Die Gartenlaube (1866)/Heft 35
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Roritzer’s Ton war feierlich, fast bewegt geworden. Er wandte sich der Thür zu, an der Schwelle blieb er stehen; ein Gefühl bemächtigte sich seiner, als habe er etwas vergessen, als lasse er etwas hinter sich zurück, dessen er sich augenblicklich nicht klar bewußt war und das er doch vermißte. Mit Rührung glitt sein Blick an den Wänden des Gemachs hin, das so lange die stillverborgene Werkstatt seines künstlerischen Schaffens, seine ganze Welt gewesen und aus welchem er nun hinausschritt in eine neue, fast unbekannte Welt, aus der Ruhe in die Bewegung, aus dem Frieden in den Sturm. Auch die Meister mochten ahnen, was ihm durch die Seele ging; sie standen in tiefem Schweigen und gaben ehrerbietig Raum, als er sich sammelnd zwischen ihnen hindurchschritt.
Der alte Loy war als der Letzte zurückgeblieben, die Thür zu schließen. Auch sein Auge glitt durch das Stübchen und blieb wie zufällig an dem Arbeitstische haften und an dem daraufliegenden Zeichnungsblatt.
Er trat hinzu.
„Wie schön!“ rief er überrascht, als er die Gestalt erblickte, an welcher Roritzer gezeichnet hatte. „Wahrhaftig … ein Engel, an dem er mir nicht einen Zug mehr ändern soll, der Trotzkopf! Diese Gewandfalten … wie sie dem Jungen nur so einfallen können … aber der Kopf, das Angesicht … hab’ ich das nicht schon irgendwo gesehen? … So, so,“ fuhr er dann mit bedächtigem Kopfnicken fort, indeß er mit der Hand über die Stirn und seine spärlichen Locken strich … „also darum war der Entwurf zum Beschauen noch nicht reif? Darum wollt’ er nichts wissen von meinem fürtrefflichen Antrag? … Sieh einmal, die Enkeltochter Lyskirchner’s, des hochmüthigen Kämmerers! … So hoch will das Wölflein hinaus? Das gefällt mir von ihm … das Mägdlein ist brav, ich hab’ sie nie anders gekannt, und schön … bei meinen Augen, schön ist sie auch … aber ob sie meinen Jungen auch lieb haben, ob sie der Schutzengel seiner Liebe werden wird, wie er sie da auf den Altar gezeichnet? … Und wenn es ist … Einer wird’s doch das Herz brechen … armes Dirnlein, arme Sibylle!“
– Indessen hatte es auch schon in den Gängen und Gemächern des Rathhauses sich zu regen begonnen, wo sonst außer den Rathsstunden und der Gerichtszeit nur das tiefste Schweigen waltete. Ein hagerer Mann kam mit raschen Schritten durch den Hauptgang gegen die Thurmstiege daher, aber trotz aller Eile übte er große Vorsicht, denn bei jedem Schritte hob er die Beine vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, und hielt den Schlüsselbund am Gürtel mit beiden Händen gefaßt, daß er nicht rasselte. Plötzlich schrak er zusammen, als ob ihn unerwartet ein Schlag oder Stoß getroffen; vom andern Ende des Ganges her dröhnte eine mächtige, rufende Männerstimme, daß es an den Gewölbrippen widerhallte; mehr schwankend als gehend kam der Hagere an der Stelle an, von welcher das Rufen ausging. „Ihr seid es, Herr Kraft Dollinger?“ seufzte er, als ihm um die Ecke eine riesige Mannsgestalt entgegentrat, in Pickelhaube und Brustharnisch, ein mächtiges Schwert mit Korbgriff an der Seite. „Wie habt Ihr mich erschreckt durch Euren Ruf! War’s doch nicht anders, als ob schon die Posaune geblasen würde zum jüngsten Gericht. Ihr glaubt nicht, wie’s in diesen Gängen hallt und dröhnt, als wären ihrer Hundert da, die jeden Laut nachriefen!“
„Was soll man anders thun, als rufen?“ erwiderte mit dröhnender Stimme der Gewappnete. „Keine Seele läßt sich blicken, drum meld’ ich mich nach Kriegsbrauch. Ich bin Hauptmann und erster Rottmeister der Stadtknechte von Regensburg und bin mit dem frühesten Morgenschein auf’s Rathhaus beschieden … ist Herr Lyskirchner, der Stadtkämmerer, noch nicht da?“
„Wie könnt Ihr so fragen, Herr Dollinger,“ sagte der Hagere, „seit einer Stunde ist er schon oben und rathschlagt und arbeitet in’s Geheim’…“
„Wer ist bei ihm?“
„St! st!“ rief der Rathsvogt mit abwehrender Geberde, „es ist mir verboten, davon zu reden, und mit Herrn Lyskirchner, Ihr wißt es wohl, ist nicht zu scherzen … ich sag’ Euch nur so viel, es wird heiß hergehen heute, es giebt ein Unglück!“
„Ihr seid ein furchtsamer Unglücksvogel!“ sagte der Rottmeister, indem er mit dem Vogt die Treppe hinanstieg. „Ihr könntet einen anstecken mit Eurem Geflüster und Eurem Angstgesicht, wenn man das Fürchten nicht abgelegt hätte, wie man in den Harnisch kroch. Woher soll das Unglück kommen? Entweder Rath und Gemein’ vertragen sich heut miteinander, oder sie vertragen sich nicht; thun sie’s nicht und es kommt zum Dreinschlagen, so ist’s immerhin besser, als der elende Zustand zwischen Frieden und Fehde, in dem man kein Herz hat für keins von Beiden, und vertragen sie sich, so haben wir Ruhe wieder und Einigkeit, und das werdet Ihr doch kein Unglück nennen?“
„Es ist doch, wie ich sage,“ flüsterte der Rathsvogt wieder, indem er auf einem Treppenabsatz stehen blieb und ängstlich um sich blickte. „Ich lass’ es mir nicht nehmen, wer so lange, wie ich, in dem großen, unheimlichen Gebäude gelebt hat, der hört und sieht und weiß gar Manches, was einem Andern nicht einfällt sein Leben lang… Drunten in der Folterkammer hängt das große [538] Richtbeil; das rührt sich allemal und zeigt sich an, wenn’s wieder Arbeit bekommt… Heut’ Nacht ist es von der Wand heruntergefallen. Ihr werdet sehen, Herr Dollinger, das Beil kriegt zu thun, und Gott sei dem gnädig, den es trifft!“
Der Rottmeister konnte nichts erwidern, denn über die Treppe herauf kamen einige Männer und schritten eilfertig und mit leichtem Kopfnicken an den ehrerbietig Grüßenden vorüber. „Wer sind die Herren?“ fragte Dollinger. „Ich sehe wohl, daß sie zum Rath gehören, aber ich hab’ nicht viel mit den steifen Halskrausen zu thun und kenne die Wenigsten von den gestrengen Herren.“
„Das will ich Euch wohl sagen,“ entgegnete der Vogt, den Männern nachblickend. „Der lange Mann in dem Velbelumwurf mit dem rothen Spitzbart und dem feindseligen Geschau, das ist Herr Aunkhover; der untersetzte Herr mit dem freundlichen, runden Gesicht heißt Kitzthaler, ein Kaufherr, der ganz Regensburg kaufen könnte; der mit dem Federbarett aber, dem langen Haar und dem schwarzen Judenbart, das ist Herr Doctor Hans Baier, der Stadtarzt …“
Während des Gesprächs hatten Beide das Vorgemach des Sitzungssaales erreicht und traten in eine Fensternische, um bereit zu sein, sobald sie gerufen würden; im Saale selbst war die Versammlung immer ansehnlicher und zahlreicher geworden. Kein Name von all’ den Geschlechtern und Häusern fehlte, die seit Jahrhunderten in der Stadt Regiment sich getheilt und zu halten gewußt; da war Hans der Trainer, Erhard der Grafenreut, ein Donauer, ein Gleissenthal, Karg, Auer und Nothscherf. Ihrer Würde bewußt und im Gefühl der ernsten Stunde, standen sie in leisem Gespräch beisammen oder schritten hin und wider, die lange, grüne, verhangene Sitzungstafel entlang, an welcher die Sessel mit den hohen, geraden Lehnen bereitgestellt waren. Am andern Ende stand eine Reihe von niedrigeren und unscheinbareren Stühlen; sie waren für die Zünftler und Handwerker bestimmt, welchen heute zum ersten Male ein Sitz in diesen Räumen gewährt werden mußte.
Auf der Tafel vor dem obersten Platze stand eine Sanduhr.
Der Stadtarzt war an den Tisch getreten, hatte das Stundenglas gestürzt und sah nun gedankenvoll dem unhörbar und unaufhaltsam abrieselnden Sande zu.
„So ganz vertieft, Herr Doctor?“ sagte Aunkhover, indem er hinzutrat und die Spitze seines Bartes zwischen den Fingern drehte. „Ihr wollet wohl besondere Wissenschaft herauslesen aus dem Ablaufen der reisenden Uhr?“
„Dünkt Euch das unmöglich?“ entgegnete der Doctor, ohne sich umzuwenden. „Ich meines Theils lese zweierlei Weisheit ganz deutlich in dem rinnenden Sande …“
„Die wäre?“
„Erstlich, daß es nur ein winzig Löchlein ist, durch das der Sand abläuft, und daß er doch abläuft, bis auch kein Körnlein zurückgeblieben ist, und zweitens, daß, wenn das letzte Körnlein abgelaufen ist, man die Uhr umkehrt und sie die Reise von Neuem beginnen läßt …“
„Und die Weisheit, so daraus folget?“ fragte Aunkhover mit lauerndem Blick.
„Findet Ihr sie nicht?“ rief der Doctor. „Die reisende Uhr predigt, wer in der Fülle sitzt, soll sich nicht überheben, sondern eingedenk sein, wie unsichtbar unter ihm ein klein Löchlein sich befindet, durch das sein Sand verrinnt, unmerklich, aber auch unerbittlich, und daß, was unten ist, darum nicht zu verzagen braucht, denn wenn seine Zeit da ist, wird umgestürzt und es kommt wieder obenauf!“
„Ihr spielt auf den Rath und die Gemein’ an,“ rief Aunkhover, „der Rath, die Geschlechter sind für Euch der ablaufende Sand; man weiß ja, daß Ihr in’s Geheim zu den Zünftlern haltet!“
Der Arzt wandte sich rasch und mit forschendem Blick nach ihm. „So Ihr Jemand kennet, der das zu wissen behaupten will,“ sagte er finster, „so saget ihm, er solle sich vor Hans Baier wahren; ich bin nicht gewillt, Andere zu Auslegern meiner Gedanken zu machen! Ich bin nur ein Arzt und sage: wo Fieber ist, da soll man beruhigen, abkühlen, nicht schüren und erhitzen!“
„Ich bin kein Arzt,“ rief Aunkhover, „aber ich weiß eine bessere Cur und eine kürzere. … Zapft ein wenig ab von dem heißen, übermüthigen Blut, und die Fieberträume verschwinden.“
Grollend wandte er sich ab und ließ den Stadtarzt stehen, der wieder zu seiner vorigen Beschäftigung zurückkehrte.
„Indessen war in seinem Geheim-Gemach der Stadtkämmerer in nicht minder eifrig erregtem Gespräch begriffen; sein Widerpart war ein feiner Mann in mittleren Jahren, der das hochblonde Haar in langgescheitelten Locken hinter die Ohren gelegt hatte; ein kümmerliches Bärtchen von gleicher Farbe deckte nur wenig die verschmitzte Oberlippe, dagegen waren die Augenbrauen ungewöhnlich büschig und stark und machten den Blick der grauen Augen noch greller und stechender. Der hochmüthig überlegene Ausdruck des Gesichts stimmte nicht zu dem fast unscheinbaren schwarzen Wamms und Mantel; nicht minder war die ganze äußerlich einfache und fast demüthige Erscheinung im Widerspruche zu der besondern Artigkeit und Ehrerbietung, mit welcher der Stadtkämmerer dem Fremden begegnete und aufrecht neben dem Stuhle stand, in den dieser sich bequem zurückgelehnt hatte.
Derselbe hatte eine Weile in schweigendem Nachsinnen vor sich hingeblickt. „Was Ihr mir erzählt,“ sagte er dann mit einem kurzen Seitenblick, „dünkt mich immerhin besonderer Art. Was ist dieser Dommeister für ein Mensch?“
„Ein wohlbewanderter Baumeister und Steinmeißel seines Zeichens,“ erwiderte Lyskirchner, „ein angesessener, hablicher Mann aus altem Bürgergeschlecht in besten Jahren, aber unbeweibt, kurz angebunden und glaubt, daß seine Kunst der Angel sei, um den die ganze Welt sich dreht …“
„Ein Phantast also, ein Schwärmer, wie sie Alle sind,“ unterbrach der Fremde. „Das bringt die Natur mit sich, so Einer nicht mit solider Wissenschaft und Geschäft sich befaßt, sondern mit all’ den Dingen, so sich Künste benamsen und doch nur Zierwerk sind und eitel Spielerei! Hat der Mann sonst schon mit den Rebellern sich eingelassen?“
„Es hat nie davon verlautet; er ist lang’ in Frankreich gewesen und in Italien und hatte sich wohl erprobt, daß man ihn nach seines Vaters Tod zum Dommeister erkor; seitdem lebt er zurückgezogen und ich vermeine, es sei auch gestern nur der Augenblick gewesen, der ihn in den Strom hineingerissen …“
„Ein Schwärmer, ein Phantast, wie ich gesagt!“ wiederholte der Fremde. „Ich denke, dem Manne wird beizukommen sein, der wird seine schwache Stelle haben, ob er sie nun wie Siegfried im Nacken, oder wie Achilles an der Ferse trägt!“
„Jedenfalls würde ich sehr zur Vorsicht rathen, der Meister ist hochfahrend und von trutzigem Gemüth … Einer von den Gefährlichen!“
„Ach, lehrt mich meine Leute kennen!“ rief der Fremde sich erhebend, mit geringschätzigem Lächeln. „Wen die Wallung eines Augenblicks von der einen Seite auf die andere hinüberführt, den führt eine Wallung auch wieder zurück; es kommt nur darauf an, daß man versteht, die Wallung wieder hervorzubringen und stärker als vorher… Besser freilich wär’ es gewesen,“ fuhr er mit ernsterem Tone fort, „Ihr hättet meine ersten Rathschläge befolgt und kaiserlicher Majestät Kriegsvolk in die Stadt eingelassen; mit hundert Mann hätt’ ich gründlich Frieden gemacht, eh’ Ihr eine Hand umkehrt!“
„Ich habe schon mehrfach Gelegenheit gehabt,“ erwiderte der Stadtkämmerer geschmeidig, aber mit Nachdruck, „zu demonstriren, wie solches nicht zu wagen und zu rathen war. So die Empörung jetzt nur glimmt und glostet, wäre das ein Windstoß gewesen, die offene Flamme anzublasen … die Gemeine ist zu schwierig …“
„Die Gemeine?“ fragte der Fremde, indem er Lyskirchner mit prüfenden Blicken maß. „Die würde mich nicht schrecken und vermeint’ ich, mit den Handwerkern bald an’s Ende zu kommen; aber Ihr, Ihr Rathsherren, Ihr von den alten Geschlechtern seid’s, die kaiserlicher Majestät eigentlich im Wege stehen … Glaubt Ihr, mich bei sehenden Augen blind machen zu können?“ fuhr er noch strenger fort und wies die betheuernde Geberde des Stadtkämmerers gebieterisch zurück. „Es ist, wie ich gesagt! Ihr seid das eigentliche Hinderniß, daß die Stadt noch immer sich dem Gebote kaiserlicher Majestät widersetzt und den verordneten Reichshauptmann nicht annehmen will! Ihr tragt auf beiden Achseln! Ihr seid kaiserlich, so lang’ sich’s darum handelt, das widerspenstige Volk niederzuhalten, das Eurem Uebermuthe nicht mehr gehorchen will! Zu Daumschrauben wollt Ihr den Kaiser gebrauchen, darüber hinaus aber wollt Ihr selbst wieder und allein die Herren sein! Ihr spielt ein heimliches, ein doppeltes Spiel, aber sehet zu, daß Ihr Euch nicht damit verrechnet!“
[539] „Eure Anwesenheit,“ entgegnete der Stadtkämmerer unterwürfig, „ist wohl die beste Widerlegung und Gegenprobe gegen diesen schweren Vorwurf, diese ebenso kränkende wie grundlose Incrimination! Euch ist nicht unbekannt und auf dem Wege hieher konntet Ihr Euch überzeugen, daß ich insgeheim und nur mit Wenigen einverstanden im Namen der Stadt Soldknechte geworben; Ihr wißt, daß sie sich zu Stauf versammeln; daß Herzog Albrecht von Baiern, noch immer der Stadt ein wohlgewogener Gönner, gutgeheißen hat, daß es unter dem Vorwand geschieht, als sammle er dort seine Mannschaft zu des Kaisers bevorstehendem Reichszug gegen Ungarland … Wäre gestern nicht ein dummer Zufall dazwischen getreten, der das Volk aufregte, so hätt’ es schon heute, wenn es sich zur Beredung eingefunden, meine Söldner gefunden, welche nicht wie die meist einheimischen Stadtknechte aus Besorgniß zaudern, daß es vielleicht ein Gevatter oder der Sohn einer Muhme ist, der ihr Eisen spüren soll! Aber auch für den schlimmsten Fall hab’ ich vorgesehen; es gelang mir, auf verborgenem, nur mir bekanntem Wege einen Boten aus der Stadt und an den Führer des geworbenen Volks zu schicken, daß er sich bereit halten soll; jede Stunde kann er kommen und mir Nachricht bringen, ein Zeichen ruft sie hierher. Jetzt macht mir noch Vorwürfe, so Ihr glaubt, dazu Anlaß zu haben … Alles ist vorbereitet und nichts mehr zu thun, als die Entscheidung zu verzögern und die Unruhigen so lang’ hinzuhalten, bis man ihnen den Herrn zeigen und in der ersten Ueberraschung sie niederwerfen kann; an einem Vorwande dazu wird es wohl nicht fehlen!“
„Wann hätt’ es uns je an einem solchen gefehlt!“ rief der Fremde mit funkelnden Augen. „Das habt Ihr trefflich gemacht, Herr Stadtkämmerer … das versöhnt mich mit Euch! Laßt uns denn nicht länger zögern, den Fastnachtsschwank zu beginnen; mich dünkt, dem Volke währt es zu lang’, bis die Kurzweil beginnt. Ich höre Stimmen von der Straße, die Zünftler kommen …“
Es war wirklich so. Auch die Rathsherren vernahmen den Lärm und traten neugierig an die Fenster, aber weit genug entfernt, um von unten nicht gesehen werden zu können. Der Rottmeister und der Rathsvogt waren minder bedenklich in ihrer Nische und sahen dem Andrängen des Volkes zu, das sich lärmend von der Haid und vom Fischmarkt her über den Rathhausplatz heranwälzte.
