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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[521] No. 34.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Dommeister von Regensburg.
Geschichtliche Erzählung von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


„Zurück!“ rief Roritzer, die Hand an’s Schwert gelegt, mit würdevollem Ernst der herantobenden Volksmenge zu. „Ihr steht am Eingang der Dombauhütte … das ist eine von Kirche, Kaiser und Stadt gleich geweihte und gefriedete Freistatt, ich schütze sie, wer will an ihr zum Friedensbrecher werden?“

„Was da! Der Friede ist längst gebrochen und nicht von uns!“ rief der Anführer entgegen. „Wir kennen Euch wohl, Herr Dommeister, und möchten gern vermeiden, Euch zuwider zu sein … aber haltet uns nicht auf! Gebt uns den heraus, den wir suchen, oder Ihr sollt das Gewicht unserer Arme spüren!“ Damit senkte er seine Lanze und drängte gegen Roritzer vor.

„Spür’ erst Du selber das Gewicht des meinen!“ rief dieser und führte einen Schlag nach der Lanze, daß der Schaft zertrümmerte und die Eisenspitze klirrend zu Boden flog. „Der nächste Hieb gilt Deinem Kopfe! Zurück, Gesindel!“ fuhr er fort, während die vorgedrängte Menge betroffen anhielt und der Hagere unschlüssig das Lanzenstück in seiner Hand anstarrte.

„Oho, Meister Roritzer,“ rief jetzt sich vordrängend ein stämmiger Mann in schwarzem Schurzfell und aufgestülpten Hemdärmeln, deren Ruß verrieth, daß er von der Arbeit weg dem Tumulte zugelaufen war, „so müßt Ihr nicht mit uns reden! Wir sind kein Gesindel, Herr, wir sind Handwerksmeister, so gut wie Ihr, Männer und Bürger der Stadt und ehrbare Zunftgenossen, die dem Schandregiment ein Ende machen und mit dem Schelm abrechnen wollen, der schuld ist an allem Unheil. Ich bin der Schmied von Sanct Peter’s Thor; hier ist Meister Rauchenfelser, der Tuchscheerer, Schneider Wastel, Zinngießer Bauer, und dem Ihr den Spieß zerschlagen, ist Altmeister Hörhammer von der ehrsamen Schusterzunft!“

„Nun denn, wenn Ihr Bürger seid,“ entgegnete Roritzer, „so zeigt es in der That, nicht blos in Reden! Was lärmt und tobt Ihr durch unsere friedliche Stadt als Meuter und Rebellen, statt Euern Handel und Eure Beschwerde auszutragen und zu verhandeln, wie’s Recht ist und das Recht erheischt?“

„Wirst Dich doch jetzt nicht auf Federlesen einlassen?“ rief ein kleiner schielender, etwas verwachsener Mensch, indem er vorsprang und klirrend auf das Bruststück schlug, das er sich umgeschnallt hatte. „Werdet doch nicht jetzt erst viel Dicentes machen? Recht? Es giebt kein Recht mehr: der Rath hat das Recht todtgeschlagen, und nun wollen wir dafür ihn selber ein bischen todtschlagen!“

„Kräht Ihr auch mit, Meister Hetzer?“ rief Roritzer unmuthig. „Wollt Ihr Eurem Namen Ehre machen? Meint Ihr, man kennt Euch nicht?“

„O, man darf mich kennen!“ schrie der Kleine. „Ich bin ein Barchentweber und heiße Hetzer, und wo ich selber nicht beißen kann, da will ich wenigstens hetzen, daß Andre es für mich thun! Ich hab’ mich schlecht und gerecht, aber kümmerlich genug durchgeschlagen; seit der Rath das fremde Gewebe hereingelassen, kann ich lustwandeln gehen und mit meinen Kindern am Hungertuch nagen! Hat der Rath nach meinem Recht gefragt? Nichts da von Recht, es giebt kein andres Recht als drein zu schlagen! Also aus dem Weg, Herr!“

„Zurück!“ donnerte Roritzer, indem er mit mächtigem Arm sein Schwert ein paar Mal im Kreise schwang, daß es blitzte und pfiff und der andrängende Haufen unwillkürlich etwas zurückwich. „Zum letzten Male zurück! Was Ihr auch vorhaben mögt, und ob Eure Sache die gerechteste der Welt wäre, hier macht Ihr keinen Schritt vorwärts … über diese Schwelle setzt Keiner einen Fuß, so lang ich lebe! Ich bin Dommeister … meinem Schutz ist Bau und Hütte vertraut und ich werde die Freistatt wahren bis zum letzten Blutstropfen! Auf Eure Köpfe die Verantwortung, Euer Blut über Euch selbst!“

Die Festigkeit des Meisters verfehlte ihren Eindruck auf die Menge nicht; sie stand einen Augenblick schwankend und unschlüssig, aber sie war wie eine am Felsen abprallende Welle, die nur zurückweicht und sinkt, um wilder, höher und drohender wiederzukommen. Der Barchentweber kreischte, und der Schuster hatte die erste Ueberraschung abgeschüttelt. „Voran!“ rief es aus verschiedenen Kehlen. „Der Dommeister ist einverstanden mit dem Rath! Er ist auch einer von den Herren! Voran, nieder mit ihm!“

Schon hoben sich die Waffen, als der Schmied noch mit lautem Ausruf dazwischen sprang. „Halt ein, Wachtgenossen!“ rief er, „noch einen Augenblick haltet ein! Mir will’s nicht aus dem Sinn, daß der Meister uns Meuter und Gesindel geheißen und gesagt hat, wir sollen in Ruhe und Ordnung unser Recht suchen… Wir wollen ihm zeigen, daß wir Bürger und ehrbare Männer sind, und er soll erproben, daß es nicht leeres Gerede war, das mit dem Rechtsuchen! Woran hat es uns immer am meisten gefehlt? Warum haben wir in der Verhandlung noch immer den Kürzern gezogen? Weil wir schlichte Leute, einfache Handwerker und den Pfiffen und Schlichen des Raths und der Geschlechterherren nicht gewachsen sind! Hätten wir einen tüchtigen Fürsprech gehabt, einen Anführer, der’s mit Wortfängern und [522] Wortverdrehern aufnehmen kann, wir wären längst im Reinen. … Was meint Ihr, Wachtgenossen? Wenn uns der Meister nicht blos abspeisen will, so soll er uns zu unserm Recht verhelfen; wenn er’s nicht heimlich mit den Geschlechtern halt, soll er zu uns stehen und unser Anführer sein!“

„Das fehlte noch!“ brummte Loy, der mit blankem Degen hinter Roritzer stand. „Du wirst Dich doch nicht vom Teufel blenden lassen?“ flüsterte er ihm zu, „sag’ nein, Wölflein, oder Du bist verloren!“

„Euer Anführer?“ entgegnete Roritzer gelassen. „Das kann ich nicht sein; ich hab’ derlei nie geübt und bin nur in meiner Werkstätte und meinem Bau am rechten Platz. Ich kann nicht zu Euch stehen, denn ich weiß nicht, ob ich Alles gutheißen kann, was Ihr fordert; was mir davon bekannt, so geb’ ich dem Rath Unrecht, aber darum geb’ ich Euch noch lange nicht Recht! Ich kann Euer Anführer nicht werden, doch der Vermittler will ich sein zwischen Euch und dem Rath …“

„Thu’s nicht, thu’s nicht,“ flüsterte Loy wieder; „den Vermittler holt der Teufel!“

„Nichts da von Vermittlung!“ schrie der Schuster, der inzwischen die alte Keckheit wieder gefunden hatte, und der Barchentweber winkte den Andern, daß sie brüllend einstimmten. „Wir wollen nichts Halbes, wollen uns nicht den Halm durch’s Maul ziehen lassen! Fisch oder Fleisch, wir müssen wissen, für was wir Euch zu halten haben; also gegen uns als unser Feind oder mit uns als unser Anführer!“

Roritzer senkte das Schwert und sah einen Augenblick zu dem Dome hinan, der sich über Lärm, Fackelschein und Rauchqualm ernst und in erhabener feierlicher Ruhe empor hob. … „Nun denn,“ sagte er nach kurzem Besinnen, „ich will denken, daß eine höhere Macht es so fügt … vielleicht bin ich auserwählt, Handlanger beim Neubau meiner lieben Vaterstadt sein, einen Stein beitragen zu dürfen zum Glücke meiner Landsleute und Mitbürger: ich will denn Euer Anführer sein! Von diesem Augenblick gelob’ ich mich Euch und will Euer Fürsprech beim Rath, bei Kaiser und König sein und nicht von Euch lassen, bis Euer gutes Recht errungen und gewahrt ist. Ihr dagegen versprecht mir als Euerem Anführer volle Unterwürfigkeit, strengen Gehorsam …“

„Redet, Herr, was verlangt Ihr?“ fragte der Schmied.

„Ihr laßt die Dombauhütte in Ehren und achtet den Frieden dieser geheiligten Freistatt,“ entgegnete Roritzer; „ist es doch meist um ihretwillen … um die Entweihung abzuhalten von dem mir anvertrauten Heiligthum, daß ich den Weg betrete, auf den Ihr mich zerrt! Ihr zieht ruhig ab und erwartet in Eueren Wachen den Morgen, um die Verhandlung mit dem Rath zu beginnen … Dann aber gebt Raum, daß ich den Mann, der hier Schutz gesucht, unangefochten in sein Losament begleite …“

„Aber er darf nicht aus der Stadt,“ riefen viele Stimmen durcheinander, „der Kammerer muß bleiben und muß Rechnung legen …“

„Er wird bleiben,“ erwiderte Roritzer, „ich bürge Euch dafür, und wenn es Euch so genehm ist, sei der Vertrag also geschlossen und mit einem Handschlag besiegelt!“

„Es gilt! Es soll so sein! Hier meine Hand!“ rief der Schmied und bot Roritzer die Rechte, in welche dieser kräftig einschlug: auch der Schuster, der Weber und die andern Führer drängten sich hinzu und gaben dem Dommeister die Hand. Loy stand noch immer hinter diesem und sah wortlos und betroffen zu; Entrüstung und Schmerz rangen in seiner Seele wie in seinen Mienen mit der gewohnten Spottneigung und Lachlust. „O … o!“ seufzte er endlich, „sogar der bucklige Wechselbalg, der schmierige Weber, faßt nach seiner Hand! Ein Kerl, der für den linken Schächer zu schlecht wäre …“

„Der Vertrag ist also geschlossen,“ rief der Schmied wieder. „Jetzt auseinander, Genossen, unser Anführer soll sehen, daß wir auf ihn halten und ihm gehorsam sind! Macht die Gasse frei, Fackeln an beide Seiten, senkt die Spieße und schreit: Hoch lebe unser Anführer! Wolfgang Roritzer, der wackere Dommeister, hoch!“

Der Befehl ward überraschend schnell vollzogen; wie von geschickten Kriegern gebildet, that sich die Gasse auf, hart zwischen den eng aneinander gerückten Häusern dahin.

„Was hast Du gethan, Unglücklicher!“ sagte Loy halblaut und faßte, wie um sein Beileid zu bezeigen, des Freundes Hand; Doctor Stabius trat hinzu, haschte nach der andern und sagte mit schlecht verhehlter Ergriffenheit: „Herr Dommeister … deß’ werd’ ich nie vergessen … Ihr seid ein ganzer Künstler, aber auch ein ganzer Mann!“

Roritzer erwiderte nichts; mit leichter würdevoller Verbeugung trat er vor Lyskirchner hin, der die alte Haltung mindestens äußerlich wieder gefunden. „So es Euer Gestrengen beliebt,“ sagte er, „so gestattet, daß Euch der Steinmetz aus seiner Freistatt das Geleite giebt!“

Schweigend und mit verbissenen Lippen folgte der Rathsherr und schritt an Roritzer’s Seite durch die Menge; Alles lüftete die Mützen und rief dem Meister zu, aber dazwischen erklang auch Murren und manches bedenkliche Wort gegen den Schützling desselben. Loy und Stabius schritten hinter den Beiden einher; der Gelehrte in unbehaglicher Beklommenheit, Loy in einer Stimmung, die zwischen Thränen und lautem Gelächter schwankte. „Wie sie Reverenz machen vor dem Jungen!“ brummte er in sich hinein. „Wie sie Respect haben vor meinem Wölflein! Er ist eben in alle Sättel gerecht … aber ich wüßte nicht, was ich gäbe, wenn wir heut’ ein Stündlein früher im güldenen Greiffen gesessen wären!“

„Das ist ein Mann, der Dommeister,“ sagte der Schmied, als der Zug vorüber war und die Schaar wieder ordnungslos durcheinander wogte. „Wir haben ein gut Geschäft gemacht und unsere Sache wird nun bald ein ander Gesicht kriegen!“

„Ich will’s uns wünschen,“ erwiderte der Barchentweber, „und ihm wünsch’ ich es auch! Morgen wird sich’s ja zeigen, ob er ernstlich zu uns hält, und wenn er es nicht thut, habens wir ihn in der Hand, wie alle Andern… Verloren haben wir auf keinen Fall! Aber kommt, Genossen, vertheilt Euch wieder auf Euere Wachten, oder geht heim, wer sich auf’s Ohr legen will … behaltet aber die Waffen in den Händen, und wer schläft, der lege sie neben sich in’s Bett! Wir müssen die Augen offen haben oder es geht an Haut und Haar!“

Roritzer hatte bald mit seinem Schutzbefohlenen dessen Behausung erreicht; kein Wort war gesprochen worden, denn der Kammerer sann und wählte nach einem Ausdruck, seinen Dank kund zu machen und doch seinem Ansehen nichts zu vergeben.

„Ich weiß wirklich nicht,“ begann er endlich, als sie schon vor den Thürstufen standen, „in welche Worte ich meine Erkenntlichkeit kleiden soll. … So Ihr mit Eueren Gefährten noch bei mir eintreten und einen Becher edlen Rheinfall nicht verschmähen wolltet …“

„Laßt das, Herr Lyskirchner,“ entgegnete Roritzer kalt, „wir werden uns begegnen, wo wir einander begegnen müssen, und ich bin Bürge dafür geworden, daß Ihr Euch der Begegnung nicht entzieht! Was ich gethan, ist meine Schuldigkeit gewesen als Dommeister, und meint Ihr Ursache zu haben zur Erkenntlichkeit, so bewährt sie dadurch, daß Ihr mir Euer Wort gebt, Regensburg nicht zu verlassen, ehe wieder Frieden ist zwischen der Gemeine und dem Rath …“

Der Kammerer antwortete nicht sogleich; er hatte Mühe, seine Betroffenheit zu bergen.

„Ihr zögert?“ rief Roritzer unmuthig. „Ihr besinnt Euch, mir Euer Wort zu geben?“

Aus der Thür fiel voller Lichtschein auf ihn, daß er unwillkürlich inne hielt und dahin blickte. In dem erleuchteten Raume stand eine hohe schlanke Mädchengestalt, mit offnen, weit über die Schultern herabwallenden Locken, die Züge des Schreckens und der Besorgniß in dem schönen, erblaßten Angesicht. Sie wollte mit offenen Armen auf Lyskirchner zueilen, hielt aber in schüchterner Befangenheit inne, als sie dessen Begleiter erblickte. „Großvater,“ flüsterte sie, „kommst Du endlich? Bist Du endlich da und unversehrt? Gott sei Dank … wie habe ich mich um Dich geängstigt …“

„Der wüthende Haufe,“ entgegnete der Kammerer, „hatte mich unterwegs überfallen… Hier steht mein Retter, Wolf Roritzer, der Dommeister …“

Das Mädchen erröthete; ihr dunkles Auge richtete sich mit unaussprechlichem Ausdruck auf Roritzer’s Antlitz, der hinwider betroffen stand und den Blick von ihr nicht abzuwenden vermochte. „Verschmäht meinen Dank nicht, Meister,“ sagte sie leise, „und lehret mich, wie ich ihn Euch zu erweisen vermag…“

„Das könnt Ihr leicht, edles Fräulein,“ rief Roritzer, „ich bin Bürge dafür geworden, daß Herr Lyskirchner die Stadt nicht [523] verläßt … ich habe sein Wort gefordert, er zögert, es zu geben … bewegt ihn dazu, so Ihr es vermögt!“

„Ihr habt Euch zuerst für ihn verbürgt, ohne sein Wort zu haben,“ erwiderte sie, „und jetzt zweifelt Ihr doch an ihm? Nun denn, so nehmt mein Wort statt des seinen, ich will für ihn Bürge sein bei Euch … ich, die Euch Alles dankt, der Ihr mit dem Leben dieses Mannes Alles gerettet habt und wieder gegeben… Wollt Ihr mir glauben?“

Roritzer sah sie fest an und reichte ihr die Hand. „In Euern Augen ist Wahrheit, edle Jungfrau,“ sagte er, „Euch glaub’ ich! Geht, Herr Lyskirchner, diese Bürgschaft nehm’ ich an!“


2.

