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Artikel „Zittel, Karl“ von Wilhelm Hönig in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 369–372, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Zittel,_Karl&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 22:29 Uhr UTC)
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Zittel: Karl Z., Dr. theol., Pfarrer und ein Führer der liberalen kirchlichen und politischen Bestrebungen in Baden. Das Leben dieses Mannes ist die Geschichte der badischen Landeskirche, soweit wenigstens die kirchenpolitische Seite derselben in Betracht kommt, während eines halben Jahrhunderts, aber auch ein sehr bedeutsames Stück politischer Geschichte. Er ist ebenso einer der besten Kenner des badischen Volkes, seines Charakters und seiner tiefern Bedürfnisse, als er selbst in der Eigenthümlichkeit seines Denkens und Empfindens die Eigenart dieses Volkes in typischer Weise darstellt. Er ist ein echter Vertreter des badischen Liberalismus, allem bureaukratischen, reactionären, unduldsamen Wesen entschieden abgeneigt, aber ebenso auch allem Doctrinarismus, aller Principienreiterei, aller Ueberschwänglichkeit. Gehört seine Arbeit hauptsächlich seinem engeren Vaterland, so war andererseits die Einigung Deutschlands die Sehnsucht seines Lebens, ihre Verwirklichung die höchste Freude seines Alters. [370] In dieser Beziehung hat er die interessanteste Entwicklung erlebt, die einem Patrioten zu Theil werden kann: sein Leben beginnt noch vor dem Dasein eines Großherzogthums Baden und schließt nach dem Jahre der Aufrichtung des neuen deutschen Reiches.

Z., einem badischen Pfarrhause entstammend, ist am 21. Juni 1802 in Schmieheim im badischen Oberlande geboten. Seine gymnasiale Ausbildung erhielt er auf dem Lyceum in Karlsruhe, an dem damals auch der alemannische Volksdichter Hebel, der spätere Prälat der badischen Landeskirche, Lehrer war. Frühe für die Universität reif, besuchte er Jena, um Theologie zu studiren. Die damalige hohe patriotische Stimmung der Jenaer Studentenschaft ergriff auch ihn und blieb zeitlebens ein Grundton seines Seelenlebens. Ebenso ist auch die rationalistische Richtung der theologischen Facultät eine bleibende Grundform seines Denkens geworden, wenn auch später mit einer Neigung zu Schleiermacher hin und vor allem mit einer eigenartigen gemüthlichen Vertiefung, der namentlich die Person des Erlösers im Mittelpunkte stand. 1823 wurde er unter die Zahl der badischen Pfarrcandidaten aufgenommen und amtirte nun als Vicar und Gehülfe des Pfarrers in verschiedenen kleineren Orten des badischen Oberlandes. Erst 1834 wurde er Pfarrer, und zwar in Bahlingen, einem Orte am Kaiserstuhl. Hier machte er sich bald durch eine Thätigkeit bemerklich, die über den gewohnten Rahmen des pfarramtlichen Dienstes hinausging; er sammelte gleichgesinnte Collegen zu Conferenzen, in denen religiöse und kirchliche Fragen in einer wesentlich freieren und grundsätzlicheren Weise, als dies in den amtlichen Conferenzen zu geschehen pflegte, besprochen und die kirchlichen Zustände einer Kritik unterzogen wurden. Solche Versammlungen waren damals etwas Neues und erregten nicht nur das Aufsehen, sondern auch das Mißtrauen der Kirchenbehörde, die vor der Theilnahme warnte. Im J. 1843 erschien von ihm eine Schrift „Zustände der ev. protestantischen Kirche in Baden“, in der er seine Gedanken und Wünsche inbezug auf die kirchlichen Verhältnisse seines Landes darlegte. Er war einer der Ersten, welcher für die später glücklich erreichten Ziele eintrat: Befreiung der Kirche von der büreaukratischen Bevormundung des Staates und den Aufbau ihrer Verfassung auf Grund der Gemeinde und nach dem Princip der Selbstregierung. Seit 1845 schrieb er zusammen mit dem bekannten späteren Stadtpfarrer von Mannheim, Otto Schellenberg, den „Morgenboten“, ein kirchliches Blatt, das alle die Zeit bewegenden kirchlichen Fragen im Sinne der von den beiden vertretenen Geistesrichtung besprach. Besonders wichtig war das beigegebene Erbauungsblatt „Der Sonntagabend“, Jahre lang (1857–65) in gebildeten Kreisen, die sich mit dem hergebrachten Christenthum nicht befriedigt fühlten und doch nach Erbauung suchten, ein äußerst beliebtes Erbauungsmittel. Mit großer Freimüthigkeit sind hier die höchsten und tiefsten Fragen der Religion besprochen, an Stelle des hergebrachten orthodoxen und pietistischen Christenthums ein vernünftiges, gleichwol gemüthswarmes und poetisch angehauchtes Christenthum geboten. Die auch in Sprache und Form, durch Klarheit und künstlerische Abrundung schönen Betrachtungen sind später gesammelt, von seinem Sohne herausgegeben worden („Der Sonntagabend. Religiöse Betrachtungen für denkende Christen. Herausg. von D. Emil Zittel, Dekan in Karlsruhe.“ Berlin 1893, 2 Bände). Obgleich Z. in bedeutenden Männern, wie Dittenberger in Heidelberg, Hausrath in Karlsruhe und Otto Schellenberg Mitarbeiter für seine kirchlichen Bestrebungen fand, so kam es doch zu keiner erfolgreichen Bewegung, da namentlich die Theilnahme der Laien noch gänzlich fehlte.