„Wie sie brüllen!“ sagte der Rottmeister. „Sie denken, wir sind nicht vorgesehen, aber meine Bursche mit ihrem Waibel stehen hinter dem Thor und wenn sie es wagen … Der große, stattliche Mann in der Pelzschaube ist wohl der Dommeister, den sie sich zum Führer gewählt haben?“
„Das ist Herr Wolf Roritzer,“ „erwiderte der Vogt, „und bei meiner armen Seel’, es ist wirklich ein stattlicher Mann! Schreitet er doch daher, als wär’ er schon Stadtkämmerer und trüge die goldene Kette mit dem Ehrenpfennig um den Hals!“
„In Gedanken trägt er sie wohl schon!“ sagte Dollinger lachend. „Die Andern kenn’ ich meist! Links hinter ihm, ist das nicht Meister Hörhammer, der Schusterkneif, der mir meine Reitstiefeln so elend versohlt hat, daß ich noch heut’ Lust habe, sie ihm um die Ohren zu schlagen? Und der will auch mitreden und will an der Gemeine flicken?“
„Hört nur das Geschrei! Seht nur das Gedräng’!“ rief wieder der Vogt. „Die ganze Menge wird doch nicht herkommen und in’s Rathhaus eindringen wollen? Nein, seht, der Roritzer bleibt stehen und redet zu ihnen … Wie sie alle die Mützen von den Köpfen reißen, als wär’s ein durchlauchtig Fürstenhaupt, vor dem sie stehen! Sie gehorchen ihm, sie bleiben zurück und nur die Rädelsführer geh’n mit ihm vorwärts … O weh, o weh, das ist ein übel Anzeichen!“
„Was ist geschehen?“ fragte der Rottmeister, der sich schon etwas abgewendet hatte, zurückkehrend.
„Saht Ihr’s nicht? Da, mitten auf dem Platz haben die Maurer, die jüngst am Rathhausthor gearbeitet, einen Haufen Sand liegen lassen … wie der Dommeister mit dem Volke geredet und nicht hingesehen, wär’ er bei einem Haare gefallen! Ein schlimmes Anzeichen sag’ ich Euch … wenn mir das geschähe, ich hielt’ es für einen Unglücksgang und kehrte um, bei meiner armen Seele!“
Alles wandte sich dem Eingange zu, wo man die Bürger kommen hörte; auch aus dem Nebengemache trat der Stadtkämmerer mit dem Fremden. Er grüßte flüchtig und herablassend; auch sein Auge hing an der Thür. Niemand fand Zeit, seinen Begleiter zu beachten, der fest und sicher, als ob es so gebühre, neben den Stuhl des Kämmerers trat.
Tiefes Schweigen empfing Roritzer, als er auf der Schwelle erschien; hinter ihm drängten die Meister und Zunftgenossen nach, hart neben ihm pflanzte Loy sich auf: er schien sich vorgenommen zu haben, keinen Schritt von der Seite des Lieblings zu weichen.
„Gott zum Gruß, Ihr edlen Herren und Gestrengen vom Rath der freien Stadt Regensburg!“ begann Roritzer sich leicht verbeugend mit klarer Stimme und ruhigen Blicks die Versammlung überschauend. „Die ehrbare Gemein’ verdankt es Euch höchlich, daß Ihr deren Begehr willfahren wollt; wollet allerlei Beschwerniß und Mißhelligkeit, so sich erhoben, freundlich anhören und friedlich verhandeln. Deshalb erscheinen diese wackern Meister und Zunftgenossen als Abgeordnete der Gemeine auf Eure Ladung vor Euch; mir aber leget es nicht als eigene Kühnheit aus, daß ich als eines gestrengen Raths Diener, auch wohlbestallter Dommeister, als Anführer und Fürsprech erscheine …“
„Ihr bedürfet nicht der Entschuldigung, werther Meister,“ unterbrach ihn der Stadtkämmerer mit ausgesuchter Artigkeit in Ton und Geberde. „Wir sind Euch vielmehr Dank schuldig und der Rath rechnet es Euch zu hohem Verdienste an, daß Ihr an die Spitze löblicher Gemein’ getreten. Wir begrüßen die Abgeordneten mit um so größerer Freude, als ein Mann sie anführet, der die beste Kenntniß und Fähigkeit besitzet, dessen aufrichtigen, redlichen Willen …“
„Ihr habt mich unterbrochen, Herr Lyskirchner,“ sagte Roritzer kalt, „gebt Vergunst, wenn ich es hinwider thun muß, aber Ihr schweift ab und redet von Dingen, die nicht hierher gehören. Diese Männer haben alle den aufrichtigen redlichen Willen, ihren Spahn mit dem Rath gütlich zu vertragen, damit Frieden und Eintracht und mit ihnen Gedeihen und Wohlfahrt wiederkehre in unsere gute Vaterstadt! Und weil sie bei Euch denselben guten Willen voraussetzen, sind sie gekommen zu offenem Rathsgespräch und meinen, es sei wohlgethan, die edle Zeit nicht zu vergeuden mit eitler Reverenz und Wortgepräng …“
Der Stadtkämmerer biß sich auf die Unterlippe. „Wie es Euch gefällt,“ sagte er dann in merklich abgekühltem Tone, „der Rath hofft übrigens, daß Niemand es wagen werde, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, und so laßt uns denn beginnen. Nehmt Platz, und laßt den Rath erfahren, was die Gemein’ von ihm begehrt …“
„Nichts für ungut, Herr Stadtkämmerer,“ rief Roritzer sich niederlassend, „ich muß Euch gleich bei Beginn zuwider sein. Was eine löbliche Gemein’ von Regensburg begehrt, braucht nicht erst lang erörtert zu werden, es ist dem Rathe längst bekannt, auch unlängst in ausführlicher schriftlicher Vorstellung des Breitern erörtert worden …“
„Mit Vergunst, Herr Dommeister, es ist so viel gesagt und ventiliret worden, daß ein förmlicher präciser Vortrag nicht zu umgehen … auch die Rathsordnung verlangt es so und die Form Rechtens …“
Der Fremde neigte das Lockenhaupt gegen den Stadtkämmerer und sagte feierlich: „Es ist so, ich muß das bestätigen!“
„Und wer ist es, der diese Bestätigung giebt?“ fragte Roritzer mit festem Blick.
„Ah, ich vergaß, diesen Herrn der Versammlung vorzustellen,“ entgegnete der Stadtkämmerer; „seine Anwesenheit ist ein Beweis, wie sehr ich bemüht bin, den obwaltenden Streit in gründlichster Weise zu schlichten … Doctor Fux, ein berühmter Meister der Rechtsgelahrtheit, auch Lehrer an der hohen Schule zu Prag, der auf seiner Durchreise meine Einladung nicht verschmäht, als Juris Consultus sein Gutachten …“
„Das ist dankenswerth von dem Herrn Doctor,“ entgegnete Roritzer, „aber ich vermein’, es soll so gelahrter Hülfe nicht bedürfen, mit schlichtem Verstand und gutem Willen gedenken auch wir das Rechte zu finden; doch um dem Zank ein Ende zu machen und zu zeigen, daß wir nicht widerspenstig sind … Ihr habt Euren Rathsschreiber, gebt ihm die Beschwerdeschrift, er soll sie lesen …!“
„Ich weiß nicht,“ sagte Lyskirchner ausweichend, „ob die Schrift augenblicklich zur Hand …“
„Ei, ei, Herr Stadtkämmerer,“ rief Roritzer rasch, „Ihr wußtet doch, was verhandelt werden soll, und habt nicht einmal die Schrift zur Hand? Doch immerhin, wir haben für eine Abschrift gesorgt … Hier ist sie, nehmt, Rathsschreiber, und lest …“ Er warf das Papier dem Schreiber hin; die Rathsherren machten verlegene Mienen, die Bürger warfen sich bedeutsame Blicke zu. [540] Der Schreiber stand angstvoll, die Schrift bebte in seinen Händen und fragend blickte er auf den gewaltigen Stadtkämmerer. „Lest!“ rief Roritzer noch einmal gebieterisch und der Schreiber begann.
Es war ein langes inhaltvolles Actenstück, ein getreues Verzeichniß aller wirklichen und vermeinten Unbilden, die der Rath seit Jahren gegen die Bürgerschaft verschuldet, Kleinigkeiten neben den wichtigsten Anklagen, Dinge die sich fast lächerlich anhörten neben Inzichten der schwersten Art; das Volk hat ein treues Gedächtniß, es hatte einen empfangenen Nadelstich so wenig vergessen, wie eine Todeswunde. Da war dem Rathe vorgehalten, wie er und die edlen Geschlechter seit Langem darauf ausgegangen, alle Herrschaft an sich zu reißen und die Gemein’ in ihren Rechten zu verkürzen, wie sie darum sich an Herzog Albrecht ergeben, nur um mit Hülf’ eines Gewaltigen das Volk zu unterdrücken, und wie sie der Gemein’ die Zustimmung zu dieser Ergebung arglistig abgelockt, indem sie ihr die lateinischen Freiheitsbriefe der Stadt, welche den Bürgern unverständlich waren, falsch übersetzt und ungetreu vorgetragen, den Vermögensstand der Stadt aber fälschlich als einen trostlosen und unhaltbaren dargestellt. Da war nicht verschwiegen, daß, wenn es übel um der Stadt Säckel beschaffen, dies Niemand verschuldet, als die üble Wirthschaft des Raths und seine Saumsal, die zugegeben, daß Nürnberg den Regensburger Handel an sich gerissen, daß die Wiener die Schiffe von Regensburg angehalten und Herzog Albrecht die Getreidschranne gewaltsam nach Straubing gezogen und daß jetzt kaiserliche Majestät, der die Bürger getreu ergeben, wider der Stadt altes verbrieftes Recht ihr einen Hauptmann aufdrängen wolle. Es sei, hieß es, dem Rathe nicht Ernst, diese Zumuthung abzuwehren, auf welcher der Kaiser sicher nicht bestünde, würde ihm nur Alles in rechter Wahrheit vorgetragen; er unterhandle mit dem Kaiser nur zum Schein, und sei heimlich mit ihm einverstanden zu gemeiner Freiheit Unterdrückung. Da war endlich dem Rathe vorgerückt, daß er den Klöstern und Geistlichen nicht gewehrt, welche allerlei bürgerliches Gewerb’ und den Bier- und Weinschank betrieben zum Schaden der Bürger, daß er diesen eine Kleiderordnung eigenmächtig vorgeschrieben und das Umgeld erhöht habe, ohne die Gemein’ in Wachtversammlungen zu befragen, wie es Rechtens und Herkommens in der alten freien Reichsstadt.
Schweigend hörte die Versammlung zu, wenn auch durch manches Patriciergesicht der Unmuth zuckte, das eigene Sündenregister so anhören zu müssen, und in manchem Auge der Unwille glühte über die kühne Sprache, die das Volk zu führen gewagt; mancher grimmig verbissene Mund hätte gern die Verlesung unterbrochen, aber es war etwas in dem ruhigen Gebahren des Dommeisters, was das kecke Wort auf den Lippen ersterben ließ.
„Der Rath von Regensburg,“ begann endlich der Stadtkämmerer unbefangen in Miene und Ton, „hat nun die Beschwerden löblicher Gemein’ vernommen und darf es wohl als Beweis hervorheben, wie sehr er die Bürgerschaft in ihren Abgeordneten ehrt, daß er so vielfache wie grundlose Beschuldigung ohne Erwiderung und Vertheidigung angehört; der Rath wird diese zu rechter Zeit nachzuholen nicht unterlassen; vor Allem aber ziemt die Frage, was löbliche Gemein’ eigentlich verlange? Wie sie glaubt, daß all’ den Uebeln, so sie in Wirklichkeit als bestehend erachtet würden, soll abgeholfen werden …“
„Die Gemein’,“ erwiderte Roritzer, „bedauert, zu solch’ bitterer Auseinandersetzung gezwungen zu sein, sie tröstet sich mit dem Bewußtsein, es nicht verschuldet zu haben, und will hinwider einen Beweis geben, wie gern sie die Hand bietet und einschlägt zu Versöhnung und Frieden … Vergessen soll Alles sein, was geschehen, jede Kränkung von beiden Seiten geschlichtet und abgethan auf ewige Zeit, wenn der Rath der Gemein’ drei Dinge zugesteht und verbrieft in feierlicher, darüber aufgenommener Urkund’ …“
„Nennt die drei Dinge!“
„Zum Ersten, daß der Rath der Gemein’ die alten Freiheitsbriefe und Rechtbücher der Stadt vorlegt zu jederzeit freier Einsicht, Lesung und Abschrift; zum Andern, daß der Rath über den Stadtsäckel auf die letzten fünf Jahre zurück genaue Rechnung legt und eine Tagsatzung bestellt zur Abhör … zum Dritten, daß fortan und für ewige Zeit aus jeder der zehn Wachten, in welche die Stadt getheilt, je vier Bürger in freier Wahl erkürt werden, die im Rath sitzen und Stimme haben wie die Andern und wie die Geschlechter …“
Die Gesichter über den hohen Lehnstühlen waren noch finsterer geworden, desto heller leuchteten die der Zunftgenossen; sie flüsterten einander zu und waren vergnügt über die entschiedene Art, wie der Führer, den sie gewählt, ihre Sache vertrat.
„Wohlan denn,“ begann Lyskirchner wieder, „so wollen wir hoffen, aus sothaner heute begonnener Besprechung den erwünschten Frieden und der Stadt ersprießliche Eintracht entkeimen zu sehen … Der Rath kennt nun das Begehren löblicher Gemein’; er wird solches in gebührende Berathung ziehen und nicht ermangeln, die Resolution, so er gefasset, zu verkünden; inzwischen …“
„Mit Vergunst, Herr Stadtkämmerer,“ unterbrach ihn Roritzer erstaunt, „wozu das? Wozu noch einmal geheime gesonderte Erwägung im Rath? Hier sitzen die Vertreter der Gemein’, nicht um blos zu erwarten und ruhig anzuhören, was einem wohledeln Rath belieben mag zu beschließen: zu gemeinsamer Verhandlung und Berathung sind wir hier – die Gemeinsamkeit ist es, aus der die Eintracht kommen soll!“
„Aber der Rath muß doch erst für sich untersuchen … sich klar werden über die Verhältnisse und Anforderungen!“
„Ei, Ihr Herren, so Euch die Verhältnisse jetzt noch nicht klar geworden,“ rief Roritzer unwillig, „so dürfte das Warten lang währen, bis es geschieht! Ist es nicht schier ein Jahr, daß Rath und Gemein’ im Hader liegen miteinander? Thut Ihr doch, als hörtet Ihr heute das erste Wort davon, und könntet doch längst jede Silbe auswendig wissen und jeden Buchstaben! Ihr sinnt darauf, die Sache zu verzögern …“
„Und Ihr wollt sie überstürzen!“ rief der Fremde, der nicht mehr an sich zu halten vermochte.
„Mit Euch hab’ ich nicht zu verhandeln, Herr Doctor,“ rief Roritzer entgegen, „werd’ Euer nicht vergessen, so ich einmal einen Handel haben sollt’ am neuen Kammergericht zu Wetzlar, hier aber dank’ ich für Euren Rath!“
„Ihr würdet gut thun, Euch zu mäßigen!“
„Ich thue nichts über’s Maß, ich bin’s als Baumeister gewohnt!“
Die Bürger lächelten und nickten noch vergnügter. Der Fremde aber flüsterte Lyskirchner zu: „Ihr habt recht gesagt, das ist ein gefährlicher Mensch!“
„Noch einmal,“ begann der Dommeister wieder, „begebet Euch der Weitwendigkeit und alles Umschweifs! Sagt Eure Meinung über die Sprüche und Forderung der Genossen, wir reden hinwider und kommen so zur Verständigung …“
„Es geht nicht! Es ist wider alle Form!“
„Die Form thut’s nicht, Ihr Herren, glaubet mir das; der Sinn muß Alles thun, der in der Form steckt! Der Sinn hat sie geschaffen, und hat sie ihren Dienst gethan, so zerbricht er sie und schafft sich die neue, deren er bedarf!“
„Ihr seid sehr reich an Bild und Gleichniß,“ entgegnete Lyskirchner kalt, „Ihr vergesset nur, daß es Dinge giebt, die über Senkblei und Winkelhaken hinausgehen, und daß nicht Alles zu schlichten und glatt zu machen ist mit Kelle und Richtscheit!“
Der Dommeister sprang auf; Zorn röthete sein Angesicht, seine Hand ballte sich, seine Augen brannten, die Lippen zuckten, dem Gegner ein grimmiges Wort in’s Antlitz zu schleudern: da war es ihm, als stünde er wie gestern vor ihm am Eingang seines Hauses, als träte eine holde Gestalt wieder zwischen Beide, und schmiegte sich schützend vor den alten Mann und blickte mit den tiefen innigen Augen bittend und abwehrend auf ihn herüber.