Der erste Strahl des andern Morgens, der über Dächern und Zinnen der Stadt emporblitzte, fiel in das Gemach des Dommeisters und traf dessen Bewohner schon in voller Geschäftigkeit. Es war ein hohes, freundliches Zimmer, worin er hauste, ein Giebel mit breitem Fenster, vor welchem drüben, jenseits der Stadt, die grünen, anmuthigen Donauhügel die Ebene umrahmend den Bergen des bairischen Waldes zustrebten; mit altersdunklem Holzgetäfel verschalt, sonst aber schmucklos und schier ohne Geräth. Auf einem schwarzbraunen Schranke standen allerlei zierlich geformte Becher und Krüge; an einer Kante des Schnitzwerks hing der Stoßdegen mit Bandelier unter dem darübergestülpten Pelzhute; im Hintergrunde stand auf stattlichen, gewundenen Säulenfüßen ein einfaches Lager, an den Wänden aufgehangen und in den Ecken verstellt waren Bilder, Figuren und allerlei Modelle, in Lehm geformt … Alles wohl bestäubt und durcheinander, und doch war etwas über dem Ganzen, was der Zerstreuung Sinn gab und das Gewirr wie Ordnung aussehen machte.

Roritzer saß an dem einfachen, mit Rollen und Blättern aller Gestalten überdeckten Tische, den Reißstift in der Hand. Die Ereignisse des Abends hatten ihm Kopf und Herz überfüllt; über den hochgehenden Wogen der Gedanken und Gefühle hatte der Schlummer lange vergeblich sich herabzusenken gesucht; als er endlich doch seinen unwiderstehlichen Zauber geübt, genügte der erste Dämmerstreifen im Osten, ihn wieder zu verscheuchen; die aufsteigende Leidenschaft verschmäht die beruhigende Trösterhand, nach welcher die sinkende sich oft so heiß und so vergeblich sehnt.

Der Meister zeichnete auf einem großen Blatte, das sich ansah, wie der Entwurf eines schönen, reich sich ausbauenden Flügelaltars, dessen Abtheilungen statt durch Säulen durch drei Frauengestalten geschieden waren, die sich erst in den einfachsten Umrissen kennzeichneten. Er war ganz in seine Arbeit vertieft, schien aber nichts weniger als zufrieden mit den Linien und Zügen, die unter seiner Hand entstanden, immer wieder verlöschte er dieselben, um sie durch neue, noch feinere und sinnreichere zu ersetzen und nach kurzem Schwanken auch diese dem gleichen Geschick zu überliefern.

Darüber gewahrte er nicht, daß die Thüre aufging und Meister Loy auf der Schwelle stehend sichtbar wurde; er wandte sich erst, als der Alte zu sprechen begann.

„Ei, ei, Wölflein, mein Junge,“ rief er verwundert, „Du bist schon aus den Federn und schon über der Arbeit? War’s doch schier Mitternacht, als wir vom Greiffen aufbrachen und ich den verschnitzelten Poeten, den Doctor Stabius, in seine Herberge geleitete … hat das Menschenkind einen einzigen Humpen getrunken und war nicht mehr Herr über sein Fußwerk, als ein Büblein, so eben anfängt, das Laufen zu lernen; muß seiner Lebtage nichts geschlürft haben, als Froschwein, sonst hätte das Tröpflein ihn nicht so benebeln können. Und das will ein Poet sein! Da lob’ ich mir Deine Natur und die meine! Du hast zwar auch gestern mehr in’s Glas hinein- als herausphantasirt … aber da sitzest Du schon in früher Morgenstunde überm Werk und so ist es recht, mein Junge! Was ist es, was Du zeichnest? Laß einmal sehen …“

„Es ist noch nicht reif zum Beschauen,“ entgegnete Roritzer, indem er die Zeichnung mit einem andern Blatte bedeckte und sich dem Bildschnitzer zuwendete. „Es ist der Schutzengel-Altar, an dem ich arbeite; die beiden Seitenfiguren, den Glauben und die Hoffnung, hab’ ich lange fertig; die dritte, die im Giebel darüber stehen soll, die Liebe will mir immer nicht aus dem Blatt entgegentreten, wie ich sie innen vor mir stehen sehe … da hab’ ich heute wieder ein paar Morgenstunden daran verstümpert …“

„Und vor mir, vor Deinem alten Lehrer, verdeckst Du, was Du zeichnest und entwirfst?“ entgegnete Loy, indem er sich auf dem Bette behaglich niederließ. „Das ist ja etwas Nagelneues; sonst bin ich ja immer der Erste gewesen, der was zu sehen bekam, und wenn Du Zweifel hattest, war ich’s, den Du um Rath gefragt, und heut ist Dein Schutzengel-Altar ‚noch nicht reif zum Beschauen‘ für den alten Loy?“

„Du kommst ja heute aus der Verwunderung gar nicht wieder heraus!“ rief der Dommeister, zu ihm tretend. „Laß mir doch auch ein Theil übrig, der mir ehrlich gebührt, da Du schon um diese Zeit die zweihundert Stufen zu meinem Giebel überwunden hast! Sag’ mir lieber, was Dich schon so früh zu mir führt.“

„Hast Recht, Wölflein,“ erwiderte der Bildschnitzer, „ist mir auch sauer genug geworden, und was mich zu Dir führte, ist wohl jetzt die Hauptsache. Kannst es errathen, unschwer, eh’ ich’s ausspreche; was ich Dir gestern im Greiffen gesagt, muß ich Dir noch einmal wiederholen, im letzten Augenblick, eh’ es zu spät ist! Geh’ heute nicht auf’s Rathhaus, gutes Wölflein, sag’ Dich von der Handwerker-Sippschaft los, an einem Vorwand dazu kann es einem Kopf wie Du nicht fehlen …“

„Haben sie nicht mein Wort?“

„Leider Gottes, ja; Du mußt eben machen, daß sie es Dir zurückgeben! Fahr’ ihnen durch den Sinn, brich die Gelegenheit vom Zaun und fang’ Händel an mit ihnen, daß sie Dir aufsagen: ihre Forderungen und Sprüche, so sie Dir gestern noch geschrieben zugestellt, geben gewiß einen vernünftigen Anlaß dazu …“

„Die Forderungen sind mitunter wohl thöricht gestellt, aber es ist ein gerechter Kern in allen; soll ich eine gerechte Sache aufgeben?“

„Aber so sag’ mir Du selbst, was Du thun willst, was denn geschehen soll!“ ries der Bildschnitzer, indem er aufspringend die Hände zusammenschlug und ängstlich hin und wider rannte. „Du kannst doch unmöglich der Fürsprech und Rädelsführer von dem Aufrührervolk sein … thu’s nicht, Wölflein, ich bitt’, ich beschwöre Dich darum! Ich hab’ mir’s die Nacht über, wie ich allein war, erst so recht überdacht … es geht nicht! Wie’s nun kommen mag, ob die Tumultirer obenauf kommen oder ob sie unterliegen, immerhin wird es Dein Unglück sein! Mir geht’s im Geiste vor, wenn ich Dir auch nicht bestimmt sagen kann, was ich fürchte…“

„Ich sehe die Gefahr wie Du, mein alter Freund,“ erwiderte Roritzer ernst, indem er die Hand des Alten ergriff und schüttelte, „aber ich fürchte sie nicht! Ich habe mich in diese Unternehmung nicht muthwillig gestürzt; in der Vertheidigung meines guten Rechts, im Schutz der mir anvertrauten Domhütte bin ich dazu gedrängt worden, wider Will’ und Verhoffen; drum will und muß ich’s durchführen und kann Dir den Kummer nicht ersparen! Ich sag’ es mit schwerem Herzen, aber es ist nicht anders: zum ersten Male gehen unsere Wege auseinander… Bleibe auf dem Deinigen, bleibe Du unserer heiligen Meisterin, der edlen Kunst, getreu; mich laß den meinen gehen und sei gewiß, wenn nicht Berge zwischen uns gelegt werden, komme ich wieder zurück und hole Dich ein!“

„Auseinander?“ sagte der Bildschnitzer, und seine ehrlichen Augen füllten sich mit Thränen. „Ich sollte Dich verlassen? Wölflein, das ist nicht Dein Ernst … und wenn ich den Weg, den Du gehst, zehn Mal für den unrechten hielt, und wenn ich wüßte, daß er g’radaus in die Hölle führte – Junge, der Weg, den Du gehst, ist auch der meinige! Die Zunftgenossen, die Wachtbrüder, die Scharrhansen sind mir zuwider … zuwider wie im Weine das Wasser, aber wenn Du ihr Anführer bist, dann sind sie meine Genossen, dann will ich auch ein Volksmann werden. … O, Du sollst sehen, ob ich verstehe, mit den Kunden umzuspringen …“

„Loy …“ rief der Dommeister bewegt, „altes, wackeres Herz, Du treuer Vater und redlicher Freund, das wolltest Du? Nun denn, so will ich hinwieder Dir’s nie vergessen, was Du auch sonst von mir verlangen magst, ich will Dir zu Willen ein!“

„Mach’ kein Aufhebens von der Sache, mein Junge,“ rief Loy lachend entgegen, „und sieh Dich vor, daß ich Dich nicht beim Worte nehme! Hab’ allerdings noch ein ander Gesuch und Anliegen an Dich … und wenn ich mir so Deine Stube überblicke, [524] bekomm’ ich weidlich Lust, es gleich fürzubringen! Wie’s hier aussieht! Wie Alles durcheinander geworfen ist! Der Staub liegt auf dem Geräth’, man könnt’ schreiben darauf! Da hängt Dein schönes Koller von gerissenem Sammt über dem Bettpfosten, der Kerzenstahl ist über die Handschuhe gefallen und die Stiefeln haben sich in den Waschkasten verirrt – eine leibhafte, leidige Jungherrenwirthschaft! Das ist nichts für Dich, das ist nicht für einen Mann wie Du. Du brauchst Jemand, der Ordnung hält, Du solltet …“

„Und was sollt’ ich?“ fragte Roritzer, der ihm verwundert und lächelnd zugesehen und sich wieder an dem Tisch zu seiner Zeichnung niedergelassen hatte. „Warum stockst Du?“

„Stocken? Warum doch sollt’ ich?“ fuhr Loy eifrig in immer zutraulicherem Tone fort. „Du solltest zur Freit’ gehen und Dir eine liebe, wackere Hausfrau heimführen…“

„… In der That?“

„Freilich, mein Wölflein, freilich! Das solltest Du, und wenn Du mich anhören und mit dem Kuppelpelz nicht knickern willst, wüßte der alte Loy Dir wohl zu verschaffen, was Du brauchst. Ist Dir nichts Besonderes vorgekommen gestern Abend im Greiffen? Aber nein, Du warst zu sehr mit andern Dingen beschäftigt, Du hast nichts davon gesehen, daß die Sibylle ganz verweinte Augen hatte, daß sie ganz verdreht war und sich immer zweimal rufen ließ! Hat sie mir nicht, als ich zuletzt noch einen Humpen Rheinfall begehrte, Wasser hingestellt, klares, wirkliches Wasser? … Dem armen Mädel ist’s eben angethan… Was meinst Du, Wölflein? Sie ist guter Leute Kind und ihr Vater, der Schenk zum Greiffen, wird mit einer ganz anständigen Mitgift herausrücken …“

Roritzer schwieg; er hatte den Stift ergriffen und zeichnete.

Loy war unverkennbar froh, daß er ihn gewähren ließ. „Sie schickt sich wacker zu Dir,“ fuhr er fort, „sie ist still, bescheiden und sittig und lief’ für Dich durch’s Feuer! Hat ein paar runde, rothe Wänglein und Augen wie reife Schwarzkirschen. Wie wär’s, Wölflein, wenn ich den Freiwerber machte für Dich? Ich sorge nicht, einen Korb zu bekommen. Wenn ich mir’s so ausdenke, Junge, daß Du Deinen eigenen Hausstand hättest, daß Dein schönes, großes Haus nicht so einsam wäre, wie eine verlassene Ritterburg, wenn ich jeden Abend, statt in den Greiffen, zu Dir kommen könnte und könnte mit Dir schwatzen und die Sibylle brächte mir wie sonst meinen Abendtrunk und ich erlebt’ es noch gar, daß ich Deinen Buben die Hand führen könnte, wenn sie dem Vater nachschlagen und auch Häuser zeichnen wollen und Kirchen… Wie mich das freuen sollt’, wie’s mich noch einmal jung machen sollt’, um ein zehn Jahre zum wenigsten! Es ist und bleibt wahr, es giebt doch kein rechtes Glück, als daheim in seinem Hause, am eigenen Heerd… Du sagst nichts? Also bist Du einverstanden? Also darf ich ein Wort für Dich anbringen? Du giebst mir die Erlaubniß?“

„Ohne Widerrede,“ erwiderte Roritzer leichthin, ohne aufzusehen und sich im Zeichnen zu unterbrechen, „gieb mir nur vorher auf eine einzige Frage Bescheid …“

„Auf zehn, mein Wölflein; frage nur.“

„So sage mir, warum Du die Freuden, die Du so lockend beschreibst, Dir nie selber verschafft hast? Warum hast Du nicht gefreit?“

„Ich?“ rief Loy verdutzt, „dumme Frage! Bei mir ist es doch ganz was Anderes. Ich … ich hab’ zum Freien keine Zeit gehabt, wahrhaftig keine Zeit. Ich … Wie kannst Du auch nur so fragen; ich war so gut im Zug und Du bringst mich ganz aus dem Zusammenhang.“

„Wir müssen’s verschieben auf ein andermal,“ rief Roritzer, indem er sich lachend erhob. „Ich höre Schritte vor der Thür, es werden die Wachtgenossen sein, sie kommen, mich zu holen!“

„Ich wollt’, es käm’ ein Anderer, sie zu holen!“ rief Loy unwillig, unterbrach sich aber sogleich selbst und verbesserte sich: „Ja so, sie sind ja jetzt unsere guten Freunde, da heißt es, den Katzenbuckel machen… Hu, welch’ ein saurer Apfel, die Zähne werden mir lang bei dem bloßen Gedanken! Aber es muß einmal gebissen sein …“

Dabei hatte er die Thür weit aufgerissen und lud die herantretenden Bürger mit freundlichem Grinsen und unter steten Bücklingen zum Eintritt ein. „Ei, Gott willkommen,“ rief er, „ehrbare Meister, insonders günstige Freunde und Herren! Was Ehre und Freude für diese geringe Schwelle, daß Ihr sie überschreiten möget! Gottwillkommen, gebt mir Eure wackere, vortreffliche Hand, Meister Hörhammer … Ihr auch, Herr Schmiedmeister. Es ist merkwürdig, welche Aehnlichkeit Ihr habt mit Simon Petrus, dem Jünger des Herrn; Ihr wißt wohl, der auch das Schwert zog und Malchus das Ohr abhieb …“

„Ei, das beliebt Euch nur so zu sagen, Herr Loy,“ entgegnete der Schmied etwas unwirsch und doch geschmeichelt. „Man weiß, Ihr seid ein Schalk. Der heilige Apostel war ein Fischer, ich bin ein Grobschmied.“

„Thut nichts, Ihr gleicht ihm doch,“ fuhr der Bildschnitzer fort, „und so Ihr nichts dawider habt, werd’ ich Euch abconterfeien, auf dem nächsten Kreuzweg, den ich zu schnitzen habe, in der Oelberg-Station, unter den schlafenden Jüngern, das Schwert neben Euch!“

„Wenn Ihr denn doch so besondere Lust verspüret, unsere Köpfe unter Euer Messer zu bekommen,“ unterbrach ihn der bucklige Weber, indem er mit lauerndem Blick vortrat, „habt Ihr nicht auch für mich ein Plätzchen in Euren Schnitzereien?“

„Das versteht sich!“ rief Loy. „Für Euch vor allen Andern. Was meint Ihr zu Simon von Cyrene, der dem Herrn das Kreuz trug? Ihr seid ja wie geschaffen zum Kreuzträger.“

„Laß Deine Possen,“ rief jetzt Roritzer mit einem Ernste dazwischen, der den nicht daran gewöhnten fröhlichen Greis stutzen und verstummen machte. „Sie stimmen schlecht zu dem Ernst des Augenblicks … Gott zum Gruß, ehrbare Meister und Wachtgenossen,“ fuhr er fort und wendete sich mit würdevoller Verneigung gegen die Bürger, „so ich recht vermuthe, kommt Ihr, mir das Geleite zum Rathhause zu geben?“

„So ist es, Herr Dommeister,“ erwiderte der Schmied, „wenn Ihr noch gesinnt seid, wie gestern …“

„Hättet Ihr daran gezweifelt?“ sagte der Dommeister ernst. „Wäre dies Geleite vielleicht mehr eine Wache, als eine Ehre? Dann mögt Ihr für alle Fälle Euch einprägen, Wolfgang Roritzer ändert seinen Sinn nicht über Nacht … ich habe mich mit Euch vertragen, Ihr habt Ruhe gehalten und habt die Freiung der Domhütte geachtet; dafür halte auch ich, was ich versprochen, und sollt’ es mich zehnmal gereuen. Das ist aber nicht der Fall: mit meinem Bau beschäftigt und nur in meine Kunst vertieft, hab’ ich nur wenig auf die Beschwerden und Händel geachtet, so den Bürgern und der Gemein mit dem Rath erwachsen. Die Aufschreibung, die Ihr mir noch gestern geschickt, hat mich eines Andern belehrt, und ich danke dem Geschick, das gestern den Flüchtling und seine Verfolger zu mir geführt … ich bin ein Bürger, wie Ihr, und will zu den Bürgern stehen; das Unrecht, das man Euch anthun will, widerfährt auch mir, ich will es abwehren für uns Alle! Viele von Euren Klagen sind wohl begründet, es kommt nur darauf an, sie in’s rechte Licht zu stellen; wollten die Herren vom Rath ernstlich widerstreben, sie müßten geradezu die Partisane des Unrechts sein und dessen wird der Rath von Regensburg sich nicht zeihen lassen. Drum hoff’ ich viel, hoffe Versöhnung und Heil für die gute Stadt von dem heutigen Rathsgespräch… Und so laßt uns in Gottes Namen und mit seiner Hülfe den ernsten Gang beginnen!“

(Fortsetzung folgt.)




