ADB:Weckmann, Matthias
Mattheson’s „Ehrenpforte“, deren Angaben von den Verfassern alter und neuer Lexika einfach wiederholt wurden. Und doch bedürfen sie gerade in wesentlichen Punkten der Berichtigung wie der Erweiterung.
Weckmann: Matthias W. gebührt unter den Organisten Hamburgs im 17. Jahrhundert ein hervorragender Platz. Seine Persönlichkeit bildete für eine Reihe von Jahren das musikalische Centrum Hamburgs; mit seinem compositorischen Schaffen nahm er regsten Antheil an den Bestrebungen, die bald als Frucht die protestantische Kirchencantate und das deutsche Oratorium zeitigten; als Meister des Orgelspiels besaß er einen weit verbreiteten Ruf. Die reichlichsten Nachrichten verdanken wirDie bisherigen Angaben, daß W. 1621 zu Oppershausen i. Thür. geboren sei, wo sein Vater Jacob W. Pastor war, sind irrig. Jacob W. war erst vom 2. November 1628 bis 17. November 1631 (†) Pfarrer in Oppershausen bei Langensalza (Reg.-Bez. Erfurt). Die dortigen Kirchenbücher melden, obwol sie bis 1603 vollständig zurückreichen, nichts von Matthias W. Sein Vater muß also früher an einem anderen Orte angestellt gewesen sein, wo Matthias W. 1621 geboren wurde. Im Communicantenverzeichniß zu Oppershausen werden noch zwei Geschwister erwähnt, eine Schwester Marie und ein Bruder Andreas W. [380] Ein Jahr nach dem Tode des Vaters verließ Weckmann’s Mutter mit ihren Kindern den Ort, um sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Dresden niederzulassen. Hier nahm sich Heinrich Schütz des 11jährigen Knaben an, der außer gründlichen Vorkenntnissen in der griechischen und lateinischen Sprache auch eine „vortrefliche“ Stimme mitbrachte. Schütz ließ ihn zunächst von einem gewissen Gio. Gabrieli (natürlich nicht dem großen Venetianer) im Gesange unterrichten. Im Singen machte Matthias W. so gute Fortschritte, daß Schütz ihn bald dem Kurfürsten Johann Georg I. vorstellte, welcher W. „nicht allein in seiner Kapelle aufnahm und eine Besoldung aussetzte, sondern auch sein bis dahin schuldiges Kost- und Lehrgeld auszahlen ließ“. Dazu übernahm Schütz selber seinen Unterricht in der Composition und „in allen dem, was er nur in Italien gehöret und erlernet hatte“. So war denn Weckmann’s künstlerischem Leben die entschiedenste Richtung gewiesen, sowol durch praktische Ausführung, wie durch theoretische Erkenntniß den besten Meisterwerken der Italiener, in erster Linie der Venetianer, täglich näher zu treten. Unterbrochen wurde diese Zeit fruchtbarster Anregung und fleißigen Studiums, als Weckmann’s „schöner Diskant“ sich in einen Alt wandelte. Schütz hielt es nun für das Beste, W. „zum Organisten anführen zu lassen“, und empfahl als Lehrmeister den berühmten Schüler Sweelinck’s, Jacob Prätorius, Organist an St. Petri in Hamburg (1603–1651); der Kurfürst bewilligte dazu für drei Jahre ein jährliches Lehrgeld von 200 Thalern. Diese Zuwendungen des Kurfürsten fallen als Zeugnisse für Weckmann’s Tüchtigkeit und für Schützens Zuneigung umsomehr ins Gewicht, wenn man die immer schwieriger werdenden Verhältnisse der Dresdener Hofcapelle gerade zu dieser Zeit berücksichtigt. – Schütz brachte seinen liebwerthen Schüler persönlich nach Hamburg. Das genaue Datum für ihre gemeinsame Reise, mit der Schütz einen zweiten Besuch in Kopenhagen als Zweck verband (s. Spitta, Musikgeschichtl. Aufsätze, Berlin, Gebr. Paetel, 1894, S. 29; Angul Hammerich, Viertelj. f. Musikw. 