Er bezwang sich.
„Herr Lyskirchner,“ rief er mit bebender Stimme, „es ist das zweite Mal, daß Ihr über die Sache die Person angreift und spöttisch meines Handwerks gedenkt … Ich ertrag’ es nur an diesem Ort, in dieser Stunde allein, ich ertrag’ es nur um eines Gedankens willen, den Ihr nicht ahnt; aber wagt nicht, mir wieder so zu begegnen, oder so wahr ich mich nie meines Meißels geschämt …“
Lärmen und wachsendes Stimmgebrause vom Platze her unterbrach ihn. „Was ist das?“ riefen die Rathsherren und drängten zum Fenster. „Was geschieht? Das Volk stürzt in Massen schreiend gegen das Rathhaus heran … das ist Ueberfall!“
„Unmöglich!“ rief Roritzer dazwischen mit Gebieterstimme den Lärm übertönend. „Ich habe dem Volke befohlen, zu warten!“
„Ha,“ knirschte der Fremde dem Stadtkämmerer zu, „der Uebermüthige! Er hat sich’s wohl eingelernt, den Volkstribun zu spielen!“
So mancher der geehrten Leser wird schon ein Bivouac bei einem Manöver in Friedenszeiten erlebt und sich an dessen verschiedenen humoristischen Vorkommnissen ergötzt haben; im Kriege und zumal in dem gegenwärtigen, welchen man füglich eine Jagd nennen kann, sind dieselben noch seltener als das schöne Wetter in diesem traurigen Sommer. Dem Soldaten, der den Tag vier bis sechs Meilen in Sonnengluth oder Sturm und Regen, bald vom Staube fast des Athems beraubt, bald im tiefen Lehmboden fast stecken bleibend, marschirt ist, vergeht doch der Appetit auf Lustbarkeiten, wenn der Magen sich mit verschimmeltem Brode oder mit gar nichts begnügen soll. Ich habe wohl gehört, daß Correspondenten Lagerscenen
in heiterem Gewande zu Markte gebracht haben – denn gelesen habe ich es nicht, weil eine Zeitung gar selten in meinen Bereich gekommen ist, – diese müssen aber eine Phantasie besitzen, von der sich behaupten läßt: „Es ragt das Riesenmaß der Leiber weit über Menschliches hinaus.“ Ja, in Sachsen kam es wohl noch vor, daß die Mannschaften, wie Macbeth’s Hexen, um den Kessel herumtanzten, in dem die braven Zittauer ihnen im Schweiße ihres Angesichts ein kräftiges Mahl bereiteten, doch in Böhmen, da fiel der Vorhang über diesen Theil der Bühne und ein anderer wurde sichtbar, auf dem verlassene Städte und Dörfer, Hunger und Tod als Hintergrund und Agirende erschienen. Da liegt hart an dem fruchtbaren, von betriebsamen Deutschen in gartenartiger Cultur erhaltenen Sachsen ein böhmisches Städtchen Krottau. In Zittau lief Alles auf die Straßen, nicht vor dummer Furcht zitternd, sondern begierig, die preußischen Truppen und Waffen kennen zu lernen. Der bewunderte den strammen Tactschritt der Bataillone, Jener äußerte unverhohlen seinen Respect vor den Lanzen der schwerberittenen Ulanen, wieder ein Anderer entwickelte seine Kenntniß der neuen gezogenen Vierpfünder vor seinen Landsleuten. Freilich war’s der Feind, welcher kam, aber ein civilisirter, der sich mit Essen, Trinken und Wohnen begnügt, nicht einer, der Kinder zum Gabelfrühstück spießt.
„Kaum aber waren wir in dem Defilé, durch welches die Straße nach Böhmen führt, so zeigte sich rings eisige Oede. Die schwarz-gelben Zollhäuser waren verlassen und leer von Allem, was nicht niet- und nagelfest war, die Felder weit und breit einsam, wie der Urwald, als hätte sie nie eines Menschen Hand bestellt, die Eisenbahn und die Telegraphenleitung zerstört, und – als wir endlich Krottau erreichten, zeigten sich nur verschlossene Thore, zugemachte Fensterläden und verrammelte Ladenthüren. Im Freien wollte man doch auf den grundlosen Straßen nicht campiren, es blieb also nichts übrig, als die Verschlüsse zu öffnen, was nicht in der schonendsten Weise geschah. Die Pferde wohnten parterre, die Reiter im ersten Stock, so daß die ohnehin nicht sehr saubere Stadt ein würdiges Pendant zu den schmutzigsten polnischen Nestern bildete. Selbst die Herren Officiere von der Garde in Berlin, die sonst auf dem Corso in der Hofjäger-Allee oder in der Thiergartenstraße mit blitzenden Stulpstiefeln und silbernen Radsporen einhergaloppiren, wateten hier durch den tiefen Koth der Gasse zum – Marketender, der mit schmierigen Fingern elenden Schnaps, Korn geschimpft, für theures Geld in die elegante Feldflasche füllte. Die Rasenplätze vor Schloß Grafenstein, dem Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, schmückten die Eingeweide von einigen [542] dreißig Hammeln, welche die Soldaten geschlachtet hatten. In Reichenberg, wo Menschen zu Hause geblieben waren, lief ich mit Officieren zusammen anderthalbe Stunde von Gasthaus zu Gasthaus, um etwas zu essen aufzutreiben, und wir waren froh, als wir in einer schmutzigen Winkelkneipe eine Portion Kalbsbraten erhielten. So erging es uns im Hauptquartier und Leuten, die mit Geld reichlich versehen waren, wie viel schlechter aber noch dem Soldaten, der, wenn es hoch kam, das rohe Fleisch erhielt und es dann erst selbst kochen mußte. In der Eile geschlachtet und nicht ausgeblutet, oft von alten Thieren, wurde das Fleisch nie weich und vollständig genießbar. Dazu noch die steten Alarmirungen, bald Abends, wo das Fleisch halb fertig war, bald Nachts, wenn der Soldat kaum die Augen geschlossen hatte. Das sind die Strapazen des Krieges, von denen Niemand nur eine Ahnung besitzt, der sie nicht mitgemacht hat. Danach wird der Leser wohl glauben, daß selbst die unverwüstlichste Fröhlichkeit in die Brüche ging.
Ebenso ging es weiter von Stadt zu Stadt, durch Liebenau, Turnau, Münchengräz, Sobotka, Gitschin bis Horzitz, in dessen Angesicht die gewaltige Schlacht geschlagen wurde, welche einen mit so großen Kräften begonnenen Krieg in wohl nie dagewesener kurzer Zeit mit Einem Schlage beendigte. Denn, was nachkam, war nur noch Verfolgung, und der Friede konnte füglich ebensogut in Königsgrätz, wie in Nikolsburg vor Wien stipulirt werden.
Es ging aber nicht nur dergestalt weiter, sondern es kam noch schlimmer; denn nun begann auch das Wasser zu fehlen. Theils bewegten wir uns auf einem Terrain, welches an und für sich Mangel an Wasser hatte, theils hatten die dummen Bewohner, von Priestern und Soldaten in ihrer Furcht bestärkt, alle Schöpfgeräthe entfernt und die Cisternen mit Unrath angefüllt. Da liefen die Soldaten oft eine Stunde weit nach schmutzigen Gräben und schleppten ihr Kochwasser heran – wer trank, trank mit geschlossenen Augen. Die fertige Bouillon dünkte uns aber doch ein Labsal, und ich war froh, wenn ich für Cigarren oder andere Kostbarkeiten des Augenblicks einige Schlucke aus dem Feldkessel erhielt. Die Aerzte hatten ihre Flaschen mit Opiumtinctur stets in der Hand, denn jeder Schluck Wasser verursachte Leibweh – und dennoch konnten wir ohne Trinken nicht bestehen.
Hieraus wird man erkennen, wie die materiellste Thätigkeit uns vollständig absorbirte. Marschiren, Requiriren, Kochen, Essen, Schlafen, das war der Umfang unserer friedlichen Beschäftigungen. Auf Vorposten und Feldwache in Wetter, Sturm und Graus liegen, patrouilliren, kämpfen, das waren die Mühseligkeiten auf der andern Seite des Kalenders. Sonntag existirte, wenn ich nicht irre, zum ersten Male für uns in Brünn, wo im Beisein des Königs großer Feldgottesdienst abgehalten wurde, dem auch viele Einwohner mit sichtlichen äußeren Zeichen der Andacht beiwohnten; sonst wurde Sonntags wie Wochentags marschirt und gekämpft. Sollte nun noch Jemand nach dem wichtigen Moment zur Erhaltung der menschlichen Gesundheit, nach der Reinlichkeit, fragen, so möge er wissen, daß es Truppentheile in Menge gab, welche in acht Tagen höchstens dazu gekommen waren, sich einige Male Gesicht und Hände oberflächlich zu waschen. Dagegen haben wir über Ungeziefer wohl Alle insgesammt wenig zu klagen gehabt; von der Anwesenheit jener schlimmen, langsamen Gäste habe ich niemals etwas vernommen, und die schnellen springen fort, wie sie gekommen sind.
Dennoch habe ich noch keinen Soldaten gesprochen, der diese Schattenseiten eines von beiden Seiten ungeahnt schnellen Vormarsches bedauert hätte. Jeder sagte sich: vielleicht bietet diese Eile die Möglichkeit, den Krieg in so vielen Wochen zu beendigen, wie er sonst Monate erfordert hätte. Und es ist so gekommen, denn der eigentliche Krieg concentrirt sich bekanntlich auf die Zeit vom 23. Juni bis zum 3. Juli – von unserem Einmarsche in Böhmen an bis zum Tage von Königsgrätz. –
Vielleicht ist es dem Leser nicht uninteressant, im Geiste einem Einzug in’s Bivouac, wie er fast täglich der Truppen wartete, beizuwohnen. Wir haben uns mühsam bergan geschleppt, die Zugthiere keuchen unter der Last ihrer schwergeladenen Wagen, welche den Truppen Brod, Reis, Kaffee, Salz und wohl auch Fleisch nachführen, sowie große Mengen Hafer für die vierbeinigen Mitglieder der Abtheilung, da thut sich plötzlich vor unsern Blicken ein hübsches Hochland auf. Rechts, unter Bäumen halb versteckt, zeigen sich einige Dörfer, überragt von einem stattlichen Schlosse. Ein Schloß, dieser Anblick genügt, um zu wissen, daß hier der Ort unserer Bestimmung ist, denn Prinz Friedrich Karl zeigt Geschmack in der Auswahl seines Wohnortes. Ich führe den Leser nach Schloß Sichrow, dem eleganten Sitze des Prinzen Rohan, wo der Prinz und sein Gefolge noch unter dem Knattern der Gewehre ihren Einzug halten. In der Ferne, am Waldsaume, verschwinden kämpfend die Oesterreicher; noch einmal setzen sie sich im Gehölz fest, einige Gewehrsalven dröhnen einem abziehenden Gewitter gleich herüber, wieder folgt das Knattern der Schützenzüge, dann wird’s stille.
Schloß Sichrow umgiebt ein herrlicher Park, im raumverschwendenden englischen Stile angelegt. Bis dicht an seine Parkgitter wimmelt das Feld von Soldaten, denn wir sind unter den Vortruppen. Da hallen die Commandos „Stillgestanden!“ „Richt’ Euch!“ durch die abendliche Ruhe, die Gewehre werden in Pyramiden zusammengestellt, im Augenblick sind sie mit Helmen, Säbeln und Patronentaschen behängt, und auf das Commando „Rührt Euch!“ beginnt ein Jeder seinen Geschäften nachzugehen. Hier wird das nachgetriebene Vieh geschlachtet, um eine Stunde später im Feldkessel zu brodeln. Dort ziehen lange Züge Soldaten zum Schloßbrunnen, dem einzigen der Umgegend, und bei den Wagen, welche hinter der Front in Reihen aufgefahren sind, eröffnen die Fouriere, vor ihren Kaffee-, Reis- und Salzsäcken sitzend, die wichtige Vertheilung der Rationen. Das giebt ein Gefeilsche, wie auf dem Markte! Der Eine hat vergessen, sich Kaffee geben zu lassen, und der Fourier will es nicht glauben, der Andere will seine Fleischration ob zu vielen Knochengehaltes nicht nehmen und wird belehrt, wie sehr er Gott dafür im Hinblick auf andere Truppentheile zu danken habe, und derlei Scenen mehr. Auf der andern Seite ist die Cavalerie aufmarschirt; auf das Commando „Kehrt!“ wendet sich der eine Zug, so daß immer zwei Reihen von Pferden sich mit den Köpfen gegenüberstehen. „Abgesessen!“ und die Reiter stehen daneben; die Säbelscheiden werden mit dem Säbel in die Erde gestoßen, die Helme oder Czakos und die Patronentaschen daran gehängt, dahinter von Zeit zu Zeit kleine Pfähle in dem Boden befestigt und Schnüre an ihnen entlang gezogen, an welche die Pferde angebunden werden.
Hatte es der Cavalerist beim Marsche leichter, als die Infanterie, so hat er’s jetzt schlimmer, denn erst kommt das Pferd daran, dann der Mann; das Cavalerie-Regiment zählt bekanntlich nach Pferden, nicht nach Menschen. Zwei und zwei reiten sie ihre Pferde zur Tränke – leider existirt nur ein Brunnen und er ist ganz von Infanterie umlagert. Endlich, nach langen Debatten wird Platz gemacht, aber kaum hat ein Zug seine Pferde getränkt, so versagt der arge Brunnen, weil Pferde andere Portionen consumiren, als Menschen. Frühestens erst in einer Stunde kann der erschöpfte Brunnen wieder zu Kräften gekommen sein, darum gilt’s nun, irgendwo einen Teich oder etwas Geringeres ausfindig machen. Der Infanterie ist wieder geholfen, sie hat bei einem Försterhause eine sparsam sprudelnde Quelle entdeckt. Zurückgekehrt, öffnet der Cavalerist seine Futterbeutel, schüttet dem Pferde seine Ration vor, und nun erst kann er an sich denken. Der Abend ist schon lange hereingebrochen, die zurückgebliebenen Cameraden haben Holz geholt und mächtige Wachtfeuer flammen zum Sternenhimmel auf. Sie sind nicht planlos zerstreut, sondern ziehen sich auf Erdaufschüttungen in langen Reihen zwischen den Gewehr- oder Pallaschlinien hin, umgeben von den blechernen, brodelnden Feldkesseln oder einigen in der Eile aufgetriebenen Töpfen, welche, künstlich gestützt, nicht selten das Gleichgewicht verlieren und einen Theil des Inhalts den Unterirdischen spenden. Für die Officiere kochen ihre Burschen, oder sie haben zufällig in ihrer Compagnie einen Koch, der ihnen ihr Stück Fleisch zubereitet. Häufig haben auch acht bis neun Officiere zusammen eine Feldmenage, welche in mehreren Etagen Teller, Messer und Gabeln, zinnerne Becher, Kaffeemühle und einige andere Utensilien enthält, wodurch dann das Mahl ein zusagenderes Aeußere erhält. Geht’s gut, so flechten die Soldaten den Officieren Hütten aus Laub oder Stroh, vor denen sich auch wohl, ist ein Dorf in der Nähe, ein Tisch und einige Holzschemel aufgestellt finden.
Um neun Uhr, auch wohl später, ertönt der Zapfenstreich, welchem, wenn ein Musikcorps zur Stelle ist, noch einige Stücke folgen, und ist abgekocht, dann legt sich ein Jeder zur Ruh. Stroh ist selten da, wenn das Bivouac nicht gerade auf einem Getreidefelde aufgeschlagen worden ist. Der Soldat wickelt sich in seinen Mantel, der Tornister ist sein Kopfkissen und der dunkelblaue [543] Nachthimmel sein Himmelbett, wenn’s nicht regnet, so daß der Mann fröstelnd erwacht und sich als Insel wiederfindet, wie es uns fast vierzehn Tage ununterbrochen erging. Der Officier wickelt sich in seine wollene Decke, sonst ist sein Comfort derselbe.
Drüben in der Ferne, durch einen dunklen Raum von uns getrennt, in dem nur hin und wieder das kleine Feuer einer einsamen Feldwache wie ein Irrlicht aufflammt, ziehen sich im Halbkreise andere Feuer weithin, es sind die Wachtfeuer der Oesterreicher, an denen just dasselbe getrieben wird, was bei uns. Von Zeit zu Zeit verschwindet ein Feuer, um dann wieder aufzutauchen, ein Zeichen, daß die Mannschaften bei demselben zuweilen zwischen uns und ihrem Feuer stehen.