Die erste eroberte Standarte.
Von einem preußischen Reiterofficier.


Ich bin kein Pantheist, mein Herr, und kein Idealist; allein ich behaupte, das Pferd hat eine Seele mit allen denjenigen Eigenschaften des Intellectes, welche den Menschen zieren, als da sind: Treue, Dankbarkeit, Muth, Ehrgeiz, Stolz etc. Der Zweifler hätte bei Nachod unsere Cavalerie sehen müssen, er hätte meine Ueberzeugung getheilt. Die ganze Welt wundert sich, daß wir die alte, hochberühmte österreichische Reiterei bisher bei jeder Gelegenheit geworfen – wir, theilweise ganz junge Regimenter, die

[525]

Lieutenant von Raven erobert im Gefecht bei Nachod die erste österreichische Standarte.

noch gar keine Geschichte haben. Wissen Sie, wo das Geheimniß liegt? In der Intelligenz unserer Leute, die bei höherem Patriotismus eine höhere Tapferkeit erzeugt, die andererseits durch größere Humanität Pferd und Mann zu einem Ganzen macht, von demselben Gedanken, demselben Gefühle beseelt. Ich versichere Sie, ein guter Cavalerist braucht keine Zügel, sein Pferd fühlt seine Gedanken und folgt seinem Entschluß; ja, ich glaube, es würde sich diesem Entschlusse widersetzen, wenn sein Ehrgeiz dadurch verletzt würde.

Ich weiß nicht, ob es in den Tagen vom 23. bis 29. Juni bei Ihnen auch so heiß war; wir glaubten uns hier unter dem Aequator und unsere Pferde litten unter der drückenden Temperatur schwer. An dem glühenden 26. Juni hatten wir – die zweiten schlesischen Dragoner Nr. 8 – die Avantgarde der elften Division und waren von früh sechs Uhr bis gegen Abend auf den Beinen. Eben als wir uns zur Ruhe vorbereiteten, traf uns der Befehl, sofort zum fünften Armeecorps – Steinmetz – zu stoßen. Nachdem die dampfenden Pferde kaum ein wenig verschnauft hatten, schwangen wir uns gegen sieben Uhr abermals in den noch heißen Sattel und vorwärts ging’s gegen Nachod. Haben Sie eine Idee [526] von einem solchen Nachtmarsche nach einem solchen Tage? Müde und hungrig die Leute und Pferde, schläfrig beide, und jedes Steinchen im Wege rüttelt Roß und Reiter wach! Um drei Uhr am 27. früh ging’s nicht weiter; wir saßen ab, bivouakirten auf der Stelle und fütterten die Pferde. Bivouakirten, wenn nämlich ein Lagern ohne Holz und Stroh, ohne Lebensmittel und Getränk so genannt werden kann. Kurz, die Sonne begrüßte eine unsäglich ausgenüchterte, übernächtige Schaar und schien durch dreifache Gluth uns unsern Hunger vergessen machen, dafür aber unsern Durst und unsere Müdigkeit bis in’s Unerträgliche steigern zu wollen. Gegen sechs Uhr brachen wir wieder auf und, ich gestehe es, schlapp hingen wir auf unseren schlappen Pferden. So quälten wir uns fort und kletterten bald nach acht Uhr in brennender Sonnenhitze die Höhen von Nachod empor, wo wir in gänzlicher Erschöpfung ein wenig ruhten. Die Unbehaglichkeit unserer geistigen und körperlichen Verfassung läßt sich nur von Einem nachfühlen, der selber Aehnliches durchgemacht, und wir mußten uns wohl herzlich schlecht ausnehmen, als wir uns nun in Escadrons-Zugcolonnen neben die ersten ostpreußischen Ulanen Nr. 1 setzten, die offenbar frisch, durch Nachtruhe gestärkt und durch Morgentoilette bei Weitem sauberer waren. Unsere katzenjämmerliche Stimmung klärte sich durchaus nicht auf, als einige Granaten dahergesaust kamen und in unseren Reihen crepirten – ein unangenehmes Frühstück bei so gänzlich leerem Magen. Und doch mußten wir in regungsloser Unthätigkeit halten bleiben. Das waren recht häßliche Minuten für unser junges, vor wenigen Jahren erst geschaffenes Regiment. Gott sei Dank! es zuckte Niemand und Jeder von uns begriff die Nothwendigkeit.

Endlich, endlich, vorwärts Marsch! Von Wisoka her zeigte sich feindliche Cavalerie, und jetzt in’s Gefecht! Dieser Anblick ersetzte uns vollkommen eine achttägige genossene Ruhe in der Garnison. Die Dragoner richteten sich auf, fort war jede Müdigkeit, fort jeder Hunger und Durst, jedes Auge sprühte Kampfbegier und unwillkürlich nahm die linke Faust die Zügel straffer. Es wäre nicht nöthig gewesen, denn auch die Pferde waren wie umgewandelt; ich sage Ihnen, sie wußten, um was es sich handelte, und nach mehrtägiger Ruhe vor gefüllter Krippe hätten sie nicht kräftiger und muthvoller sein können.

Die helle Trompete befiehlt Deployiren und die Regimenter entfalten sich in langen geschlossenen Linien. Drüben die stolzen, altberühmten Kürassier-Regimenter Kaiser Ferdinand, errichtet 1672, und Graf Stadion, errichtet 1682; fest geschlossen im Trabe uns entgegen! In einer halben Minute! Galopp! Fest die Schenkel, locker, aber sicher die Zügel! Sind wir nicht auch Reiter mit guten Pferden, starken Fäusten und scharfer Klinge? Fanfaro! Mit furchtbarer Gewalt und donnerndem Hurrah mitten hinein in den Feind. Die furchtbaren Pallasche der mächtigen Kürassiere sausen auf die leichten Dragoner herab; allein diese wissen sich zu decken, beugen sich unter der Parade herab; scharfe Terz oder Stich nach. Wüthender Einzelkampf, und die schnaufenden Pferde verstehen den Kampf, unterstützen ihren Reiter. Rittmeister v. Walther schwenkt mit seiner Schwadron, die den linken Flügel hat, rechts ein; Hurrah, den Ferdinand-Kürassieren in Flanke und Rücken! Und die flinken Dragoner entfalten eine ungeahnte Fertigkeit in Hieb und Stich. Mitten im Getümmel sieht Lieutenant v. Raven die feindliche Standarte in seiner Nähe. Dorthin, mein braves Roß! und mit geschwungener Klinge stürzt er sich darauf los. Eine mächtige Quarte, und herab sinkt der Kürassier, der sich ihm entgegenstellt. Aber wehe, in vier furchtbaren Pallaschen schwebt der Tod über ihm; doch die Seinen haben es bemerkt. Unterofficier Reudelsdorf, Trompeter Tuchale und einige Dragoner fangen die Hiebe auf, unterlaufen die Gegner. Ein gewaltiger Satz des Pferdes und Raven greift nach der Standarte, in der rechten Faust hoch geschwungen den Säbel. Gänzlich zügelfrei hebt sich das kluge Roß, es versteht den Moment.

„Her die Standarte!“ und die Linke umklammert den Schaft. Aber ein braver Soldat vertheidigt sie, und ein mächtiger Hieb mit dem Pallasch ist die Antwort. Raven sah den Hieb kommen, seine Klinge parirt ihn, seine Linke läßt den Schaft nicht los, und sein treues Pferd erleichtert ihm durch eine Drehung den furchtbaren Kampf. Er muß die Standarte haben und der brave Feind muß fallen. Er hebt sich im Sattel zurück, legt die Klinge zum Stich aus und bevor der gegnerische Pallasch die wuchtige Schwingung vollendet, zischt die leichte Dragonerklinge bis zum Heft in des wackeren Feindes Brust. Die ersterbenden Finger lockern sich vom Schaft der geliebten Standarte, ein letzter Blick auf sie und der Kürassier sinkt schwer hinab in das Chaos von Menschen- und Pferde-Leibern. Der glückliche Raven schwingt die schwer erbeutete Standarte über seinem Haupte und dringt mit den Seinen weiter vor, die Kürassiere den tapfern Ulanen zudrängend, die ebenfalls die Stadion-Kürassiere geworfen und ihnen die Standarte abgenommen hatten.

Die feindliche Artillerie schützte die beiden Regimenter vor weiterer Verfolgung. Signal-Appell sammelt unsere Leute hinter einem Hügel und nur mit Mühe sind sie von einer wüthenden Verfolgung zurückzurufen. Von vorheriger Müdigkeit, Entkräftung nicht die leiseste Spur mehr! Die erste Zeile in der Geschichte des Regiments war ein Sieg, eine eroberte Standarte; das Regiment war begierig geworden, die zweite Zeile zu schreiben. Sein Commandeur, Oberstlieutenant v. Wichmann mit einem Hiebe über den Kopf und blutüberlaufenem Gesicht, reitet soeben herbei auf dem Pferde des Wachtmeisters Grindel, der mitten im Kampfe seinem Commandeur unter dem gestürzten Pferde hervor und auf sein eigenes Pferd geholfen hat. Doch da kommt auch bereits der wackere Grindel auf einem erbeuteten Pferde dahergesaust. Die Verwundeten, darunter fünf Officiere, werden zurückgebracht, und jubelnd stürzt sich das Regiment auf eben sichtbar gewordene feindliche Infanterie-Bataillone. Zwei Carrés werden vollständig zersprengt und überritten. Die Dragoner sind kaum zu halten; wo sich von Neuem feindliche Infanterietrupps ansammeln, wird von Neuem attakirt. Und so schreibt das Regiment das erste Blatt seiner Geschichte mit seinem eigenen Blute. Major von Natzmer todt, viele Officiere verwundet, dreißig Mann todt und verwundet!

Lieutenant von Raven hat von allen Gefechten nicht die geringste Schramme davongetragen und theilt die Glückwünsche seiner Vorgesetzten redlich mit denjenigen Dragonern, die im Moment der Gefahr ihm so wacker beigestanden.




Ueber Liverpool nach Castle-Garden.
Eine Warnung für Auswanderer.


In den „Deutschen Blättern“ stand einmal eine Notiz, die den Titel führte: „Nicht über Liverpool“ und eine sehr berechtigte Warnung an Auswanderer enthielt. Es möchte hier nicht ganz am unrechten Platz sein, meine eigenen Erlebnisse „via Liverpool“ zu erzählen, um damit jene Notiz zu illustriren.

Wie viele deutsche Schriftsteller, hatte ich sehr wenig Geld, als ich im August 1862 nach Hamburg kam, um von da nach New-York zu gehen. Ich konnte deshalb Alsterbassin und Jungfernstieg nicht lange genießen, sondern mußte mich nach einer Fahrgelegenheit umsehen, „durch das dicke Wasser zu gehen“, wie die Indianer sagen. Unglücklicherweise waren die Hamburger Steamer fort und den Bremer Dampfer hätte ich auch nicht mehr erreicht, selbst wenn meine Reisemittel bis dort gelangt hätten. Was war zu thun? Mein Wirth antwortete mir darauf: „Wenden Sie sich an Falke und Comp. und gehen Sie via Liverpool!“ Was wußte ich, welche Schrecknisse sich mit den Worten „via Liverpool“ verbanden, was wissen noch heute die Auswanderer davon?“

Ich suchte die obenerwähnten Raubvögel aus, welche leider nicht den zoologischen Garten bevölkerten, sondern recht anständig wohnten, stellte mich als Mitglied der Presse vor und erhielt die Versicherung, daß ich prompt und in süperber Weise „via Liverpool“ expedirt werden würde. Die Ueberfahrtssumme war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, eine so geringe, daß mir sogar noch zehn Dollars Gold – ein Vermögen für einen reisenden deutschen Journalisten – in der Tasche blieben.

Die Art und Weise unserer Versendung war indessen eine [527] tragikomische, d. h. damals eine tragische und heute, nachdem sie überstanden ist, eine komische. Wir wurden genau wie ebensoviel Stück Vieh oder Holzblöcke betrachtet, denn man stellte einen Frachtschein über so und so viel Stück Emigranten aus, übergab diesen an den Supercargo und machte diesen für die richtige Ablieferung derselben, gleichgültig ob todt oder lebendig, verantwortlich. Nachdem das geschehen, wuschen Falke und Comp. ihre Hände in Unschuld und das Geschäft blieb ein reinliches.

In Hamburg hatte man uns an Bord eines Dampfers gethan, der von England Kohlen holte, wenn ich nicht irre, und in dem zumeist leeren Kohlenraum wurden wir einquartiert. Ich entsinne mich dessen nicht mehr genau, wie viele Menschen hier auf stinkenden Matratzen zwischen den Kohlen beisammenlagen, weiß aber noch, daß neben mir ein deutscher Sänger campirte, der nach jedem Schnaps „mein ganzer Reichthum ist mein Lied“ anstimmte, und daß sich nicht weit von ihm ein junger Italiener in den Zuckungen der Seekrankheit krümmte. Es ist kein schlechter Witz von mir, wenn ich erzähle, daß mich der Arme himmelhoch bat, den Capitän zu ersuchen, ihn aussteigen zu lassen, da er gern sein Reisegeld verlieren wolle.

Wir kamen nach England, das uns selbstverständlich mit Nebel und Regen empfing. Ein Cicerone begleitete uns in das Kosthaus, wo bereits für so und so viel Stück Emigranten Quartier gemacht war, d. h. man steckte uns in eine kolossale Breterbude, von der ich vermuthe, daß sie für einen Pferdestall nicht tauglich war. Hier fütterte man uns mit ranziger Butter und einem Kaffee, dessen Analyse wahrscheinlich neunundneunzig Theile heißen Wassers und einen Theil Cacaobohnenschalensurrogat ergeben haben würde.

Was soll ich Ihnen viel von der Eisenbahnreise durch England und von den Viehwagen erzählen, in welchen wir transportirt wurden? Das war ja noch der rosigste Theil der Fahrt und bisher hätten wir noch gern zufrieden sein können. Wir kamen nach Liverpool. An der Station empfing uns ein nicht sehr appetitlicher Israelit und zählte uns ab.

„Seid Ihr Alle beisammen?“

„Ja!“ riefen einige schüchterne Stimmen.

„Dann nehmt Eure Sachen und kommt!“

Wir packten unsere Matrazzen und blechernen Eßgeschirre auf und die elende Karawane zog durch die Stadt. Ich, der ich mir in leichtsinnigen Augenblicken eingebildet hatte, vom Pegasus getragen zu werden, ging als Packesel voran. Neben mir schritt unser Geleiter, grunzend, brummend, commandirend, als führe er verbrecherische Recruten zum Stockhause.

„Wohin geht Ihr?“ fragte er mich nach einer vorhergegangenen vornehmen Räusperung.

Ich antwortete natürlich nicht.

„Wohin Ihr geht, frage ich Euch,“ wiederholte er, meine Schulter berührend.

„Das müßt Ihr besser wissen, als ich.“

„Der Teufel, das Volk ist noch grob!“ sagte der Mann zu seinem Begleiter, einem pfiffig aussehenden Neger, in englischer Sprache.

Jetzt lief mir die Galle über.

„Wenn Sie unverschämt sein wollen,“ sagte ich ihm, „dann seien Sie es wenigstens direct, damit Sie Ihre Maulschellen auch direct einstecken können.“

„Wie so, unverschämt?“

„Sie bezeichnen uns mit ‚Volk‘ und nennen uns ‚Ihr‘, geschieht das noch einmal mir gegenüber, so setzt es Ohrfeigen!“

„Ohrfeigen?! Denken Sie nich, daß Sie sind in Deutschland; hier ohrfeigt man nicht, hier ist es Sitte zu nennen die Emigranten ‚Volk‘ und ‚Ihr‘. Sind Sie aber was Besseres, wie die Andern, so können Sie haben in meinem Hause Extrazimmer und Extrakost gegen geringe Vergütung.“

Ich nahm natürlich diese Extras nicht an und wurde mit drei wildfremden Menschen in ein Dachzimmerchen gesteckt, welches zwei Betten enthielt. Betten wie diese habe ich indessen nie gesehen und wünsche ich nie mehr zu sehen. Dieselben waren nicht etwa in der Wäsche unrein, sondern die Betten selbst starrten von Wanzen, Unrath und Blut, ja man konnte deutlich sehen, daß dieselben von ekelhaften Kranken kurz vorher benutzt waren.

Glücklicherweise waren meine Stubencameraden gesunde Jungen. Die Betten sehen, sie zusammenraffen und durch das Treppenloch in die erste Etage stürzen, war eins. Nun schoß unser „Seelenmakler“ wild herauf und setzte uns zur Rede. Diese neue Frechheit empörte uns dermaßen, daß wir unwillkürlich zu den Schemelbeinen griffen, aber der eine Goldsucher, ein biederer Schwede, kam uns zuvor. Er packte den Burschen mit seiner kolossalen Rechten in die Halsbinde, hob ihn wie ein Kind in die Höhe gerade über das Treppenloch und warf ihn sans façon hinab auf die Betten. Der Fall dröhnte dumpf durch das ganze Haus, doch das Zetergeschrei des Gemaßregelten bewies, daß er sich nicht ernstlich wehe gethan hatte. Unsere Energie verhalf uns nun zwar nicht zu Betten und wir waren gezwungen, auf den bloßen Dielen zu schlafen, aber viel höflicher wurde der Mann, d. h. soweit das bei einem Klotz möglich ist.

