ADB:Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von

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Artikel „Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von“ von Franz Heinrich Reusch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15 (1882), S. 670–676, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ketteler,_Wilhelm_Emmanuel_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 16. April 2024, 08:05 Uhr UTC)
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Ketteler: Wilhelm Emmanuel Freiherr von K., Bischof von Mainz, geb. den 25. Dec. 1811 zu Münster, † 13. Juli 1877 zu Burghausen in Oberbaiern. K. war der dritte von den sechs Söhnen des Freiherrn Friedrich von Ketteler zu Harkotten. Seinen ersten Unterricht erhielt er im elterlichen Hause und in der Domschule zu Münster, war dann 1824–1828 Zögling des Jesuiten-Collegiums zu Brieg im Canton Wallis, bestand 1829 in Münster die Maturitätsprüfung, studierte 1829–1833 Jura und Cameralia zu Göttingen, Berlin, Heidelberg und München (als Student in Göttingen verlor er in einem Duell die Nasenspitze) und wurde 1834 Regierungs-Referendar zu Münster. Im J. 1836 ließ er sich die Tonsur geben, aber lediglich um in den Genuß einer Präbende zu gelangen; animum clericandi oder auch nur einen besonders frommen Sinn hatte er bis dahin nicht bekundet. Am 1. Decbr. 1837, zehn Tage nach der Wegführung des Erzbischofs Clemens August von Droste von Köln, erbat er sich von der Regierung einen sechsmonatlichen Urlaub „zu seiner ferneren wissenschaftlichen Ausbildung im Verwaltungsfache“, [671] und am 26. Mai 1838 erklärte er, „eingetretene Verhältnisse machten es ihm zur Pflicht, zur Zeit aus seinen bisherigen Dienstbeziehungen zur königlichen Regierung auszuscheiden“. Am 9. Juli 1838 schrieb er seinem Bruder: „da er einem Staate, der die Aufopferung seines Gewissens fordere, nicht dienen wolle, so sei er eigentlich durch den Fingerzeig aller Umstände auf den geistlichen Stand hingewiesen; aber er könne sich dazu nicht entschließen, und um ihn zum geistlichen Stande würdig umzugestalten, wären größere Wunder erforderlich als Todte aufzuerwecken“ (s. die unten anzuführenden Briefe S. 5). In den Jahren 1839 und 1840 hielt er sich lange Zeit in München auf und verkehrte viel in den dortigen katholischen Kreisen; aber von theologischen Studien oder überhaupt von Studien ist in seinen Briefen aus dieser Zeit nicht die Rede, dagegen viel von den „Historisch-politischen Blättern“ und von der Jagd. Graf Reisach, damals Bischof von Eichstädt, später Erzbischof von München und Cardinal, bestimmte ihn endlich sich dem geistlichen Stande zu widmen (Briefe S. 65, 77). Nachdem der Plan, in Rom, in Eichstädt oder in Passau Theologie zu studiren, sich als unausführbar erwiesen, studirte er 1841–1843 in München, – zusammen mit seinem Landsmanne Paulus Melchers, dem späteren Erzbischof von Köln, der auch früher Referendar gewesen, und vom Herbst 1842 an mit seinem jüngeren Bruder Richard, der vorher Husarenlieutnant war, – und hörte Vorlesungen bei Döllinger, dem jüngeren Windischmann, Görres, Phillips u. A. Im Herbste 1843 trat er in das Priesterseminar zu Münster ein, wurde am 1. Juni 1844 zum Priester geweiht und wirkte nun sehr fleißig und eifrig in der Seelsorge, 1844–1846 als Kaplan in dem Städtchen Beckum, 1846–1849 als Pfarrer in dem Dorfe Hopsten.