Anders geht es im Schlosse her. Vor demselben und auf seinen Höfen stehen die seltsamen Wagen des zahlreichen Trosses, welcher zum Ober-Commando der Armee gehört; die etwa dreihundert Pferde sind in Ställen oder Remisen untergebracht, aus denen die eleganten Carossen des Prinzen Rohan haben weichen müssen, um im Freien zu campiren. Sämmtliche Herde der Wirthschaftsbeamten sind von der Dienerschaft des Ober-Commandos, der Stabswache, von Reitknechten etc. in Beschlag genommen; wer dort nicht mehr ankommen kann, kocht ebenfalls im Freien. In der herrschaftlichen Küche brodelt und duftet es gar köstlich, der reiche Weinkeller des Schlosses sendet seine Spenden gezwungen an’s Tageslicht. Vor dem Balcone nach der Gartenseite stehen in langer Reihe eine Anzahl Sessel, auf denen der Prinz und seine Officiere sitzen; andere Herren stehen daneben oder wandeln im Gespräch umher. Der Prinz raucht, wie immer, seine Cigarre aus einer langen, dünnen Cigarrenspitze, er sieht, wie gewöhnlich, ernst aus und spricht kurz und selten. Kein Theil des Gesichtes bewegt sich dabei, als die Lippen: die Augen scheinen unbewegt und doch entgeht ihnen Nichts; die rechte Hand steckt in der Tasche des blauen Attila’s, die linke hält das Cigarrenrohr, den Kopf bekleidet die rothe, blaugerandete Husarenmütze, das Kinn umwölkt ein leichter, im Frieden unmilitärischer Bart. Dort, der hohe, braunbärtige General ist der General-Quartiermeister v. Stülpnagel, jener gemüthlich Dreinschauende der kluge Chef des Generalstabes, v. Voigts-Rheetz, hier der riesige Ulanenmajor ist der Commandant des Hauptquartiers v. Schack. Herr v. Radowitz, Neffe des Grafen Bismarck, Landwehrhusaren-Officier und sonst Attaché der Gesandtschaft in Paris, zeichnet sich durch seine elegante Erscheinung aus; er wird als Diplomat zu Parlamentär-Aufträgen verwandt. So stehen oder sitzen die Herren in Gruppen bei einander. In einiger Entfernung ist im Halbkreise aufgestellt das Musikcorps eines im Bivouak vor uns liegenden Regiments postirt, und läßt bald sanfte, bald feurige Weisen ertönen. Da sprengt plötzlich ein Ordonnanzofficier in den Garten; im Nu ist er vom Pferde herunter und nähert sich in streng militärischer Haltung, sein Pferd am Zügel nach sich führend, dem Prinzen. Dieser steht auf und geht dem Officier einige Schritte entgegen. Alle Gruppen ringsum sind versteinert, die Musik schweigt, kein Laut wird gehört, Jeder ist begierig auf die Botschaft. Der Prinz sagt jetzt etwas seinem Nachbar, dieser giebt es weiter und nun ist wieder Bewegung in dem bunten Kreise. Man tritt enger zusammen, man spricht lebhafter, bis es zum Nachtmahl geht, nachdem die Kerzen im Schlosse sich entflammt haben. Weithin in die Nacht leuchtet jetzt die stattliche Fronte des Gebäudes hinaus; endlich erlöschen auch hier die Lichter und der Schlaf beginnt seine Herrschaft auch hierher auszudehnen.
Doch nicht lange sollen wir uns seiner freuen. Plötzlich tönt das Horn des Signalisten durch den grauenden Morgen. Halb schlaftrunken noch richtet sich hier ein Kopf, dort ein Arm aus dem Getreide empor, das unsere Lagerstätte und Hütte war, bis wir uns Alle aus den Halmen herauswinden und in den dämmernden Tag hinaussehen. Was ist das für ein Grollen, welches uns an’s Ohr schlägt? Wahrhaftig es sind Gewehrschüsse, nein, ganze Gewehrsalven. Da muß ganz nahe ein nächtlicher Kampf wüthen! Rasch ist jetzt aller Schlaf aus den Augen, eilig sind wir auf den Füßen, der Boden zittert uns ordentlich unter ihnen. Wir brechen auf, und bald berühren wir den Ort, in dem kein Haus ganz geblieben ist, dessen Straße Verhaue begrenzen und durchschneiden, wo weit und breit Waffen und Tornister ausgestreut sind, wo frische Grabhügel dem Wanderer ein „Stehe still!“ zuwinken und von wo aus auch wir bald mitten in das Schlachtgetümmel einrücken.
Frische Wald- und Bergluft zu athmen trieb es uns fort in den Harz; Lorbeeren, Blut und Wunden, Ruhm und Elend der Menschheit bestürmten in den Telegrammen und Nachrichten der Zeitungen Herz und Sinn. Wer eine regsame Phantasie hat, wenn er auch zu thatenloser Ruhe verdammt ist, der schlägt endlich alle Schlachten mit und steht mehr im Feuer, als ein starknerviges Naturell, das nur immer den Eindrücken des Augenblicks folgt. Alle Kugeln gehen gleichsam durch seine Brust und wenn er im Geist über die Schlachtfelder wandelt, so faßt ihn der Menschheit ganzer Jammer an! Er stimmt ein in die Sieges- und Triumphrufe, er fühlt das bedrückende Gefühl der Niederlage mit. Wir leben in einer großen Zeit, doch auch von einer solchen muß man sich erholen, denn ihr Joch ist nicht sanft und ihre Last nicht leicht.
Nur auf großen Umwegen kann man aus Mitteldeutschland den Harz erreichen. Wir fuhren über Magdeburg, zu dessen Merkwürdigkeiten außer dem Dom auch der Bahnhof gehört, eine Art von Centralbahnhof ohne Centrum, wie Gummi Elasticum in die Länge gestreckt, so daß auf dem Perron bequem Meusel seine Schnellläufe veranstalten kann, während gewöhnliche Menschenkinder sich außer Athem laufen, und dabei von einer spartanischen Einfachheit, die jede Eleganz verschmäht. Zwischen Magdeburg und dem Harz kann man einen Cursus deutscher Literaturgeschichte aus dem vorigen Jahrhundert absolviren. Die ehemalige fette Pfründenstadt Halberstadt erinnert uns an den Kanonicus Gleim, der ein so friedliebender Mann war und dabei so hübsche Kriegslieder sang; der so recht con amore mit dem Schwert an die Leier schlug und sich als Dichter die preußische Grenadiermütze aufstülpte, während er als Mensch ein ehrwürdiges Sammtkäppchen trug; der ein offenes Herz hatte und einen offenen Beutel für alle armen Poeten, für alle im Irrgarten der Musen umhertaumelnden Cavaliere der Feder. Friede seiner Asche! Der eine Mann war eine ganze Schillerstiftung für das achtzehnte Säculum und sein Bild verdient eine Stelle im Musensaal dieser Stiftung, welche gegenwärtig durch die Ironie des Schicksals aus Deutschland hinaus verschlagen ist, seitdem die Eschenheimer Gasse in Frankfurt sich in eine große deutsche Sackgasse verwandelt hat.
In Quedlinburg aber, der Geburtsstadt Klopstock’s, gedenkt man des Sängers der Messiade, um den sich die raschlebige Gegenwart wenig mehr kümmert. Es ist ein Glück für den Sänger, daß er mehr als eine „Specialität“ hatte und außer für den Messias auch für das Schlittschuhlaufen begeistert war. Der Messias ist oft gefeiert worden, das Schlittschuhlaufen aber so selten, daß Klopstock’s Ode mehr Aussicht hat auf Unsterblichkeit, als sein Heldengedicht, denn jeder nimmt von den Musen, was ihm gefällt, und bleibt ihnen sehr dankbar, wenn sie einmal sein Steckenpferd streicheln. Die Schlittschuhe – das ist ein realistischer Kothurn – den läßt man sich auch in einer Zeit gefallen, in der man die gefallenen Engel nicht mehr in den Gesängen der Messiade, sondern in dem Jardin Mabile und der Closerie des Lilas sucht.
Welche Fortschritte diese Zeit gemacht, das lernt man in Thale schätzen, wenn das Dampfroß hält gegenüber den Granitfelsen des Bodethals. Wer da zweifeln wollte, daß wir auch in Deutschland uns allmählich zu pennsylvanischer Gediegenheit aufschwingen, den würde das Hotel Zehnpfund in Thale eines Bessern belehren. Dies Hotel ist nach dem Muster der nordamerikanischen Massenhotels eingerichtet und hat in deutschen Landen nicht seines Gleichen. Da steht dies argusäugige Ungeheuer von einem Gasthof mit seinen im Sonnenschein blitzenden zahllosen Fenstern, seiner mächtigen Façade, seinen zwei nicht minder gewaltigen Flügeln, denen sich noch ein rückwärts angebautes Mittelstück [544] mit dem Speisesaal anschließt, diese Caserne der Gastlichkeit mit ihren dreihundert Zimmern, ihren endlosen Corridoren, ihren Haupt- und Nebentreppen; gleich gegenüber dem Haupteingang die Portierloge mit dem Ministerium des Aeußeren und das Comptoir mit dem Ministerium des Innern, auf zwei riesigen Tafeln, gegen welche die Tafeln vom Sinai und die der Decemvirn verschwinden, die Häupter seiner Lieben nennend und zählend, die sich unter seinem gastlichen Dache versammelt haben! Und drinnen summt’s und schwirrt’s wie ein großer Bienenstock, denn das Haus ist voll bis in die Mansarden; in allen Corridoren schöne und häßliche Welt, „Kinder jammern, Mütter irren“ und Geheimräthe gehen so stattlich einher, als gingen sie über die Berliner Wilhelmsstraße.
Alle Vorurtheile schwinden mehr und mehr, auch in Bezug auf Reisen und Naturgenuß. Das lehren uns die Gesellschaftsreisen und das Hotel Zehnpfund in Thale. Früher glaubte man, die Natur am besten in stiller Einsamkeit zu genießen; jetzt rückt man ihr en masse auf den Leib, um ihr abzuzwingen, was sie uns nicht offenbaren will. Die ägyptischen Sphinxe sperren ihre Glotzaugen weit auf, wenn eine solche Louis Stangen’sche Gesellschaft ihre Steinbusen und Fischschwänze betastet und die Memnonssäule erklingt plötzlich wie in den Strahlen der aufgehenden Sonne, wenn sie so viel auf gemeinsame Kosten reisende Intelligenz sich gegenüber sieht. Ebenso ist’s mit den Villeggiaturen. Früher suchte man sich ein ländliches Häuschen am plaudernden Bach, ja selbst eine Bergmanns- und Köhlerhütte, um auf den Spuren der Mutter Natur zu gehen; jetzt genießt man „Comfort“ in größter Gesellschaft, im Umgang mit den lieben Nachbarn, welche derselbe Bahnzug am Fuße der Berge ausgespieen, in einem Riesenhotel, welches einem Phalanstère zum Verwechseln ähnlich sieht, nur daß in diesem Phalanstère gar nicht gearbeitet wird, daß das Familienglück in himmelschreiender Weise überwiegt und daß die freie Liebe nur die Ausnahme, nicht die Regel bildet.
Als wir ankamen, fanden wir die Table d’hôte so vollkommen besetzt, daß kein Platz für uns übrig war. Diese Ueberfüllung bei so wenig günstigem Wetter verdankte das Hotel Zehnpfund der Cholera. Meist waren es Choleraflüchtlinge aus Berlin und Stettin, welche die Gabeln, Teller und Gläser hier klappern ließen. Es war ein erbaulicher und großartiger Anblick, so viel essende Menschheit beisammen zu sehen. Dazu kommt das wohlthuende Gefühl, daß durch keinerlei Toaste oder sonstige geistige Störungen so frische und resolute Arbeit unterbrochen wird. Die vollkommene Hingabe an die Sache war bei jedem Einzelnen unverkennbar. Wir trennten uns um so schwerer von dem erhabenen Naturschauspiel, je schmerzlicher wir es empfanden, von dieser Weide abgesperrt zu sein. In ärgerlicher studentischer Stimmung verwünschten wir dieses Karawanserai mit sämmtlichen Kameelen, die hier gefüttert wurden, und flüchteten uns in die Bahnhofsrestauration, wo noch immer die Firma Zehnpfund ihre Flügel über uns ausbreitete. Anfangs waren wir erstaunt, als wir lauter Tassen und Teller, von denen kein einziges Stück, obgleich von dem gewöhnlichen leichten Gewicht, ohne das Zeichen 10 lb war, vor uns sahen, bis wir merkten, das sei das geheimnißvolle Pentagramm des Hotelbesitzers, das gewiß nicht blos auf die Schüsseln, sondern auch auf die Gäste seine magisch fesselnde Wirkung ausüben soll.
Unser erster Besuch galt dem Fräulein Selke, dem anspruchslosesten von den Harzfräuleins. Doch war kein officieller Führer aufzutreiben; trotz der zahllosen Drohnen, die im Bienenstock des Hotels sich füttern ließen, war auch eine nicht geringe Zahl seiner Insassen ausgeschwärmt. Ein Arbeiter aus der „Blechhütte“ geleitete uns durch das Steinthal hinauf, vorüber bei einigen keck aufgeworfenen Felsenmassen von Granit, mit freundlichem Rückblick durch das offene Land, immer bergauf durch Felsen und Wald. Die verregneten Wege waren etwas einförmig, die Waldeinsamkeit feucht und unwirthlich. Wir wanderten lange durch die verschiedenartigsten Waldpartien, bis wir kurz vor dem Dörfchen Friedrichsbrunn das Freie gewannen und mit einem Blick auf die blaue Kuppe des Brockens und seine Nachbarn aus dem Oberharz belohnt wurden. Die Winteridylle des hochgelegenen Dörfchens soll eine unerquickliche sein, denn die Häuser sind dann bis an die Dächer in Schnee vergraben. Von hier wandten wir uns dem Brocken des Niederharzes zu, dem Ramberg mit der gefeierten Victorshöhe. Dieser Berg ist von einem Kranz der schönsten lichten Buchenwälder umgeben, welche hin und wieder von einem verworrenen Tannendickicht abgelöst werden. Die Sonne neigte sich zum Untergang, der glühende Abendhimmel blickte blutfarben durch das Geäste:
Wie sanft in diesen grünen Hallen
Die Sonne durch die Zweige blickt,
Und in das Nest der Nachtigallen
Die letzten frommen Strahlen schickt.
Schon steh’n die Wipfel leis umdunkelt,
Doch all’ die schlanken Stämme glüh’n,
Der tief versteckte Waldsee funkelt
Und Lichter durch die Büsche sprüh’n.
Wie sanft dein abendlich Verbluten,
Dein Niedergang, wie friedlich mild!
Doch ach, ich sah in diesen Gluthen
Den Wiederschein vom Schlachtgefild.
Das ist ein Sterben, qualzerrissen
Das Herz und von den Lieben fern;
Hell strahlt mir in den Finsternissen.
Des Ruhmes Glanz, des Sieges Stern.
So neige dich, Erbarmen, nieder,
Zu jedem heil’gen Dienst bereit,
Und streu’ auf müde Augenlider
Den süßen Mohn: Vergessenheit!
Und wie die Sonne mögst du weben
Um’s Nachtgewölk den Purpursaum,
Mit Bildern friedensreich umschweben,
Verklärend jeden Fiebertraum!
Kurz ehe man die Victorshöhe erreicht, wandert man bei einer Felsengruppe vorüber, welche den Namen die Teufelsmühle führt. Unser Cicerone erzählte uns die Sage aus grauer Vorzeit, die sich an diese Felsen knüpft.[WS 1] Der gute Mann war der thörichten Ansicht, daß die Teufelsmühle jetzt nicht mehr mahle, sondern stille stehe. Und doch hört, wer feinere Ohren hat, noch immer das Geräusch ihrer Räder, und mit guten Augen erkennt man deutlich die Esel, welche die Säcke in diese Mühle tragen! Das bescheidene Forsthäuschen und der hochragende Aussichtsthurm auf der Höhe selbst stehen in einem auffallenden Contrast. Diese Aussichtsthürme mit ihren gerühmten Panoramen, diese hölzernen Gerüste unterbrechen unsern Zusammenhang mit der Natur in störender Weise; wir fühlen nicht mehr den grünen Waldboden unter unsern Füßen. Der Natur wird eine künstliche Etage aufgesetzt; lieber den steilsten Felsen erklettern, als diese bequemen Holztreppen. Auch geht es diesen Aussichtsthürmen, wie den berühmten Concertgebern: sie halten ihr Programm nicht ein. Bald ist der Brocken finster geworden und schnarcht mit vorgeschobenem Schleier in seinem Himmelsbette, bald ist der Dom zu Magdeburg durch irgend eine Benebelung verhindert mitzuwirken. Was soll man nicht Alles von der Victorshöhe sehen, wenn man die Herren Berlepsch und Bädeker befragt oder den Dichter, der die Herrlichkeiten dieses Rundgemäldes besungen hat, ohne einen einzigen Kirchthurm auszulassen! Und zuletzt ist man glücklich, wenn man mit dem Fernrohr die Thürme von Quedlinburg erblickt und eine leise Ahnung von Halberstadt vor unserer Seele aufdämmert. Ringsum freilich sind herrliche Waldhügel, und der tiefer Gebildete weiß, daß es herzoglich anhaltinische Forsten sind, welche ihm mit ihren Wipfeln zunicken. Man sieht auch die Einschnitte, in denen die Betten der Selke und der Bode sich befinden, diese Damen selbst aber sind, wenn nicht zu verschämt, doch zu vornehm, sich so von oben herab betrachten zu lassen. Dörfer und Städte sieht man genug in der Ebene, sie liegen aber da wie auf einer Landkarte hingezeichnet. Auf einen andern Aussichtspunkt, die Josephshöhe bei Stolberg, blickt man mit verachtender Rivalität herab. Die Gipfel des Oberharzes standen etwas verschleiert in dämmernden Umrissen. Blau war die Ferne, wie das Auge der gnädigen Frau, die mit dem Professor aus Berlin und einem großen Fernrohr auf dem Holzthurm stand und bei jeder neuen Entdeckung auf dem Gesichtsfelde des Teleskops den Professor aufschlug wie ein geographisches Lexikon. Und seine Weisheit war so galant, niemals zu versagen. Kirchthurm auf Kirchthurm erhielt seine Etikette, die gnädige Frau war so vertieft in dieses Kirchthurmrennen, daß sie nur wenig Zeit übrig behielt, über die ehrwürdige Gelehrsamkeit hinweg mit uns andern Sterblichen zu kokettiren.