Nichts wirkt komischer auf Jemand, der nicht darunter zu leiden hat, als die Festungsordnung und militärischen Gesetze in diesen Emigranten-Kosthäusern. Was auf den gedruckten Tabellen steht, ist im Befehlston gehalten und die Strafe im Uebertretungsfalle gleich dabei angegeben. Z. B.:

§. 1. Derjenige, welcher nicht pünktlich nach Ablauf jeder Woche seine Rechnung bezahlt, wird unter Zurückhaltung seiner Sachen hinausgewiesen.

§. 2. Eßstunden: sechs bis sieben Uhr Frühstück; zwölf bis ein Uhr Mittagsbrod; sechs bis sieben Uhr Abendessen. Wer nicht pünktlich erscheint, kann außer der Zeit nichts beanspruchen.

§. 3. Das Haus wird um zehn Uhr geschlossen; wer dann nicht daheim ist, bleibt draußen etc.

Scheußlicheres, als das Essen in diesen „Strafkneipen für Emigranten“, giebt es in der Welt nicht, und als sich Einer darüber beklagte, erwiderte der rohe Wirth: „Ich weiß nicht, was Ihr wollt, soll ich Euch vorsetzen Gänseleberpastete und Vogelnester? Daheim habt Ihr nicht zu fressen satt Kartoffeln und hier wollt Ihr sein vornehme Leut’?“ –

Endlich waren die Tage des Jammers überstanden und wir auf den Dampfer „City of Washington“ transportirt, der vielleicht fünfhundert Emigranten, darunter meist Irländer, an Bord nahm. Vierzehn Tage haben wir in dem furchtbaren schwarzen Kasten bei elender Kost in dumpfigen Räumen zugebracht, und diese vierzehn Tage habe ich mit einem dicken rothen Strich aus meinen Erinnerungen gestrichen, denn es sind die einzigen, von denen ich sagen kann, es war verlorene Lebenszeit. Man kann auf diesen englischen Emigrantenschiffen nichts sehen, als Rohheit, Bosheit, Dummheit, Schmutz; man hat hier nichts, als das bittere Gefühl, eine Canaille unter Canaillen zu sein, weil – man kein Geld hat, mit den Gentlemen der ersten Classe zu fahren.

Außerdem, warum beeilt Ihr Euch so sehr, deutsche Landsleute, das schöne, liebe, einzige Vaterland mit einer Hast zu verlassen, die Euch nicht einmal den Abgang der deutschen Dampfer erwarten läßt? Nach Amerika kommt Ihr immer noch früh genug, ja Tausende kommen viel zu früh hin, und um wieviel angenehmer ist es, unter lauter Deutschen die weite Seereise zu machen, anstatt sich von den wüsten Kindern der grünen Insel herumstoßen und „damned dutchmen“ nennen zu lassen. –

Es ist sonderbar, wie nach einer langen und unangenehmen Seereise sofort alles Leid und Elend vergessen ist, wenn man das ersehnte Land sieht, gleichviel, ob man sich von demselben viel oder wenig verspricht, ob man in Cayenne, wo der Pfeffer wächst, oder an den Küsten des gelobten Landes, wo Milch und Honig fleußt, ankert. Ob das vielleicht das nun gestillte Heimweh nach der guten Mutter Erde ist? Als ich im Hafen von New-York meine Matrazze und mein Eßgeschirr in’s Meer warf, flog aller Zorn gegen Falke und Co., gegen England und jüdischen Herbergsvater über Bord, trotzdem aber bleibt es dabei: „nie mehr über Liverpool!“

Passiren die Emigrantenschiffe Sandy-Hook, so kommen die Douane- und Sanitätsbeamten an Bord, untersuchen die Menschen so genau wie das Gepäck und geben die Erlaubniß zum Ausbarkiren, wenn keine Seuche an Bord ist. Unter Seuche ist natürlich nur die asiatische Cholera verstanden, welche in diesem Jahre wieder durch Emigrantenschiffe in New-York eingeschleppt wurde. Natürlich schrieen die reinlichen Irländer, das sei durch die unreinlichen Deutschen geschehen, es stellte sich aber glücklicherweise heraus, daß der erste Cholerakranke am Bord der „Persia“ ein schmutzstrotzender Irländer war und daß unter den grünen Insulanern die Seuche auch am meisten aufräumte.

[528] Hat der Dampfer die Erlaubniß, seine lebendige Fracht zu löschen, so legt sich ein ansehnlicher Steamer an seine Seite, der jedoch, trotz seiner Größe, neben der „Arche Noah mit dem allerlei Gethier“ wie ein hübsches, kleines Spielzeug aussieht. Die Emigranten werden jetzt darauf geschickt, wenn nicht getrieben, und er trägt seine kostbare, für Amerika unbezahlbare Last nach dem Castle-Garden. Dahin wollten wir eben. Castle-Garden liegt am südlichen Ende der Manhattan-Insel und ist ein großes, rundes Holzgebäude, halb Musenhalle und halb Viehpferch, wie man sich weniger ästhetisch als richtig ausdrücken, könnte. Der Castle-Garden ist zum Schutze der Einwanderer errichtet worden, da dieselben vor seinem Bestehen zu sehr den Beutelschneidereien der Vertrauensmänner, Taschendiebe und anderer Edler dieser Kategorie ausgesetzt waren. Ganz sind sie natürlich auch heute nicht dagegen geschützt und es soll sogar dagewesen sein, daß die Aermsten von gewissen Beamten des Castle-Gardens unverantwortlicher geprellt und bestohlen wurden, als sonst von den unbezahlten Dieben. Es gab eine Zeit, in welcher der Castle-Garden dasjenige Gebäude in New-York war, welches die meisten Menschen faßte, und deshalb hielt Barnum auch darin seine monströsen Jenny-Lind-Concerte ab, die bekanntlich von ganz ungeheuren Menschenmassen besucht waren. Ich kann nichts Genaues über die Größenverhältnisse dieser alten Bude angeben, halte das auch an diesem Orte für nebensächlich, möchte aber doch die Zahl der Personen, welche der große, amphitheatralisch gebaute Saal faßt, auf zehntausend schätzen.

Wenn ein Emigrantenschiff telegraphisch angekündigt ist, nimmt der Castle-Garden sogleich ein geschäftiges Aussehen an. Die Beamten schnallen ihre strengen Dienstgesichter vor, denn bei den „Grünen“ imponiren noch die altgewohnten Fratzen; die Polizei setzt sich in Positur; der persönliche Schutzengel der weiblichen Passagiere, Madame S…, wird noch einmal so dick vor Vergnügen, da sie es sich zur besondern, nicht bezahlten Aufgabe gemacht hat, die frischankommenden oft sehr arglosen Tauben vor den Krallen gewisser Raubvögel zu bewahren. Der ganze Castle-Garden bekommt ein officielles Aussehen und bläst sich förmlich auf vor Lust.

Das bemerken sogleich die wohlbestallten Eckensteher am Castle-Garden und bringen im Geschwindschritt die Neuigkeit an ihre Geschäftsfreunde, so da sind: Boardinghauswirthe, Gesindevermiether, Schwindler, Arbeitsgeber, Preßmeyer etc. Sofort entsteht nun eine kleine Völkerwanderung gen Castle-Garden und dieser Strom zieht wieder Neugierige und Müßiggänger an, so daß die Neuankommenden sich zu ihrem Erstaunen in das Gewühl eines Jahrmarktes versetzt glauben. Auf diesem Jahrmarkt, wo nicht selten Seelen verkauft werden, bekommen die „Grünen“ den ersten blassen Begriff davon, daß „Amerika ein großes Land“ ist. Der Menschenstrom darf indessen durchaus nicht in den Castle-Garden hineinfluthen, dagegen ist die Polizei, welche sich am Eingang postirt hat und Jeden zurückweist, der unbekannt oder sonst nicht bei der Polizei accreditirt ist. Letzteres wird man indessen leicht auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege des Trinkgeldgebens.

Die Emigranten treten jetzt von der Flußseite des Castle-Gardens ein und bewegen sich in schüchternem Gänsemarsch auf die Sitze der Beamten zu. Vor diesen ist eine Vorkehrung getroffen, daß nur immer eine Person dem Pulte gegenüberstehen kann, damit kein Gedränge entsteht. Diese eine Person muß ihren Namen, ihr Alter und ihr Geschäft angeben; gewöhnlich fragt man sie auch, ob sie weiterreise oder in New-York bleibe, und bietet ihr für den ersteren Fall Billete an, die hier nach allen Weltgegenden der Union zu haben sind. Fremde thun sehr gut, sich hier solche Billets zu kaufen, denn sie sind sicher, damit in keiner Weise beschwindelt zu werden. Betrügereien mit Fahrbillets sind nämlich in New-York an der Tagesordnung und es ist vorgekommen, daß Emigranten, die nach irgend einer anderthalbtausend Meilen entfernten westlichen Stadt wollten, mit schwerem Gelde ein Billet kauften, welches auf eine Stadt gleichen Namens im Staate New-York lautete. Andere erhielten gefälschte oder ungestempelte Billets, noch andere wurden in den Preisen betrogen, und es wird deshalb von Einwanderern sehr klug gehandelt sein, die Fahrbillets, entweder im Castle-Garden mit Beihülfe eines Beamten, in einer der großen Billet-Agenturen in der Stadt, oder direct an der betreffenden Eisenbahn zu kaufen. Bei Zwischenhändlern und besonders solchen, die von ermäßigten Preisen reden, ist die Sache stets riskirt.

Sind die Emigranten eingeschrieben, so behindert sie nichts mehr in die Stadt zu gehen, und sie machen davon mit einer Art zitternder Hast Gebrauch. Unzählige Fragen der Neugierde sollen jetzt beantwortet werden und viele suchen nach einem guten Omen für die Zukunft bei dem ersten Betreten des gelobten Landes der neuen Welt. Was ihnen indessen zuerst entgegentritt, das sind die bösen Omen der Boardinghauswirthe, diese nothwendigen Uebel der Metropole. Sie strecken mit süßholzsüßer Miene ihre langen Spinnenbeine nach Dir aus, Dich in ihr schmutziges Raubnest zu ziehen, und Du kannst eben nichts Besseres thun, als Dich einem von ihnen anzuvertrauen, denn Deine Baarschaft reicht gewöhnlich nicht so weit, um in der Maison dorée, im Fifth-Avenue-Hôtel, oder im Spencer-House täglich sechs Dollars zu bezahlen. Suche also nicht lange, wähle Dir den ersten, besten aus, besonders, wenn er anständig gekleidet erscheint und ein dicker Mensch ist, denn dicke Menschen sind selten schlecht.

Indirecten Schlechtigkeiten sind die Neuankommenden fast immer ausgesetzt. Man betrügt sie, wo man weiß und kann, berechnet ihnen ihr Gold zu niedrig, nimmt ihnen zu hohe Logispreise ab, quartiert sie in schlechtere Kammern ein, als sie beanspruchen können etc. Das will indessen Alles nicht viel sagen, denn weit schlimmer ist es, in gewisse Hände zu gerathen, die mit Menschenfleisch handeln. Solche Satanswirthe giebt es hier auch. Sie wissen den Einwanderer dahin zu bringen, daß er sich nicht sogleich nach Arbeit umsieht und sein Letztes bei ihnen verzehrt. Ist das Geld einmal zu Ende, so folgen diesem bald die Effecten, und nun redet der brave Wirth seinem Gast zu, hier oder dort Beschäftigung zu nehmen, einen Contract mit dem Süden abzuschließen, oder Aehnliches; beißt der Fisch an, so streicht der Wirth ein, was er für den Seelenverkauf erhält, und der Verkaufte geräth in das Verhältniß eines Sclaven oder Hundes. Schlimmer geht es natürlich noch mit den Mädchen.

Wie eigenthümlich gemeiner Art die Schwindeleien sind, welche man sich mit den „Grünen“ erlaubt, davon möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel mittheilen, das ich selbst erlebte:

Derselbe Schwede, welcher den Liverpooler Wirth durch das Treppenloch warf, bittet mich, mit ihm Hemden kaufen zu gehen. Wir begeben uns zu einem jüdischen Kleiderhändler in Greenwich-Street, unweit von unserem Boardinghause, und kaufen Hemden, die natürlich mit Papiergeld bezahlt wurden, weil man eben in der Kriegszeit kein anderes Geld hatte. Der Kleiderhändler nimmt die Note, betrachtet sie genau, durchsucht den sogenannten „Banknoten-Reporter“, um ihre Echtheit zu prüfen, und giebt endlich darauf heraus. Wir gehen und sind bereits wieder eine Stunde im Gasthof, als der Mann athemlos hereinstürzt und uns erklärt, die Note sei falsch und wir hätten ihn wissentlich mit derselben betrogen.

Meinen Schreck können Sie denken, denn es ist in Amerika durchaus keine Kleinigkeit beschuldigt zu werden, falsches Geld in Umlauf gesetzt zu haben. Indessen der Schwede war schon in Californien gewesen und kannte das.

„So,“ sagte er, „die Note ist also falsch?“

„Total falsch!“

„Zeigen Sie doch einmal!“

„Ich denke nicht daran, werde mich hüten die Note aus der Hand zu geben.“

„Dann sind Sie ein Schwindler!“

„Herr, ich lasse Sie arretiren!“

„Möchte wissen, mit welchem Rechte! Halten Sie mich für so verdammt grün, daß ich meine Noten nicht zeichne? Hier, meine Herren, ist mein Taschenbuch, sehen Sie nach, ob eine Note darin ist, die nicht meine Namenschiffre auf der Rückseite hat, und dann untersuchen Sie die Note, die der Schuft da hält. Außerdem habe ich Zeugen, daß der Kerl vorher eine Stunde im ‚Banknoten-Reporter‘ nachsah, ehe er das Geld nahm; ist dies falsch, so ist das jetzt seine Sache und ich will verdammt sein, wenn ich den Kerl jetzt nicht auf die Straße werfe, daß er die –hölzer bricht.“

Der Schwede erhob sich, aber der Mann der Speculation wartete ihn nicht ab, sondern entfernte sich schimpfend. Ohne die Vorsicht des Schweden wäre unsere Lage eine mißliche gewesen, denn der Spitzbube würde uns arretirt haben, wenn wir die von ihm untergeschobene falsche Banknote nicht durch eine echte eingelöst hätten.

[529] Wenn die Schwärme der Neuankommenden den Castle-Garden verlassen, kann man eigenthümliche Scenen sehen. Dieser oder jener findet zufällig einen Bekannten aus der Heimath, Andere werden von Verwandten erwartet und nun ist die Freude des Wiedersehens groß. Thränen, Küsse, ein Kreuzfeuer von Fragen, endlich ein Fortführen im Triumph. Die Meisten sind indessen nicht so glücklich; sie erwarten und finden Niemand, sie betreten vielleicht das neue Land, wie sie das alte verlassen haben, ohne Theilnahme von irgend einer Seite, aber immer mit Hoffnungen. Die Neueinwandernden können die versammelten Neugierigen nicht genauer und erstaunter betrachten, als die letzteren jene, nur sind die Gründe verschieden. Besonders werden die Mädchen begafft; sie sind eine gesuchte Waare, bei ihnen aber ist Vorsicht doppelt nothwendig. Man reißt sich förmlich um Dienstmädchen, doch sind die Stellungen derselben oft recht eigenthümliche, nicht näher zu erörternde. Am besten thun alleinstehende junge Mädchen, die eine ehrenhafte Carriere machen wollen, sich an die Frau im Castle-Garden zu wenden, welche von der Stadt, zum Behufe des Rathertheilens, engagirt ist. Männern wird es in Amerika viel schwieriger Stellungen zu finden, namentlich, wenn sie wählen wollen und lange mit dem Suchen warten. Hier muß man bekanntlich Alles angreifen, was einem unter die Finger kommt, denn Arbeit schändet hier durchaus nicht, und ich denke dadurch nicht schlechter geworden zu sein, daß ich Chorist, Cigarrenmacher, Rollenschreiber, Privatlehrer, Theatersecretär, Colporteur, Zeitungsübersetzer etc. gewesen bin.

Die Functionen der Castle-Garden-Beamten beziehen sich nicht allein auf den Schutz der Einwanderer, sondern sind auch wichtig für die Statistik, da keine polizeilichen Ausweise existiren und der Census nicht in der Art aufgenommen wird, wie bei uns. Durch sie wissen wir also, wie stark jeden Monat die Einwanderung ist und daß dieselbe von Jahr zu Jahr steigt, bis das alte Europa seine besten Kräfte an den jungen Vampyr Amerika abgegeben haben wird.




Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
6. Die Russen in Kissingen.[1]


Die diesjährige Saison war auch in Kissingen nicht reich an Gästen; dennoch hatten sich hier gegen dreihundert ausländische Familien, vornehmlich Engländer und Russen, eingefunden. Still flossen die Tage der Curzeit dahin und die meiste Abwechselung brachten noch die Thaten der Preußen. Alle waren überzeugt, daß der Krieg das stille Asyl der Kranken verschonen werde. Anfang Juni begannen die Durchzüge bairischer Truppen, welche, auf der Straße von Schweinfurt nach Fulda und Meiningen, bis zum 27. Juni (alles nach altem Kalenderstyl) fortdauerten. Auch der König von Baiern kam nach Kissingen zur Heerschau. Man sagte uns, daß diese Truppen nach Sachsen gingen, um sich dort mit den österreichischen zu vereinigen.

Am 23. Juni wurden wir durch die Bekanntmachung des Kissinger Bademagistrats, daß die Preußen Fulda (etwa zehn Stunden Fahrt von Kissingen) besetzt hätten, in einige Unruhe versetzt. Den ganzen Tag über sprengten Baiern durch die Stadt mit der Nachricht, daß die Preußen auf Kissingen losmarschirten. Wir gedachten die Stadt zu verlassen, aber es gab fast keine Pferde, so daß es nur sehr Wenigen gelang fortzukommen; gegen Abend machte übrigens der Magistrat durch Maueranschlag bekannt, daß das Gerücht von einem Herannahen der Preußen sich als grundlos herausgestellt habe, daß die Preußen nicht einmal in Fulda sich gezeigt hätten und daß der ganze Alarm nur in Folge eines unbedeutenden Scharmützels zwischen Baiern und Preußen an der Grenze entstanden sei. Alle fühlten sich beruhigt.

Am 26. Juni kamen bairische Ulanen und Artillerie nach Kissingen; bei ihnen befand sich u. A. Prinz Ludwig von Baiern, der sich bis zum Morgen des 27.in Kissingen aufhielt und sodann fortreiste, ohne daß man wußte, wohin. Hierauf verschwanden auch Ulanen und Artillerie. In der Stadt blieben nur anderthalbtausend Mann Fußtruppen und zwei Kanonen. Niemand wußte, wie viel bairische Truppen sich in der Umgegend befanden: es war dieses ein Kriegsgeheimniß. Still und ruhig ging der Morgen des 27. Juni vorüber; Niemand hatte eine Vorstellung davon, was sich für den andern Tag vorbereitete. Um vier Uhr Nachmittags saß die ganze Gesellschaft im Curgarten am Brunnen, in Erwartung der Musik, welche um sechs Uhr zu beginnen pflegte, oder musicirte im Cursaal, spielte Karten oder trank Kaffee. Plötzlich erscheinen bairische Soldaten und stellen sich in kleinen Abtheilungen an verschiedenen Stellen des Gartens auf. Anfangs dachten wir, es seien Truppen, die, auf dem Durchmarsch begriffen, in Kissingen Halt gemacht hätten und nun, wie Aehnliches fast alle Tage geschah, den Abend im Garten zubringen wollten; aber alsbald erfuhren wir, daß die preußischen Truppen sich Kissingen näherten und daß nach einigen Stunden in der Stadt selbst eine Schlacht geliefert werden sollte. Man denke sich den allgemeinen Schreck und die Verwirrung bei dieser unerwarteten Nachricht! Alle eilten ihren Wohnungen zu, um einzupacken, abzureisen, aber, o weh! es waren weder Pferde noch Wagen zu bekommen; es gab keine. Diejenigen Curgäste, deren Wohnungen sich jenseits des Flusses, der die Stadt in zwei Theile theilt, befanden, hatten nicht einmal die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, weil die Baiern die über den Fluß führenden kleinen Brücken abgebrochen und Barricaden gebaut hatten. Die Hauptbrücke hatte man befestigt, es standen Kanonen darauf; Niemand durfte hinüber. Man mußte in der Stadt bleiben, sich mit dem, was man anhatte und mit sich trug, begnügen und alle andern Effecten ihrem Schicksal überlassen. Noch immer tröstete der Bademagistrat die Curgäste, es werde keine Schlacht geben, es würden nur einige Vorsichtsmaßregeln für den Fall getroffen, daß irgend ein kleiner Trupp Preußen etwa plötzlich in die Stadt käme. Diejenigen, welche ihre Wohnungen erreichen durften, wurden gebeten, nur ganz ruhig dazubleiben, die andern, die obdachlos geworden waren, ersuchte man, sich ein Unterkommen in den Gasthöfen zu suchen.

Die Nacht verging ruhig. Ein, zwei Schüsse hörte man in den Bergen fallen – das war Alles. Um sieben Uhr Morgens am 28. Juni wußten die Baiern noch nicht, wo die Preußen waren und in welcher Entfernung oder Nähe. Um acht Uhr gedachte der Anführer der bairischen Truppen eine Abtheilung Soldaten zur Recognoscirung auszusenden (dies sagte mir der Badecommissar um acht ein Viertel Uhr selbst), aber nach Verlauf von fünf Minuten schon erschallten die ersten Schüsse. Von halb neun Uhr an begann das Schießen stärker zu werden; häufiger und häufiger erschallten Kanonensalven, der Donner der Geschütze krachte, die Kugeln pfiffen; es begann Granaten und Kartätschen zu hageln, mit einem Wort, es begann ein heißer Kampf. Ich unterlasse es, die Einzelnheiten des Gefechts zu erzählen, weil ich mit dem Kriegswesen durchaus nicht vertraut bin und auch, aufrichtig gesagt, bei dem Sausen der Kugeln keineswegs Lust verspürte, dem Verlaufe der Sache zu folgen; ich bemerke nur, daß der Kampf zuerst jenseits des Flusses stattfand, sodann auf der Brücke und endlich in der Stadt selbst und besonders im Curgarten. Auf dem Berge hinter der Stadt waren von den Baiern drei Batterien errichtet worden (wir wußten davon nichts) und achtzehn Geschütze schleuderten ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen über die ganze Stadt hinweg nach der Seite hin, von welcher die Preußen kamen, so daß in dem jenseit des Flusses gelegenen Theile der Stadt alle Häuser mit bairischen Mörsergeschossen wie besäet, einige stark beschädigt, ja halb zerstört wurden. In der Stadt selbst nahmen die Baiern viele Häuser ein, darunter mehrere, in denen sich Wohnungen von Curgästen befanden. Von hier aus ward aus den Fenstern geschossen. Der Kampf dauerte bis halb zwei Uhr. Da begann das Feuern in der Stadt aufzuhören. Die Baiern, total geschlagen, verließen die Stadt und die Preußen zogen als Sieger ein. Das Handgemenge dauerte übrigens auch noch hinter der Stadt, in den Bergen und auf der Straße nach Schweinfurt bis in die Nacht hinein fort.

Nicht etwa eine Abtheilung preußischer Truppen kam nach [530] Kissingen, sondern ein preußisches Heer von fünfzigtausend Mann, und eine Stunde vor Ankunft dieses Heeres wußten die Baiern noch nichts davon!

Um zwei Uhr entschlossen wir uns, unsere Schlupfwinkel zu verlassen, und wagten uns auf die Straße hinaus. O Gott, welch’ furchtbaren Anblick die Stadt darbot! Die Häuser von oben bis unten mit Kartätschen besäet, durchlöchert von Kugeln und Granaten, die hier und da selbst steinerne Wände gesprengt hatten. Auf den Straßen und im Garten eine Menge Todter und Verwundeter, Lachen von Blut, umhergeworfene Waffen, Patronen, Munition. Der Cursaal im Garten und die Galerien verwandelten sich in ein Lazareth und füllten sich im Verlauf weniger Minuten mit einigen hundert Verwundeten; unaufhörlich trug man sie von allen Seiten auf den Händen und auf Tragbahren herbei. Ein trübes, trauriges Bild!

Stattlich schritten die preußischen Truppen mit wehenden Fahnen, unter klingendem Spiel und Trommelwirbel durch die Stadt. Die Begleitung zur Musik lieferten die Geschützsalven und der Kanonendonner in den Bergen. Im Garten waren die Bivouaks der preußischen Kürassiere und Husaren. Dorthin brachte man auch die gefangenen Baiern, von denen ich eine Stunde nach der Schlacht bis vierhundert zählte; aber auch später noch den ganzen Tag hindurch und sogar noch am folgenden Tage wurden truppweise Gefangene eingebracht, deren man sich in der Umgegend der Stadt und auf den Straßen bemächtigt hatte. Bisher habe ich keine genauen Angaben über die Zahl der Todten und Verwundeten sammeln können. Soviel ich herausbrachte, liegen jetzt im Cursaale und in fünfzehn Privathäusern, welche in Lazarethe umgewandelt wurden, über fünfhundert Mann verwundeter Preußen und Baiern. Ueber dreihundert Todte wurden auf dem Kissinger Friedhofe bestattet, darunter ein Major aus Lippe-Detmold und zwei preußische Officiere. Man sagt, es seien im Ganzen beiderseits zweitausend Todte und Verwundete.

Niemand von den Russen oder Ausländern ist, Gott Lob, getödtet oder auch nur verwundet worden. Von den Bewohnern des Ortes ist der Provisor einer hiesigen Apotheke zum Opfer gefallen, wie man sagt, ein Preuße. Während des Gefechts war er im Laboratorium und bereitete eine Arzenei. Eine baierische Granate schlug in die Wand des Hauses ein, durch diese hindurch und ein Splitter traf den Unglücklichen gerade in die Brust.

Den ganzen Rest des 28., sodann am 29. und 30. Juni zogen fortwährend preußische Truppen über Kissingen nach Schweinfurt und nach Gmünden. Heute, am 1. Juli, ist die Stadt ruhig, nur giebt es keinen Telegraphen, keine Post, keine Pferde. Auch macht sich ein bedeutender Mangel an Lebensmitteln bemerklich; es giebt kein Brod, keinen Wein, kein Bier, keinen Kaffee, keinen Tabak; Alles hat das Heer aufgezehrt.

Zur Ehre der preußischen Truppen muß man bekennen, daß Niemand unter den fremden Curgästen irgendwie gekränkt wurde. Es ist keinerlei Unordnung oder Gewaltthat vorgekommen. Die Privathäuser blieben unangetastet; nur Küchen und Keller wurden völlig ausgeleert. Eine Ausnahme machte das „Hotel de Bavière“, welches gänzlich zerstört wurde; alles Glas, alle Spiegel zerbrochen, alle Vorräthe vernichtet, das Hausgeräth demolirt, Wäsche und Kleider verschleppt und verdorben. Als Ursache dieser Verwüstung, welche am Morgen nach der Schlacht angerichtet wurde, giebt man den Umstand an, daß, während preußische Soldaten in dem Hause einquartiert waren, von Seiten des Wirths und seiner Bedienung (Baiern) drei Schüsse gegen die Preußen abgefeuert worden sein sollen.

Ich gehe jetzt dazu über, zu erzählen, wie Gott an diesem schrecklichen Morgen uns beschützte und was sich mit einigen der russischen Curgäste begeben hat. Ich will von mir anfangen. Mit meiner Familie war ich in der Zahl derjenigen, welche nicht in ihre Wohnung gelangt waren, ihre Habe dem Schicksal überlassen und in einem Gasthofe ein Unterkommen suchen mußten. Ich wählte das Hotel zum Curhause gegenüber dem Curgarten, in der Hoffnung, daß die auf demselben wehenden weißen und mit rothen Kreuzen versehenen Flaggen die Unantastbarkeit des Hauses verbürgen würden. Die Fenster meiner Stube waren der Richtung, wo die Schlacht stattfand, entgegengesetzt; so hielt ich uns für geborgen. In demselben Hause befand sich die Familie eines russischen Gutsbesitzers, die kranke Frau eines russischen Consuls, ein Kosaken-Stabsofficier mit seiner Frau, einige Beamte aus Petersburg und fünf oder sechs englische Familien. Anfangs saßen wir bei geschlossenen Läden in unsern Stuben, als aber die Kugeln in die Laden einzuschlagen begannen, da gingen wir in die Corridore inmitten des Hauses. Die Frauen und Kinder hielten sich in der Nähe der Hauptmauern. Die Männer gingen in den Corridoren umher und stiegen von Zeit zu Zeit auf den Boden, um aus den Bodenfensterchen hinauszuschauen. Man muß dem Muthe und der Geistesgegenwart aller Damen in der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren lassen: keiner wurde schlimm, keine ward ohnmächtig. Selbst die Kranke, welche aus ihrer Stube in einem Bette herausgebracht worden, weil eine Kugel neben ihr auf den Boden gefallen war, hielt sich so tapfer, wie ihre Krankheit es zuließ. Die Kinder weinten nicht, sondern saßen still und zupften Charpie. Und doch war Grund zur Aengstlichkeit vorhanden: oft klirrten in den Stuben die Scheiben, von Kugeln zertrümmert; noch öfter hörte man das Pfeifen und Sausen der Granaten und Kanonenkugeln, die über das Haus hinwegflogen. Vor unsern Augen flog eine Kugel in ein Fenster des Corridors, in welchem wir uns befanden, zu uns herein; eine andere Kugel pfiff, nachdem sie ein Fenster zertrümmert hatte, so dicht an einer Dame vorüber, daß diese eine leichte Contusion in der Hand verspürte. Uebrigens traf keine Kanonenladung unser Haus. Ich wage es nicht, zu entscheiden, ob dieses den an dem Hause angebrachten Flaggen oder einfach dem Zufalle zuzuschreiben ist. Wir verließen unsern Zufluchtsort nicht bis zum Ende des Gefechts. Die ersten Preußen sahen wir bereits als Sieger in der Küche des Gasthofs, wie sie eifrig der Vertilgung unseres Mittagessens oblagen.

Nicht so sicher war die Lage, in der sich andere unserer Landsleute befanden. Hier folgen ihre eigenen Berichte von ihren Erlebnissen an diesem Morgen.

Der Generalmajor Preradowitsch war mit seiner Gemahlin in dem jenseit des Flusses gelegenen Theile der Stadt geblieben und zwar in dem Hotel Couronne de Rose, das hart an der Straße steht, auf welcher die Preußen daherzogen. Unglücklicherweise stand dieser Gasthof gerade gegenüber den auf den Bergen errichteten baierischen Batterien, so daß er dem Feuer der letztern in höchstem Grade ausgesetzt war. Einhundert dreiundsiebenzig Kanonenschüsse schlugen in das Haus ein, welches mit Kanonenkugeln, Granaten und Kartätschen förmlich besäet war. Der General hielt sich mit seiner Gemahlin in einem nach der andern Seite des Hauses gelegenen Zimmer auf, welches durch eine Capitalmauer geschützt war. Die vorderen Stuben erscheinen ganz bunt von Kugeln und Kartätschen. Einige Granaten schlugen durch die Wände des Hauses und platzten in den Corridoren. Granatensplitter fielen in die Stube, wo sich der Generalmajor befand, zum Glück, ohne ihn oder seine Gemahlin zu verletzen. Sogleich beim Beginn des Kampfes nahmen die Preußen seine Wohnung ein und schossen vom Balcon oder aus den Fenstern.

Ein Gutsbesitzer aus dem Wladimirschen, Herr Protassjew, wohnte mit Frau und Tochter im „Hotel Sanner“, dem letzten Hause an der Straße nach Schweinfurt. Als das Treffen begann, nahm Herr Protassjew gerade ein Bad; eine Kugel flog, als er aus der Wanne stieg, nahe an ihm vorüber, nachdem sie das Fenster zertrümmert hatte. Die Fenster der Wohnung waren nach der Straße gerichtet, auf welcher der Kampf wogte. Herr Protassjew nahm seine Zuflucht zur Nachbarswohnung. Nachdem die Preußen ihre Gegner von der Brücke verdrängt hatten, nahmen sie die Wohnung des Herrn Protassjew ein und schossen aus den Fenstern des Schlafzimmers. Seine Wohnung ist an vielen Stellen beschädigt; in dem Schlafzimmer ward ein Baier getödtet; dicht am Bett ist eine große Blutlache.

Der Sänger unserer russischen Opernbühne, Herr Komissarshewskij, der mit seiner Frau und seinem kleinen Kinde vor wenigen Tagen erst nach Kissingen gekommen war, wohnte inmitten der Stadt, am Markt, im „Hotel Wittelsbach“. Der Gastwirth hatte seine Gäste in dem Kellergeschoß seines Hauses geborgen, wo sie vor Kugeln und Kartätschen sicher waren. Als die Preußen sich der Stadt bemächtigt hatten, hörte man plötzlich laute Schläge an die verschlossene Thür und den Befehl zu öffnen. Der erschrockene Wirth hatte sich versteckt. Die Schläge wurden mit der Drohung wiederholt, daß, wenn man nicht öffnete, die Thür erbrochen und alle in dem Raume verborgenen Personen getödtet werden würden. Herr Komissarshewskij entschloß sich, selbst die Thür zu öffnen. Sobald dies geschehen war, stürzten die Preußen herein und warfen [531] sich mit Scheltworten auf Herrn Komissarshewskij. Einer der Soldaten schlug ihn mit dem Flintenkolben auf die Schulter. Herr Komissarshewskij sagte, er sei ein Ausländer, Russe; wo der Gastwirth sei, wisse man nicht. Die Preußen glaubten ihm nicht; er zeigte seinen Paß vor, den sie zerrissen und fortwarfen. Die Soldaten schleppten Herrn Komissarshewskij mit gefälltem Bajonnet in die Wohnungen des Hauses. Oben befahl man ihm, die Thüren der Wohnungen zu öffnen. „Ich habe keine Schlüssel,“ sagte Herr Komissarshewskij; „ich habe schon erklärt, daß ich nicht der Wirth bin, brecht die Thür ein.“ Mit diesen Worten stieß er selbst mit dem Fuße die Thür ein. Die Preußen traten ein und untersuchten alle Wohnungen des Hauses. Sodann stiegen sie bis zu den Dachkammern hinauf. An der Thür des Bodenraumes richteten sie ihre Flinten gegen Herrn Komissarshewskij und sagten ihm: „Finden wir auch nur einen einzigen Baiern, so tödten wir ihn und Dich.“ Zum Glück für Herrn Komissarshewskij war Niemand im Bodenraume, die Preußen beruhigten sich und sagten zu der Gemahlin des Sängers, daß sie demselben kein Leid hätten zufügen wollen, daß sie aber überzeugt gewesen seien, in diesem Hause seien Baiern verborgen. Man vergegenwärtige sich die Lage der Dame, während man ihren Gemahl im Hause umherführte!