Im J. 1848 wurde er in dem Wahlbezirke Tecklenburg in das Frankfurter Parlament gewählt. „Nur ein kirchliches Interesse, sagt er in einem Briefe, habe ihn bestimmt, die Wahl anzunehmen“; darum wünschte er nach der Berathung der ein religiöses Interesse berührenden Artikel der Grundrechte zu seiner Gemeinde zurückzukehren (Briefe S. 157). Mehr als durch seine parlamentarische Thätigkeit wurde er in weiteren Kreisen bekannt durch die am 23. Sept. 1848 gehaltene „Leichenrede am Grabe der am 18. Sept. zu Frankfurt gewaltsam Ermordeten [Lichnowski und Auerswald] und der im Kampfe gegen die Aufständischen Gefallenen“ (1848), durch eine auf der ersten Generalversammlung der „katholischen Vereine Deutschlands“ zu Mainz am 4. Oct. gehaltene Rede „über die Freiheit der Kirche und die sociale Krisis“ und durch die im Dome zu Mainz gehaltenen Predigten über „die großen socialen Fragen der Gegenwart“ (1849, mit der Leichenrede neu gedruckt 1878). – Auf den Vorschlag des Fürstbischofs v. Diepenbrock und des Ministerialrathes Aulike wurde K., nachdem er sich widerstrebend zur Annahme bereit erklärt hatte (Briefe S. 168), am 19. Mai 1849 zum Propst von St. Hedwig in Berlin ernannt, (als solcher wurde er zugleich Ehrendomherr in Breslau und bischöflicher Delegat für die katholischen Gemeinden in Brandenburg und Pommern). In Berlin bereitete er die Gräfin Ida Hahn-Hahn, welche Diepenbrock an ihn gewiesen, für ihren Uebertritt zur katholischen Kirche vor (Briefe S. 188). Sie folgte ihm später nach Mainz.

Schon 1850 wurde K., nachdem dem am 22. Febr. 1849 gewählten Prof. Leopold Schmid am 14. Jan. 1850 die päpstliche Bestätigung verweigert worden war und das Domcapitel ihn mit zwei anderen (Domherr Förster in Breslau und Domherr Oehler in Rottenburg) am 24. Febr. 1850 dem Papste in Vorschlag gebracht hatte, am 15. März von diesem zum Bischof von Mainz ernannt, am 20. Mai präconisirt, am 25. Juli durch den Erzbischof Vicari von Freiburg zu Mainz consecrirt und inthronisirt. Auffallender Weise wurde er [672] nicht schon jetzt, sondern erst 1862 von der theologischen Facultät zu Münster honoris causa zum Doctor der Theologie promovirt, nunmehr freilich als „eine glänzende Zierde des deutschen Episkopates“.

K. lebte als Bischof sehr einfach und ascetisch und war unermüdlich thätig: er predigte oft, saß regelmäßig im Beichtstuhl und machte fleißig Firmungs- und Visitationsreisen. Für die Geistlichen wurden alljährlich Exercitien, für das Volk vielfach Missionen gehalten, Bruderschaften und kirchliche Vereine organisirt, Klöster, Waisenhäuser u. dgl. gegründet. 1851 wurden die Schulbrüder nach Mainz berufen, 1854 die Kapuziner und die Franciscanerinnen, 1858 die Jesuiten. Letzteren übertrug K. trotz der Beschwerden des Gemeinderathes bei den Kammern die Verwaltung der Pfarrei St. Christoph (Brück, Die Oberrheinische Kirchenprovinz S. 458). Seinen Geistlichen gegenüber war K. strenge und autokratisch, seine nächste Umgebung hatte mitunter von seiner Heftigkeit zu leiden. Von Anfang an war er bemüht, die Erziehung der Candidaten des geistlichen Standes ganz unter die bischöfliche Leitung zu bringen. Schon im Frühjahr 1851 erweiterte er das Mainzer Priesterseminar zu einer vollständigen bischöflichen theologischen Lehranstalt und erklärte, er werde fortan keinen Candidaten weihen, der nicht dort seine Studien gemacht. Dadurch wurde, da die hessische Regierung es geschehen ließ, die katholisch-theologische Facultät der Universität Gießen brach gelegt. Später gründete er zu Mainz (1864) und Diesburg (1869) auch Knabenconvicte.