Ich aber achtete nicht auf die einzige Naturschönheit, welche der hölzerne Thurm selbst besaß; denn ein ferner Berg fesselte meine Blicke und meine Seele wie mit magischer Gewalt. Es ist ein Berg wie die andern und der Professor wußte von ihm zu [545] sagen, daß er über eintausendvierhundert Fuß hoch sei, nördlich von Frankenhausen liege und daß die Trümmer einer alten Kaiserpfalz seinen Gipfel krönen. Aus diesem geographischen Steckbriefe werden nun wohlunterrichtete Sterbliche erkennen, daß es sich um einen sehr poetischen Berg handelt, nicht etwa um den Venusberg, der früher eine große Anziehungskraft auf geniale Köpfe ausübte, ehe ihn die Zukunftsmusik in eine alltägliche Bühnendecoration verwandelte, nein, um den ehrwürdigen Berg, in welchem die deutsche Herrlichkeit schläft, um den Kyffhäuser! Und in heutigen Tagen muß man auf diesen Kyffhäuser mit ganz andern Augen blicken, als vor dem glorreichen „siebentägigen Krieg“!
Von der Victorshöhe in das Selkethal führt der Weg anfangs abwärts durch den schönsten Buchenwald. Welchen lichten Eindruck machten diese schlanken Säulenhallen selbst in der Abenddämmerung! Wie männlich kräftig stehen sie da, nicht soldatisch disciplinirt wie die Wegpappeln der Chausseen, aber auch nicht mit jener einsamen, trotzigen, knorrigen Kraft der Eiche. Es ist eine Genossenschaft Gleichstrebender, mächtig und frei. Der gewaltige Stumpf eines Buchenstammes, welcher den Namen „die Bärenbuche“ führt, erinnerte uns, daß auch der Harz seine „letzten Mohikaner“ hatte. Die Stätten, wo der letzte Wolf, die letzte wilde Katze, der letzte Bär erschlagen worden, bleiben Denkstätten der Harzbewohner und werden dem Fremden als besondere Merkwürdigkeiten bezeichnet. Der Harz ist jetzt so civilisirt und von der Cultur beleckt, daß seine Bären und Wölfe ebenso der Sage angehören, wie seine von Fels zu Felsen springenden Prinzessinnen. Dagegen sind die wilden Schweine noch sehr heimisch in den Harzwäldern, und wir fanden in dem Tannendickicht am Wege den Förster auf dem Anstand, um diesen Waldbewohnern aufzulauern. Es war ein unheimlicher Weg durch die noch nicht gelichtete Tannenpflanzung, deren Dunkel noch schauerlicher gegen das Dunkel des sternenlosen Abends abstach. Die Phantasie konnte diese verwachsene Dickung mit all’ den Gestalten der „wilden Jagd“ bevölkern. In der That schien sie ganz geeignet für ein Absteigequartier des wilden Jägers, wenn er des ewigen „Halloh!“ müde geworden sein sollte, was indeß von ihm so wenig zu erwarten ist, wie von einer ergrauenden Primadonna oder einem Künstlerveteranen, daß sie des Applauses müde werden und der Hervorrufe.
Bald erreichten wir die Chaussee und sahen, anmuthig im Selkethal gebettet, im Lichte des eben aufgehenden Mondes das herzogliche Hüttenwerk Mägdesprung, mit seinen hohen Schornsteinen, seinen unruhigen Eisenhütten und dem gastlichen Hotel. Zwei riesige Jungfrauen, welche in der Küche walteten, schienen noch aus jener Zeit zu stammen, in welchem ein kräftiges Mädchen leichter über das Selkethal hinwegsprang, als heutigen Tags ein „Mädchen von Stande“ über die Kluft der Vorurtheile. Der alte Harz mit seinen Bären, Wölfen und Riesenjungfrauen trat in diesem modernen Industrieort uns lebhaft vor die Seele. Bis in die Träume hinein verfolgten mich die kolossalen Töchter der alten Sage; ich sah sie einen Morgennebel als Negligé um die mächtigen Glieder hüllen, Federball spielen mit den Felsen des Selkethals und einen Tannenwald zerknicken mit den Reifen ihrer Crinoline. Da erwachte ich. Hell schien die Morgensonne in das Waldthal und verkündete einen lustigen Wandertag.
Bald stand ich auf der Klippe des Mägdesprungs und sah hinab in das reizende Selkethal, das seine steilen Felsen so anmuthig unter dem grünen Gewand zu verstecken weiß. Nur hin und wieder treten sie schroff und kahl zu Tage. Nichts unterbricht die Morgenstille der Landschaft als das Pochen des Eisenhammers unten im Thal. Auf gepflegten Promenaden, durch Kornfelder hindurch, führt uns der Weg oben über die Berge. Hier, auf der Straße nach Harzgerode, glaubt man sich ganz in harmloser und unromantischer Ebene zu befinden und ahnt gar nicht den tückischen Absturz der Felsen dicht an der Seite. Wir kletterten indeß den steilen Waldhang wieder hinab, um in das Selkethal zu gelangen. Hier ist die Selke unruhig geworden und hat sich in ihrem Bette hin und her geworfen. Bald bildet sie den Spiegel eines breiten Teiches, in dem die Contouren der Felsen anmuthig wiederscheinen, bald läßt sie zur Seite ein früheres versumpftes Bett im Schatten der Erlen, wo Wasserlinsen und Wasserfäden schwimmen, giftige Sumpfpflanzen wuchern, eine Stätte, die an die Stätten des Lasters erinnert, voll Moder und Fäulniß, während die tugendhafte Jungfrau selbst mit heller Krystallfluth lieblich plaudernd durch die Wiesen dahinhüpft.
Etliche zwanzig Jahre mögen es her sein. Ein nun verstorbener Freund von mir war damals Schüler des genialen Kaulbach, dessen Narrenhaus, Hunnenschlacht und sonstige Compositionen soeben die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatten. Kaulbach hatte gerade den ernsten Griffel der grausig-mythischen Charaktermalerei weggelegt, um für einige Zeit der Aesop der Malerei zu werden und Goethe’s Reineke Fuchs zu illustriren. Das Werk war noch nicht an die Oeffentlichkeit getreten, aber unter den Münchener Kunstkennern, Künstlern und Kunstfreunden schon bekannt geworden und hatte einen solchen Eindruck gemacht, daß man dem Meister dafür eine Huldigung zu bringen gedachte. Es war im „wunderschönen Monat Mai“ und eine der Künstlergesellschaften wollte ihr herkömmliches Frühlingsfest feiern und zwar am Starnberger See, wo damals Kaulbach ein hübsches Landhäuschen bewohnte und in ländlicher Abgeschiedenheit an seinem neuen Werke arbeitete. Da machten mein Freund und einige andere Schüler Kaulbach’s den Vorschlag, mit jenem Künstlerfest die beabsichtigte Huldigung für den Meister zu verbinden, und zwar durch einen Maskenzug, welcher die verschiedenen Thiergestalten aus Reineke Fuchs darstellen sollte. Diese Idee fand allgemeinen Beifall; der liebenswürdige, talentvolle Graf Pocci, in welchem sich Dichter, Musiker, Maler und Caricaturenzeichner vereinigen, erbot sich sogleich, Text und Chöre für das Festspiel zu dichten und zu componiren. Es handelte sich also nur noch um die Masken. Einige der Künstler unternahmen es, sich selbst die nöthigen Thierköpfe für die eigenen Rollen zu verfertigen, aber noch war man sehr in Sorge darüber, woher man die anderen Thierlarven bekommen sollte, als plötzlich Jemand, von einem glücklichen Einfall inspirirt, rief: „Wohlan, laßt sie von den verkrüppelten Knaben verfertigen!“
Noch waren manche unschlüssig, ob dies nicht eine Persiflage sein sollte, als uns der Finder dieser glücklichen Idee auseinander setzte: drunten an der Isar sei eine Bewahranstalt für krüppelhafte Knaben, ganz wundersam geschickte Bursche, die alles zu Stande brächten, was nur aus Pappe und Leim gemacht werden könne. Mein Freund ward mit dem Auftrage betraut, sich mit dem genannten Asyl in Verbindung zu setzen, und ich begleitete ihn auf diesem amtlichen Gange. Wir fanden die Anstalt, ein geräumiges altes Haus, das vor zweihundert Jahren eine lustigere Gesellschaft beherbergt haben mochte. Der Director derselben, ein Herr Mayer, empfing uns; mein Freund nannte sein Anliegen, legte die Skizzen zu den verschiedenen Larven und Thierköpfen vor und freute sich herzlich, daß der Director alsbald auf den Humor der Sache einging. Wir hatten noch einige von den Köpfen vergessen, aber Herr Mayer entwarf sogleich Skizzen nach den Andeutungen meines Freundes und überraschte uns hinterher durch die Thatsache, daß die von ihm gelieferten Entwürfe zu den besten unter allen gehörten, denn dieser Herr Mayer war ein vortrefflicher Zeichner. Nachdem der Auftrag, der uns hergeführt hatte, erledigt war, zeigte uns der Director einen Theil der Arbeiten, welche seine Pfleglinge lieferten, nämlich Masken und anderes Geräthe für Theater und alle möglichen eleganten Spielzeuge in Papiermaché. „Einige von diesen Knaben sind wahre Kobolde und Teufelsbraten,“ sagte er, „allein wenn man dem bösen Geiste der negativen Thatkraft in ihnen einen künstlerischen Abzugscanal eröffnet, so schlägt das Schlimme leicht in das Gute um.“
Die Larven und Thierköpfe wurden verfertigt, die Rollen einstudirt, und an einem glorreichen Maimorgen machte sich die ganze Gesellschaft zu Roß und Wagen auf den Weg nach dem Starnberger See, wo im Walde hinter Meister Kaulbach’s Landhäuschen das Fest mit jenem unverwüstlich ausgiebigen, ansteckenden Humor gefeiert wurde, welcher alle derartigen Künstlerfeste auszeichnet.
[546] Nie kann ich seitdem Thierlarven sehen, ohne an jenes Fest und die verkrüppelten Knaben erinnert zu werden, und wie oft ich nachmals auch nach München kam, immer vergaß ich über anderen Anregungen, meinen Besuch jenes Asyls zu erneuern. Endlich vorigen Sommer fand ich Muße zu einem derartigen Besuch. Argloser Weise hatte ich das ursprünglich von einem menschenfreundlichen Privatmann, Herrn von Kunz, schon 1832 gegründete, zwölf Jahre später zur Staatsanstalt erhobene Asyl für verkrüppelte Knaben noch in seiner alten Behausung unten an der Isar aufgesucht, mußte aber erfahren, daß dasselbe nun ein eigenes Grundstück in einem der neuen Stadttheile, in Nr. 13 der Staubstraße besitze, das ich nach langem Suchen und nach einer Wanderung durch die beiden blüthengeschmückten Kirchhöfe endlich auffand. Diese Nummer 13 in der Staubstraße ergab sich als ein zweistöckiges, weißes Haus ohne allen Anschein oder Aussehen von der Würde einer öffentlichen Anstalt. Ein Zaun, ein leicht geneigter Rasenplatz mit Gruppen von Rosenbäumchen und Fuchsien trennte es von der Straße, die ihren Namen mit Recht führte. Der Director, der mir auf der Treppe des Hauses entgegenkam, war nicht mehr mein alter Bekannter Herr Mayer, der inzwischen Chef einer bedeutenden Fabrik geworden war, empfing mich aber auf das Freundlichste und versicherte mich, daß es ihm Vergnügen machen werde, mir die Anstalt und die Leistungen seiner Zöglinge zu zeigen.
Es war Nachmittags und der Director theilte mir auf dem Wege nach dem Schulzimmer mit, die Schulstunden seien sämmtlich so angeordnet, daß sie mit zwölf Uhr Mittags schlössen, damit die Knaben nach dem Essen sich mit ihren Handarbeiten befassen könnten. Ich betrat nun unter seiner Führung einen wahrhaften Fabriksaal von mehr als vierzig Fuß Länge, der zwar leider keine hinreichende Lüftung, aber durch fünf Fenster genügendes Licht hatte. Hier beaufsichtigte der Industrielehrer, ein freundlicher Mann von intelligentem Aussehen, etwa achtundzwanzig Knaben im Alter von neun bis fünfzehn Jahren an den niedrigen, viereckigen Tischen, welche in doppelter Reihe das Zimmer entlang standen. Der Fußboden war mit Schnitzeln von Pappe und buntem Papier bedeckt; halb vollendete Uhrständer, Schachteln und alle möglichen Gegenstände von Papp- und Etuisarbeiten in verschiedenen Stadien der Anfertigung nahmen einzelne Tische ein, und an anderen saßen die jungen Arbeiter, pfiffen zu dem Tacte ihrer schmalen Uhrfedersägen oder bliesen den Staub von den feinen Holz-Galanteriearbeiten hinweg, welche sie aussägten. Alle waren in die Uniform der Anstalt, Beinkleider und Westen von dunklem Wollstoff und blaue Blousen mit Gürteln, gekleidet. Viele von ihnen hatten Krücken dicht neben sich an die Bank gelehnt stehen, andere die schmächtigen Fußgelenke in eiserne Maschinen gespannt; Lahmheit war in verschiedenen Graden und Arten vertreten; einige Knaben waren nur halb gelähmt, bei anderen waren durch eine seltsame Laune der Natur die zehn Finger so verkrümmt und verdreht, daß es kaum glaublich erschien, wie dieselben jemals die Verrichtungen von menschlichen Händen zu erlernen vermöchten. Auch Buckelige waren da, vielleicht noch die Glücklichsten von Allen, denn sie versprachen gemeinhin den meisten Erfolg. Der Mehrzahl jener Verkrüppelungen und Verkrümmungen liegt Scrophulose zu Grunde, die bei Buckeligen weit seltener vorkommt. Ein kleiner Buckeliger copirte an diesem Nachmittag mit besonderer Erlaubniß einiges ornamentale Laubwerk und zwar mit der Genauigkeit und Sorgfalt eines mittelalterlichen Miniaturmalers. Wie er so bei seiner Arbeit saß, den Kopf beinahe ganz verborgen unter den hochgebauchten Schultern, und auf des Directors freundlich-beifälligen Zuspruch das blasse Gesicht langsam zu uns aufschlug, überkam mich eine unwillkürliche Wehmuth bei dem Anblick der seltsamen Schönheit dieser intelligenten Augen und dem Lächeln der schmalen, bleichen Lippen seines ausdrucksvollen Mundes, der einen ruhigen, selbstbewußten Stolz ausdrückte. Man darf nämlich hier im Bereich der Krücken nicht die Schüchternheit und das hübsche, linkisch-naive Wesen anderer Kinder erwarten: alle solche Dinge verschwinden mit dem ersten Bewußtsein eines exceptionellen Geschickes.
„Ich lasse alle diese Knaben im Zeichnen unterrichten,“ sagte der Director; „die Genauigkeit im Augenmaß und Sicherheit des Tastsinns, welche das Zeichnen verleiht, ist diesen Armen von großem Nutzen und ersetzt ihnen Vieles, was ihren mangelhaften Händen die Natur versagt hat. Keiner von diesen Knaben darf sich an irgend eine unserer feineren Arbeiten wagen, bevor er nicht fertig zeichnen kann.“ Wir traten an einen Tisch am jenseitigen Ende des Zimmers, wo ein Knabe von ungefähr zehn Jahren mit so geraden Schultern und strammen, gesunden Gliedmaßen, wie man sie nur von einem Jungen erwarten konnte, ganz emsig an einem Leimtopf und großen Haufen regelmäßig geschnittener Papierstückchen hantirte. „Wie steht es mit der Schachtel?“ fragte der Director den Jungen, der offenbar kein Krüppel war.
„Ganz gut, sehen Sie, Herr!“ war die Antwort und der Knabe hielt eine Schachtel mit hübsch gerändertem und bunt überzogenem Deckel in die Höhe mit Händen, deren jede nur zwei Finger hatte. Noch vor wenigen Monaten vermochte der Knabe mit diesen verstümmelten Händen kaum zu essen, jetzt konnte er sehr hübsch schreiben, etwas zeichnen und Schneidwerkzeuge vollkommen genau und geschickt handhaben. Er war aber noch nicht einmal so übel daran, wie einer seiner Vorgänger, der nur einen Finger an jeder Hand gehabt, sich indeß so viel Mühe gegeben hatte, seine Mängel zu überwinden, daß er wegen seiner Handgeschicklichkeit in der Anstalt berühmt gewesen und nun im Stande war, sich außerhalb derselben seinen Unterhalt zu verdienen. Was für ein trauriges Loos wäre einem solchen Menschen aufbewahrt gewesen, wenn er nicht die geduldige Sorgfalt, die unermüdliche Unterstützung und Ermuthigung gefunden hätte, welche diese Anstalt solchen Unglücklichen bietet!