Ich habe einige Fälle angeführt, um zu zeigen, daß die baierischen Behörden auch nicht im Entferntesten auf unsere Sicherheit bedacht waren, und wenn Niemand von uns getödtet oder verwundet wurde, so verdanken wir dies lediglich dem Zufall und der Vorsehung.

Gegenwärtig kommen alle die erschreckten, verwirrten Ausländer allmählich zu sich. Einige haben Mittel und Wege gefunden, die Stadt zu verlassen. Andere – darunter auch ich – nahmen die unterbrochene Wassercur wieder auf. Fast alle Damen haben sich in barmherzige Schwestern verwandelt und sind vom Morgen bis zum Abend mit der Pflege der Verwundeten beschäftigt, indem sie den Wundärzten hülfreich an die Hand gehen, Verbände anlegen und diejenigen speisen und tränken, die solcher Hülfe bedürfen. Aus den Häusern wird Wäsche, Bettzeug, Essen und Trinken gebracht.

Ich bin, wie erwähnt, durchaus nicht vertraut mit dem Militärwesen und maße mir nicht an, zu beurtheilen, in welchem Grade die Baiern nöthig hatten, gerade Kissingen zum Schlachtfelde zu wählen; aber im Namen der Nächstenliebe wage ich es, die Frage zu stellen: haben die bairischen Behörden uns gegenüber recht gehandelt, indem sie unser Leben, das Leben unserer Frauen und Kinder einer solchen Gefahr aussetzten? Hatten die Baiern einmal den Entschluß gefaßt, Kissingen zum Kampfplatze zu bestimmen, warum haben sie uns nicht davon in Kenntniß gesetzt und uns aufgefordert, abzureisen oder in der Umgegend in sichern Orten eine Zuflucht zu suchen? Warum täuschte man uns bis zum letzten Augenblick mit der Angabe, es sei keine Gefahr; wir sollten unbesorgt sein? Als die Baiern auf den Bergen heimlich drei Batterien mit achtzehn Geschützen auffuhren, deren Mündungen gegen die Häuser gerichtet waren, konnten sie da wohl glauben, daß ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen nur Preußen treffen würden?

Führen die Baiern mit den Preußen Krieg, so müssen nur diese und jene unter den Schrecknissen des Krieges leiden; macht man aber friedliche Ausländer, die in eine nicht im Kriegszustand befindliche Stadt, sondern an einen Curort kamen, zu unfreiwilligen Theilhabern an diesen Schrecknissen des Krieges, so ist dieses eine directe Verletzung der internationalen Beziehungen. War die Stadt in Gefahr, so hätte man sogleich es verkünden, die Cursaison schließen, die Kranken zur Abreise auffordern sollen, statt so ohne alle Umstände zu verfahren. Oder haben vielleicht die Baiern auf die Anwesenheit von Ausländern in der Stadt als auf ein Mittel zum Erfolg gerechnet, in der Hoffnung, daß die Preußen eine von Ausländern angefüllte Stadt nicht zu beschießen wagen würden?

In der That muß man sich bei der ungeheuren Artillerie, über welche die Preußen verfügten, darüber wundern, daß sie die Stadt nicht zerstörten, daß sie dieselbe ganz unversehrt ließen. Es fand sich keine einzige preußische Kugel, keine einzige preußische Kartätsche in der Stadt!

Die Baiern werden vielleicht ihre Handlungsweise mit der Plötzlichkeit des Ueberfalles zu rechtfertigen suchen. Es ist nicht wahr: ein plötzlicher Ueberfall kann von einer kleinen fliegenden Colonne gemacht werden; von der Annäherung eines Heeres von fünfzigtausend Mann nicht vorher unterrichtet zu sein, ist unverzeihlich und undenkbar. Oder führen die Baiern mit verbundenen Augen Krieg? Wozu aber die Batterien? Wozu achtzehntausend Mann Truppen? Also sie wußten davon und rüsteten sich.




Krokodile in München.


Die große Zahl von Wandergästen, die sich in friedlichen Sommern der bairischen Hauptstadt zuwenden, wird nicht blos von den landschaftlichen Reizen der nahen Alpen und des Oberlandes angezogen, auch die Stadt selbst lockt gar viele Besucher herbei, denn durch König Ludwig den Ersten ist dort bekanntlich eine Menge merkwürdiger Bauten und Kunstschätze aller Art geschaffen und angesammelt worden, welche gesehen zu haben zu den Cardinalpflichten jedes Touristen gehört. Dieser Fürst hatte seine Neigung mit großem Uebergewichte den bildenden Künsten zugewendet, wie er denn durch die Berufung von Architekten, Malern und Bildhauern recht eigentlich der Gründer einer neuen Kunstschule geworden ist. Die Wissenschaften hatten sich einer solchen Begünstigung nicht zu erfreuen; mindestens weiß man nicht viel mehr von solcher Förderung zu erzählen, als daß er in jüngern Jahren einem deutschen Dichter einen Jahrgehalt zu verleihen beschloß, lange Zeit zwischen Heine und Platen schwankend und endlich für Letzteren sich entscheidend.

Es ist eine nicht seltene Erscheinung in der Geschichte der Fürsten, daß der Nachfolger, in der Absicht, seiner Thätigkeit ein neues Feld zu schaffen, gerade das Gebiet bebaut, das der Vorgänger brach gelassen; so war es auch, als König Maximilian 1848 auf den sturmumbrandeten Thron stieg und, von dem Drange seiner persönlichen Neigungen und Studien geleitet, sich bald als Schirmherrn der Gelehrten und Dichter ankündigte, als den er sein ganzes schönes, nur zu kurzes Leben hindurch sich bewährte. Für alle Fächer wurden die ausgezeichnetsten Männer der Wissenschaft berufen und bald hatte sein königliches Wort auch die meisten der gefeiertesten Dichternamen der Gegenwart um sich versammelt, sicher in der Hauptabsicht, die Dichtkunst selber zu fördern, eine eigene neue Dichterschule entstehen zu lassen, wie sein Vater eine Malerschule sich hatte bilden sehen und wie er selbst im Gebiete der Architektur sich mit der Lieblingsidee trug, einen neuen selbstständigen Baustyl hervorrufen zu können.

Es war keine sehr ebene Bahn, welche die Dichter in München zu wandeln hatten; wenn aber auf ihr mehr der Dornen lagen, als eben nothwendig gewesen wären, so mag die Schuld sich wohl auf beide Seiten vertheilen: auf die eine, weil sie den Wildgarten, der zu einem Park umgeschaffen werden sollte, etwas sehr geringschätzig betrachten mochte, auf die andere, weil durch den Charakter des bairischen Volksstammes – sei es zu Lob oder Vorwurf – unleugbar ein starker nativistischer Zug geht, der ihn zurückhaltend und abwehrend gegen alles Fremde macht.

In wie fern der Gedanke des Königs, der mit seinem Volke Frieden haben wollte und hatte, verwirklicht ward und eine Dichterschule entstand, läßt das Bild von Th. Pixis, das die Gartenlaube diesmal bringt, erkennen, das Bild der in München von den „Berufenen“ (so heißen sie in der Volkssprache noch immer) gegründeten Dichtergesellschaft der „Krokodile“ oder „vom Krokodil“. Was dieser Name eigentlich zu bedeuten hat, ist wohl schwer zu ermitteln; die scherzhafte Veranlassung dazu soll ein kleines Gedicht von Hermann Lingg gegeben haben, also lautend:

Im heil’gen Teich zu Singapur,
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämlicher Natur
Und kaut an einem Lotusstiel.

Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch wenn ein schöner Tag ist, lacht’s!

Wahrscheinlicher liegt eine geheime Hindeutung auf Aegypten als die Urstätte aller menschlichen Cultur zu Grunde, denn besser [532] Eingeweihte behaupten, die Gesellschaft heiße eigentlich „der heilige Teich“ und die Mitglieder sollen allerlei befremdliche Namen von mythischer Bedeutung führen, wie Ibis, Ichneumon oder Scarabäus; Emanuel Geibel selbst heißt das Ur-Krokodil. Bei den Versammlungen der Freunde steht eine Pyramide auf dem Tisch, welche zur Aufbewahrung von Schriften dient; nicht minder das kleine Steinbild eines Krokodils auf einem mit Bilderschrift-Zeichen bedeckten niedrigen Sockel. Die Gesellschaft besitzt aber auch ein wirkliches ausgestopftes Krokodil, das Geibel einmal als Weihgeschenk von größerer Reise mitgebracht haben soll, welches indeß seines Umfangs wegen unhandlich zu haben ist und daher nur bei ganz feierlichen Anlässen zum Vorschein kommt.

Unser Maler stellt den Augenblick dar, wie dies Krokodil zum ersten Male in die Gesellschaft gebracht und feierlich von ihr empfangen wird. Seitdem ist es noch bei mancher festlichen Gelegenheit erschienen, wir versetzen uns in Gedanken aber in eine der gewöhnlichen Versammlungen, die früher nur ein paar Abendstunden währten und erst in neuerer Zeit zu längerer Dauer erstreckt worden sind. In einer schmalen Stube an einem noch schmäleren, langen Tische sitzt eine Reihe verschiedener Gestalten, schwach beleuchtet, denn das Gas brennt schlecht und läßt die Züge aller der braungelockten, silberhaarigen und kahlen Häupter nicht recht erkennen. Der vermischte Duft verschiedener Glimmstengel wölkt sich empor und durch den Rauch tönt die Stimme des Vorlesenden, welchen eben die Reihe traf, ein dichterisches Erzeugniß zur Besprechung vorzutragen; wie eine magische Begleitung klappern aus dem anstoßenden Zimmer die Billardbälle darein. Eben hat er geendet und neigt sich auf seine Handschrift herab, als ob er darin blätterte, und einen Augenblick waltet tiefes Schweigen, wie wenn die Geschworenen in den Saal treten, einen wichtigen Wahrspruch zu verkünden. Jetzt erhebt Geibel die sonore Stimme und macht eine Einwendung gegen den Grundgedanken des Gedichts, welcher ihm nicht besonders neu und innerlich wahr erscheint. Das spinnt sich in das Gebiet der Psychologie hinüber, und weder der dichterische Philosoph Carrière, noch der philosophische Dichter Melchior Meyr lassen sich die Gelegenheit entgehen, die Berechtigung des zum Liede gewordenen Gefühls zu untersuchen; das Gespräch will sich in’s Breite verlieren und zu rechter Zeit wendet Paul Heyse den jugendlichen Apollokopf nach dem geängstigten Poeten. Er fragt nicht nach dem Beweise der Berechtigung, er sucht diese nur im Gedichte selbst, in der Art, wie der Gedanke zur Form geworden, und findet hierin den Fehler des Gedichts. „Es ist nicht herausgekommen, wie es empfangen und empfunden ward,“ sagt er mit feinem Lächeln; der witzige Hans Hopfen fällt ihm in’s Wort und meint, es sei eben gar nichts herausgekommen, das sei lediglich gereimte Prosa. Mit noch gröberem Geschütze rückt der Schweizer Leuthold in’s Gefecht; er untersucht die Echtheit der Reime, die grammatische Richtigkeit der Wendungen mit unerbittlicher Sonde und bedauert, daß der „wackere Freund“ diesmal mit einem so gänzlich verfehlten Producte sich blamirt. Herman Lingg neigt das sinnende Haupt in nachdenklichem Schweigen vorwärts, und sein Nachbar und Landsmann Herman Schmid, in Allem dem richtigen Maße nachstrebend, flüstert ihm ein Wort zu, wie allzu scharf schartig mache und man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten solle. Der Vorleser wählt den einzig möglichen Weg: er retirirt; er will das Gesagte auf sich wirken lassen und das darnach umgearbeitete Unglücksgedicht später wiederbringen.

Ein Anderer harrt schon auf das Zeichen zu lesen; ein Gast, ein junger Mann, den ein zu wohlwollender Gönner eingeführt, damit er seine Sporen verdiene. Er liest; Schweigen ist die Antwort auf das kurze Liebesgedicht von der Art, wie sie nach dem Dutzend gemacht werden. Der Leser stutzt, es überläuft ihn kalt, aber er nimmt sich zusammen und liest noch eins, und siehe da, wie bei Klopstock, „die Stille ward stiller“. Jetzt wird dem Unglücklichen siedend heiß, das dritte Liebesgedicht geht vom Stapel, aber nicht mit besserem Erfolg. Dem Vorleser bricht der Angstschweiß aus, er liest noch einmal und siehe da, ein erträgliches Bild nimmt den Alp von allen Gemüthern, denn es macht doch möglich, ohne ästhetische Felonie ein „Recht hübsch“ oder „Erinnert an Heine“ hinzuwerfen. Der Vorleser, der das für Lob nimmt, ist überglücklich, und im entscheidenden Augenblick dröhnt der Glockenschlag der achten Stunde vom Thurme Sanct Peter’s; die Krokodile müssen fort, denn das Local gehört von dieser Stunde an einer Gesellschaft friedlicher Bürgerschützen, deren bunte Scheiben an der Wand hängen und deren ungeduldige Stimmen schon im Hausgange laut werden. Die Sitzung ist für diesmal zu Ende; man scheidet mit freundlichem Gruß und freut sich des Wiedersehens am nächsten Donnerstag, an welchem auch Bodenstedt zu erscheinen versprochen habe und Wilhelm Hertz eines der altfranzösischen Lays von Marie de France vortragen werde, die er so meisterlich zu übertragen versteht.

Doch es ist wohl an der Zeit, zu Pixis und seinem Bilde zurückzukehren und die Gruppen und Köpfe desselben zu deuten.

Die Hauptfigur des Ganzen mit der hohen Stirn ist Emanuel Geibel, ein Lieblingssänger deutscher Nation, dessen Lieder von den ersten süßduftenden Jugendblüthen an bis zu den reifen Früchten der Mannstage in Aller Hand und in Aller Mund sind und dessen Tragödie „Brunhild“ ihn den ersten Dramatikern beigesellt. Er nimmt mit Recht die Mitte ein, denn er ist der Gründer und Träger des Ganzen, er und sein neben ihm stehender Freund Paul Heyse, dessen Novellen mit ihren prickelnden Conflicten in ihrer reizenden Ausführung kleinen Alabaster-Bildwerken gleichen und der mit seinen ebenso dichterischen wie formschönen „Hermen“ und den andern versificirten Erzählungen, wie „die Braut von Cypern“, „Raphael“ etc., in jedem gebildeten Hause einen Ehrenplatz besitzt, gleichzeitig aber mit seinen Dramen, wie „Hans Lange“, „Elisabeth Charlotte“ u. a., auf der deutschen Bühne sich eingebürgert hat. Der Mann seitwärts im Vorgrunde, der behaglich in den Fauteuil gelehnt seine Pfeife schmaucht, ist Friedrich Bodenstedt, der Schöpfer des unsterblichen Mirza Schaffy, und der zweite neben ihm, eine feine, geschmeidige Gestalt, ist Moritz Carrière, der berühmte Aesthetiker und Religionsphilosoph, der als Kritiker und Lehrer eingreifende Wirksamkeit ausübt. Das sind sie, welche den Kern bilden, um den die Krystalle anschießen, die wir weiter mustern wollen.

Da ist vor Allen Hermann Lingg, den Geibel einst in die Literatur eingeführt und der seither sich neben seinem Meister ebenbürtig niedergelassen und sich durch seine wahrhaft eigenthümlichen Dichtungen voll tiefer Gedanken, glühender Farbenpracht und ergreifender Plasticität der Bilder in die ersten Reihen gestellt hat. Gelänge es ihm, das große Gedicht, die „Völkerwanderung“, so zu beenden, wie sie als Torso jetzt vorliegt, so könnte sie mit den größten Epopöen aller Zeiten wetteifern. Neben ihm (unter dem Krokodile) sitzt Melchior Meyr, der Verfasser der berühmten Dorfgeschichten aus dem Ries, mehrerer achtungswerthen Dramen und einiger philosophischer Werke wie „Gott und sein Reich“, worin er den alten metaphysischen Zwiespalt der Welt in geistvoller Weise zu lösen bestrebt ist. Auch seine Romane („Vier Deutsche“, „Ewige Liebe“) gehören dieser philosophirenden Richtung an. Ganz anders geartet ist der behäbige Herr vor dem einzigen Officier im Bilde. Das ist Herman Schmid, der Gartenlaube ein gar lieber Freund, der Dichter der Dorfgeschichten aus dem bairischen Gebirge, die ihn, wie „die Huberbäurin“, „Almenrausch und Edelweiß“, „das Schwalberl“, „das Wichtel“ etc., in kurzer Frist zu einem der beliebtesten und gefeiertesten Autoren gemacht haben. Auch in seinen geschichtlichen Romanen, „der Kanzler von Tyrol“, „Mein Eden“, „Im Morgenroth“, geht er unverkennbar darauf aus, ein Volksschriftsteller in der edelsten Bedeutung des Wortes zu sein und das Volk mit seiner eigenen Begeisterung für Freiheit und Recht zu erfüllen. Seine bisherigen dramatischen Leistungen haben trotz einiger Erfolge, wie „Columbus“, ein durchschlagendes Talent in dieser Richtung nicht bewiesen.

