den Volksgeist durch den Ruf der Freiheit und den Angriff aus die herrschenden Mißbräuche aus seinem Schlummer rütteln wollten. Paris wurde der Brennpunkt eines noch still glimmenden aber mächtig um sich greifenden Seelenfeuers. Aus den Schriften und Büchern, die hier in den einsamen Werkstätten unabhängiger Denker geschaffen wurden, sprach zündend und erweckend ein neuer Geist scharfer und kühner Prüfung, der auf die letzten Gründe der bestehenden Dinge zurückging und sie um ihren Rechtstitel, ihre Existenz zu fragen begann. Es bildeten sich gesellschaftliche Kreise, Schulen von Philosophen und Dichtern, in denen der neue Geist eifrig gepflegt, gespornt und befruchtet wurde. Noch entfaltete der herabdrückende Despotismus ungebrochen seine volle Geltung, aber er sah sich bereits zu einem Vertheidigungskampfe herausgefordert gegen eine ihm feindliche Umwälzung, die unfaßbar war, da sie im Innern der Gemüther, in der Denkweise, den Gewohnheiten und Sitte der Menschen unaufhaltsam sich vollzog. Noch umgaben schwarze Wolken und unbezwingliche Mauern den ganzen Lebenshorizont, aber aus dieser Nacht des Wahns und der Knechtung brachen schon Streifen glänzenden Morgenlichts hervor und verkündeten einen neuen Tag des Völkerlebens, die Aera der Erlösungsarbeit, in der wir noch jetzt begriffen sind. Einer der ersten Entzünder aber und der unermüdlichste Schürer dieser weltumwälzenden Flamme ist Voltaire gewesen.

Als er geboren wurde (am 21. November 1694), war die Sonne Ludwig’s des Vierzehnten schon tief unter ihre Mittagshöhe gesunken und der heranwachsende Knabe war noch Zeuge der Verstimmungen, welche aus der sogenannten großen Regierung dieses glänzenden Despoten sich ergeben hatte. Sein reiferes Jünglingsalter verlebte er in der wüsten Taumelzeit der ausschweifenden Regentschaft, und es können die schwer auf dem Lande lastenden Bedrückungen dem Auge des lebhaften jungen Mannes nicht entgangen sein. Schon aus der Jesuitenschule, wo er erzogen wurde, prophezeite ihm einer seiner Lehrer, daß er einst zu den Feinden des wahren Glaubens gehören werde. Von einem Einfluß der Eltern auf seine Erziehung ist wenig bekannt. Sein Vater, der Notar und spätere königliche Schatzmeister Arouet – den Name Voltaire hat sich der Sohn erst später beigelegt – war bürgerlichen Standes, die Mutter dagegen aus einem adeligen Geschlecht. Durch seinen Taufpathen, den galanten und leichtlebigen Abbé von Châteauneuf[WS 1], wurde der junge Mensch frühe in die Salons und Zusammenkünfte der hocharistokratischen Gesellschaft geführt, wo die schlüpfrige Satire, die pikante und elegante Frivolität das Parfüm der Unterhaltung bildete. In täglichen Verkehr mit Grafen und Baronen nahm er hier die Neigungen und Meinungen der aristokratischen [361] Lebensart an und gewöhnte sich an den vornehmen Umgang, der ihm bis an sein Ende Bedürfniß geblieben ist. Aber noch ein Anderes und zwar für ihn Werthvolleres erwarb er sich in diesen Kreisen: jenen brillianten Schliff des verfeinerten Pariser Geschmackes in Sprache und Stil, der allen Franzosen als classisch gilt. An reichlicher Nahrung für seinen Spott gegen die bestehenden Gewalten, namentlich in Bezug auf das kirchliche Wesen, hat es sicher in jenen aristokratischen Cirkeln auch nicht gefehlt.

Der junge Voltaire erregte frühzeitig hin und wieder Aufsehen durch satirische Gedichte, und in seinem dreiundzwanzigsten Jahre wurde er sogar wegen eines solchen Angriffs auf eine hohe Persönlichkeit elf Monate hindurch in die berüchtigte Bastille geschickt. Das galt aber im Urtheile des Publicums damals bereits als eine Auszeichnung, so weit war die Schärfe des Oppositionsgeistes schon gediehen. Auch Voltaire ging aus der Zwingburg der Könige mit dem Nimbus des Märtyrers hervor, aber eine zweifellose Befestigung seines literarischen Ansehens erlangte er im nächsten Jahre, als seine Tragödie „Oedipe“ vierzig Mal hinter einander unter dem rauschendsten Beifall aufgeführt wurde. Zugleich befreite ihn dieser sichtliche Erfolg von der juristischen Laufbahn, in die ihn der Vater wider seine Neigung gedrängt hatte. Unter den Anerkennungen, welche ihm sodann einige weitere Tragödien eintrugen, fehlte auch die Aussetzung einer königlichen Pension nicht. Ein Streben nach Hofgunst lag in jenen Tagen selbst den unabhängigsten Geistern nicht fern, dem jungen Voltaire aber gereicht es jedenfalls zur Ehre, daß er den königlichen Gnadengehalt zwar dankbar annahm, sich jedoch dadurch in keiner Weise abhalten ließ, seine Urtheile über die bestehende Mißwirthschaft so offen als möglich auszusprechen. Schon sein „Oedipe“, dieses Erstlingswerk, enthielt starke Anzüglichkeiten gegen die engherzige Verfolgungssucht der Priester, aber viel breiter und mächtiger wurde der in ihm gährende Widerspruch gegen den geistlichen Fanatismus in seiner berühmten, zuerst 1723 gedruckten und erst später zu ihrer jetzigen Gestalt umgearbeiteten „Henriade“ ausgeprägt, dem Hauptwerke seiner Jugend.

Die ästhetische Kritik hat längst die großen poetischen Schwächen dieser Schöpfung hinreichend nachgewiesen aber kein unbefangener Leser wird leugnen können, daß dieses sogenannte Epos Partien von hinreißender Kraft und Schönheit bietet (wie z. B. die tiefergreifende Schilderung der Bartholomäusnacht) und daß die Sprache des Ganzen sich mit wahrhaft bestrickendem Wohllaut in die Seele schmeichelt. In allen deutschen Schulen wurde deshalb früher auch auf das Studium dieser Verse ein besonderer Eifer verwendet. Aber nicht allein in ihrem ästhetischen Charakter, sondern in ihrer Tendenz lag die Bedeutung dieses Werkes, es war, wie Hettner treffend bemerkt, weniger eine dichterische, als eine geschichtliche That. Voltaire vermeidet darin mit schonender Vorsicht jeden directen Angriff auf die Monarchie und die Geistlichkeit, ja er verherrlicht die erstere ausdrücklich. Je weniger er aber frei war und frei sein konnte von einem Zittern vor dem starken Arme dieser Willkürgewalten, um so höher haben wir es ihm anzurechnen, daß sein Gedicht unter dem Alles niederbeugenden Drucke solcher Zustände dennoch als eine gewaltige Verherrlichung bürgerlicher und religiöser Freiheit sich darstellt, als ein glühender Protest gegen die Verfolgung der Protestanten, als ein tiefernst aus dem Herzen kommender Mahnruf begeisterter Menschenliebe zur Versöhnung und Milde, zur Aufklärung und Bildung. Das war ein Funke, der weit und breit in Tausenden haften mußte, die herzlich müde waren der Verwüstungen des endlos rings umher lodernden Ketzer- und Glaubenshasses und nun in den neuverkündeten Grundsätzen der Duldsamkeit den Weg zum Frieden aus schmerzensvoller Wirrniß eröffnet sahen. Dadurch gewann das Buch eine ungeheure Verbreitung, die Bedeutung eines unberechenbar machtvollen Einflusses auf die Richtung der Gemüther. In seinem dreißigsten Jahre war Voltaire durch seine „Henriade“ zu einem europäischen Rufe gelangt. Das Geschick aber, welches so viele Talente schon in ihrem erste Entfalten zerstört, bewahrte fürsorglich diese Menschen vor einem Einschlummern aus dem früh errungenen Lorbeer. Es war, als ob er in der bitterste Weise erst noch an sich selber die heillose Schmach der bestehenden bürgerlichen Verhältnisse erfahren und dadurch gewaltsam in neue Bahnen geworfen werden sollte, die er ohne diesen Zwang vielleicht niemals betreten hätte.