Weiterhin bemühte sich K. eifrig und erfolgreich, eine Regelung des Verhältnisses der katholischen Kirche zur Staatsregierung in seinem Sinne herbeizuführen (Brück S. 304 ff.). Schon am Tage seiner Consecration wurde von den damals sämmtlich in Mainz anwesenden Bischöfen der oberrheinischen Kirchenprovinz ein gemeinsames Vorgehen verabredet. Sie formulirten dann in [WS 1] den den Regierungen überreichten „Denkschriften“ vom März 1851 und vom 18. Juni 1853 die Forderungen der „Kirche“ und K. veröffentlichte 1854 die Schrift: „Das Recht und der Rechtsschutz der kath. Kirche in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf die Forderungen des oberrheinischen Episkopates und den gegenwärtigen Conflict“ (es erschienen in kurzer Zeit 5 Auflagen). Da er aber fand, daß dieses gemeinsame Vorgehen keinen unmittelbaren Erfolg verspreche, verhandelte er für sich allein. Er schloß mit dem Minister v. Dalwigk am 23. Aug. 1854 eine „Convention“ ab und auf sein persönliches Betreiben wurde dieselbe in Rom genehmigt, freilich nur mit einigen Modificationen, die aber Dalwigk am 19. April 1856 annahm. Erst im J. 1860 wurde diese bis dahin geheim gehaltene Convention, aber nicht vollständig, den Kammern mitgetheilt und 1862 ein darauf bezüglicher Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser wurde von der zweiten Kammer verworfen und am 6. Oct 1866 wurde von der Regierung mit Zustimmung des Bischofs die Convention förmlich aufgehoben, blieb aber thatsächlich in Kraft bis zum J. 1871 (Brück S. 362 ff., Dove, Ztschr. f. Kirchenr. VIII, 1869, 345 ff., Briefe S. 252, 343). – Seinen Sitz in der ersten hessischen Kammer nahm K. nie persönlich ein; er ließ sich durch den Seminar-Regens Dr. Moufang vertreten. Ueber sein Verhältniß zu der hessischen Regierung und dem Minister v. Dalwigk hat er 1867 mehrere ausführliche Erklärungen veröffentlicht (Briefe S. 355, 372).

Ketteler’s Einfluß beschränkte sich nicht auf die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz. Auch bei den Zusammenkünften, welche die deutschen Bischöfe seit 1867 wiederholt in Fulda hielten, übte er vielfach einen maßgebenden Einfluß. Wiederholt war es im Plane, ihn an die Spitze einer größern Diöcese zu bringen: schon 1853 stand er auf der Candidatenliste für Breslau (Briefe S. 242); 1865 wünschte die preußische Regierung, er möchte Erzbischof von [673] Posen werden (Briefe S. 309), verweigerte aber ihre Zustimmung zu seiner Ernennung zum Erzbischof von Köln; wiederholt wurde beabsichtigt, ihn zum Coadjutor des Erzbischofs Vicari von Freiburg mit dem Rechte der Nachfolge zu machen (Briefe 270, Deutscher Merkur 1873, 156), und nach dessen Tode im J. 1868 wurde er auf die Freiburger Candidatenliste gesetzt, von der badischen Regierung aber gestrichen.