Die Arbeit des Leimens schien die jungen Zöglinge am meisten zu absorbiren, denn ich sah drei buckelige Knaben ganz vertieft in den Aufbau der Pappwände eines großen Bonbons-Aufsatzes, wozu das von ihnen selbst verfertigte Muster vor ihnen stand. Es sah ganz phantastisch aus mit seinen elfenbeinweißen Säulen, seinem geschmückten Karnies und den dahinter befindlichen, mit gewässertem Seidenstoff überzogenen Wänden. Die Zeichnungen und Entwürfe zu allen diesen Arbeiten der verschiedensten Art rühren von dem Director her, und die Muster davon sind in Menge in einem großen Glasschrank am Ende des Zimmers aufgestellt. Es sind darunter à jour ausgeführte und geschnitzte Arbeiten aus verschiedenen Holzarten, welche sich auf jedem Markte sehen lassen dürften. Während ich diese Muster betrachtete, gedachte ich der alten Larven, die meine erste Bekanntschaft mit der Anstalt vermittelt hatten, und erfuhr, daß die Formen dazu noch existirten und manchmal im Carneval noch hervorgeholt würden, wenn Bestellungen auf einzelne derartige Thierköpfe eingingen.
„Ich freue mich jedesmal über einen solchen Auftrag, denn die Knaben arbeiten mit einem wahren Vergnügen daran,“ sagte der Director. „Weil unsere Anstalt sich bemühen muß, sich so viel wie möglich selbst zu erhalten, so richten sich unsere Arbeiten natürlich immer nur nach dem Bedarf von außen. Zu jener Zeit wurden vielerlei Zimmerverzierungen von Papiermaché in der Anstalt verfertigt; jetzt aber machen wir vorzugsweise nur noch Jagdthierköpfe, denen wir natürliche Geweihe und Gehörne aufsetzen, wie diese hier,“ und er zeigte mir einen derartigen Hirschkopf. „Die hierzu angewendete Papiermasse ist von einer besonderen Art und kann trotz ihrer Leichtigkeit ungemein viel aushalten.“
Auf meine Frage, ob die Knaben gewöhnlich den in der Anstalt erlernten Beschäftigungen treu blieben, antwortete der Director, dies geschehe nicht in allen Fällen. „Der Hauptzweck unserer Anstalt ist eigentlich nur der, den Knaben durch die hier betriebenen Arbeiten eine gewisse Handfertigkeit zu geben,“ sagte er. „Sind es Söhne armer Eltern, so bringen wir sie bei ihrem Austritte auf Kosten der Anstalt als Lehrlinge in irgend einer geeigneten Profession unter und finden leicht Lehrherren für sie. Nach den ursprünglichen Statuten ward kein Knabe unter zwölf Jahren in die Anstalt aufgenommen; da wir aber immer den ärmsten Candidaten den Vorzug geben, so fand man es bald für passend, von dieser Regel zurückzukommen, denn je jünger die Zöglinge uns übergeben werden, desto leichter ist gewöhnlich ihre physische Erziehung. Die Eltern machen nur allzuoft einen Gelderwerb aus der Verkrüppelung eines Kindes; das arme Geschöpf wird auf den Bettel hinausgeschickt, bis es diese Beschäftigung lieb gewinnt, und eine sittliche Besserung ist dann bei ihm fast unmöglich; die hierbei in’s Spiel kommende Eitelkeit ist eine sonderbare sittliche Erscheinung bei diesen verwahrlosten Kindern.“ Unter anderen Beispielen erzählte mir nun der Director folgendes sehr charakteristische. Ein ungewöhnlich begabter buckeliger Knabe von etwa zehn Jahren war in die Anstalt aufgenommen worden, nachdem er zuvor gewöhnt gewesen war, wochenlang allein im Lande [547] herumzustreifen. Beim ersten Kirchenbesuch war der Knabe kaum in das Gotteshaus getreten, so sank er plötzlich zu Boden, ließ alle Glieder aus den Gelenken fallen und begann mit dem Munde zu schäumen. Je dichter sich die Zuschauermenge um ihn drängte, desto schlimmer ward er, und der Hauslehrer brachte ihn ganz bestürzt nach Hause.
„Da ich argwöhnte, der Knabe verstelle sich,“ fuhr der Director fort, „so begleitete ich ihn am folgenden Sonntage selbst in die Kirche und packte ihn scharf am Kragen, als er sich gerade anschickte, zu Boden zu fallen. Mein Zugreifen verhinderte den Anfall und er gestand mir nachher, er simulire immer einen solchen, wenn er unter eine große Menge Leute komme; es sei so hübsch, wenn man Aller Augen auf sich gerichtet sehe. Unter vernünftiger Behandlung ward er einer der besten Knaben in der Anstalt. Unter vernünftiger Behandlung,“ sprach der Director weiter, „verstehe ich jedoch nicht die moralische Unterweisung allein, denn wir finden, daß nichts so sehr zur Steigung der Selbstachtung der Knaben beiträgt, als die physische Erziehung: Exerciren, Turnen und häufiges Baden haben einen wunderbaren Erfolg. Die gymnastischen Leistungen vieler dieser verkrüppelten Geschöpfe würden manchen geistig und körperlich gesunden Knaben mit geraden Gliedern in Erstaunen setzen; Turnen gewährt ihnen vor allem Andern das größte Vergnügen, und wir haben oft nur Mühe, sie von übermäßiger Anstrengung ihrer Kräfte zurückzuhalten.“
Sämmtliche Knaben sind unter beständiger ärztlicher Aufsicht und jede medicinische Erleichterung ihres Zustandes wird ihnen zu Theil, so daß durch diese sorgfältige Behandlung schon viele den vollständigen Gebrauch ihrer Glieder wieder erlangt haben. Durch einen besonders glücklichen Zufall ist der Director selbst ziemlich vertraut mit der orthopädischen Heilmethode und hat sich durch einige wichtige Verbesserungen in der Anfertigung künstlicher Gliedmaßen hervorgethan. Beim Ueberblick des Lehrplans fand ich zu meinem Erstaunen unter den verschiedenen Unterrichtsfächern auch die Stenographie aufgeführt, und der Director sagte: „Diese Neuerung rührt von mir her, und der Erfolg, den sie bei den Knaben hat, rechtfertigt ihre Einführung vollkommen. Es ist eine Profession, welcher sie zuweilen sich zu widmen im Stande sind, denn sie erheischt kein Betriebscapital,“ setzte er lächelnd hinzu und rief, um mir die Fertigkeit seiner Knaben hierin zu zeigen, einen blauäugigen lahmen Knaben herbei, welchem er eine Stelle aus einer Zeitung schnell dictirte, die der Knabe sogleich niederschrieb. Nach vier Minuten hatte der Knabe dreihundert und sechzig Worte phonographirt und kein einziges ausgelassen. „Nur wenige von meinen Zöglingen bringen es im Stenographiren auf mehr als sechszig Worte in der Minute,“ sagte der Director, „aber dieser da ist auch zugleich einer meiner geschicktesten Arbeiter. He, zeige diesem Herrn hier Deinen kleinen Gemälderahmen!“ sagte er zu ihm.
Der Knabe erwiderte, er stehe im Glasschrank-Zimmer, und führte uns in ein kleines Gelaß, das offenbar als Werkstätte zu feineren Tischler- und Drechsler-Arbeiten diente, denn es standen in den Fenstern Dreh- und Hobelbänke und andere Maschinen und einige Glasschränke an den Wänden. Bevor ich mich aber noch umsehen konnte, hatte der kleine Stenograph einen Rahmen von der Wand genommen und hielt ihn mir lächelnd hin. Es war wirklich ein kleines Meisterstück von schöner Arbeit: auf einem breiten Streifen dunklen Holzes war ein wundervolles Intaglio von Verzierungen, Arabesken, Laubwerk, Vögeln, Muscheln etc. in Metall, Elfenbein und Perlmutter eingelegt; nur die Federn auf den Schwingen der Vögel bedurften noch des Gravirens. Der Knabe erröthete vor Vergnügen ob meines Lobes, und als ich ihn fragte, wer ihm denn beim Ausschneiden und Einlegen dieser feinen Zeichnung geholfen, versicherte er mich, er habe Alles allein gemacht. Das Original, wovon dies eine Copie, war ein Meisterstück französischer Arbeit aus der Renaissance-Periode und von dem Director zum Zweck des Copirens aus Paris mitgebracht worden. Leider finden jedoch derartige Arbeiten wenig Absatz in München.
Der Schlafsaal der Zöglinge befindet sich im obern Stockwerk und sieht reinlich und freundlich aus, nur standen die Reihen der kleinen Bettstellen vielleicht etwas zu dicht beisammen. Die Privatzimmer des Hauslehrers (denn der Industrielehrer wohnt nicht im Hause) und des Directors stoßen an diesen Schlafsaal. Mit einem unbegreiflichen Gefühle der Ueberraschung und des Erstaunens betrat ich auf die Einladung des Directors dessen Zimmer und sah mich wie durch Zauberschlag gleichsam aus der Concentration des verschiedenartigsten menschlichen Elends unter uns in ein stilles, friedliches, altväterisches Heiligthum der Kunst versetzt. In reichgeschnitzten Schränken und auf Gestellen standen ehrwürdige alte Folianten und kleinere Bücher in Pergament und Schweinsleder mit Renaissance-Vergoldungen, seltsame alte Flaschen und Gläser, grimmige mittelalterliche Waffen und Rüststücke und hunderterlei verschiedene Merkwürdigkeiten der Kunst vergangener Jahrhunderte, vom kunstreichen, vielfach verschlungenen kaiserlichen Siegel an bis zu Kästchen und Truhen der Vorzeit mit allerhand eingelegter Arbeit und seltsamem Beschlag, und alle möglichen anderen Curiositäten, welche einzeln aufzuführen mir Raum und Geduld gebricht. Alle diese sorgsam und kundig gesammelten Schätze aber und die Staffelei in der Mitte des Zimmers mit dem halbvollendeten Oelgemälde darauf bekundeten, daß der Herr dieser Räume kein gewöhnlicher Mensch, sondern eine geniale poetische Natur ist, welche über ihrer praktischen Aufgabe auch das nicht vergißt, was dem geistigen Leben einen Inhalt giebt.
Als ich mit dem Director wieder die Treppe hinabging, öffnete sich eben die Thür des Schulzimmers und die Zöglinge kamen unter lautem Lachen und Geplauder heraus. Es war die Erholungsstunde, die mit Exerciren und Turnen ausgefüllt wird. Ich konnte mir’s nicht versagen, die Zöglinge auch bei diesem Treiben zu beobachten, und es erfüllte mir das Herz mit einer stillen Rührung, als ich diese verkümmerten Wesen mit dem Ernst alter Grenadiere ihre Evolutionen machen sah. Dann kamen die Uebungen an Barren und Reck, bei welchen ich wirklich so staunenswerthe Leistungen von Kraft und Gewandtheit sah, wie ich sie von diesen armen verstümmelten und verkrüppelten Exemplaren des Genus Menschheit niemals erwartet hätte, Beispiele von Gelenkigkeit und Schnellkraft, die an das Affen- oder Katzenartige grenzten, aber ihren Urhebern augenscheinlich die größte Befriedigung verursachten.
Bevor ich aber die Feder niederlege, sei noch eines Beispiels von einem armen Krüppel gedacht, des Sohnes einer armen Wittwe vom Lande, die vor etwa dreißig Jahren ihn und seine Geschwister hatte auf den Bettel schicken müssen. Der Knabe war von seiner Heimathsgemeinde der Anstalt anvertraut und in ihr von einem nahezu hülflosen Krüppel zu einem geschickten Arbeiter erzogen worden, hatte nach seinem Austritt aus der Anstalt mit fünfzehn Jahren eine Lehrstelle bei einem Graveur gefunden und sich in seinem Fache so sehr ausgezeichnet, daß er nun einer der geschätztesten Meister seiner Kunst ist, dessen Arbeiten äußerst gesucht sind. Allein die erhaltene Erziehung hat bei ihm auch noch eine andere höhere Frucht getragen; denn dieser Mensch nahm seine Mutter später zu sich, sorgte für sie und seine jüngeren Geschwister und ist ein geachteter Bürger von München geworden, vielleicht kein reicher Mann, aber im Genuß ehrenhaftester Unabhängigkeit; erfüllt von jenem gerechten Selbstgefühl seiner Befähigung, von jener Liebe zu seiner Kunst, welche dem Streben des Künstlers die Weihe giebt. Ohne das Asyl für krüppelhafte Knaben wäre der Mann zu bleibendem hoffnungslosen Elend und dauernder Armuth verurtheilt gewesen und der Menschheit ein wackerer Charakter, der Kunst ein schönes Talent verloren gegangen!
Sollte das nicht eine ernste Mahnung sein, das Werk der Humanität und praktisch zugreifenden Nächstenliebe auch anderwärts auf diese Classe von Unglücklichen auszudehnen und ähnliche Asyle zu gründen?
Einen besseren Cicerone, als ich an Riese gewonnen hatte, dem Verfasser der mustergültigen Operntexte von „Martha“, „Stradella“, der Possen „Guten Morgen, Herr Fischer“, „Stündchen in der Schule“ und anderer dankenswerthen Gaben, mit denen derselbe das deutsche Theater unter dem Autornamen „Friedrich“ bereichert hat, kann sich kein Mensch für das schöne Neapel wünschen.
[548] Im Besitze der vollsten Sprach- und Sachkenntniß, Herr seiner Zeit, lebt der liebenswürdige Schriftsteller seit einer langen Reihe von Jahren in der Wunderstadt, in der er nur einige Tage zu bleiben gedachte, als er sie zum ersten Mal besuchte. Aufopferungsfähig,
wie kein Zweiter, enthusiastischer Naturfreund überall bekannt und beliebt, ist er die „Vorsehung der Fremden“, welche ihm ein freundliches Geschick entgegenführt. An seiner Seite lernt man so recht den Werth des Flanirens durch die Straßen Neapels kennen.
Auch heute war er so freundlich, mich aus meinem Hotel zu diesem Zweck und dann zu einem größern Ausfluge abzuholen. Ich wohne im Hotel de Russie, „nah dem Himmel schon fürwahr’, meine Zimmerthür führt auf die Plattform des Hauses, lohnt aber die Mühe des Steigens mit einer Aussicht, wie solche wohl selten zum zweiten Male gefunden werden dürfte. Unter mir das Häusermeer der Stadt mit ihren siebenmalhunderttausend Einwohnern am Golf von Neapel, der tiefblau und spiegelglatt zu meinen Füßen sich ausdehnt. Mir gegenüber Portici, hinter welchem der Vesuv, kurze, säulenartige, weißgraue Dampfwolken ausstoßend, sich in scharfen Contouren an dem wunderbaren italienischem Himmelsdom abzeichnet. Rechts sehe ich, dem Meere entsteigend, die sonderbar gestaltete Insel Capri, welche Jean Paul mit einem aus dem Wasser emporragenden Krokodilshaupt vergleicht, zu meinen Füßen liegt die Scala Santa Lucia, der volksthümlichste Theil von Neapel, für dessen Volkstreiben keine Beschreibung ausreicht. Besonders gegen Abend, wenn die Festungen St. Elmo und Castel Nuovo, die an den Hügeln übereinander gebauten, dächerlosen Häuser mit dem hellen Anstrich, [549] der Hafen mit seinem Mastenwald sich am Horizont scharf abgrenzen und die zahllosen Segel der Schifferbarken, die mit großen Brändern auf den Fang ausziehen, die stille Fluth beleben, wenn dann der Leuchtthurm sein grelles Licht weithin ausströmt, die Bergkette jenseits des Golfs dunkelviolett erscheint, der Vesuv, der alte, grollende Bursche, seine Feuerhaube aufsetzt und der dunkelblaue Himmelsdom seine Millionen Sterne in dem Ultramarin des mittelländischen Meeres abspiegeln läßt, die Uferstaffage ein fröhliches, tolles, lärmendes Volksgewimmel bildet – dann kann man sich nicht trennen von Santa Lucia.
Jenem alten grollenden Burschen, dem qualmenden Feuerberge, einen Besuch zu machen, gehörte zu meinem Reiseprogramm. Jetzt sollte dieses Stück desselben in lieber Gesellschaft zur Ausführung kommen; ehe wir aber die pflichtschuldige Visite abstatten, wolle uns der freundliche Leser und namentlich die freundliche Leserin auf einem kurzen Ausflug zum Kloster St. Martino begleiten, welches der Italiener den schönsten Punkt der Erde nennt. Es ist dieser Punkt für Damen leider ein verschlossenes Buch mit
sieben Siegeln, da die strenge Ordensregel des Karthäuserklosters jeden Frauenbesuch auf’s Aeußerste verpönt.
Der Weg führt uns steil aufwärts über Stadttheile, wo die verschiedensten Handwerker auf der Straße bei hellem Sonnenlicht ihre Künste treiben. Hier fertigen, unter dem Feuer einer Unmasse von Essen, die Schlosser mit betäubenden Hammerschlägen die breiten, metallenen Bettstellen, denen auf der andern Seite der Vergolder das elegante Ansehen giebt, welches den Fremden so imponirt, öffentliche Schreiber harren an kleinen Tischchen ihrer Kunden, Zeitungsausrufer und fliegende Buchhändler, letztere meist Colporteure verbotener Brochüren, suchen mit consequenter Zudringlichkeit ihre Waare los zu werden, Recruten- und Militärtransporte durchkreuzen nach allen Richtungen die Stadt. Wir steigen aufwärts, immer höher, wo das Fundament des einen Hauses das Dach seines Nachbars berührt, an dem prachtvollen Hospital vorüber, an eleganten Villen, in deren sorgfältig gepflegten Gärten der Lorbeer zu riesiger Größe emporwächst, der Granatbaum seine reichen Blüthen auf uns herabschüttet, die Magnolie eine Stärke erreicht, fast wie bei uns die vaterländische Eiche, Pfeffer- und Kampherbaum die Luft mit ihrem scharfen Gewürzduft erfüllen, kurz Alles, was wir sehen, unserem nordischen Auge neu und seltsam erscheint, von den Getreidefeldern an, die jetzt, Anfangs Mai, mit reifen, reichen Aehren des Schnitters harren, bis zu den ungeheuren Aloen und dem Cactus, der in Mannshöhe die Grenzen umfriedet.