Verfolgungen der Censur waren ihm schon reichlich zu Theil geworden, auch an Mißhandlungen durch Feinde und Neider hatte es nicht gefehlt. Aber das Schlimmste dieser Art stand ihm noch bevor. Ein Herzog von Rohan, der den Titel eines Feldmarschalls führte, chicanirte den angeblichen Dichter bei jeder Gelegenheit und unter Anderem auch einmal in Gegenwart der berühmten Schauspielerin Adrienne Lecouvreux. Voltaire wies den höhnischen Frager mit einer würdigen Antwort zurück, reizte aber dadurch nur um so stärker den kochenden Haß dieser erbärmlichen Seele. Als Voltaire einige Tage später bei dem Herzoge von Sully zu Mittag speiste, wurde er durch einen der Diener auf die Straße gerufen und sah dort beim Heraustreten aus der Thür den Herzog von Rohan, welcher ruhig im Wagen saß, während seine Diener den arg- und wehrlos Herbeigekommenen sofort überfielen und ihn mit Stockschlägen jämmerlich tractirten. In solcher Manier bestrafte damals der hohe Adel einen Widerspruch gegen seine herausfordernden Beleidigungen.

Es war ein niederträchtig gemeiner Streich, aber noch trauriger für Voltaire war es, daß der ihm widerfahrene Schimpf in den Kreisen seiner sogenannten Freunde aus der höchsten Noblesse durchaus nicht die von ihm erwartete Entrüstung hervorrief. Die bezeichnete Handlungsweise eines Herzogs gegen einen Menschen aus der bürgerlichen Canaille erschien ihnen gar nicht als so außerordentlich, und selbst der Herzog von Sully, von dessen Tisch der Mißhandelte hinweggerufen war, wollte nicht gegen Rohan zeugen. Für Voltaire, der auch bei den Behörden keinen Schutz fand, gab es nun keinen anderen Weg, als die Herausforderung zum Zweikampf. Sein hochgestellter Feind aber kam dieser Ausfechtung zuvor. Mit Leichtigkeit konnte er einen Verhaftsbefehl gegen ihn erwirken, und so wurde der schwer gekränkte und geschädigte Dichter des „Oedipe“ und der „Henriade“ noch obendrein in die Bastille gesteckt. Das waren die „guten alten Zeiten“ auf dem gesammten Festlande Europas!

Der Gefangene wurde zwar bald wieder losgelassen, jedoch mit der Ankündigung, daß er des Landes verwiesen sei und zwar nach – England. Wen der Himmel verderben will, den schlägt er mit gedankenloser Blindheit. Der aristokratische Hochmuth ahnte nicht, was er that und wie sehr er selber das bereits still über ihn hereingebrochene Verhängniß förderte, als er einen so talentreichen und geweckten Bestreiter seiner Ansprüche mit einem brennenden Stachel im Herzen zwangsweise gerade nach dem britischen Eilande spediren ließ. Wahrhaft komisch berührt es, wenn man liest, daß ihn der Kerkermeister wachsam bis Calais begleiten mußte, damit er ja nicht etwa einen anderen Weg einschlage. Das Schiff, welches ihn der Heimath entführte, trug ihn eine neuen Epoche seines aufsteigenden Daseins entgegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Chauteauneuf
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Autor: A. Fr.
Titel: Zwei Lehrer der Freiheit und Menschenrechte
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 23, S. 381–384
Fortsetzung - Teil 2


[381] Wenn es Gefühle des Mißmuths waren, welche den verbannten Dichter auf seiner unfreiwilligen Meerfahrt beherrschten, so hatte sich diese melancholische Stimmung schon bald nach seiner Ankunft auf englischem Boden beschwichtigt. Eine freundlichere und wunderbarere Ueberraschung konnte es nicht geben, als sie damals durch eine plötzliche Versetzung nach England aus einem der übrigen europäischen Reiche geboten wurde. Während in allen diesen Ländern die Knechtung des Volkes unter einer frechen Willkürgewalt der sogenannten „Großen“ die ausnahmslose Regel bildete, hatte sich jenes abgeschiedene Inselvolk allein in den Kämpfen und krampfhaften Zuckungen seiner Revolutionen eine durch Gesetze und unerschütterliche Einrichtungen fest gesicherte Freiheit erobert, wie sie noch in keiner menschlichen Gemeinschaft des weiten Erdenrundes zu finden war. Die Grundsätze des Volksrechts, Betheiligung der Nation an der Gesetzgebung und Verwaltung, Gleichheit vor dem Gesetze und Schutz der Bürger vor Uebergriffen der Gewalt, Freiheit auch des Glaubens, der Ueberzeugung und ihres Ausdruckes in der Presse, alle diese Güter waren für England nicht mehr Wünsche und leise in den Geistern heraufdämmernde Theorien, sondern bereits anerkannte, allseitig das ganze Leben durchdringende und bestimmende Thatsache. Und aus dieser Lage der allgemeinen Verhältnisse hatte sich dort auch naturwüchsig eine hohe Blüthe des geistigen Lebens erzeugt, ein jugendkräftig schwungreiches Aufstreben der freien Forschung, Wissenschaft und Kunst, das in einer bedeutsamen literarischen Production sich ausprägte, von einer beträchtliche Reihe kühner Denker, von wirksamen Poeten und hervorragenden volksthümlichen Schriftstellern getragen und gefördert wurde.

Mit den Wechselbeziehungen der Völker aber und mit Allem, was man jetzt „international“ nennt, stand es damals noch sehr schlecht. Herabgedrücktes Wesen und unverständige Hemmungen des Geschäfts- und Unternehmungsgeistes hätten sie den Mangel eines gegenseitigen Austausches nicht einmal empfinden lassen, selbst wenn die erbärmlichen Verkehrswege und Verkehrsmittel wenigstens benachbarten Ländern eine regelmäßige Beziehung erlaubt haben würden. Dennoch hatten schon viele bedeutende Franzosen mit Nutzen in England geweilt, und namentlich war unter den dortigen Eindrücken der berühmte Montesquieu zu einem großen politischen Lehrer seiner Nation geworden. Viel elektrisirender jedoch mußte der Contrast dieser Atmosphäre auf den lebhaften Geist eines Voltaire wirken. Kaum hatte er seinen Fuß auf das Land gesetzt, so fühlte er sich wahrhaft berauscht durch den Hauch der Freiheit und Gerechtigkeit, die ihn hier anwehte wie milde Frühlingsluft. Bei diesem Aufathmen jedoch blieb es nicht, seine Freude wurde ihm ein Sporn zu allseitig scharfer Beobachtung, zu anhaltend strengem und eingehendem Studium. In dieser Schule gewann sein Genius festen Kern und vertieften Gehalt, aus einem gewandten und flatternden Schöngeist wurde er ein ernsthafter Forscher, aus einem leichten und talentvolle „Versmacher“ zugleich einer der größten und eingreifendsten Prosaiker aller Zeiten. Die Hinaustragung der englischen Freiheitsideen ward fortan die Aufgabe seines Lebens.

Als er nach dreijährigem Exil (1729) mit geklärten Ueberzeugungen und erweitertem Gesichtskreis, mit gesteigerter Wissens- und Gedankenfrische in die trübe gährenden Verwirrungen seines Vaterlandes zurückkehrte, zeigte sich diese Wiedergeburt in seinen neuen Dramen, besonders aber in seiner Kritik der öffentlichen Zustände. Noch viel weniger als früher war es ihm möglich, stillschweigender Zeuge der Barbareien zu bleiben, die er hier mit ansehen mußte. In den überaus wüst gewordenen Lärm zelotischen Confessionsgezänks zwischen Jesuiten und Jansenisten warf er eine beißende Flugschrift „Die Albernheiten zweier Parteien“, und als der Leiche der ihm nahe befreundet gewesenen Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, des gefeierten Lieblings der Pariser, von der Geistlichkeit das ehrliche Begräbniß verweigert und sie wie eine Verbrecherin auf dem Anger verscharrt wurde, hatte der Heimgekehrte allein den Muth, diese Rohheit in einem Gedichte so zu geißeln, wie sie es verdiente.

In diese Zeit fällt auch die Beschäftigung mit seinem komischen Heldengedicht „Die Jungfrau von Orleans“. Mit Recht empört sich unser heutiges sittliches Gefühl gegen die nackten und vielfach geradezu cynischen Frivolitäten dieser Dichtung. Vergessen aber darf man nicht, daß aus all diesem Schmutz sichtlich doch eine ernste Absicht spricht, daß das Ganze wiederum ein Erguß der Empörung gegen weltlichen und geistlichen Despotismus, ein greller Ausdruck des giftigen Hohnes ist, mit welchem damals schon die freidenkerischen Kreise der Tyrannei des römische Wunderglaubens und seinem Dogmenwesen gegenüberstanden. Im Uebrigen hat Voltaire selber das Gedicht erst zweiunddreißig Jahre nach seiner Entstehung in sehr gemilderter Form drucken lassen, bis dahin war es nur in Abschriften und in einer Ausgabe vorhanden, die Andere hinter seinem Rücken in böswilliger Absicht veröffentlicht hatten.