Wenn man K. vielfach als den „streitbaren Bischof“ bezeichnet, so ist diese Bezeichnung mehr noch, als durch seine amtliche, durch seine schriftstellerische Thätigkeit gerechtfertigt. Ueber fast alle seit dem J. 1850 in Deutschland aufgetauchten kirchlich-politischen Fragen hat er kleinere oder größere Broschüren veröffentlicht (auch seine Hirtenbriefe sind großentheils solche Broschüren), die durchweg in katholischen Kreisen eine große Verbreitung fanden und der ultramontanen Partei und ihrer Presse die Directive gaben. K. war nichts weniger als ein Gelehrter oder ein genialer Kopf, aber er schrieb gewandt, klar und populär, und das persönliche Ansehen, welches er nicht nur bei seinen adeligen Standesgenossen und dem größten und einflußreichsten Theile der Geistlichen, sondern auch in weiteren Kreisen genoß, bewirkte, daß man auch über die schwachen Argumente, Unvorsichtigkeiten und Tactlosigkeiten in seinen Broschüren hinwegsah, wenn auch manche seiner Bewunderer in der Stille zugaben, er schreibe viel zu viel. Als eine „Unvorsichtigkeit“ wurde es selbst von seinen Anhängern angesehen, als K. in einem „Hirtenbriefe bei Gelegenheit der elfhundertjährigen Feier des Märtyrertodes des h. Bonifacius“ im J. 1855 u. a. drucken ließ: „Wie das Judenvolk seinen Beruf auf Erden verloren hat, als es den Messias kreuzigte, so hat das deutsche Volk seinen hohen Beruf für das Reich Gottes verloren, als es die Einheit im Glauben zerriß, welche der h. Bonifacius gegründet hatte. Seitdem hat Deutschland fast nur mehr dazu beigetragen, das Reich Christi auf Erden zu zerstören und eine heidnische Anschauung hervorzurufen. Seitdem ist mit dem alten Glauben auch die alte Treue mehr und mehr geschwunden, und alle Schlösser und Riegel, alle Zuchthäuser und Zwangsanstalten vermögen uns nicht das Gewissen zu ersetzen.“ (Vgl. Bunsen, Zeichen der Zeit I, 51 ff.). – Die bedeutenderen unter Kettelers Schriften aus den Jahren 1860–1870 sind: „Freiheit, Auctorität und Kirche, Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart“, 1862 (rasch nach einander 11 Auflagen, zum Theil in einer billigen „Volksausgabe“); „Die Arbeiterfrage und das Christenthum“, 1864 (3. Aufl.; die Schrift wurde von Lassalle beifällig citirt; K. nahm später Veranlassung, sich über den großen Gegensatz zwischen seinen und Lassalle’s Tendenzen auszusprechen; s. Briefe S. 297, 329), dazu später „Die Arbeiterbewegung und ihr Verhältniß zu Religion und Sittlichkeit“, 1869; „Deutschland nach dem Kriege von 1866“, 1867. Diese Schrift erlebte in kurzer Zeit 6 Auflagen, obschon man in ultramontanen Kreisen vielfach Anstoß daran nahm, daß K., der früher als entschieden „großdeutsch“ galt, sich so rasch völlig auf den Boden der vollendeten Thatsachen stellte. Insofern konnte er allerdings in einer Erklärung in der Kreuzzeitung im J. 1868 (Briefe S. 381) mit Recht sagen, er habe „nie eine stark antipreußische Richtung gehabt und ebenso wenig eine althabsburgische“, als er, seit er sich dem Dienste der Kirche zugewandt, immer in erster Linie „kirchlich“ gesinnt war und für den Staat die stärkste Sympathie bekundete, in welchem er das, was er als das Recht der Kirche ansah, am besten gewahrt oder am wenigsten gefährdet glaubte. Die Broschüre „Kann ein gläubiger Christ Freimaurer sein?“ 1865, (gegen R. Seydel in Leipzig, der mit der Schrift „Katholicismus und Freimaurerei“ 1865 antwortete) ist nur darum bemerkenswerth, weil sie wahrscheinlich die Veranlassung dazu gab, daß K. von der Candidatenliste für das Kölnische [674] Erzbisthum gestrichen wurde. Eine der schwächsten Arbeiten ist die 1868 bei Gelegenheit des Streites über die Freiburger und die Kölnische Erzbischofswahl erschienene Schrift „Das Recht der Domcapitel und das Veto der Regierungen bei den Bischofswahlen in Preußen und der oberrheinischen Kirchenprovinz“; zu einer kirchenrechtlichen Untersuchung mangelten K. eben wissenschaftliche Kenntnisse und Unbefangenheit. Die Schrift „Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des h. Thomas von Aquin. Dem gesammten christlichen Adel Deutschlands gewidmet von W. E. v. K.“, 1868, ist eine von Heinr. Bone angefertigte Bearbeitung eines mittelalterlichen Tractates de eruditione principum; von K. ist nur das Vorwort. Eine Denkschrift über „die Gefahren der exemten Militärseelsorge“ ließ K. 1869 nur als Manuscript drucken (Briefe S. 349).