Wir treten in das Kloster ein. Die frommen Brüder, in strengster Clausur lebend, dürfen nur einen Tag in der Woche sprechen. Einer der Mönche, mit einem prachtvollen bärtigen Gesicht, aus dem Klugheit und Wohlwollen und doch auch ein gewisses weltliches Behagen sprechen, soll unser Führer sein. Er sieht malerisch aus, der alte Herr, in seinem weißen wallenden Ordenskleide, das ihn in reichen Falten umhüllt, und ertheilt uns seinen Segen, unbekümmert, ob wir als Ketzer desselben unwerth sind, oder ob wir ihn als fromme Katholiken verdienen, wenn nur unsere Franken in seine gekrümmte Hand und von da in den Säckel des Klosters fallen.
Da die Priester in der Kirche versammelt sind, wo sie Niemanden sehen dürfen und von Niemandem gesehen werden sollen, so [550] bittet er uns, bis zu deren Entfernung im Kreuzgang des Klosterhofes zu verweilen, der den Friedhof des Hauses umschließt. Prachtvolle weiße Marmorsäulen und Statuen umgeben und stützen dies im edelsten Stil erbaute Viereck, in dessen Mitte die heimgegangenen Brüder ruhen, ohne Abzeichen, ohne Grabhügel. Ein wahrer Gottesfrieden liegt auf diesem Ort; die Rosen an den blendend weißen Balustraden scheinen dunkler zu glühen, als irgendwo, die Nachtigallen süßere Weisen zu schlagen, als im Gewühle der profanen Welt. Während der ferne monotone Gesang der Mönche dumpf und traurig zu uns herübertönt, führt uns der Begleiter durch die mit verschwenderischem Reichthum ausgestattete Kirche auf die drei Balcone des Hauses; von jedem derselben öffnet sich dem entzückten Blicke ein anderes Bild der bezauberndsten Aussichten, für welche keine Schilderung ausreicht. Man kann sich nichts Reizvolleres denken, als das hier vor uns entrollte Panorama der wunderbar am tiefblauen Meere liegenden Riesenstadt, umschlossen von den violetten Bergen, die von den Thälern bis zu den Höhen besäet sind mit Hunderten von Städten und Ortschaften; das spiegelglatte Wasser durchfurchen fort und fort zahllose Fahrzeuge, von der stolzen Kriegsfregatte, dem rauchenden Dampfer bis zur winzigen Nußschale, der auf Fang liegenden Fischerbarke. Der Vesuv, der seine ewigen Dampfwolken pustend gegen den Himmel sendet, überragt von dem stolzen Monte St. Angelo, die Inseln Ischia, Procida, Nisida, Capri, die Städte Sorrent, Portici, Torre del Greco, Resina etc., und über Alles dieses die prachtvolle Kuppel des italienischen Himmels, es ist ein Anblick, den derjenige, der ihn einmal erschaut, nie, nie vergessen wird!
„Sie sind Deutsche?“ frug uns unser würdiger Cicerone, nachdem er uns mit stolzer Freude auf die Schönheit des Platzes aufmerksam gemacht hatte.
„Ja wohl, frommer Bruder,“ antwortete der der italienischen Sprache vollkommen mächtige Freund Riese, „wir sind Preußen.“
„Wird es Krieg geben?“ sprach er mit leiser, scheuer Stimme neugierig weiter; „wer wird anfangen?“
„Wer kann das wissen; wir glauben an den Krieg, der fast unvermeidlich scheint.“
In dem Augenblick streifte ein gieriger Blick des Mönches ein Zeitungsblatt, welches aus der Brusttasche meines Freundes hervorsah; fast unmerklich deutete der Finger des Mönches wie fragend darauf hin.
Riese reichte ihm das Journal hin und frug, ob er es behalten wolle. Mit blitzenden Augen und unverhohlener Freude griff der von der Menschheit Geschiedene nach dem Blatt und verbarg es, leise Dankesworte flüsternd, mit Blitzesschnelle unter den Falten seines Kleides. Die Scene machte auf mich genau den Eindruck, wie die, wenn man in Zucht- und Arbeitshäusern die gierigen Wünsche der Insassen um eine Cigarre oder eine Prise Schnupftabak befriedigt. Für immer getrennt von allen Außendingen, sehnt sich der Arme doch mit heißem Drange nach Nachrichten aus der Welt; er liest in tiefster Heimlichkeit in verborgener Zelle begierig die Berichte „über den Streit der Völker und den Krieg der Könige“, der ihr friedlich Obdach nie berühren wird.
In Resina nahmen wir Nachtquartier. Zeitig des andern Morgens brachen wir auf. Bis an den Aschenkegel des Vesuvs geht es zu Pferde weiter mitten durch den Krater des ausgebrannten Vulcans Somma. Der Ritt dauert ungefähr drei Stunden und ist eine wahrhafte Kunst- oder vielmehr Naturreiterei, denn man muß den klugen Thieren vollständig ihren Willen lassen, da sie an diese halsbrecherisch scheinende Reise gewöhnt und dazu abgerichtet sind. Denkt man, wie es nur möglich sein wird, über einen riesigen Lavablock hinauf, oder über ein stufenartiges, aber bewegliches, abschüssiges Steingerölle hinabzukommen, so hat das geschickte Vieh schon einen Fuß vorsichtig prüfend auf-, den zweiten nachgesetzt, und das unübersteiglich scheinende Hinderniß ist überwunden. Da diese Hindernisse den ganzen Weg entlang ununterbrochen auftauchen, so gewöhnt man sich daran und ergiebt sich in sein Schicksal. Nur ermüdet dieses fortwährende Strammhalten der Beine, das uns im Sattel behaupten soll, so furchtbar, daß man beim Absteigen, wo erst die schwerste Arbeit beginnt, sich kaum auf den Füßen halten kann.
Anfangs geht es zwischen Kastanienpflanzungen und Weinbergen dahin, bis nach und nach die Vegetation aufhört und das Chaos, das Reich der Verwüstung beginnt. Man kommt in die Schlacken- und Lavafelder des gewaltigen Ausbruches vom Jahr 1858. So weit das Auge reicht, ungeheure, unabsehbare Mengen von schwarzbraunem, geschmolzenem Metall, Stein und Schwefel. Diese Verwüstung ist zweitausend Fuß hoch und fast drei deutsche Meilen breit. Thurmhoch theilen sich die erstarrten Massen, riesige Höhlen, ungeheure, absonderliche Gestalten bildend. Keine Blüthe, kein Grashalm, kein lebendes Wesen erfreut den Blick auf diesem kolossalen Bilde der Vernichtung.
Ernst Förster und nach ihm der erst in diesem Jahre neu herausgegebene Lossow behaupten in ihren Reisehandbüchern, daß man den Weg, allerdings mit ungeheuren Kosten, hinauffahren könne, während derselbe, durch den Ausbruch 1858 vollständig verschüttet, kaum zu Pferde oder zu Esel, oder für einen ungewöhnlich geübten Kletterer zu überschreiten ist. Auch den Lacrimä-Christi-Wein oben beim Eremit erwähnen Beide, obgleich alle Weinanlagen durch den Vulcan zerstört wurden. Seit vielen Jahren existirt der echte Lacrimä-Christi nur auf dem Vesuv beim Eremiten, der den nächstbesten Landwein unter diesem Titel verkauft, und in den Schilderungen italienischer Reisen.
Ein und eine halbe Stunde geht es durch dieses trostlose Chaos und die absonderlichen Bildungen des erstarrten Elementes fesseln das Auge. Hier ein Block, der aussieht wie ein ungeheurer Haufen Stricke von unmöglichen Dimensionen, dort versteinerte Riesen, dort aus Kohlenschlacken gehauene Thiergruppen; manchmal wird die Täuschung so groß, daß man meint, Künstlerhände müßten der Natur nachgeholfen haben. Die Führer behaupteten, die Schlacken wären inwendig, vom Jahre 1858 her, noch heiß, und holten, als ich das ungläubig belächelte, einige Lavastücke aus einer Höhle heraus, die kaum in den Händen zu erhalten waren. Bessere Physiker, als ich einer bin, mögen diese mir räthselhafte Erscheinung erklären.
Immer steiler, immer hindernißreicher wird der Weg; da tauchen, wie eine Oase, auf einem verschont gebliebenen Hügel das Haus des Einsiedlers, der übrigens ein prellerischer Hallunke ist,[1] und das palastartige Gebäude des königlichen Observatoriums und der Sternwarte empor. Sollen wir es besehen? Nein, vorwärts, vorwärts, wir haben noch einen weiten mühevollen Weg, der noch lange durch die ausgebrannten Werkstätten des Vulcans an den letzten Aschenkegel führt. „Da hinauf, auf diesen fast senkrecht aufsteigenden Berg sollen wir?“ rufen wir unwillkürlich aus. „Das ist ja unmöglich.“
„Das Wort ‚unmöglich‘ ist aus meinem Lexikon ausgestrichen,“ sagt, gleich Napoleon, unser Führer, Pasquale Spinoza; „es giebt nichts Unmögliches, ich mache diesen Weg jeden Tag einmal.“
Einer meiner Begleiter, Bildhauer Schwenitz, der rüstigste und ausdauerndste Fußgänger, den ich je kennen gelernt, entschloß sich kurz, hinanzusteigen, ich und mein anderer Reisegefährte, der Maler Wedding, ließen uns ziehen. Zwei voransteigende, kräftige Lastträger reichen uns feste Riemen, in die wir greifen, und so geht es über Millionen von Schlacken, von Steingerölle und Lavatrümmer steil aufwärts. Ein schweres, schweres Stück Arbeit!
„Wir wollen etwas ausruhen.“
„Hier nicht, die Steine halten nicht fest; wir würden hinabstürzen,“ befiehlt der Führer.
„Hier! Betrachten Sie dies himmlische Panorama.“
Wir haben keinen Sinn mehr dafür! Schwefeldampf schlägt uns entgegen. Es ist der erste Gruß des Kraters, der sich in voller Arbeit befindet. Wie in Fieberhast eilen wir vorwärts. Jede schlimme Stunde hat nur sechzig Minuten! Zur Höhe! Zur Höhe! Ausgeharrt! Wir haben nur noch fünf Minuten – nur noch zwei – wir sind da, wir sind oben! Alle Müdigkeit ist vergessen, wir wollen an den Rand des Kraters eilen, der vorsichtige Führer ruft uns „Halt!“ zu. Wir sind zu erhitzt, unter zusammengetragenen Lavablöcken finden wir vorerst Schutz vor dem Winde, hier können wir uns stärken, ein Glas Wein genießen, welchen die Führer mitgebracht, eine Orange, ein wenig ausruhen. Ich brachte mit meinen Gefährten das erste Glas auf das Wohl unserer fernen Familien. Alle Drei hatten wir nasse Augen; nie hat einem von uns ein Glas Wein, langsam in langen Zügen geschlürft, so geschmeckt. Der Augenblick war herrlich, unbezahlbar, unvergeßlich!
[551] Vorwärts, die Plaids um, an den Rand des Kraters, der uns sein Lied entgegenzischt, als ob alle Locomotiven der deutschen Eisenbahnen zugleich ihres Dampfes entledigt würden. Der Schwefeldunst ist fast unleidlich geworden. Wir treten an den Rand. Heiliger Gott, das ist die Hölle, die da unten kocht! Ungefähr eine Viertelstunde im Umkreis ist die Erde, sind die Felsen geborsten und tief umgestürzt in den Abgrund, aus welchem von allen Seiten glühende Dämpfe emportauchen. Die Felsen sind übergossen mit Schwefellagen von allen Farben, vom hellen Citronengelb bis zum dunklen Rothbraun, zerborsten in tausend und abertausend Rissen. Der schwarze Felsengrund ist an vielen Orten gespalten, zerklüftet und zerfetzt und aus hundert Oeffnungen dringt der dicke, weiße Schwefeldampf empor. Ein neuer kleiner Ausbruchskegel, der sich erst seit vier Tagen gebildet hat, kräuselt feinen Rauch in die Luft, während die alte eigentliche felsige Oeffnung des Vulcans von fünf zu fünf Minuten ihr gelblich-weißes Feuer — in der Nacht soll es glühend roth sein — und ihren dichten, schwefeligen Qualm mit gewaltigem Brausen emporstößt, zwischen denen die schwarzen Lavastücke, welche der Schlund auswirft, sich deutlich abzeichnen.
Während wir das grauenvolle Schauspiel betrachteten, frug uns der Führer (meine Begleiter sprachen gut italienisch), ob wir nicht hinabwollten?
„Hinab? Ja, wo denn?“
Man zeigte uns eine fast senkrecht hinablaufende Aschenrinne, zwischen zwei Felsen.
„Da kann man hinabrutschen.“
„Rutschen? Ich danke.“
„Ich thu’s!“ ruft Schwenitz. „Vorwärts!“
Zwei Führer haben ihn „Henkeltopf“ unter den Arm genommen und ehe wir es uns versahen, sind die Drei, wie auf einer zwischen Felsen eingekeilten Schlittschuhbahn oder wie durch eine Theaterversenkung, in den dampfenden Abgrund angelangt. Nach einer kurzen Weile ruft uns Schwenitz zu, wenn wir das Großartigste auf der ganzen Reise sehen wollten, müßten wir auch hinab. Nun denn, in Gottes Namen! Den Führern ist ihr Leben so lieb, wie mir das meine; sie würden es, wäre wirklich Gefahr, nicht für zwei Franken in die Schanze schlagen. Vorwärts also! Zwei feste Bursche nehmen mich unterm Arm, mit langen Bergstöcken in den andern Händen, dirigiren sie an den Felsen entlang die Fahrt und durch die über die Knöchel dringende Asche, die heiß durch die Doppelsohlen meiner Fußbekleidung brennt, geht es mit Blitzesschnelle hinab in den Grund. Die Felsen um uns dampften, ein glühend heißer, erstickender Dampf dringt uns aus dem gespaltenen Boden entgegen, der mit ungeheuren Lavatrümmern bedeckt ist. Meine Führer reißen mich, fest mich an den Armen haltend, vorwärts über die Klüfte hinweg, vorwärts, wie vom bösen Feind gejagt! Der Boden brennt, im strengsten Sinne des Wortes, unter unsern Füßen. Ich will mir mit dem Taschentuch den hervorbrechenden Schweiß abtrocknen, und eine Secunde verpusten. „Avanti, avanti! Nix stehen bleiben,“ rufen die Führer, und schleppen mich in weiten Sprüngen über die geborstenen, dampfenden Erdrisse weg, bis wir, jenseits des Windes, hinter dem eigentlichen Eruptionskegel anlangen, wo wir erschöpft und keuchend stehen bleiben. Da plötzlich öffnet der Ausbruchshügel sein Ventil, zuerst dringt unter Brausen und Zischen ein dicker, dunkler Qualm empor, zwischen dem schwarze Schlacken fliegen, dann kommt eine helle, gelbe Lohe, der Boden bebt unter unsern Füßen, der Felskegel des Ausbruchs wankt wie ein niederstürzendes Kartenhaus, die Führer drücken schnell bereit gehaltene kupferne Münzen in die geschmolzenen, eben ausgeworfenen Schlacken, wo sie sich tief eindrücken, das Gepräge schmilzt sofort hinweg; wir taumeln wie betrunken, ein kalter Schweiß des Entsetzens tritt uns bei diesem furchtbaren Schauspiel auf die Stirn. Fort von dem Schauplatz des Grauens! Wieder werden wir emporgezogen, diesmal nicht über die Aschenrinne, sondern über die übereinandergethürmten Lavastücke, zwischen denen fortwährend aus hundert und hundert Oeffnungen der heiße Dampf emporquillt.
Wir sind oben und athmen frei auf, Gott dankend, daß er uns den interessanten Blick in die geheimnißvolle Werkstätte der Natur thun ließ! Abwärts über die Aschenfelder führt der Weg über den Aschenhügel, der aufwärts über eine Stunde währte, als Rutschpartie nur eine starke Viertelstunde; dann nach zwei Stunden beschwerlichen Ritts zurück nach Resina, belohnt durch die stets vor uns liegende entzückende Aussicht auf drei Meerbusen und deren Umgebung. Noch eine Stunde rasche Eisenbahnfahrt, und ich bin wieder in meinem Zimmer in Neapel. Todmüde, mehr müde, als ich es je war — denn alle Anstrengungen meines ganzen Lebens reichen nicht an diesen einen Tag — fiel ich auf mein Bett, und im wüsten Traume verfolgte mich noch der Anblick des offenen Feuerschlundes und der düstern Abgründe des Vulcans, während die Kniee mir noch zwei Tage lang nur mit größtem Widerstreben dienstbar waren.