Alle diese vereinzelten Zornesblicke gaben indeß noch kein Zeugniß von dem großem Ernst des in ihm vollzogenen Wandels. Eine wichtige Hauptthat dagegen leistete der Heimgekehrte und seinen großen Hauptkampf eröffnete er mit der Verarbeitung seiner englischen Tagebücher, die unter dem Titel „Philosophische Briefe über die Engländer“ erschien und in welcher die Sitten, die Verfassung und Literatur des glücklicheren Nachbarvolkes im Hinblick auf den traurigen Gegensatz der hinter diesen Aufschwung zurückgebliebenen französischen Zustände geschildert wurden. Dieses Buch war ein Ereigniß von gewaltiger Bedeutung, dessen Wirkungen bald sich fühlbar machten. In aufrüttelnder Weise zeigte es dem unklaren Drange nach Reformen die Wege zu den [382] ersehnten Zielen und bereitete zunächst in der Welt der Gedanken und Sitten den Umschwung vor, den nach einer Reihe von Jahren das staatliche Leben erfahren sollte. „Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Gewissens, Natürlichkeit in der Kunst“, so lauteten die Rufe, welche fortan in Frankreich und von dort aus die Parolen des Tages wurden.

Um sich zu überzeugen, daß dies Alles kein Hirngespinnst, sondern in der Wirklichkeit herzustellen sei, brauchte man nur nach England zu blicken, und Voltaire war es, der diesen Einblick durch Vorführung und Vergleichung unwiderleglicher Thatsachen ermöglicht hatte. Dadurch hat er dem schwankenden Ringen nach Erlösung aus fluchwürdigen Banden einen starken positiven Halt gegeben und den Grundsätzen des demokratisch-constitutionellen Systems eine Anerkennung verschafft, die einen merkbaren Eindruck auf die leitenden Gedanken des Völkerlebens erlangte. Wenn es heute z. B. sprüchwörtlich geworden, daß das constitutionelle System die Nothwendigkeit der Republik mit der Nützlichkeit der Monarchie verbindet, so muß daran erinnert werden, daß es Voltaire war, der diese Anschauung zuerst in seinen englischen Briefen mit gemeinverständlichem Nachdruck erörtert hat.

Sehr richtig werden von Rosenkranz diese englischen Briefe als der Mittelpunkt im Wirken und Leben Voltaire’s bezeichnet. Zugleich aber bildet dieses Werk den eigentlichen Anfangspunkt jener riesigen Thätigkeit, durch welche er in der ganzen, mit der Rückkehr aus England beginnenden Periode seiner Mannesjahre die Welt in Erstaunen setzte. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das ganze Heer der Voltaire’schen Schriften, oder auch nur seine Hauptwerke aufzuführen. Viele derselben werden immer ein hochinteressantes Studium, eine reizvolle und anregende Lectüre bleiben, wenn man sie eben mit dem Bewußtsein liest, daß sie nicht für unsere Gegenwart geschrieben sind, sondern einer ungemein bedeutsamen Vorstufe derselben angehören. Unabweisbar wichtig jedoch ist es für jeden Gebildeten, sich eine Rechenschaft geben zu können über die treibenden Beweggründe und das in der Zukunft der Menschheit lebendig gewordene Gesammtergebniß dieses so buntfarbig sich entfaltenden Wirkens. Weit entfernt sind wir, Voltaire als den Einzigen hinstellen zu wollen, der mit dem Zauber des Gedankens die Macht brutaler Knechtung gebrochen und das neue Zeitalter heraufgeführt hat. Es ist wahr, daß er nicht zu den Genien ersten Ranges gehörte, und nicht zu den Entdeckern neuer Principien, deren sein Zeitalter verschiedene aufzuweisen hat. Aber er war der gewaltigste und eingreifendste aller schriftstellerischen Agitatoren, die jemals vor oder nach ihm gelebt haben, ein großer Publicist auf eigene Hand und kraft eigener Machtvollkommenheit, der die anderweitig schon gefundenen freien Grundsätze volksthümlich machte und das offen auf den Markt des Tages zog, was man bisher in vereinzelten Oppositionskreisen nur als eine Geheimlehre bewahrt und nur mit leiser Aengstlichkeit sich zugeflüstert hatte. Ganz besonders ausgerüstet zu diesem Berufe war er nicht blos durch eine wunderbare Vielseitigkeit der Begabungen, durch ausgebreitetes Wissen und ungewöhnliche Arbeitskraft, sondern auch durch einen jedenfalls von der Natur ihm gegebenen leicht zu hoher Entflammung auflodernden Zorn gegen alle Bedrückung und Ungerechtigkeit. Dazu aber kam noch ein Anderes als besonderste Eigenthümlichkeit seiner Individualität: jene Gabe funkelnder und sprühender Verstandesschärfe, welche die Franzosen „Esprit“ nennen, und deren blitzartig herniederfahrende Schneidigkeit sich in ihm mit leicht beschwingter Grazie des Ausdrucks und der Schlagkraft eines Witzes verband, wie er in solcher Fülle und Ausgiebigkeit kaum jemals einem Sterblicher verliehen war.

Mag es immerhin eine oberflächliche Behauptung sein, daß er nur ein Spötter gewesen – gut zwei Drittheilen seiner Schriften fehlt in der That alles Satirische – so läßt sich doch nicht bestreiten, daß jenes verminende und zersetzende, aus Angriff und Spott gerichtete Verstandeswesen die ihn vorwiegend beherrschende Kraft war. Es war aber Temperament und Leidenschaft, es brannte ein unverwüstliches Feuer sittlichen Dranges in diesem Verstande, und gerade eines solchen Geistes bedurfte die dumpfe und stumpfe Zeit, um aus dem Schlendrian ihres unerträglichen und doch unterwürfig ertragenen Elends zum Denken und zur Thatkraft erweckt zu werden. Zu diesem Zwecke bewegte er sich fortwährend gleichzeitig auf den verschiedensten Gebieten, sodaß es vollständig gerechtfertigt ist, wenn Hettner von ihm gesagt hat, es gäbe kaum irgend eine Frage menschlicher Bildung, die Voltaire nicht einmal berührt, keine Form dichterischer oder wissenschaftlicher Darstellung, die er nicht mit Erfolg und meist sehr glücklichem Geschick angewendet hätte. Neben der beträchtlichen Reihe seiner Dramen, die aus allen Theatern mit Beifall dargestellt wurden, neben der kaum übersehbaren Zahl von Gedichten, Flugschriften und philosophischen Abhandlungen, die er fort und fort wirkungsvoll in die gährenden Streitigkeiten des Tages warf, glänzen hervorragende Geschichtswerke, gelehrte Encyclopädien und Wörterbücher von erheblichstem Umfang. Und dies Alles, so verschieden es auch war, diente doch immer nur einer und derselben Absicht: dem mit wachsamer Unermüdlichkeit geführten Kampfe für die Humanität, für das verschollene, verschüttete und zertretene Menschenrecht, für die ungehinderte Aussaat einer Bildung und Aufklärung, aus welcher der unterjochten Menschheit durch immer hellere Erkenntniß auch die rechte Freiheit erblühen sollte. Wie er auf dem Felde der Poesie nur Lehr- und Tendenzdichter war, so leuchtete diese auf das Praktische gerichtete Spitze noch viel unverkennbarer aus der Glanzesfülle, dem Stoff- und Gedankenreichthum seines prosaischen und wissenschaftlichen Schaffens hervor. Und wie sehr und mit welchem Rechte man auch oft die Weise seines Auftretens tadeln und verwerflich finden muß, so steht doch fest, daß der mit unangenehmen Charakterfehlern behaftete Mann mehr als irgend ein anderer seiner Mitstreiter für die Heraufführung jener neu am Horizont der Weltgeschichte erscheinenden Großmacht gethan hat, die seitdem als „öffentliche Meinung“, als Richterspruch der Volksstimme einen so unwiderstehlichen Einfluß auf den Gang der Völkergeschicke übt. Seine Wirkung auf das Zeitalter läßt sich schon aus der beispiellosen Verbreitung seiner Schriften und aus der jubelnden Zustimmung erkennen, mit welcher die erwachten Freiheitsregungen weithin jedes neue Erzeugniß seiner Feder begrüßten.