Hinter dem Tische mit der Pyramide sitzt Julius Große, der bekannte Epiker, der in seinen versificirten Erzählungen „das Mädchen von Capri“, „Gundel von Königssee“, in seinen Dramen, zumal in seinem jüngst erschienenen „der letzte Grieche“, Kraft des Gedankens und Fülle der Empfindung mit vollster Formbeherrschung verbindet und auch in der Novelle Tüchtiges geschaffen hat. Der Träger des Krokodils ist der Schwabe Wilhelm Hertz, der Dichter von „Lancelot und Ginevra“ und „Hugdietrich’s Brautfahrt“, sowie einer Sammlung von Gedichten, sämmtlich von reizender Frische und gesunder Ursprünglichkeit, von echt Uhland’schem Geiste durchweht. Der zweite Träger des Krokodils ist Hans Hopfen, der derzeitige Secretär der Schillerstiftung, jetzt in Wien, Verfasser des Romans „Peregretta“, ein Lyriker

[533]

Braun. Mai. Heigel. Scheffel. Hopfen. Wilhelm Hertz.     Im Krokodil. Originalzeichnung von Th. Pixis.     Leuthold. Dahn. Carrière.     Bodenstedt.
Köppel. Lingg. Melchior Meyr.     H. Schmid.     Reder. P. Heyse. Geibel.     Zeising. Große.     

[534] voll seltenen Wohllauts und bei tiefer Empfindung mit einem sarkastischen Zuge, der im besten Sinne an Heine gemahnt. Hinter Hopfen kommt Köppel, ein Landsmann und begabter Schüler von Hertz, neben diesem Victor Scheffel, der Schöpfer des „Ekkehard“ und des „Trompeters von Seckingen“, und an dessen Seite Carl Heigel, der die Tragödie „Marfa“ geschrieben, seither aber unter die Modejournale gegangen und Mitredacteur des – Bazar geworden ist. Der Officier mit dem Glase in der Hand ist Heinrich Reder, der Dichter von reizenden Liedern, deren die „Fliegenden Blätter“ eine Auswahl brachten, und Verfasser des trefflichen Reisehandbuchs „der Baierwald“. Hinter Lingg werden noch ein paar Köpfe sichtbar; der Reisende und Alterthumsforscher Julius Braun und der Gerichts-Rath A. Mai, ein höchst bedeutender Dramatiker, Verfasser von „Cinqmars“, „Zenobia“, der aber die tragische Muse über den Schwurgerichts-Acten etwas zu negligiren scheint.

Zwischen Große und den Ellbogen Geibel’s wird das ernste Antlitz des bekannten Aesthetikers und Romanschriftstellers Adolph Zeising („Hausse und Baisse“, „Joppe und Crinoline“, „Gunst und Kunst“) sichtbar; der scharfgeschnittene Kopf über ihm gehört Felix Dahn, Professor der Rechte und Dichter und in beiden Hinsichten durch sein Geschichtswerk „die Könige der Germanen“ und durch Dichtungen wie „Harold und Theana“ wohl bewährt. Auf seine Schulter stützt sich Leuthold, der Schweizer, der mit Geibel „fünf Bücher französischer Lyrik“ herausgegeben und sich als Meister in der Kunst des Uebersetzens, richtiger des Nachdichtens erprobt hat. Die Gruppe rechts besteht aus den musikalischen Mitgliedern der Gesellschaft, dem trefflichen Componisten Robert von Hornstein; Nohl, dem Biographen von Mozart und Beethoven; dem Musikkritiker Grandauer mit Oscar Horn, einem hoffnungsvollen Dichtertalente. Das sind die Krokodile so ziemlich alle; mit Ausnahme einiger, die jetzt anderwärts hausen, wie der Kunsthistoriker Lützow u. a.

Man sieht, es ist eine ansehnliche Zahl, die sich zusammengeschaart hat, und man kann in allen Ehren von einer Münchner Dichter-Schule sprechen und behaupten, daß sie, wie einst der Göttinger Hainbund, die schlesische oder schwäbische Dichtergruppe, eine bestimmte Stellung in der Literaturgeschichte einnehmen werde. Fragt man nach deren gemeinsamem Kennzeichen, so ist ein solches unschwer zu finden und giebt sich Jedem kund, der das vor ein paar Jahren erschienene „Münchner Dichterbuch“ aufmerksam durchblättert. In der Stoffwahl ist es ein idealer Aufschwung aus der unruhigen Bewegung der Zeit und des Lebens, der alles Stürmende und Drängende wie etwas Unlauteres von sich abhält; in der Form ist es das Streben nach durchaus gleichgehämmerter Glätte, Correctheit und Anmuth; im Ganzen eine aristokratisirende oder akademische Richtung, die in der Classicität wurzelnd zu ihr wieder zurückstrebt. Bei der größten Zahl der Mitglieder wird diese Charakteristik auf’s Haar zutreffen. Ist es Seligen vergönnt, die Werke ihres Lebens aus der Vogelperspective des Jenseits zu überschauen, so wird König Maximilian befriedigt hernieder lächeln. Wird auch nach seinem raschen und verfrühten Heimgang sein Gebäude mit mancher andern seiner Schöpfungen achtlos dem Verfalle überlassen und durch eine ebenso entschiedene musikalische Richtung verdrängt, so ist doch das Geleistete ein schönes Monument für ihn; ein schöneres lebt ihm im Herzen Aller, die sich zum „heiligen Teich“ bekennen.

Niemand ahnt, was die Zukunft bringt; Eines aber ist gewiß: was nach dem Unvergänglichen ringt und es dadurch in sich aufnimmt, das bleibt!




Wie die Natur Wunden heilt, die der Mensch schlug.


Im Kriege bestreben sich die Krieger einander entweder in der Nähe oder aus der Ferne todt zu machen; das Erstere bringen sie durch die sogenannten Nahwaffen (wie durch Hieb-, Stich- und Stoßwaffen), das Letztere durch Feuerwaffen fertig, welche letzteren entweder gleich eine größere Anzahl von Menschen wegräumen (wie das grobe oder schwere Geschütz) oder blos Einzelne unschädlich machen (wie das kleine Gewehr, die Handfeuerwaffen). Wer also von den Kriegern nicht sofort auf diese oder jene Weise um’s Leben kommt, sondern nur verwundet wird, kann eine Schuß-, Hieb- oder Stichwunde davontragen, abgesehen davon, daß er noch aus verschiedene Weise gequetscht, geschlagen, gestoßen, geschleift, überfahren, zertreten, gezerrt, verbrannt und überhaupt verstümmelt werden kann.

Die Hiebwunden, welche gewöhnlich nur bei Cavalerieattaquen oder bei Verfolgung der Infanterie durch die feindliche Cavalerie geschlagen werden, kommen im Kriege am wenigsten vor und sind auch am ungefährlichsten, so daß der einzelne Mann eine ziemliche Anzahl davon, zumal am Köpfe und Gesicht, ertragen kann. In der Schlacht von Balaklava erhielt z. B. ein Soldat sechsunddreißig Hieb- und Stichwunden und ein Officier bekam neben einer Schußwunde durch das Bein noch siebenzehn Hieb- und Stichwunden; aber Beide genasen. Ist der Arzt zur Hand und kann die Hiebwundflächen bald vereinigen (zusammennähen), dann heilen diese Wunden in wenigen Tagen. Solche Wunden sind an den gleichmäßig scharfen Rändern und den glatten Durchschnittsflächen mit unveränderten Geweben kenntlich; sie klaffen mehr oder weniger und können auch penetrirende (in eine der drei großen Körperhöhlen eindringende) sein. Bei der schnellen Heilung (per primam intentionem) der Schnitt- und Hiebwunden gehen Veränderungen an den Wundflächen vor, wodurch letztere gewissermaßen aufgelöst werden und in eins verschmelzen, wie etwa zwei Enden Siegellack durch Erwärmung flüssig gemacht und dann zusammengefügt werden.

Die Stichwunden sehen sehr oft nicht so gefährlich aus, wie sie sind, denn sie stellen meist nur kleine, unregelmäßige Wundöffnungen in der gesunden Haut dar, in deren Tiefe aber oft schwer oder gar nicht zu ergründende lebensgefährliche Zerstörungen edler Organe verborgen sind und sich tödtliche Blutungen entwickeln. Oberflächliche Stichwunden heilen meist schnell, zumal wenn sie mit scharfen Instrumenten gemacht wurden.

Schußwunden, die sind es, an welchen die meisten Verwundeten zu Grunde gehen und zwar in den neueren Kriegen in weit größerer Menge, als früher. Die Verbesserung und Vervollkommnung der Schußwaffen hat nämlich die Zerstörungsfähigkeit derselben bedeutend gesteigert und dadurch den Krieg für die Menschenleben immer verderblicher und vernichtender gemacht. Die neueren Schußwaffen „halten besser Stich und haben eine rasantere Ebene, als die alten“, sagt der Techniker; sie wirken mit größerer Gewalt und Schnelligkeit auf weitere Entfernung, treffen sicherer und manche können, indem sie weit schneller (und zwar von hinten) geladen werden, auch in sehr kurzer Zeit weit mehr Geschosse ausschicken, als die von vorn zu ladenden, abgesehen davon, daß sie auch leichter und handlicher geworden sind. Die hauptsächlichste Verbesserung der Schußwaffen besteht nun aber darin, daß nicht mehr aus einem glatten Rohre Kugeln abgeschossen werden, sondern daß aus gezogenem Laufe cylindro-konische Geschosse (fälschlich Spitzkugeln genannt) ausgetrieben werden. Das Spitzgeschoß (aus einem Cylinder, dem ein Konus aufgesetzt ist) drängt nämlich mit seiner Spitze die Luft leichter auseinander und erfährt also einen viel kleineren Luftwiderstand, als ein gleichgroßes Kugelgeschoß. In Folge der Züge an der innern Rohrwand (deren Windung oder Drehung man Drall nennt) wird nun aber dem Geschosse auch noch eine um die Achse des Rohres stattfindende Drehung aufgezwungen und durch diese Rotation des Spitzgeschosses um seine Längenachse erhält dasselbe eine mehr bohrende und damit eine mehr stetige Bewegung, wobei dasselbe nicht viel von seiner Anfangsgeschwindigkeit einbüßt, also mit einer größeren Endgeschwindigkeit am Ziele anlangen, die Flugbahn mit größerer Geschwindigkeit zurücklegen kann. Wenn daher eine Kugel und ein Spitzgeschoß von gleichem Gewicht und unter sonst gleichen Verhältnissen aus einem gezogenen Rohre abgeschossen werden, so wird das Spitzgeschoß deshalb viel verderblicher wirken und größeren Schaden anrichten, als das erstere, weil es eine stetigere Bahn, also eine größere Trefffähigkeit, eine größere Percussionskraft (somit mehr Fähigkeit zu verwunden) und eine größere Flugbahn hat, wozu auch noch kommt, daß das Spitzgeschoß, obschon von gleichem Durchmesser, wie die Kugel, ein größeres Gewicht als diese haben kann und dadurch die aufgezählten Vorzüge noch vergrößert werden. – Das Zündnadelgewehr (eine Erfindung des Herrn v. Dreyse in Sömmerda), welches von hinten geladen wird und aus einem gezogenen [535] Laufe Spitzgeschosse schießt, gestattet nicht nur ein sehr schnelles Feuern, sondern läßt sich auch in jeder Lage bequem laden, abgesehen davon, daß es durch seine große Trefffähigkeit auf weite Entfernungen und Wirkungsfähigkeit alle andern Gewehre übertrifft.

Beim Schießen können außer Schußverletzungen auch noch Verbrennungen höheren oder niederen Grades durch das Pulver vorkommen. Diese Verbrennungen sehen meistens schlechter aus, als sie in Wirklichkeit sind. Sie hinterlassen, wenn sie nicht von großen Quantitäten Pulvers herrühren oder wenn nicht gleichzeitig die Kleider Feuer fingen, bleibende Spuren, indem die in die Haut eingesprengten und niemals vollständig (durch mühsames Herausheben der einzelnen Körner mit einer Nadel) zu entfernenden Pulverkörner der Haut ein tättowirtes Ansehen geben.[2]

Bei Schußverletzungen durch Schrot (Vogeldunst), die man am häufigsten auf der Jagd zu beobachten Gelegenheit hat und die um so zahlreicher sind, je näher man dem Schusse stand (weil die Schrotkörner einer Ladung bei ihrem Austritte aus der Mündung des Gewehrs einen Kegel bilden, dessen Basis mit der Entfernung wächst), sucht man zuvörderst die Schrotkörner dadurch aufzufinden, daß man mit den Fingerspitzen sanft über die verwundete oder schmerzende Hautoberfläche hinstreicht, wobei sich nicht zu tief eingedrungene Körner als kleine harte Erhabenheiten fühlen lassen. Diese werden durch Ausschneiden entfernt, die tiefsitzenden dagegen ihrem Schicksale überlassen. Uebrigens heilen diese Schußverletzungen wie die andern.

Prell- oder Streifschüsse sind nur Quetschungen der Weichtheile, welche durch matte (auch auf dem Boden hinrollende sogen. todte Kanonenkugeln) oder durch sehr schief auffallende Geschosse veranlaßt werden. Die Wirkung dieser Schüsse kann blos auf die Haut beschränkt bleiben, sie kann aber auch alle unter der getroffenen Hautstelle liegenden Theile bis zum Knochen betreffen, welcher letztere zerbrochen und zersplittert werden kann. Bisweilen zeigt sich bei oberflächlicher Besichtigung eines Prellschusses gar nichts und erst bei genauer Untersuchung findet man die Haut an der getroffenen Stelle ein wenig blässer, welk, niedergedrückt, pergamentartig, trotzdem daß eine ganz bedeutende Verletzung in der Tiefe vorhanden sein kann. Häufiger findet sich jedoch die Haut an der getroffenen Stelle roth, blau oder violett und diese Färbung tritt entweder sofort oder bald nach dem Schusse ein; die Umgebung ist geschwollen, bald hart und prall, bald weich, teigig und knisternd. Meist tritt an der verletzten Stelle Eiterung ein und in der Regel heilen diese Wunden langsamer, als die gewöhnlichen Schußverletzungen. – Die sogen. „Luftstreifschüsse“, von denen sogar jetzt noch gefabelt wird, sind Prell- oder Streifschüsse durch grobe Geschosse, die bisweilen nur die Kleider vom Leibe reißen.

Die gewöhnlichen Schußwunden (durch Flinten) stellen sich in sehr großer Mannigfaltigkeit dar, z. B. als rinnenförmige Halbcanäle, als röhrenartige Canäle (von der verschiedensten Länge, Weite und Richtung) mit blos einer Oeffnung, wo dann das Geschoß, oft mit Partikeln von Kleidungsstücken, gewöhnlich am Boden des Blindcanals sitzt; als Canäle mit mehreren Oeffnungen, mit einer Eintritts- und einer oder (in Folge der Theilung des Geschosses) mehreren Austrittsöffnungen. Bisweilen hält es schwer die Eintrittsöffnung genau zu ergründen; gewöhnlich ist sie mehr oder weniger rund und der Größe des Geschosses entsprechend, während die Austrittsöffnung in der Regel eine stark ovale, längliche oder gar spaltartige Form hat. Auch zeigt sich der Rand der Eintrittsöffnung, durch die man ein Stück in das Innere des Schußcanals sehen kann, etwas nach innen gestülpt, mit Blut unterlaufen, bisweilen geschwärzt und wund, was beim Rande der Austrittsöffnung nicht der Fall ist. Die letztere Oeffnung heilt in der Regel viel früher als die Eintrittsöffnung und außerdem bleibt die Narbe dieser stets vertieft, während die der Austrittsöffnung etwas erhaben ist oder im Niveau der übrigen Haut liegt. Der Verlauf und die Richtung des Schußcanals ist oft gar nicht zu bestimmen und manchmal höchst merkwürdig, die wichtigsten Organe umkreisend.

Schußwunden durch grobes Geschütz (Kanonen- und Bombengeschosse, Kartätschen etc.) kommen deshalb bei Lebenden selten vor, weil die genannten Geschosse gewöhnlich den Tod bringen. Bombensplitter, die fast niemals Schußcanäle erzeugen, sind dagegen häufig in Wunden zu finden.