Aber auch in weiteren Kreisen wurde der Name Zittel bald ein bekannter. Seit 1844 gab er einen Kalender heraus „Der rheinische Landbote“, der ganz [371] im Geiste des großen Kalenderschreibers Hebel in volksthümlicher und packender Sprache geschrieben, die Ideen politischer und kirchlicher Freiheit ins Volk brachte, und dafür durch die Büreaukratie in seiner Entwicklung vielfach gehemmt wurde. Schon seit dem Jahre 1842 war Z. insofern auch auf das politische Gebiet übergegangen, als er ein in Freiburg erscheinendes, von ihm aber bald wieder aufgegebenes Wochenblatt „Der Landbote“ herausgab, aus dem dann später die „Oberrheinische Zeitung“ herauswuchs. Durch seine schriftstellerische Thätigkeit aufmerksam geworden, wählte ihn der Bezirk Ettenheim in den Landtag, wo er, später Vertreter von Durlach, Jahre lang verblieb. Es war die bewegteste Zeit im politischen Leben Badens (1842–49), als er neben Männern wie Rotteck, Sander, Itzstein, Welcker, Mathy, Bassermann seine politische Thätigkeit entfaltete. Als er 1845 aus Anlaß der deutschkatholischen Bewegung die Motion über Glaubensfreiheit einbrachte, war er längere Zeit einer der populärsten Namen weit über Baden hinaus. Eine zweite Motion auf Einführung einer confessionell gemischten Oberschulbehörde verhallte im Sturm der Revolution. Als das Jahr 1848 eine Scheidung in die liberale Partei brachte, in eine gemäßigte und eine radicale, trat er mit Mathy und Bassermann auf die erstere Seite und verwarf entschieden die Wege Hecker’s und Struve’s. In demselben Jahre trat er auch als Vertreter Karlsruhes in das Frankfurter Parlament ein, wo er neben Gagern, Simson u. A. die gleiche gemäßigte Richtung einschlug. Er widmete sich insbesondere den die Kirche berührenden Fragen. Wie geschätzt er war, beweist der Auftrag, der ihm zu Theil wurde, die Berichterstattung für die „Deutsche Zeitung“, das wichtigste Parlamentsorgan zu übernehmen, der Auftrag zur Abfassung eines Flugblatts nach der Wahl des Erzherzogs Johann und die Uebertragung der Leichenrede nach der Ermordung der Parlamentsmitglieder Lichnowski und Auerswald und zwar gemeinsam mit dem späteren Bischof Ketteler. Nachdem Z. dann noch 1850 Mitglied des Erfurter Staatenhauses, indessen ohne besondere Betheiligung, gewesen war, gab er seine politische Wirksamkeit auf und zwar für immer. Es hatte ihn zu tief erschüttert, daß die herrlichsten Ideale der Unfähigkeit, der Maßlosigkeit, der Herrschsucht und Eitelkeit des Demagogenthums zum Opfer fielen. Ein gewisser nüchterner Realismus ist von nun an ein Zug seines politischen Urtheils.