Ein erschöpfendes Bild der Thätigkeiten Voltaire’s nach allen speciellen Richtungen hin ist nur durch ein umfassendes Studium zu erlangen. Die erwähnten unvergänglichen Kernpunkte seines Wirkens dagegen können ohne viele Schwierigkeit in einigen Sätzen dargelegt werden. In seiner Stellung zur Religion hielt Voltaire unerschütterlich den Glauben an einen persönlichen Gott oder vielmehr Weltschöpfer fest und vertheidigte diesen Glauben mit beredter Innigkeit gegen die jüngere Schale atheistisch-materialistischer Philosophen. Ebenso überzeugt war er von der Unsterblichkeit der Seele, wenn ihm auch die Art derselben ein unentschiedenes Problem blieb. Alle sonstigen Glaubensvorstellungen der positiven Religion aber erschienen seiner Prüfung als schädliche Phantasterei und verderblicher Aberglaube, der gestürzt und getilgt werden müsse. Niemals hat das aller unabhängigen Bildung sich entgegenstemmende, alles vernünftige Denken unterjochende und verscheuchende Kirchendogma, niemals der Wunderglaube und die Lehre von der göttlichen Abfassung der biblischen Bücher (Inspiration), niemals der priesterliche Machtanspruch und namentlich die Herrschaft des römischen Priesterthums einen erbitterteren und grimmigeren, einen ausdauernderen, consequenteren und gefährlicheren Feind gehabt, als diesen großen Schriftsteller, der schon im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts den ersten Ansturm gegen jene damals noch gänzlich unerschütterte Veste des Wahns eröffnet hatte. Wo er auf diese Punkte kam – sie bilden das Hauptthema vieler seiner Schriften und werden fast in jeder derselben berührt – da führte er nicht blos das Geschütz seiner philosophischen Kritik in’s Feld, da konnte er auch all seinem Hasse, allen giftigen Hohn seines boshaften Witzes die Zügel schießen lassen, da konnte er selber zelotisch, ungerecht und unduldsam werden bis zur Frevelhaftigkeit. Wir geben gern zu, daß vielen Wendungen dieser Angriffe durch eine unbefangenere Prüfung der betreffenden Erscheinungen ihre Spitze abgebrochen ist, aber sicher bleibt es, daß Sie durch die Maßlosigkeiten eines ungeheuerlichen Druckes hervorgerufen waren und daß gerade diese Form aufstachelnden Widerspruchs in jenen Tagen die einzig wirksame und nothwendige war.

Und wenn man nach dieser Seite hin den ganzen Standpunkt Voltaire’s preisgeben wollte, was notorisch unrichtig wäre, da er menschlich Vieles ausgesprochen hat, was sich heut noch als

[383]

Voltaire als Gast Friedrich’s des Großen.[1]
Nach einem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

wahr erweist, so ist davon unbedingt doch eine Grundanschauung zurückgeblieben und als Bewegungsmoment in alle folgenden Zeiten übergegangen: die Erkenntniß, daß der kirchliche Zwang und die Herrschaft der Kirche, wie sie den Gläubigen als ein Segen und als eine göttliche Begnadung der Menschheit verkündet wird, im Grunde ein verhängnißvolles Uebel, eines der schwersten Hindernisse der Gesittung, des Wohls und Gedeihens der Völker sei. Wenn die Staaten sich jetzt mehr oder weniger aus dieser erdrückenden Schlinge befreit haben, wenn alle Freidenkenden heut in ihrem Privatleben eine Sittlichkeit und [384] Nächstenliebe kennen, die aus der Enge kirchlicher Glaubenssatzungen herausgewachsen ist, wenn ihnen diese Sittlichkeit als der höchste Zweck des Lebens und als das wahrhaft Religiöse auch in den Religionen gilt, so war es die Arbeit Voltaire’s, welcher die moderne Anschauung den mächtigsten Anstoß zu dieser wichtigen Unterscheidung verdankt. Unerschütterlich war seine Ueberzeugung von dem Recht und dem Siege, von der versittlichenden und beglückenden Macht der Aufklärung, welche den Menschen allein zu voller Gerechtigkeit und Liebe, zur Milde und zum Wohlthun gegen seine Mitmenschen führen könne. Wer ihm diesen Glauben antasten wollte, der griff ihn selber an. Schon hochbejahrt war er, als einst der bekannte Casanova ein paar Tage bei ihm zum Besuche weilte. Sie plauderten viel mit einander und er fand Vergnügen an der Unterhaltung des brillanten Italieners. Als dieser aber einmal zu bemerken wagte, er glaube nicht, daß die Menschen glücklicher würden, wenn man ihnen ihren Aberglauben nähme, da war es aus mit der Freundlichkeit seines Wirthes. Daß Wahn und falsche Vorstellung eine Bedingung des Glückes sein, daß die Erlösung von Irrthum Unglück zur Folge haben könne, das war für ihn etwas so Undenkbares, daß er sich entrüstet und persönlich verletzt von einer solchen Ansicht abwendete. Er wollte Freiheit durch Bildung, „Freiheit ohne Bildung, wie Rousseau sie wollte,“ sagt treffend einer seiner Biographen, „stieß ihn ebenso zurück, als Bildung ohne Freiheit, wie sie im höfischen Despotismus existirte.“

Wie er aber auf dem so tief umnachteten Gebiete der Religion unter unablässigem Streit- und Weckrufe das Banner des Lichtes und der Aufklärung entfaltete, so war er auch in politischer Hinsicht der große Pionier der Freiheit, ein erklärter, von begeisterungsvollem Zorne durchglühter Feind gegen die herrschende Gewaltthätigkeit und brutale Willkür. Voltaire hat kein geschlossenes System seiner politischen Ueberzeugungen angestellt, aber rastlos und unerschrocken hat er stets die politischen Ereignisse und Fragen von jenen Gesichtspunkten aus mit schneidigen Beleuchtungen verfolgt, die einen nachhaltigen Einfluß auf die Gemüther übten. Wir haben gesehen, wie er mit dieser Opposition schon als Jüngling begann und wie er sodann in seinen englischen Briefen mit leuchtenden Farben das Ideal eines erreichbaren und in der That jenseits des Canals bereits erreichten staatlichen Zustandes geschildert hat, wo, seinem Ausspruche zufolge, „der König die Macht hat, alles Gute zu thun, und wo ihm die Hände für das Böse gebunden sind, wo die Herren groß sind ohne Gewalthätigkeiten und wo das Volk an der Regierung Theil nimmt ohne Verwirrung“. Diese Ideen und Lehren sind heute so ziemlich aller Welt geläufig, damals aber kamen sie jugendfrisch aus dem Boden einer neuen Weltanschauung, damals wirkten sie mit allem Zauber einer erlösenden Macht, und zwar besonders durch den Umstand, daß Voltaire sie fort und fort mit dem überzeugendsten Nachdrucke wiederholt. Verblümt und unverblümt, in immer neuen Wendungen bewies und verkündete er den bereits mißmuthig unter den Fußtritten ihrer Befehlshaber sich krümmende Völkern daß sie ohne Freiheit zu einer Wohlfahrt nicht gelangen werden, daß ohne Herstellung der Gleichheit eine Gerechtigkeit nicht möglich sei. Nicht seine Schuld war es, wenn die späteren Revolutionsparteien der Forderung „Freiheit und Gleichheit“ eine über alles Maß des Erreichbaren hinausgehende und deshalb verhängnißvoll gewordene Bedeutung gaben. Aber vergessen darf es nicht werden, daß er es war, der diesen zunächst nur wohlthätig die Geister erregenden Schlachtruf in die Zeit geworfen hat. „Nur durch Feigheit und Dummheit,“ schrieb er, „konnten die Menschen ihren natürlichen Rechtszustand verlieren. Jeder andere Zustand ist nur ein künstliches Machwerk, ein schlechtes Possenspiel, in welchem der Eine die Rolle des Herrn, der Andere die des Sclaven, dieser die Rolle des Schmeichlers, Jener die des Versorgers übernimmt!

Unter Freiheit aber verstand Voltaire die Abhängigkeit Aller von einem und demselben Gesetze, unter Gleichheit die gleiche Berechtigung vor diesem Gesetze; die Beseitigung aller Unterschiede des Standes und der Lebenslagen dagegen hielt er für ein unerreichbares Hirngespinst, wie sehr er persönlich diese Unterschiede auch haßte. „Wo aber allein das Gesetz herrscht und nicht die Willkür,“ so rief er seinen von einem dreifache Herrenthume zu Boden getretenen Zeitgenossen zu, „da wird das Wohl der Gesammtheit und des Einzelnen durch diese Unterschiede nicht mehr geschädigt, da wird es verhindert werden, daß der Bauer durch irgend einen beliebigen Unterbeamten bedrückt werde, daß man einen Bürger einkerkern könne, ohne ihn unverzüglich vor seinen gesetzliche Richter zu stellen, daß man unter Vorwänden Jemand ohne Entschädigung sein Feld nimmt, daß die Priester die Völker beherrschen und sich auf ihre Kosten bereichern, statt sie zu erbauen.

Von Voltaire rührt auch das berühmte, wie ein Wetterstrahl durch die schwüle Luft des Erlösungsjahrhunderts zuckende Witzwort her: „An ein göttliches Recht der Ritter werde ich erst glauben können, wenn ich sehe, daß die Bauern mit Sätteln auf dem Rücken und die Ritter mit Sporen an den Fersen geboren werden.“ Befreiung des Staates aus den Fesseln und Herrschaftsansprüchen der Kirche, Freiheit des Gewissens und der Presse, Milderung der Strafgesetze, Hebung des Volksschulwesens, gerechte und gleichmäßige Vertheilung der Steuerlasten, das waren die Grundsätze und Forderungen, die er mit beispielloser Rastlosigkeit Jahrzehnte hindurch vertheidigte und so unverwischlich auf das Banner der Zeit schrieb, daß sie bis heut die Losungen des Freiheitskampfes wider die Entgegenstemmungen selbstsüchtiger Freiheitsverächter sind. Alle diese Güter mußten erst vom Gedanken erfaßt und ein Besitzthum der Gesinnungen und Ueberzeugungen werden, ehe sie beginnen konnten, in der Welt der Thatsachen sich durchzusetzen, eine Arbeit, mit welcher sie heute noch nicht ganz zu Ende gelangt sind.