Die letzten Lebensstunden von Friederike Bremer. Wenden
wir unsere Blicke für einige Minuten von dem blutigen Getümmel der
Schlachtfelder und der Kriegsereignisse, die noch immer das Interesse fast
ausschließlich in Anspruch nehmen, zu einem Bild des tiefsten Friedens und
hören wir, wie eine Freundin der gegen Beginn dieses Jahres verstorbenen
schwedischen Schriftstellerin uns deren letzte Stunden schildert.
„In der Christnacht träumte sie, wie sie uns am nächsten Morgen erzählte, sie höre die herrlichste Musik, so himmlisch, wie sie noch nie vernommen habe. Tante Bremer und ich fuhren sehr zeitig zur Kirche, um die Christmetten mit anzuhören; sie sang die Hymnen und das Halleluja mit volltönender Stimme und erfreute sich kindlich an der hellerleuchteten Kirche, aber beim Nachhausegehen wurde sie von heftigem Frost geschüttelt und war ungewöhnlich still. Am zweiten Weihnachtsfeiertage war sie recht unwohl an einem heftigen Husten und Brustschmerzen, aber sie machte nicht viel Aufhebens davon und lachte über unsere Besorgnisse.
Am folgenden Tage schien es ihr besser zu gehen; ich trank Thee bei ihr und sie führte die Unterhaltung mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit, Beredsamkeit und Liebenswürdigkeit. Den nächsten Morgen war sie jedoch viel kränker und mußte sich’s gefallen lassen, daß wir nach einem Arzt schickten, der ihr Unwohlsein für eine Lungenentzündung erklärte und ihr zuredete, sich zu Bett zu legen, wozu sie aber nicht zu bewegen war. Mancherlei Mittel wurden angewendet, doch ohne allen Erfolg; sie schien nicht viel Schmerzen zu leiden, allein ihre Kräfte waren bald erschöpft, so daß alle Hoffnung aufgegeben werden mußte. Sie klagte jedoch nie und unterhielt sich auf das Freundlichste mit ihren Umgebungen, nur schien sie eine gewisse Unruhe zu empfinden, die uns sehr betrübte und die wir mit allen Kräften zu beseitigen strebten.
‚Ihr macht mir’s so bequem, meine lieben Kinder, Ihr glaubt gar nicht, wie glücklich mich Eure liebevolle Sorgfalt macht!‘ sagte sie. Am fünften Morgen führte ich sie mehrmals im Zimmer auf und ab und sie blickte mit friedlicher Heiterkeit durch’s Fenster auf die fröhlich unten spielenden Kindergruppen. Ich werde das sinnende, liebe Antlitz nie vergessen können; so viel Herzensgüte und Verstand sind wohl selten auf einem menschlichen Gesicht ausgeprägt!
Bald darauf begann sie von ihrem Tode zu sprechen und sagte, sie wäre gern noch ein bischen länger am Leben geblieben, um ihr kürzlich begonnenes Werk vollenden zu können. ‚Aber,‘ meinte sie später, ‚ich bin doch so unendlich müde, daß ich zufrieden wäre, wenn Gott mich jetzt riefe.‘ Sie versank wieder in Nachdenken und sprach von Zeit zu Zeit abgerissene Sätze, welche mir ihren Gedankengang verriethen, wie z. B.: ‚Es liegt etwas Großes in der Stimme der Natur. Ich habe einen Begriff von der göttlichen Vollkommenheit, es ist Alles so wunderbar schön!‘
Dann verlangte sie zu Bett, die Schwäche und Schmerzen nahmen bedeutend zu, aber bei alledem blickte sie uns fortwährend freundlich an, nannte uns mit den zärtlichsten Namen und drückte uns die Hände. Um acht Uhr Abends kamen ihre Schwester und deren Mann; sie erkannte sie noch und sagte, auf uns zeigend: ‚Ihr glaubt gar nicht, wie gut und sorgsam hier Alle um mich sind!‘ Es war ein unbeschreiblich feierlicher Augenblick für uns, denn wir fühlten, daß der Tod immer näher kam. Eine Stunde später kannte sie uns nicht mehr, ihr Geist irrte in rastlosem Phantasiren von einem Gegenstand zum andern und nur einzelne abgebrochene Worte wurden uns verständlich.
Dann begann das letzte Ringen zwischen Tod und Leben. Um elf Uhr nahm sie noch etwas Arznei, aber bald vermochte sie nicht mehr, dieselbe hinunterzuschlucken. Gewiß litt sie noch zeitweise, doch das Ende war leicht. Zwei röchelnde Seufzer waren die letzten Laute von Tante Bremer’s theuren Lippen, dann hörte sie auf zu athmen. Der Mond, welcher bis dahin hinter dunklen Wolken verborgen gewesen, kam jetzt zum Vorschein und goß sein Licht auf den Leichnam einer der besten Frauen, welche die Erde getragen, aber in unsern Herzen war es Nacht, tiefe Nacht! Jetzt ist es wieder licht geworden in uns, sonst müßten wir kein Verständniß für die Lehren ihres schönen Lebens besitzen.
Anfangs hatten die Schmerzen des Todes ihren Eindruck auf dem lieben Gesicht hinterlassen, aber dann im Sarge sah es wieder ganz friedvoll aus; sie lag in ihrem eigenen Zimmer, welches Therese und ich mit Blumen und Tannenreisig schmückten. Es lag noch kein Schnee und wir wanden unzählige Kränze von grünen Blättern und weißen Immortellen, die wir auf den schwarzen Sarg legten, an dessen Fußende eine Platte angebracht war mit den eingravirten Worten: ‚Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!‘“
[552]
Die Waschfrau aus Westphalen. Zu den ergreifendsten Scenen im Gefolge eines Kriegs gehören wohl diejenigen, welche beim Aufsuchen und Wiederfinden von Verwandten unter den Verwundeten und Todten eintreten. Einfach rührender kann kaum eine sein, als die, welche wir hier in D. erlebten. Hier erschien vor einigen Tagen eine ältere Frau in dürftiger, aber reinlicher städtischer Kleidung. Sie trug ein mächtiges Bündel, in welchem sich Bettstücken befanden. In aufgeregter Stimmung erzählte sie hastig, sie komme aus M. in Westphalen, sei eine Wittwe und nähre sich mit ihrer Tochter vom Waschen. Ihr Sohn sei mit im Krieg und sie habe erfahren, derselbe sei verwundet und liege im Lazareth. Da habe es ihr keine Ruhe gelassen. Sie hätte mit ihrer Tochter nur ein einziges Bett, auf dem sie schliefen. Da habe die Schwester sich auf’s Stroh gebettet und der Mutter geheißen, das Bett für den kranken Bruder mitzunehmen. So war sie mit dem Bette auf dem Rücken ausgezogen. Sie war, da sie in ihrer Bangigkeit vergessen hatte, genauere Erkundigungen vorher einzuziehen, schon in Aschaffenburg und Kissingen gewesen, ohne den Sohn zu finden. Eine barmherzige Schwester hatte der Geängstigten sich endlich angenommen und sie hierher gebracht. Hier hoffte sie nun den Sohn zu finden und ihn auf das weiche heimische Lager zu betten. Und sie fand auch den Sohn, aber schon weich gebettet – im Schoos der Erde. Gebeugt und gebrochen wankt sie an sein Grab und kehrt dann still und stumm mit des Sohnes letzter Habe und mit dem Bette – ein rührender Anblick – wieder heim zu der Tochter auf dem Strohlager.
Der Aberglaube und religiöse Fanatismus des Krieges. Bei den in den Gefechten bei Dermbach im Eisenacher Oberlande gefallenen Baiern fand man meist kleine rotheingebundene gedruckte Bücher, welche allerhand Vorschriften enthielten, wie man sie namentlich vermittelst des Benedictus- und anderer Segen kugelfest machen könnte, daneben auch Amulete mit allerhand mystischen Zeichen. Es lag eine eigenthümliche Ironie darin, daß der Tod, den sie gerade besiegen wollten, diese Heiligthümer an’s Tageslicht brachte. Nur in einem Falle hatten sie die Probe bestanden, als die feindliche Kugel das Büchlein selbst getroffen und damit ihre Wirkung abgeschwächt hatte, ein Fall, der in dem Buche selbst nicht vorgesehen war. Aber auch noch in anderer Weise äußerte sich der Aberglaube, namentlich der religiöse, in diesem Kriege. So meinten bairische Soldaten allen Ernstes, die Preußen hätten rothe Leder um ihre Kugeln, weshalb sie stets träfen. Weit betrübender noch als dies ist dagegen der Umstand, daß der religiöse Fanatismus in diesem Kriege Deutscher gegen Deutsche eine nicht unbedeutende Rolle spielte und somit eine traurige Parallele mit dem dreißigjährigen Kriege zuließ. Einsender wohnt jetzt in einem Landstriche, wo katholische und protestantische Bevölkerung aneinander grenzen, und er hat die Erfahrung machen müssen, daß für jene Preußen und Protestanten Ein Wort bildete. Es ist ferner eine sogar actlich constatirte Thatsache, daß katholische Geistliche denen, welche eine gewisse Anzahl Preußen- oder Protestantenköpfe einlieferten, verheißen haben, sie kämen gleich, d. h. ohne das Fegefeuer durchmachen zu müssen, in den Himmel.
Kindesvertrauen. Aus der Schlacht von Königsgrätz erzählt ein Arzt: „Der erste Verwundete, welchen ich sah, war ein österreichischer Infanterist. Beide Unterschenkel waren ihm durch eine Vollkugel zertrümmert; sie hingen noch mit dem Körper zusammen, waren. aber völlig um ihre Achse gedreht, als gehörten sie dem Unglücklichen nicht an. Cameraden hatten ihm seinen Tornister als Kopfkissen untergeschoben, die Blutung war unbedeutend, ein Verband nicht angelegt. Er lag offenbar ohne die geringsten Schmerzen zu empfinden, ruhig, bei voller Besinnung. Ich sprang vom Pferde, verband ihn und reichte ihm eine Erfrischung.
‚Haben Sie Schmerzen?‘
‚Nein, gar nicht.‘
‚Ich werde Sie verbinden. Haben Sie vielleicht an die Ihrigen etwas zu bestellen?‘
‚Muß ich denn sterben?‘
‚Das wohl nicht, aber Sie sind schwer verwundet, und es wird jedenfalls lange dauern, ehe Sie die Ihrigen sehen.‘
‚Ich bin nur wenige Meilen von hier zu Hause; meine Mutter wird das Donnern gehört haben, sie wird schon kommen und mich abholen.‘
‚In der Umgegend ist Alles geflüchtet.‘
‚Meine Mutter wird schon kommen, das weiß ich gewiß! Sie hat mir immer geholfen, sie wird mich heut’ nicht verlassen.‘
Ich mochte, trotz ernstem Zwange, doch wohl eine sehr bekümmerte Miene gemacht haben, denn er fragte nochmals:
‚Muß ich denn sterben?‘
‚Die Kugeln fliegen hier herüber, wie Sie sehen. Es könnte Sie ja eine treffen.‘
‚Wie Gott will! Meine Mutter wird schon kommen.‘
Ein rührenderes Kindesvertrauen zu einer Mutter habe ich in meinem Leben noch nicht gefunden. Er war in Kurzem, spätestens in einer Stunde, nicht mehr unter den Lebenden, den rechten Arm bewegte er gen Himmel, den linken hatte er unter den Kopf auf den Tornister gelegt. Ich gab ihm noch eine Labung, reichte ihm die Hand und ritt weiter. ‚Sie wird schon kommen, die Mutter! Sie wird schon kommen, die Mutter! Sie verläßt mich nicht!‘ tönte es tief in mir weiter, und ich dachte unwillkürlich an meine Mutter und wie auch ich, wenn ich an seiner Stelle daläge, sagen würde: ‚sie wird schon kommen, wenn sie könnte; sie würde mich nicht verlassen; sie würde schon kommen!‘“
gingen wieder ein: Gewerbeverein in Hainichen 10 Thlr. – L. A. in Hamburg 1 Thlr. – Aus einer kleinen Familie in Rinteln 2 Thlr. – Marie und Alma in Aue 1 Thlr. – Gesangverein Apollo und beide Musikchöre in Ruhla: 36 Thlr. – Von den Nähstunden-Schülerinnen des Frl. H. in Annaberg, Ertrag einer Lotterie 16 Thlr. – C. S. aus N. in O. 5 Thlr. (zur Bildung eines National-Invalidenfonds.) – Louise und Elise in Heidesheim 4 Thlr. – Wahrscheinlich aus Leipzig 5 Thlr. nebst einem Paket Charpie. – Aus der Sparbüchse von Hugo und Camilla B. in Wbg. 4 Thlr. – Aus Königstein von acht Betheiligten 5 Thlr. 15 Ngr. – Th. Pieszel aus Großneuhausen 2 Thlr. – Von drei Cousinen in Eisenach 8 Thlr. – Auguste, Anna, Hermine, Anton, Richard aus C. in Thüringen 4 Thlr. 17½ Ngr. – F. M. in Kieritzsch 5 Thlr. – Mokkalin in Leipzig 7 Thlr. – Aus einer Kränzchencasse in Altenburg 2 Thlr. – A. T. in Apolda 1 Thlr. – Von einem Dienstmädchen in Großbreitenbach 1 Thlr. – M. M. in Oldenburg 5 Thlr. – Personal des Herrn G. Neidlinger in Hamburg 24 Thlr. – Turnverein in Auerbach, Ertrag einer Theatervorstellung 25 Thlr. – Zwei Frauen in Dornburg 2 Thlr. – J. F. u. J. R. in Freiburg 2 Thlr. – Galle u. Co. in Freiberg 6 Thlr. 20 Ngr. – Von einer kleinen Kneipgesellschaft in Leipzig 2 Thlr. 5 Ngr. – Gemeinde Rodias (Kahla) 7 Thlr. 5 Ngr. – Aus Mügeln 20 Ngr. – Der Hopfenbauverein in Saalfeld durch Hermann und Ludolf S. in B. 10 Thlr. – Kaufmännischer Verein Germania in Glauchau 10 Thlr. – Frau Seidler 1 Thlr. – Hermann 1 Thlr. – J. R. in Gönnheim 2 fl. rhn. – Eine Collecte in Wied-Selters 30 fl. 44 Xr. – E. W. in H. für die Verwundeten des letzten deutschen Bruderkrieges 5 fl. – Pfr. Zeller in Mühlhausen a. d. Enz 10 fl. – Ertrag einer Sammlung in Usingen durch Schweighöfer 60 fl. – L. G. K. in O. 5 fl. ö. W. – Ein Freund der Gartenlaube in Frankfurt a. M. 14 Thlr. – Ein Deutscher in Rußland (25 S-R.) 19 Thlr. 17½ Ngr. – Zweiter Ertrag der durch Herrn Frey in Messina veranstalteten Sammlung (von fünf Deutschen und einem Schweizer) 50 Mk. Beo. oder 25 Thlr. 9 Ngr. – Ertrag einer Sammlung in Rouen durch Wanckel 50 Fres. oder 13 Thlr. – Paul, Anna, Linna L. E. u. G. in Freiberg 6 Thlr. – Ertrag einer durch G. Goldner u. C. Koch in Hersfeld veranstalteten Sammlung 164 Thlr. 5 Ngr. – Ertrag einer durch A. Hase unter den Deutschen in Reims, Epernay, Ay und Mareuil-für-Ay veranstalteten Sammlung 216 Thlr. 9 Ngr. – Von einigen Franzosen in Reims, Epernay durch den Turnverein Germania in Reims 24 Thlr. 8 Ngr. Den wackern Landsleuten in Frankreich und den mildthätigen Franzosen herzlichen Gruß und Dank.
gingen ferner noch ein: Von einem jungen Mädchen in Mainz: der Confirmationsschmuck meiner guten Mutter, Brosche mit Ohrringen. – S. u. O. in Chemnitz: ein Ring (Geschenk eines Preußen in glücklichen Zeiten). – Von einer süddeutschen Jungfrau: ein Armring, drei goldene Ringe, Ohrringe mit Glocken, zwei Broschen. – Aus Gräfentonna zwei schwarz-roth-goldene Börsen. – J. T. in Coburg: Ein Paar silberne Haarnadeln und ein goldenes Medaillon. – Mit Postzeichen Schirgiswalde: Eine große Anzahl seltener silberner Münzen. – Postzeichen Pegau: Ein Paar Strümpfe mit 10 Ngr., gesammelte Frühstückegelder. – Wenn irgend möglich, bitten wir lieber den Werth der etwa zu sendenden Schmuckgegenstande zu schicken.
Außerdem sind uns noch eine Anzahl Gebote auf den Blumenstrauß zugegangen, die aber sämmtlich durch die Zahlung der „Gothaer Schwefelbande“ überboten worden sind. Die Gabe und der herzinnige Brief des „Blumenmädchens“ scheint manche Herzen gerührt zu haben, denn außer den vielen Angeboten sind uns von Brüssel noch 10 Thlr. und aus Frankfurt a. M. ein Schmuck für die unbekannte Spenderin des Straußes übersandt worden. Leider haben wir bis jetzt die Adresse derselben noch nicht ermitteln können.
Die sechste 12,000 Exemplare starke Auflage des schon bei seinem Erscheinen mit allgemeinem Willkommen begrüßten Werkes:
- ↑ Auf dem Rückwege forderte uns dieser Biedermann für zwei Flaschen trüben, leichten Weines, den er uns als Lacrimä-Christi anbot, zwanzig Franken ab, gab aber jene bereitwillig für vier Franken, als er sah, das es nicht anders ging.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Die Teufels-Mühle, (1800, Johann Karl Christoph Nachtigal) bzw.
Die Teufelsmühle, (1814, Friedrich Gottschalck)