Die Erscheinungen, welche bei Verwundungen zu Tage treten, werden, ebenso wie die Gefährlichkeit derselben, natürlich nach der Art, der Größe, dem Sitze der Wunden u. s. f. sehr verschieden sein müssen, ja sogar die Empfindungen, welche sie dem Verwundeten machen, sind die mannigfaltigsten. So kommt es gar nicht selten vor, daß der kämpfende Soldat in seiner Aufregung eine Verletzung anfangs gar nicht fühlt und erst von seinen Cameraden darauf aufmerksam gemacht wird. Eine einfache Schußverletzung empfinden die Meisten nur als einen wie mit dem Stocke ausgeführten Schlag oder Stoß; wurde ein größerer Empfindungsnerv getroffen, dann ist der Schmerz ein brennender, stechender oder zuckender, der sich blitzähnlich über den ganzen Verbreitungsbezirk des getroffenen Nerven erstreckt. Ein soeben und in stärkerer Weise Verwundeter sieht gewöhnlich leichenfahl und blaß aus (auch wenn er nicht viel Blut verlor), seine Stirn ist mit Schweiß bedeckt, seine Augen sind weit geöffnet und starr, sein Blick in die Ferne gerichtet, der Puls klein und aussetzend, die Haut kalt und zusammengezogen (Gänsehaut). Aus diesem ohnmachtähnlichen Zustande erholt sich der Eine früher, der Andere später, je nachdem ihm Hülfe geschafft wird.

Die Blutung aus der Wunde fällt zunächst auf; sie ist natürlich nach Art, Weite und Menge der verletzten Blutgefäße und nach der Art der Verwundung äußerst verschieden. Ein sehr großer Theil der auf dem Schlachtfelde als todt liegen Bleibenden ist an Verblutung gestorben. Aber auch kürzere oder längere Zeit nach der Verwundung können noch Blutungen und zwar tödtlicher Art zu Stande kommen. Dagegen schlägt die Natur nicht selten Mittel und Wege ein, um Blutungen bei Verletzungen zu verhüten und zu heilen. So werden Pulsadern von Kugeln zur Seite geschoben und nicht verletzt; eine Blutgefäßwunde kann sich verlegen, das zerstörte Gefäß kann sich in sich zurück- und zusammenziehen oder zusammenfallen; es kann sich in demselben ein Pfropf (ein Gerinnsel aus Blutfaserstoff) bilden und das Gefäßrohr verstopfen; es kann das ausgeflossene Blut, indem es fest wird (gerinnt), eine Art Deckel über der Oeffnung der Ader, aus welcher das Blut strömt, bilden und diese Oeffnung verschließen. Die Heilung von Blutungen durch die Natur kann in Etwas unterstützt werden: – abgesehen natürlich von chirurgischer Hülfe (durch Compression und Unterbindung des blutenden Gefäßes) bei Blutungen aus größeren und zugänglichen Adern, – durch Anwendung der Kälte (Ueberschläge von kaltem Wasser, Schnee, Eis), durch große Ruhe und horizontale Lage des ganzen Körpers, besonders aber des blutenden Theiles, durch kühles Verhalten hinsichtlich des Zimmers, des Bettes und der Kleidung, durch milde, reizlose Kost. Die innere Anwendung der Arnica in homöopathischer Form steht mit dem Blutversprechen auf gleicher Stufe; Beides spricht dem Menschenverstande Hohn.

Was geschieht nun von Seiten der Natur an einer Wunde? Die ersten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden bleibt ihr Aussehen unverändert und so wie zur Zeit unmittelbar nach der Verletzung. Erst nach Verlauf dieser Zeit tritt eine (die sogenannte reactive) Entzündung ein, welcher (zwischen dem fünften und zwölften Tage) eine Eiterung und später die Vernarbung folgt, in dem Falle nämlich, daß nicht, wie bei vereinigten Hiebwundflächen, ein schnelleres Zusammenheilen derselben (per primam intentionem) stattfindet. Der (erste) fünf bis sieben Tage umfassende Zeitraum, vom Momente der Verletzung bis zum Beginne der Eiterung, welche niemals früher als achtundvierzig Stunden und nicht später als neun Tage nach der Verletzung eintritt, ist die schlechteste Zeit für den Verwundeten. Es stellt sich nämlich am zweiten Tage Schmerz in dem verletzten Theile ein, der Puls, die Körperwärme, der Durst, sowie die Erregbarkeit und Empfindlichkeit steigern sich fort und fort, kurz der Verletzte ist vom Wundfieber befallen. – Im darauf folgenden, etwa vom vierten bis vierzehnten Tage, meist bis zum neunten Tage nach der Verletzung [536] dauernden (zweiten) Zeitraume (der Wundreinigung) werden durch die beginnende Eiterung die die Wunde (besonders den Schußcanal) verunreinigenden Körper entfernt, und diese können ebensowohl von außen eingedrungene sein (wie Erde, Sand, Geschosse, Kleidungsstücke etc.), wie auch zerstörte oder abgestoßene Körperbestandtheile. – Nach der Wundreinigung schießen auf der Wundfläche unter dem fortwährend abfließenden Eiter schöne, lebhaft rothe, sogenannte Fleischwärzchen (Granulationen) empor und die Heilung (per secundam intentionem s. suppurationem) und Vernarbung beginnt. Dieser Zeitraum der Wundheilung ist natürlich von ganz unbestimmter Dauer und kann viele Jahre in Anspruch nehmen. – Das Zurückbleiben der fremden Körper hat den größten Einfluß auf die Verlangsamung der Heilung, und gar nicht selten bleiben dieselben (eingekapselt oder sich allmählich von ihrer Stelle entfernend) für’s ganze Leben beim Verwundeten.– Die Aufgabe des Chirurgen ist es, die angegebene Heilung einer Wunde durch die Natur, so viel es die Wissenschaft vermag, zu unterstützen. Er stillt die vorhandene Blutung, entfernt etwaige fremde Körper, vereinigt die Wundflächen, giebt dem Verwundeten und besonders dem verletzten Theile die gehörige Lage, mäßigt die Entzündung und das Wundfieber, sucht die Eiterung in gutem Zustande und in Grenzen zu halten, hält durch äußerstes Reinhalten der Wunde die Jauchebildung und den Brand von derselben ab, hebt die Kräfte des Verwundeten durch richtige Diät und beschleunigt die Vernarbung.

Die feinere (mikroskopische) Arbeit des Naturheilungsprocesses bei Verwundungen soll in einem nächsten Aufsatze beleuchtet werden. Schließlich wollen wir nur nochmals erwähnen, daß jede Wunde, zumal bei Soldaten in den Spitälern, mit der allergrößten Reinlichkeit zu behandeln ist. Schon das Verbinden mit Charpie aus alter Leinwand, die nicht vorher gewaschen und gereinigt wurde, oder mit Charpie, die von unreinen, mit Geschwüren oder eiternden Stellen behafteten Händen gezupft wurde, kann eine ungefährliche Wunde gefährlich machen. Die Charpie ist überhaupt ein sehr gefährlicher Infectionsträger, und deshalb sollte dieselbe stets vor ihrem Gebrauche gereinigt, ja desinficirt werden. Noch besser ist es aber, wenn anstatt der Charpie die rohe amerikanische Baumwolle angewendet wird, welche sowohl an Gleichförmigkeit beim Bedecken, als beim Aufnehmen der Wundwässer und beim Aufsaugen des Eiters der Charpie weit vorzuziehen ist. Auch wenn man feines französisches Seidenpapier mit Leinöl, essigsaurem Blei, Bleiglätte, gelbem Wachs und Terpentin (nach Gautier), oder (nach Lauer) mit Leinöl, borsaurem Manganoxyd und gelbem Wachse tränkt, so hat man ein gutes Verbandmaterial, welches jedenfalls besser und billiger als Charpie ist und selbst der Baumwolle nicht viel nachsteht. Auch sehr dünne (ein Drittel Millimeter dicke) Platten von Kautschuk (Paragummi), die aber stets sorgsam (durch tagelanges Einlegen in Wasser) gereinigt werden müssen, wirken sehr wohlthätig als Verbandmittel auf die Wunde (nach Neudörfer) und sind der Charpie vorzuziehen, zumal da sie auch noch ganz unverwüstlich sind.

Die Badeschwämme, welche gewöhnlich zur Reinigung von Wunden benutzt werden, tragen gar nicht selten die Schuld an Verschlechterung der Wunde, ja sogar am Tode des Verwundeten. In ihnen erzeugen und verbergen sich nämlich äußerst leicht und gern schlechte, ansteckende, in Fäulniß begriffene und sehr schwer daraus zu entfernende Stoffe, welche die Wunde brandig zu machen im Stande sind. Selbst wenn jeder Verwundete seinen eigenen Schwamm hätte, der fortwährend im Wasser läge, so könnte sich doch Schädliches in demselben bilden. Deshalb verbanne man den Schwamm ganz und gar und reinige die Wunde entweder mit einem ganz reinen, weichen, alten Leinwandläppchen, das nach dem Gebrauche wegzuwerfen ist, oder, und das dürfte wohl das Beste sein, durch Wasser, welches mittels einer kleinen Gießkanne aufgegossen wird. Kurz, die Gesetze der Reinlichkeit, sowie der Ventilation müssen bei Behandlung Verwundeter mit scrupulösester Strenge gehandhabt werden; reine Luft ist neben reizloser nahrhafter Kost für den Verwundeten unentbehrlich. – Diese wenigen Andeutungen für die Behandlung und Heilung von Wunden sind für Laien bestimmt, die sich bei Mangel an Chirurgen an den Hülfsleistungen, die man allen Verwundeten als Mensch schuldig ist, betheiligen.
Bock.




Blätter und Blüthen.


Der Kuß von Weib und Kind. Der preußische Husarenlieutenant v. T. war von Eisenach aus mit einer Patrouille nach dem Werrathal zur Recognoscirung gesandt. v. T. war erst kurz vor Ausbruch des Krieges in preußische Dienste getreten; vorher gehörte er dem Contingent des Herzogs von Meiningen an. Seine ihm vor Jahresfrist angetraute junge Frau stammte aus Meiningen und befand sich jetzt während des Krieges bei ihrer dort lebenden Mutter, also im Heimathland. Der junge Krieger hatte längere Zeit keine Nachricht von ihr erhalten können, da der Verkehr mit dem Herzogthum Meiningen abgeschlossen war. Und doch war sein Herz voll Sehnsucht nach einer Kunde von ihr, denn er wußte, daß „ihre Zeit gekommen war“. Es war schon Abend geworden, als er mit seiner Patrouille von sechszehn Mann über Salzungen hinaus stand. Sechs Stunden davon lag Meiningen. Die vorübergleitenden Wogen der Werra brachten ihm Grüße von dort, aber keine Kunde über das süßeste Geheimniß seiner Ehe. In Meiningen standen baierische Truppen; seine Pflicht verbot ihm, die ihm anvertraute Schaar in solche Gefahr zu führen, aber sein Vaterherz drängte ihn unaufhaltsam vorwärts. Seine Jugend reizte das Abenteuerliche und bestimmte seinen Entschluß. In raschem Trabe jagte er mit der willig folgenden Schaar thalaufwärts, immer dem Strome entlang, hinein in die sinkende Nacht. Kurz vor Mitternacht stand er an den Thoren von Meiningen. Zu beiden Seiten des Weges rief es ein „Werda!“ und Hähne knackten. Als aber der Vorposten die stattliche Reiterschaar sieht, duckt er sich ängstlich in den Chausseegraben und jene reitet ungehindert in die stille Stadt hinein. Durch schweigende Straßen dringt sie vor bis an ein wohlbekanntes Haus. Dort brennt noch in dem Eckgemach ein einsames Nachtlicht. „Halt,“ ruft der Führer seiner Schaar zu, „wir sind am Ziel.“ Er steigt vom Pferde. Das flehende Entsetzen der edlen Matrone, welche ihm die Thür öffnet, wandelt sich rasch zur Freude. Es ist der Gatte der Tochter, und sie darf ihm nun, was sie so gern schon gethan hätte, verkünden, daß ihm ein Sohn geboren sei. Er nimmt das Knäblein aus der Wiege, herzt und küßt es, bis daß es laut aufschreit; dann beugt er sich über das Lager der in Seligkeit lächelnden Mutter zum ersten Mutterkuß, der sich an Tiefe nur messen kann mit dem ersten Kuß der Braut. Nur ein Moment, aber mit einer Welt voll Seligkeit, dann ruft die Pflicht, denn schon wird es wach in den Straßen. „Aufsitzen, rechts um kehrt!“ und in stiebendem Galopp fliegt die Patrouille mit ihrem kühnen Führer wieder zur Stadt hinaus und ist schon weit über die Bannmeile, als die Alarmtrommel und der entsetzte Ruf: „Die Preußen sind da!“ die ganze Stadt aus ihrer Ruhe schreckt.

Vergebens pfiffen die Kugeln hinein in die Nacht ihnen nach, diesmal war er ihnen entwischt, der kühne preußische Husarenlieutenant. Aber nach ein paar Wochen nahmen die Baiern doch Revanche für die nächtliche Ruhestörung. Gleich im Anfang des Gefechts von Wiesenthal sank der kecke Patrouillenführer von einer Kartätsche getroffen vom Pferde, aber der Kuß von Mutter und Kind hatte ihn besser gefeit, als die Amulets, welche die Altbaiern auf der Brust trugen; er war nur leicht verwundet und ist, bei liebevoller Pflege, jetzt schon wieder genesen.
J. Hg.





Für die Verwundeten und Hinterlassenen der Gefallenen


gingen wieder ein: Aus Messina, Ertrag einer durch Herrn Bernh. Frey veranstalteten Sammlung von einundzwanzig Deutschen, einem Franzosen und einem Italiener 199 Thlr. 14 Ngr. Den wackern Landsleuten und mitleidigen Gebern dort herzliche Grüße. – O. und A. 2 Thlr. – Aus Markneukirchen: Ertrag einer von dortigen Dilettanten gegebenen Instrumental- und Vocal-Abendunterhaltung 75 Thlr. (möglichst für Verwundete in böhmischen Lazarethen). – H. A. Keßler 15 Ngr. – H. A. Schuster 1 Thlr. – H. Schatz 20 Ngr. – Frau S. J. in Frankfurt 4 Thlr. – Rest einer Sammlung für Schleswig-Holstein, durch Rechtsanwalt Grosser in Stadt Ilm 18 Thlr. – Ch. Fr. in W. 1 Thlr. – Von vier Mädchen aus K. 4 Thlr. – Auguste Hohmann in Eisenach 2 Thlr., nebst einem Paket Charpie. – N. in W. 3 Thlr. – Von einer dankbaren Mutter aus Wiesbaden, welcher der theure Sohn durch Gottes Hülfe erhalten wurde, 12 Thlr. – Ertrag einer durch Doctor Süßenguth in Lobenstein veranstalteten Sammlung 24 Thlr. 10 Ngr. 1 Pfg. – Marie Hößel in Gotha 1 Thlr. – Von drei Geschwistern in Obermolbitz 3 Thlr. – Turnverein in Chemnitz 30 Thlr. – Von mehreren Freimaurern 2 Thlr. 13 Ngr. und E. in Holf 2 Thlr. – Sophie Hirschberg in Eibenstock 5 Thlr. – Clementine, Ottilie, Johanna und Louis in Bautzen 4 Thlr. – Von dem Bergeleven H., Lehrer E. und den Schulkindern zu S. (Nassau) 1 Thlr. 21 Ngr. – C. W. M. in Schmalkalden 1 Thlr. – H. in Mühlhausen 20 Thlr. – F. Müller in Sonneberg 2 Thlr. – O. S. in Altenburg 2 Thlr. – N. N. in Greiz 4 Thlr. – Ein Abonnent der Gartenlaube in Schmalenbucha 1 Thlr. – Gemeinde Großbocka bei Münchenbernsdorf 6 Thlr. – Hedwig und Paul in Weißensand 2 Thlr. – Turnverein in Kahla 10 Thlr. – Anna in Magdeburg 5 Thlr. – Schneider u. Comp. in Gräfenthal 15 Thlr. – E. in Mühlhausen bei Adorf 4 Thlr. – Superintendent Göring in Großrudestedt 2 Thlr. – Aus Groitzsch ohne Unterschrift 1 Thlr. – Ertrag eines von der Liedertafel in Wermsdorf veranstalteten Concerts 26 Thlr. 11 Ngr. 6 Pfge. – Kaufmännischer Verein in Frankenberg 20 Thlr. – Von einem Ungenannten 10 Thlr. – Gothaer Schwefelbande für den Strauß des Blumenmädchens 20 Thlr. – Vierter Theil des Reinertrages des am 5. August vom Riedel’schen Verein in Leipzig veranstalteten Kirchenconcerts 212 Thlr. 15 Ngr.
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus dem in einer russischen Zeitung veröffentlichten Briefe eines Russen.
  2. Neuerlich ist ein Schieß- und Spreng-Pulver von Herrn Neumeyer in Taucha bei Leipzig erfunden worden, welches alle sonstigen Eigenschaften eines guten Pulvers besitzt und nicht wie dieses explodirt, also bei der Aufbewahrung und dem Transporte jede Gefahr ausschließt. Gründliche Versuche mit diesem Pulver haben ergeben: daß dasselbe bei Zutritt von Luft verbrennt, aber nicht explodirt, daß es durch Druck oder Stoß nicht zur Entzündung gebracht werden kann, daß es im verschlossenen Raume mit höherer Wirkung als das gewöhnliche Pulver explodirt, daß es weniger Rückstand und auch weniger Pulverrauch, als das gewöhnliche Pulver hinterläßt, daß es billiger als gewöhnliches Pulver ist.