Allerdings erwartete Voltaire die Verjüngung und Besserung der gänzlich verrotteten Zustände nicht von einer revolutionären Bewegung aus dem Volke, sondern von den Thronen, von einer Bekehrung der Regierenden zu freisinnigen Grundsätzen, von dem sogenannten aufgeklärten Despotismus. Es wird das erklärlich, wenn man die Verhältnisse der Zeit sich vorstellt. Unempfänglich, zum Theil roh und geradezu feindselig stand der große Haufen den eifrigen Bestrebungen gegenüber, ihn durch Aufklärung und besseren Unterricht glücklicher zu machen. Erfahrungen nicht ermunternder Art hatten Voltaire, wie auch Friedrich dem Großen, eine gewisse Verachtung gegen die Masse eingeflößt, ihnen den Glauben an die Bildungs- und Erhebungsfähigkeit der niederen Schichten genommen, das heißt an ihre Kraft, durch eigenen Willen und ohne Zwang von außen her vorwärts zu kommen.

Ein Volksmann im späteren und heutigen Sinne dieses Wortes war der große französische Freiheitsapostel eben so wenig wie sein königlicher Freund. Aber den Einfluß seines Genius und seines Ruhmes auf die Gesinnungen und Entschlüsse der Höfe hat er durchaus redlich und mit der seinem Wesen eigenthümlichen Zähigkeit zur Förderung seiner Grundsätze benutzt. Wie der Philosoph von Sanssouci, so hatte die Kaiserin von Rußland, die Könige von Dänemark und Schweden, sowie viele kleinere Souveräne den freundschaftlichen Verkehr mit ihm ohne sein vorheriges Entgegenkommen zuerst gesucht, sie bewarben sich um seine Gunst, fürchteten sein Urtheil, suchten sein Lob zu verdienen. Ganz ebenso die Minister und mächtigsten Persönlichkeiten der verschiedenen Länder. Wenn er aber im Verkehr mit den Fürsten stets auch streng die Etiquette beobachtet hat, wenn er in Prosa und Versen sich hier, dem Brauche der Zeit gemäß, einer Schmeichelei befleißigte, die heute nur widerlich berühren kann, und überdies in diese Beziehungen nicht immer uneigennützige Beweggründe seinerseits hineinspielen, so ist es doch unbedingt nachgewiesen und festgestellt, daß er selbst in seinen geheimsten Briefen an die Monarchen sein Streben für Freiheit und Gleichberechtigung, Vernunft und Toleranz niemals verleugnet hat. Auch Voltaire dem Geschichtschreiber läßt sich nicht nachsagen, daß er jemals in seinen berühmten Werken dieser Gattung ein Schmeichler der Großen und Mächtigen gewesen sei.


Textdaten
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Autor: A. Fr.
Titel: Zwei Lehrer der Freiheit und Menschenrechte
aus: Die Gartenlaube 1878, Heft 24, S. 395–398
Schluß


[395] Zu der in der letzten Nummer geschilderten Höhe und Bedeutung, die in mancher Hinsicht als wirkliche Größe bezeichnet werden kann, hatte die Kraft Voltaire’s nach seiner Rückkehr aus England in einem zunächst sehr unstäten und umhergehetzten Flüchtlingsleben sich aufgeschwungen. Wenn ihn der französische Hof auch später hin und wieder auszeichnete, ihm die einträglichen Ehrentitel eines Kammerherrn und eines Historiographen von Frankreich verlieh, so ließ doch diese Gunst lange auf sich warten und konnte auch nur eine vorübergehende sein. Vorherrschend blieb vielmehr in den höchsten Kreisen eine erbitterte Stimmung gegen ihn, die ihn Paris selbst dann meiden ließ, wenn er nicht durch directe Ausweisungsbefehle zu einem Fernbleiben gezwungen war. In der genannten Zeit lebte er bald in Rouen, bald in Holland, bald öffneten sich ihm die Landsitze und Schlösser seiner aristokratischen Freunde und Freundinnen als behagliche Asyle. Verschiedene Herzensbeziehungen seiner Jugend [396] hatten nicht zu einem Bündniß geführt, er war ehelos geblieben und empfand nachgerade schmerzlich den Mangel einer sturmloseren und fester umfriedeten Existenz. Aus Briefen, die er damals an Freunde schrieb, klingen elegische Töne einer tiefen Sehnsucht nach stiller Sammlung und idyllischer Zurückgezogenheit.

In solcher Stimmung befand er sich, als ihm die siebenundzwanzigjährige Marquise von Chatelet begegnete, eine schöne, hochelegante Welt- und Hofdame, die vortrefflich sang, als Darstellerin auf den Liebhabertheatern glänzte, aber neben einem starken Hange zu stürmischem Lebensgenuß auch durch ihren ungewöhnlichen Eifer für ernste wissenschaftliche Studien die Aufmerksamkeit erregte. Sie kannte nicht blos die griechischen und römischen Classiker, sondern betrieb auch Mathematik und Metaphysik in so gründlicher Weise, daß sie Leibnitz’sche Werke, sowie Newton’s „Principien der Naturphilosophie“ durch ihre Uebersetzungen und Bearbeitungen in Frankreich einführen konnte. Diese eigenthümliche Mischung brillanter Eigenschaften übte auf den damals neununddreißigjährigen Schriftsteller einen unwiderstehlichen Zauber, und er war glücklich, als er seine leidenschaftliche Bewerbung nicht zurückgewiesen sah. Der Umstand, daß die Marquise verheiratet war und zwei Kinder hatte, bildete leider in jener Zeit der gelockerten Sitten kein Hinderniß einer solchen Beziehung. Der Marquis war Officier, lag in seiner Garnison den noblen Passionen ob und kümmerte sich nicht um seine längst zerfallene Ehe. Ohne Bedenken machten daher beide Liebende ihren Plan für eine gemeinsame Zukunft. Es wurde (1735) das ländliche Schloß Cirey an der lothringischen Grenze gekauft und von Voltaire mit allen Einrichtungen des damaligen eleganten Comfort ausgestattet. Vierzehn Jahre hindurch führte er hier an der Seite seiner Freundin ein arbeitsvolles, schöpferisch den höchsten Idealen zugewendetes, freilich nicht selten auch durch längere Vergnügungsreisen unterbrochenes Stillleben. Wer möchte das Verhältniß von unseren heutigen Anschauungen aus nicht anstößig finden? In der That endigte es auch traurig genug; die Marquise starb vorzeitig (1750) und die Ursache ihres Todes war ein unverzeihlicher Fehltritt. Trotzdem war Voltaire untröstlich über diesen Verlust und empfand ihn als den härtesten Schlag seines bisherigen Lebens. Wochen hindurch machte er seinen Kummer in den schmerzlichsten Klagen Luft, und bis in das späteste Alter hat er mit Gefühlen zärtlichster Liebe seiner „göttlichen Emilie“ gedacht.

Fünfundfünfzig Jahre war er alt, als ihn diese Wendung seines Geschickes von Neuem auf die Wanderschaft trieb. Die Stätte seines Glückes war ihm verleidet, sofort ließ er aufpacken und begab sich nach Paris, wo er mehrere Nächte hindurch schlaflos in den Zimmern umherirrte, dann aber von seinen Freunden überredet wurde, sich häuslich einzurichten. Er erwarb einen Palast, nahm seine Nichte, eine verwittwete Madame Denis zu sich, errichtete ein Theater im Hause und sah bei seinen Vorstellungen und Soupers die vornehmste Gesellschaft um sich versammelt. Dennoch war seines Bleibens nicht in der Stadt, der er nicht blos durch seine Geburt, sondern durch das ganze Gepräge seines Wesens angehörte. Dauernde Ungunst des Hofes, Neid und Intrigue literarischer und dichterischer Gegner verbitterten ihn dieses Mal den Aufenthalt in einem Grade, daß er mit Freuden die Gelegenheit zu einem ehrenvollem Abgange ergriff. Schon im ersten Jahre seiner Abwesenheit in Cirey hatte der Kronprinz Friedrich von Preußen ihm von Rheinsberg einen Brief voll enthusiastischer Bewunderung und Verehrung geschrieben und dadurch jene merkwürdige und lebhafte Correspondenz mit ihm eröffnet, die bekanntlich, einige Unterbrechungen abgerechnet, bis zum Tode Voltaire’s gedauert hat.