K. war schon 1854, 1862 und 1867 in Rom gewesen; 1869 reiste er zum vierten Male hin, um dem Vaticanischen Concil beizuwohnen. Daß er nichts weniger als ein Theologe in der rechten Bedeutung des Wortes war, liefert den Schlüssel zur Erklärung seines widerspruchsvollen Verhaltens während dieses Concils. Bei der Beurtheilung des Projectes, den Papst für unfehlbar zu erklären, fragte er in erster Linie nicht, ob die Ausführung desselben theologisch zulässig, sondern ob sie für die „Kirche“ ersprießlich sein würde. Er war gescheidt genug, um die schlimmen Folgen der Unfehlbarkeits-Erklärung voraus zu sehen; darum bekämpfte er sie mit aller Energie, aber doch mit dem Vorbehalt, das neue Dogma, wenn es trotz seiner Opposition durchginge, im Interesse der Erhaltung der Einheit und der Disciplin in der Kirche anzuerkennen und dann zu versichern, er habe nie die Wahrheit des Dogma’s selbst, sondern immer nur die Opportunität der Definition desselben bestritten, als ob ein richtiger Theologe etwas für einen Bestandtheil der christlichen Offenbarung und doch die Verkündigung desselben für inopportun halten dürfte. Obschon K. in Rom im deutschen Colleg bei den Jesuiten wohnte, hielt er sich doch zu den deutschen Oppositionsbischöfen und unterzeichnete eine Reihe von Erklärungen und Protestationen derselben, hielt auch in den Sitzungen des Concils mehrere kräftige Reden in ihrem Sinne. Er vertheilte sogar eine, zwar nicht von ihm verfaßte, aber auf seine Veranlassung ausgearbeitete und gedruckte lateinische Denkschrift, in welcher die theologischen Bedenken gegen die beabsichtigte Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit so scharf vorgetragen werden, daß sie zu den besten Arbeiten dieser Art gehört (sie ist abgedruckt in J. Friedrich’s Documenta ad illustr. Conc. Vat. I, 1; vgl. Briefe S. 464; sie wurde Anfangs von den römischen Behörden zurückgehalten und K. hatte Mühe, ihre Freigebung zu erwirken). Daneben veröffentlichte er aber scharfe Erklärungen gegen Döllinger und die Concilsbriefe der Allgemeinen Zeitung (Briefe S. 400, 403 f., 412). Am 13. Juli 1870 stimmte er mit Non placet. Am Abend des 15. hatte er mit vier anderen Prälaten der Minorität eine Audienz bei Pius IX., um wenigstens eine Modification der von der Majorität angenommenen Formel zu erwirken, und schließlich warf er sich vor dem Papste auf die Kniee und flehte Minuten lang: der Vater der katholischen Welt möge der Kirche und dem Episkopate durch etwas Nachgiebigkeit den Frieden und die verlorene Einigkeit wiedergeben (die Scene ist in den Römischen Briefen von Quirinus S. 625 sehr schön geschildert). Die Erklärung welche 56 Bischöfe der Minorität am 17. Juli dem Papste übersandten und worin sie ihr Non placet aufrecht erhielten, unterzeichnete K. nicht mehr mit, übersandte dem Papste vielmehr unter demselben Datum die Erklärung: er werde, „um sich nicht in der seiner ganzen Seele widersprechenden Lage zu befinden, (in der feierlichen Sitzung am 18.) mit Non placet zu stimmen“, noch an demselben Tage abreisen, werde sich aber „den Entscheidungen des Concils ebenso unterwerfen, als [675] wenn er mit Placet hätte stimmen können“ (Briefe S. 421). Nach Mainz zurückgekehrt publicirte K. schon am 20. August die Vaticanischen Decrete und trat fortan als entschiedener Vertheidiger derselben auf, zuerst in den Broschüren: „Die Minorität auf dem Concil“ (gegen Lord Acton), 1870, und „Das unfehlbare Lehramt des Papstes nach der Entscheidung des Vaticanischen Concils“, 1871, dann in mehreren Schriften und Erklärungen in Zeitungen (Briefe S. 450, 459, 504). Bei Gelegenheit seines 25jährigen Bischofsjubiläums im J. 1875 wurde ihm seine Haltung während des Concils wieder in Erinnerung gebracht in der von Mainzer Altkatholiken veröffentlichten Schrift „Freiherr von [WS 2] Ketteler und die übrigen Bischöfe der Minorität als Märtyrer der Ueberzeugung.“ 1877 bekämpfte er in einer seiner letzten Broschüren die staatliche Anerkennung der Altkatholiken als „thatsächliche Einführung des bekenntnißlosen Protestantismus in die katholische Kirche“ (vgl. Briefe S. 532) und provocirte dadurch die Entgegnung des altkatholischen Bischofs Reinkens „Kniefall und Fall des Bischofs Ketteler“, 1877.