Seit 1848 war Z. Stadtpfarrer in Heidelberg. Er wurde bald ein beliebter, wirkungsvoller Kanzelredner. Die Vereinigung von Freimuth und warmer Frömmigkeit verfehlte ihre Wirkung auf die Stadtgemeinde nicht. Eine sehr entschiedene Stellung nimmt er der seit Niederwerfung der Revolution auch auf kirchlichem Gebiete vorherrschenden reactionären Strömung gegenüber ein. Einem von Hundeshagen unternommenen Versuche, dem Bekenntnißstand der Landeskirche eine verengende Auslegung zu geben, trat er mit einer Schrift „Die Bekenntnißgrundlage der evangel. Kirche in Baden“ (Mannheim 1852) und später mit Artikeln in der Protestantischen Kirchenzeitung „Revision der Einreden“ gegenüber, in welchen er die Weitherzigkeit der badischen Bekenntnißverhältnisse mit überzeugenden Gründen nachwies.

Der große Umschwung, der in Baden mit dem Jahre 1860 eintrat, war in Zittel’s Leben die Erfüllung der Wünsche, die von Anfang an sein Streben beherrschten. Den Volksbewegungen gegen eine neue Agende (1858) und gegen das mit Rom geschlossene Concordat (1859) folgte seit 1860 die Umgestaltung der staatlichen und kirchlichen Verhältnisse auf liberaler Grundlage, und Schritt für Schritt wurden jene Gedanken, die Z. in Wort und Schrift seit 30 Jahren verfocht, zur Wirklichkeit: die Gewissensfreiheit, die Verstaatlichung des Schulwesens, die Selbständigkeit der Kirche, die Gemeindeverfassung. Auf dem kirchlichen [372] Gebiete arbeitete Z. fleißig mit an den Aufgaben der neuen Zeit. Er gehörte mit zur Leitung der liberalen Partei, die in den „Durlacher Conferenzen“ ein wirkungsvolles Agitationsmittel besaß, und war ein Mitbegründer des deutschen Protestantenvereins und Ausschußmitglied bis zu seinem Tod. Er war thätiges Mitglied der badischen Generalsynoden von 1861 und 1867, denen die grundlegendsten Aufgaben in Verfassung und Lehre zufielen. Von jetzt an wurden ihm auch Ehren zu Theil, auf die er früher fast völlig – von einer von ihm abgelehnten Berufung an die Stelle des Generalsuperintendenten für Coburg abgesehen – verzichten mußte. Er wurde zum Decan der Diöcese Mannheim-Heidelberg erwählt, wurde von der theologischen Facultät in Jena zum Ehrendoctor ernannt, war langjähriger Vorsitzender des Gustav Adolfvereins und der Versammlungen des Predigervereins. Auch mit einem Orden wurde er bedacht. War indessen in früherer Zeit die Initiative zu den liberalen Bestrebungen in der badischen Kirche fast immer von ihm ausgegangen, so war dies in der letzten Periode nicht mehr der Fall. Der Führer in jenen Bewegungen war nicht er, sondern Schenkel; er war überall dabei mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit und mit seinem erfahrenen Rath, aber, mit seinem ruhigen, sinnenden, erwägenden, zu thatkräftigem Handeln weniger geneigten Temperament von lebhafteren, agitatorischen Kräften überholt, war er nicht mehr die treibende Kraft. Ja, je länger je mehr trat er in einen gewissen Gegensatz, nicht gegen die liberale Richtung, aber gegen die Art, wie sie von Schenkel vertreten war; Liebe zum Frieden, Mäßigung in den Forderungen, Neigung zu Concessionen bilden immer mehr die Richtlinie seines Handelns in der letzten Zeit seines Lebens. Wie in der politischen und kirchlichen Entwicklung Badens so erlebte er in der Geschichte des deutschen Vaterlandes eine merkwürdige Erfüllung seiner Sehnsucht. Die Jahre 1866 und 1870 brachten ihm soviel, als er je gehofft hatte. Der Greis folgte der Bismarck’schen Politik mit größter Bewunderung und ungetheiltem Beifall. Mehr als die Erfüllung der Gedanken, für die es gelebt hat, kann aber ein Menschenleben nicht erwarten. Z. starb auf der Rückkehr von einem Schwarzwaldbade in Karlsruhe bei seinem Sohne am 28. August 1871. Er hat drei Söhne hinterlassen, die alle einflußreiche Stellungen einnehmen: D. Emil Z., Pfarrer und Decan in Karlsruhe, begabter theologischer Schriftsteller, der Cameralist Eugen Z., Geh. Rath und Mitglied des Ministeriums des großh. Hauses und Karl Z., Professor der Paläontologie in München.

Vgl. E. Zittel, Art. K. Zittel i. d. Bad. Biographien. – H. Holtzmann in der Einleitung zum „Sonntagabend“.