Wiederholt hatte derselbe seinen fürstlichen Freund auch besucht. Friedrich aber genügte das nicht, und nach seiner Thronbesteigung hörte er nicht auf, ihn mit der Bitte zu bestürmen, daß er zu ihm kommen und dauernd als sein Gesellschafter und literarischer Gehülfe bei im weilen möge. Erst der Tod der Marquise machte jedoch eine solche Uebersiedelung möglich, und Voltaire gab nach, als sein Versuch einer Niederlassung in Paris gescheitert war. Schon im Juli 1750 kam er in Sanssouci an, nachdem Friedrich alle seine hohen Bedingungen bewilligt hatte. Der Boden des Hoflebens war aber, für den Neuangekommenen ein schlüpfriger, und nach dem ersten Rausche der Flitterwochen gestaltete sich sein Aufenthalt in der Nähe des großen Königs so außerordentlich widerwärtig, daß diese Periode unbedingt als die glanzloseste und jedenfalls unerquicklichste seines Lebens bezeichnet werden muß. Durch eigene Schuld, sowie durch die ganze Art der Umgebungen, des aus concurrirenden Franzosen bestehenden literarischen Hofstaats, kamen hier alle persönlichen Schwächen und üblen Leidenschaften Voltaire’s zu scandalöser Bethätigung: seine Geldliebe auf der einen, seine zu bissigstem Hohn gesteigerte, von eitler Ehrgier angestachelte, immer gegen Personen gerichtete Spottsucht auf der anderen Seite. Im Uebrigen hat aber auch Friedrich in diesen Reibungen und Streitigkeiten nicht den Charakter des Philosophen bewahrt und bei seinem Zorne gegen den einzelnen Privatmann die Machtmittel benutzt, über welche er als autokratischer Monarch zu verfügen hatte, wie er z. B. eine ihm mißfällige Spottschrift Voltaire’s wider Maupertuis auf allen öffentlichen Plätzen Berlins durch Henkershand verbrennen ließ. Ein solches Verhältniß konnte nicht halten; es führte zu einem vollständigen Risse, den der König erst nach Jahren durch versöhnliches Entgegenkonnmen auszugleichen suchte.

Glücklicher Weise dauerte der Aufenthalt Voltaire’s in Berlin und Potsdam kaum drei Jahre und bildet nur ein Zwischenspiel in seinem Leben, das so oft besprochen und so oft umständlich geschildert ist, daß wir auf eine Vorführung der meist nicht zu seinem Lobe sprechenden Einzelnheiten hier verzichten können. Nachdem er plötzlich seiner Stellung entsagt und Berlin verlassen hatte, irrte er wiederum mehrere Jahre ohne festen Wohnsitz umher, immer arbeitend und mit der Ausführung neuer schriftstellerischer Pläne beschäftigt. Abwechselnd fand er damals auch an verschiedenen deutschen Höfen, in Gotha, Mannheim und Bayreuth ehrenvolle Aufnahme, bis er auf einer Reise in die Schweiz von der erhabenen Schönheit dieses republikanischen Landes angezogen wurde und den Beschluß faßte, sich hier an einem Punkte niederzulassen, wo er vor der Gewaltsamkeit der Monarchen und dem Zorne der Bischöfe fortan gesichert sei. Aus seinem väterlichen Erbe und dem Ertrage seiner Schriften, durch einen bedeutenden Lotteriegewinn und fortwährende glückliche Geldspeculationen war Voltaire ein großes Vermögen erwachsen. Zins- und Finanzgeschäfte hatte er gewohnheitsmäßig von Jugend an betrieben, und sie waren vielfach nicht sauberer Art. Da Geiz im Ausgeben nicht zu seinen Untugenden gehörte, da alle seine Umgebungen und näheren Bekannten vielmehr stets seine noble Freigebigkeit und Wohltätigkeit gerühmt haben, konnte diese oft so anstößig hervortretende Habsucht recht wohl in einem Vorsatze, einer nahe liegenden Ueberlegung begründet sein. Sein Reichthum wurde ihm eine Grundlage, ein wesentlicher Stützpunkt seines geistigen Wirkens und gab ihm auch die Mittel, sich einen ganz seinen Bedürfnissen und Neigungen entsprechenden Wohnsitz zu gründen, als er des herd- und heimathslosen Umherwanderns müde geworden war. In dem noch zu Frankreich gehörigen, aber in der Nähe von Genf gelegenen Ländchen Gex erwarb er 1758 die Herrschaften Tournay und Ferney und wählte den letzteren mit hohem landschaftlichen Reiz und einem herrlichen Blicke auf Genf und den Montblanc ausgestatteten Ort zu seinem dauernden Aufenthalt.

Acht Jahre waren verflossen, seitdem ihn der Tod der Marquise wieder in die Unruhe der Welt geführt hatte; er war inzwischen vierundsechszig Jahre alt geworden und in seiner äußeren Erscheinung bereits ein schwacher und kränklicher Greis. Trotzdem zeigte sich erst nach der Niederlassung in Ferney das wunderbare Feuer, die erstaunlich zähe Beweglichkeit dieses Geistes, der nun erst, aller Leiden einer gebrechlichen Hülle, alles Schmerzes bitterer Erfahrungen spottend, zu einer Macht des Wirkens, dem Glanze eines Schaffens sich erhob, wie es beispiellos dasteht in der Geschichte menschlichen Fortschrittsstrebens. In einem Alter, wo viele Andere schon ermattend das Haupt zu neigen beginnen, eröffnete sich dem schöpferischen Ringen des Mannes noch eine zwanzigjährige Epoche, die jeder unbefangenen Würdigung als die nichtigste und eigentlich großartige seines Lebens erscheinen muß. Die bisherigen Schlacken fielen so ziemlich ab und ungetrübt, kühner und jugendfrischer als in seiner Jünglings- und Manneszeit strahlte das Licht des Propheten von der Seele des Hochbetagten aus. Wo es in Europa gebildete und aufgeklärte Kreise gab, da lauschten sie jetzt ehrfurchtsvoll seinen Worten und Thaten, da waren ihre Blicke aufmerksamer nach dem Geisteshofe von Ferney gerichtet, als nach den Höfen [397] der Kaiser und Könige. Schon die Stätte selber wurde bald durch ihr sichtliches Aufblühen ein Gegenstand lebhafter Bewunderung. Durch die Verwaltung seiner ungefähr eine Quadratmeile umfassenden, bis dahin vernachlässigten Güter fand der neue Besitzer Gelegenheit, seine rationellen wirthschaftlichen Ansichten und philanthropischen Grundsätze sich bewähren zu lassen. Ferney, das er als einen kleinen und verfallenen Flecken überkommen hatte, wurde durch Hereinziehung von Industrie, namentlich der Uhrmacherei, binnen Kurzem ein bevölkertes, rührig-betriebsames und wohlhabendes Städtchen. Seine Bauern vergötterten ihn, da ihnen seine Sorge um ihr Wohl bald sich fühlbar machte. In der Oekonomie kümmerte er sich eifrig um alle Einzelnheiten jedes Zweiges, arbeitete selbst in Feld und Garten und betrieb Ackerbau, Gartenbau, Weinbau und Pferdezucht mit Geschick und steigendem Erfolg, sodaß sich der regelmäßige Jahresertrag der Güter auf hundertdreißigtausend Franken belief. Dieses für die damalige Zeit außerordentlich bedeutende Einkommen wurde von ihm auch verbraucht, zu allen jenen idealen Zwecke verwendet, die Ferney in der Geschichte des 18. Jahrhunderts zu einem so einzigen Punkt gemacht.

Neben einer großen Bibliothek, den Park- und Gartenanlagen und sonstigen eleganten Einrichtungen im Zeitgeschmacke, durfte natürlich auch in Ferney wiederum die kostspielige Herstellung und Unterhaltung eines wohlausgestatteten Haustheaters nicht fehlen, auf dessen Brettern der Schloßherr selber noch zuweilen eine Rolle ausführte, oft aber auch die gefeiertsten Darsteller aus Paris einem geladenen Publicum sich präsentirten. Mit Paris hatte er auch früher stets die lebhafteste Beziehungen unterhalten, in Ferney aber stellte neben den schriftlichen Mittheilungen auch die Personen sich ein, wie es überhaupt im Schlosse nicht leer wurde von Besuchen hervorragender und berühmter Leute verschiedenster Art und Nationalität. Nicht mit Unrecht nannte sich damals Voltaire scherzhaft in Briefen den „Hotelier von Europa“. Zuweilen stieg die Zahl der männlichen und weiblichen Fremden auf beinahe fünfzig. Durch alle diese Beweglichkeit an seiner Nähe aber ließ sich der greise Hausherr nicht zu einem müßigen Genußleben verlocken. Nur am Abend erschien er als liebenswürdiger Wirth unter seinen Gästen und gab sich allen Reizen einer geistvollen Geselligkeit hin, die Tage jedoch verlebte er einsam in seinem Arbeitszimmer, sie gehörten seinen Studien, seinen schriftstellerischen Arbeiten, dem angestrengten Kampfe für seine Ideen. Unsere bereits gegebene Charakteristik seiner gesammten Wirksamkeit bezieht sich auch auf die Leistungen dieser Periode. Dieselbe zeigt aber in dem oben von uns schon erwähnten Aufschwung ein so verstärktes und gesteigertes Hervortreten der Absichten und Zwecke, daß ihrer doch noch besonders gedacht werden muß. Was der Jüngling und Mann Voltaire immerhin nur schüchtern und verschleiert gegen die Mißbräuche und Verbrechen der herrschenden Willkürgewalten zu Tage gefördert hatte, das wurde ihnen jetzt von dem berühmten „Patriarchen von Ferney“ fort und fort als unumwundene Forderung, als unzweideutige Anklage und offene Kriegserklärung vor den Augen der Welt in’s Antlitz geschleudert.