Im J. 1871 ließ sich K., – nachdem er in einem langen Briefe am 1. Oct. 1870 dem Grafen Bismarck die Nothwendigkeit demonstrirt hatte, die Bestimmungen der preußischen Verfassung über das Verhältniß von Staat und Kirche in die Reichsverfassung aufzunehmen (Briefe S. 422), – in dem badischen Wahlkreise Tauberbischofsheim in den deutschen Reichstag wählen. Er trat bald wieder aus und entwickelte seine Gründe für die Annahme und die Niederlegung des Mandates in der Schrift „Die Centrumsfraction auf dem ersten deutschen Reichstage“, 1872 (3 Aufl.). Wie während des Aufenthaltes in Berlin, so betheiligte er sich aber auch später, bis zu seinem Tode sehr lebhaft an den kirchlich-politischen Kämpfen mit Erklärungen in Zeitungen (Briefe S. 430 ff.) und Broschüren: „Das Reichsgesetz vom 4. Juni 1872 gegen die Jesuiten“, 1872 (4 Aufl.); „Die preußischen Gesetzentwürfe über die Stellung der Kirche zum Staate“, 1873 (4 Aufl.); „Die Katholiken im Deutschen Reiche. Entwurf zu einem politischen Programm“, 1873 (4 Aufl.); „Die Anschauungen des Cultusministers Falk über die kath. Kirche“, 1874 (6 Aufl.); „Der Culturkampf gegen die kath. Kirche und die neuen Kirchengesetzentwürfe für Hessen“, 1874 (3 Aufl.; vgl. Briefe S. 485); „Der Bruch des Religionsfriedens und der einzige Weg zu seiner Wiederherstellung“, 1875 (2 Aufl.); „Warum können wir nicht zur Ausführung der Kirchengesetze mitwirken?“ 1875 (2 Aufl.). – Im J. 1874 trug K. durch ein sehr heftiges „Ausschreiben, die Sedanfeier betreffend“ (Briefe S. 482) wesentlich dazu bei, diese Feier wenigstens am Rhein in nicht ultramontanen Kreisen populär zu machen. Im Oct. 1875 kam K. auch mit der baierischen Regierung in Conflict durch eine ohne deren Genehmigung in der Pfalz gehaltene Festpredigt (Briefe S. 514). Im J. 1877 reiste er zum 50jährigen Bischofsjubiläum Pius IX. zum fünften Male nach Rom. Auf der Rückreise besuchte er seinen Jugendfreund Clemens von Korff, der noch als Greis von 61 Jahren Kapuziner geworden war und als P. Bruno in dem Kloster zu Burghausen in Oberbaiern lebte. Dort erkrankte er und starb nach fünfwöchentlichem Leiden, an demselben Tage, an welchem er sieben Jahre vorher in Rom mit Non placet gestimmt hatte. Die Leiche wurde nach Mainz gebracht und in dem dortigen Dom beigesetzt. – Nach seinem Tode wurden durch seinen Secretär J. M. Raich Predigten von ihm herausgegeben, 1868, ferner großentheils sehr interessante „Briefe von und an W. E. v. K.“, 1879.

Ein jüngerer Bruder des Bischofs, Richard Freiherr von Ketteler, geb. den 19. Aug. 1819, war bis 1842 Husaren-Offizier in Düsseldorf (der Bischof war nur Einjährig-Freiwilliger im J. 1833 und dann einige Zeit Unteroffizier [676] in dem Münster’schen Landwehr-Ulanen-Regiment), fing 1842 im Herbst an, in München Theologie zu studieren, wurde 1846 zum Priester geweiht und zunächst Kaplan, dann als Nachfolger seines Bruders Pfarrer in Hopsten. 1849 war er Feldprediger bei den preußischen Truppen in Schleswig-Holstein. 1850 sollte er auch in Berlin der Nachfolger seines Bruders werden, lehnte aber ab (Briefe S. 214 ff.) und trat 1851 in Tirol als P. Bonaventura in den Kapuzinerorden. Er wurde 1854 Guardian des Klosters in Mainz und starb den 3. Januar 1855 an der Schwindsucht zu Assen, einem Gute seines Schwagers, des Grafen Galen (Briefe S. 248, Katholik 1855, I, 38).

Deutschlands Episcopat in Lebensbildern, 2. Bd. 3. Heft: W. E. v. K., Bischof von Mainz, von P. Münz, 1874. Katholik 1877, II, 225. Deutscher Merkur 1872, 16; 1877, 239. Im neuen Reich 1879, I, 633. Vollständiges Verzeichniß der (mehr als 50) Schriften von K. bei Raßmann, Nachr. von Münst. Schriftst. S. 175 und Neue Folge S. 118.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in in
  2. Vorlage: von v.