Wer diese Arbeiten und Werke seines hohen Alters unbefangen ansieht, in denen er meistens seine Religion der Humanität mit einschneidendster Rücksichtslosigkeit gegen den kirchlichen Wunderglauben, gegen den Glauben an eine göttliche Abfassung und Autorität der biblische Bücher und namentlich wider den tyrannischen Hochmuth der Priesterherrschaft vertheidigt hat, der wird erkennen, daß sie nicht blos Producte eines für jene Zeit außerordentlichen Wissens, sondern auch einer gewaltigen Energie innerster Ueberzeugung und sittlichen Wollens sind. Je älter er wurde, desto heißer loderte aus seinen Ueberzeugungen in dieser Hinsicht die Gluth eines Zornes empor, der den bündigsten und deutlichsten Ausdruck in jenem Écrasons l’infâme gefunden hatte, das er als Wahrspruch und Schlachtruf in den entbrannte, aber doch erst zaghaft beginnenden Kampf des Jahrhunderts warf. Diese oft von ihm gebrauchte Parole ist von seinen Gegnern vielfach zu seiner Anschwärzung benutzt worden, und es gehört in der That zu ihrer richtigen Deutung eine genauere Kenntniß seines Standpunktes. Karl Rosenkranz, einer der gründlichsten Kenner Voltaire’s, sagt darüber: „Das Wort hat nicht beschränkten Sinn einer Vernichtung des Christenthums, sondern den allgemeinen der Vernichtung des Aberglaubens und der dadurch bedingten Pfaffenherrschaft. Den liebevollen, sich aufopfernden Menschen Jesus von Nazareth ehrte Voltaire, aber den dogmatischen Christus verwarf er als monströse Verbindung einer geschichtlichen Thatsache mit abstracten Philosophemen!“ Brauchen wir zu bemerken, daß dieser Streit leider noch heute nicht beendigt ist, wenn heute auch dem Pfaffenthum nicht mehr die früheren Gewaltmittel zur Durchsetzung des erwünschten Glaubenszwanges zu Gebote stehen?

Aber nicht blos sein schriftstellerisches Schaffen, nicht blos sein nützliches Wirken in seinen Umgebungen und die anmuthige Gestaltung seiner häuslichen Verhältnisse hoben den Lebensabend Voltaire’s so hoch über das Mittelmaß der Alltäglichkeit hinaus. Es kamen auch gewichtvolle Thaten hinzu, welche das Ringen seines ganzen Daseins als probekräftig besiegelten und um das Haupt dieses Greises den Lorbeer des Siegers wanden. Die alte Weltanschauung, welche die Ausbeutung und Unterdrückung der Mehrzahl durch eine bevorrechtete Minderzahl geheiligt hatte, lag als solche freilich im Sterben, aber sie war doch noch im Vollbesitze ihrer überkommenen Macht und eröffnete einen trotzigen Verzweiflungskampf gegen die offene und stille Auflehnung. Der Wächter von Ferney aber verfolgte alle diese grausamen Gewaltthätigkeiten mit schärfster Aufmerksamkeit.

In Toulouse war 1762 ein beinahe siebenzigjähriger Protestant Namens Calas in Folge richterlichen Urtheils von unten auf gerädert worden, weil er seinen Sohn erdrosselt habe sollte, um den Uebertritt desselben zur römischen Kirche zu verhindern. Alle Umstände bezeugten den Selbstmord und die völlige Unschuld des Vaters; die Hinrichtung war ein Verbrechen. Als Voltaire davon hörte, schrieb er zunächst in tiefer Ergriffenheit und Empörung seine gewaltige Schrift „Von der Toleranz“, dieses unsterbliche Manifest wider den Fluch der Unduldsamkeit und für das vollste Recht der freien Ueberzeugung. Der Funke zündete in den Gemüthern. Die Welt ergriff gleichfalls Partei, und durch hartnäckigste Betreibung der Sache brachte er es dahin, daß endlich der Toulouser Urtheilspruch amtlich umgestoßen und der verübte Justizmord eingestanden werden mußte. Drei Jahre seines Lebes hat Voltaire an diesen Kampf gesetzt, und seine Umgebungen bestätigten, daß er wahr gesprochen, als er sagte: „Kein Lächeln ist während dieser Zeit über meine Lippen gezogen!“ Aber bei diesem einen Vorgange blieb es nicht, es kam gleichzeitig eine ganze Reihe von ähnlichen Processen, die er gleichfalls vor die Oeffentlichkeit brachte, in die er mit derselben Willenszähigkeit und Aufopferungskraft hineingriff. Einige Male gelang es ihm auch, den unschuldigen Opfern einer fanatisirten Justiz noch Leben und Ehre zu retten. Wie hätten solche offenkundige Thaten nicht die fürchterlichen Schäden des Staats- und Gesellschaftslebens der allgemeinen Beachtung nahe legen und weithin die dankbarste Bewunderung erwecken sollen? In Frankreich und weit über dasselbe hinaus fing der gewaltthätige Fanatismus an, den unerbittlichen Richter von Ferney zu fürchten, der auch persönlich der Bedrängten und Verfolgten sich annahm, sie zu sich lud, ihnen Zuflucht, Rath und Unterstützung bot. Ueberhaupt ist der letzte Abschnitt seines Lebens durch schöne Züge von Wohlthätigkeit ausgezeichnet. Als er z. B. vernahm, daß eine Nichte des großen Corneille im Elend lebe, nahm er das sechszehnjährige Mädchen wie eine Pflegetochter zu sich, sorgte für ihre gute Ausbildung, bestimmte den Ertrag seiner neuen Ausgabe der Werke Corneille’s zu ihrem Brautschatz und begründete weiterhin auch ihr häusliches Glück. Fräulein Corneille verheiratete sich, und das junge Paar entlieh von Voltaire 15,000 Livres. Nach der Geburt des ersten Kindes machte er der jungen Frau einen Besuch und hinterließ eine prächtige silberne Vase, in der sich die Quittung über das entliehene Capital befand.

Durch alle jene ablenkenden und hier nur im Allgemeinen bezeichnete Stürme aber, denen er im Interesse des Gemeinwohles und der unterdrückten Gerechtigkeit sich aussetzte, wurde die schriftstellerische Thätigkeit des Mannes, der Fortgang seiner Werke, nicht unterbrochen. Er dichtete sogar noch Dramen, und eine derartige Schöpfung, seine letzte Tragödie „Irene“, war es auch, die ihn seinem stillen Landleben endlich wieder entriß und einen großartigen und hochdramatischen Schlußact seines Daseins herbeiführte. Um der Aufführung des neuen Stückes beizuwohnen, entschloß er sich, mit seiner Nichte nach Paris zu reisen. Der [398] Abschied von Ferney war traurig, die Bauern weinten, aber die Reise ging fröhlich von Statten und glich einem Triumphzuge. Ueberall unterwegs, wo die Leute Voltaire erkannten, brachen sie in Jubelrufe aus. Nach viertägiger Fahrt langte der altmodische Wagen mit seinen Insassen (am 10. Februar 1778) in Paris an, dessen Bevölkerung in eine eigenthümliche Bewegung gerieth, als die Kunde von dem Eintreffen dieses Besuches sich verbreitete. Seit achtundzwanzig Jahren war Voltaire nicht in der Hauptstadt gewesen; seitdem hatten die Gewohnheiten, die Sitten und Trachten sich vielfach verändert. Schon die hohe und hagere Gestalt des Vierundachtzigjährigen, schon sein bleiches, ungemein abgezehrtes Gesicht mit den dünnen Lippen, der spitzen Nase und den großen funkelnden Augen machten den Eindruck des Ungewöhnlichen. Denkt man sich einen scharlachrothen Hermelinpelz hinzu, Schuhe und hohe seidene Strümpfe, in der Hand ein Stöckchen, auf der majestätischen schwarzen Allongeperücke eine viereckige rothe Mütze, die in eine goldbordirte Krone auslief, so läßt es sich begreifen, daß dieser große Landsmann plötzlich vor seinen Parisern auftauchte wie ein erhabenes Bild aus längst entschwundenen Tagen. Durch seine Gedanken aber war er hier mit Unzähligen lebendig verwachsen, Unzähligen nahe vertraut und verwandt, und zu ihren Seelen sprach aus dieser verwitterten Hülle der warme und jugendfrische Geist der Gegenwart. Vom Tage seiner Ankunft an belagerten dichte Schaaren das Haus, in dem er wohnte. Erst am 31. März aber sollte die ganze Fülle seines Ruhmes sich über ihn ergießen. An diesem Tage hielt die Akademie ihm zu Ehren eine Festsitzung, und gegen allen früheren Brauch gingen ihm bei seinem Eintritte die Mitglieder bis an die Thür des ersten Saales feierlich entgegen und übertrugen ihm den Vorsitz. Diese stille Ehrfurchtsbezeigung der Wissenschaft war aber nur ein Vorspiel dessen, was noch folgen sollte. Von der Akademie ging es in’s Theater, wo „Irene“ und sein Drama „Nanine“ aufgeführt wurden. Durch Hunderttausende, die in betäubendes Freudengeschrei ausbrachen, mußte in den Straßen der Wagen sich langsam vorwärts bewegen. So wie derselbe hielt, kletterte Alles auf die Decke und auf die Räder, um den Gefeierten in der Nähe zu sehen. Im Theater harrte Kopf an Kopf ein glänzendes und festlich geschmücktes Publicum, und den ganzen Abend hindurch erbrauste das Haus von den Stürmen begeisterungsvoller und ergreifender Huldigungen, wie kein König und Herrscher, kein Dichter und Schriftsteller sie jemals an solcher Stelle erlebt hat. Als Voltaire, fast erliegend unter der Bürde der Jahre und der Lorbeeren, den Schauplatz dieses beispiellosen Triumphes verließ, empfing ihn unten wiederum das Jauchzen der Volksmassen. Tausende von Händen streckten sich ihm entgegen; Tausende von Stimmen riefen seinen Namen, und bis tief in die Nacht hörte man in den Straßen den Ruf: Es lebe Voltaire! Der Hof war allen diesen Feierlichkeiten fern geblieben, und in der Akademie hatten die bischöflichen Mitglieder sich nicht eingefunden. Es war das erste Mal, daß die Gesinnung und die öffentliche Meinung Frankreichs in einer deutlich sprechenden Kundgebung zu einem gänzlich unabhängigen Ausdruck durchgebrochen war. Das war das Bedeutsame und Denkwürdige an diesen erhebenden Momenten.

Nach dem Geräusche dieses Tages zog Voltaire sich zurück, um an seinem neuen Wörterbuche der französischen Sprache zu arbeiten. Aber die außerordentlichen Aufregungen hatten doch endlich seine Lebenskräfte aufgerieben. Er erkrankte, mußte das Bett hüten und fühlte nach einigen Wochen, daß sein Ende nahe sei. „Adieu, mon cher Morin! Je me meurs!“ sagte er am 30. Mai Nachts gegen elf Uhr zu seinem Kammerdiener, und wenige Augenblicke darauf war er sanft und ruhig verschieden. Die Geistlichkeit hatte es natürlich in den letzten Tagen an ihren hergebrachten Zudringlichkeiten nicht fehlen lassen; er hatte ihre Abgesandten auch freundlich empfangen, ihr Glaubensexamen aber mit der Bitte beantwortet: „Lassen Sie mich doch in Frieden sterben!“ Alle anderen Erzählungen über diesen Vorgang sind erlogen, was schon aus dem Umstande ersichtlich ist, daß ihm das kirchliche Begräbniß verweigert wurde, daß die öffentlichen Blätter von seinem Tode nicht sprechen durften und seine Leiche nach dem Landgut eines Verwandten geschafft werden mußte. Bis zum heutigen Tage verfolgt die große Pfaffenpartei des Priesterthums sein Andenken mit der Gluth eines Hasses, von dem sich nur sagen läßt, daß er ihn redlich und im Schweiße seines Angesichts durch Thaten verdient hat, welche die Gewalt eines finsteren Kirchenwesens zum Segen der Menschheit erheblich geschwächt und erschüttert haben.

Elf Jahre nach seinem Hinscheiden brach die weltumwälzende Bewegung aus, die er nicht gewollt, zu der er aber einen beträchtlichen Theil des Samens ausgestreut und deren Aufkeimen bei der blinden Hartnäckigkeit der Regierung und der herrschenden Classen auch allgemein seinem scharfen Blicke nicht entgangen war. „Alles was ich rings um mich geschehen sehe,“ so schrieb er bereits 1764 an den Abbé Chauvelin „wirft den Keim zu einer Revolution aus, die unfehlbar eintritt, von welcher ich aber nicht mehr Zeuge sein werde. Das Licht hat sich immer allgemeiner verbreitet; bei der ersten Gelegenheit kommt es zum Ausbruch und dann wird ein höllischer Lärm entstehen. Wer jung ist, ist glücklich; er wird schöne Dinge erleben.“

Das Wort war ein prophetisches und ist unvergessen geblieben. Was Voltaire für die Heraufführung eines neuen Bewußtseins, für die Erlösung des Denkens und Fühlens aus den Fesseln eines ertödtenden Despotismus gethan hat, das ist später von der modernen deutschen Wissenschaft und Literatur, seit Lessing und Kant, viel gründlicher, viel durchgreifender und endgültiger auf gänzlich anderen und neuen Wegen vollführt worden. Aber die ersten mächtigen Anstöße der Befreiung sind in einer Zeit tiefster Umnachtung von ihm ausgegangen, und mit vollem Rechte sagt der englische Historiker Carlyle von ihm: „Wäre Voltaire und wäre seine Thätigkeit in der Geschichte des 18. Jahrhunderts nicht gewesen, so würde dadurch ein größerer Unterschied in der jetzigen Lage der Dinge bedingt sein, als von irgend einem anderen Menschen der vergangenen Jahrhunderte gesagt werden kann.“ Treffender noch wird eine Hauptseite der Bedeutung Voltaire’s von seinem Biographen Condorcet in dem Satze zusammengefaßt: „In ganz Europa hatte er einen Bund gestiftet, dessen Seele er war. Das Feldgeschrei dieses Bundes lautetet Vernunft und Toleranz. Wurde irgendwo eine große Ungerechtigkeit verübt, vernahm man von einer That blutiger Verfolgungssucht, wurde die Menschenwürde verletzt, da stellte eine Schrift Voltaire’s die Schuldigen vor ganz Europa an den Pranger.“ Diesen seinen großen Zorn gegen Unterdrückung, Gewaltthat und Unmenschlichkeit hat er mindestens sechszig Jahre hindurch in den Herzen seiner Zeit entzündet, und dieser Zorn ist eine heilsame und bestimmende Macht geblieben in allen weiteren Geschicken der Menschheit.

A. Fr.
  1. Nachdem wir anläßlich des Voltaire-Jubiläums unsern Lesern in der vorigen Nummer ein Portrait des französischen Dichters und Denkers geboten, bringen wir heute ein zweites Bild desselben, welches wir der Freundlichkeit einer Dame verdanken. Wir publiciren es namentlich deshalb, weil sich gerade an dieses Bild ein eigenthümliches Interesse knüpft. Das uns gütigst zur Nachbildung überlassene Original, welches wir Liebhabern von Raritäten und älteren Kunstwerken zum Kauf empfehlen, ist eine Oelmalerei auf einer siebenundzwanzig Centimeter hohen, einundzwanzig Centimeter breiten Holztafel, deren Rückseite folgende Notiz zeigt: Friedrich der Zweite hatte schon oft gewünscht, seines Freundes Portrait zu besitzen; doch Voltaire hatte sich stets geweigert, sein Bildniß abnehmen zu lassen. – Da wird dieser einst krank und schickt zum Könige nach Sanssouci, um sein Nichterscheinen zu entschuldigen. Friedrich, welcher dies für eine günstige Gelegenheit zur Ausführung seines längst gehegten Planes hält, befiehlt sogleich seinem Lector Formay nach Berlin zu schicken und den Maler Pesne kommen zu lassen. (Anton Pesne, ein berühmter Historien- und Portraitmaler, war vom Könige nach Berlin berufen und zum Director der Akademie ernannt worden. Er starb 1775 zu Berlin.) Pesne kam und erhielt vom Könige den Befehl, Voltaire auf jeden Fall zu malen; da dieser seine Zimmer indessen nicht verließ, so sah der Künstler sich genöthigt, den Dichter durch’s Schlüsselloch zu malen, und das Portrait war außerordentlich ähnlich. Es hing bis zum Tode des Königs über seinem Bette und kam nach seinem Tode in Besitz des alten Formay, der es seinem Sohne, dem sehr bekannten Dr. Formay in Berlin vermachte, dessen Wittwe dasselbe nach ihres Mannes Tode an Frau Karoline Fränkel, geb. von Halle, schenkte. Eine Copie von diesem Bilde ist im Besitze Seiner Majestät des Königs.
    D. Red.