1893, S. 91), geht aus dem Paßbrief hervor (Kgl. Hauptstaatsarchiv zu Dresden. Loc. 8297, Bl. 19 und 22), der „für Matthes Weckmann, kursächs. Musicus und Organist“, unter dem 31. Juli 1637 ausgestellt wurde (Vierteljahrsschr. f. Mus. 1891, S. 230). Für den Lehrgang, den W. bei Jac. Prätorius durchmachen mußte, besitzen wir ein denkwürdiges Zeugniß in Ms. ND VI nr. 5383 (Hamburger Stadtbibliotheth. Für den Schreiber dieses Quartbandes hat man bisher H. Scheidemann betrachtet (Viertelj. f. Mus. 1891, S. 181 und 485 f.); bei einer genaueren Durchsicht jedoch hat sich ganz versteckt Weckmann’s übliche Signatur „M. W.“ gefunden und so herausgestellt, daß W. selbst der Schreiber war. Prätorius unterrichtete also seinen Schüler in den Zarlino-Sweelinck’schen Compositionsregeln, – sie bilden den Inhalt des Bandes. Ihnen gemäß setzte W. viele Vespern, Kirchengesänge u. s. w. „in prätorianischer Manier“. Gleichzeitig mit W. studirte der gleichaltrige J. A. Reincken bei Scheidemann; die beiden jungen Musiker müssen sich schnell angefreundet haben, denn W. überließ sein Manuscript Reincken, der es zu weiteren Eintragungen benutzte. Für seine Orgelstudien war Hamburg just der rechte Ort. An S. Catharinen wirkte noch ein zweiter berühmter Schüler Sweelinck’s, Heinrich Scheidemann (1625–1663). W. besuchte dessen Vespermusiken, die großen Zulauf hatten, recht häufig, um „die prätorianische Ernsthafftigkeit mit einer scheidemannischen Lieblichkeit zu mäßigen; und also viele galante Erfindungen einzuführen“, mit denen er bald öffentlichen Beifall fand. – Mitte 1640, nach Ablauf der drei Studienjahre, kehrte W. nach Dresden zurück, wo inzwischen trotz Schützens Anstrengung der Zustand der kurfürstlichen Kapelle infolge der Kriegswirren ein sehr trauriger geworden war. Da wurde der Kurprinz, nachmaliger Kurfürst Johann Georg II., der Retter in der Noth. Unter Schützens [381] fachlicher Beihülfe erließ er am 14. September 1641 für seine 1638 gegründete kurprinzliche Capelle eine Neuordnung, durch die wenigstens das Capellknabeninstitut gesichert wurde. Matthias W. ernannte er zum Hoforganisten mit 200 fl. Gehalt und einem Hofkleide jährlich. Seines Amtes war, „in der Kirchen und für die Tafel oder wo sonst Ihre Durchlaucht ihn hin verordnen werden“, fleißig aufzuwarten. Ferner wurde ihm durch besondere Verordnung die Unterhaltung und Unterweisung der Sängerknaben übertragen, ihm zur Pflicht gemacht, „obgemeldte Knaben mehrmals in ein Instrument, Regal oder Positiv, absonderlich singen lassen und dergestalt exerciren helfen, daß sie rein singen sich gewöhnen und in der Musik desto schleuniger perfectioniren mögen“. Diese Einrichtung sollte nach Schützens Willen nur einen Samen der Musik ausstreuen, der für bessere Zeiten aufginge (Moritz Fürstenau, Zur Gesch. d. Musik u. des Theat. am Hofe der Kurfürsten v. Sachsen. Dresden 1861, S. 24 ff.). Die Möglichkeit des Verkehrs mit italienischen Künstlern machte sich W. alsbald wieder zu Nutze, indem er ihre Sprache fertig erlernte und durch jene sich beständig die Kenntniß der neuesten italienischen Werke verschaffte. – Weckmann’s Thätigkeit an dieser Stelle währte kaum ein Jahr. Der dänische Kronprinz Christian, auf dessen Anregung schon Schütz an den dänischen Hof gezogen worden war, hatte sich nach seiner Hochzeit 1634 eine eigene Capelle auf seinem Schlosse Nykjöbing eingerichtet. Etwa 1642 besuchte der Kronprinz den Dresdener Hof und erbat sich von Joh. Georg II. drei „Musikanten“, darunter auch W. für seine Capelle. In Nykjöbing wurde W. als Capellmeister angestellt und erhielt als Gnadengeschenk des Kronprinzen Porträt auf einer goldenen Medaille an einer goldnen Kette. Zu Weckmann’s Functionen gehörte es, „jeden Morgen, Freitag und Sonntag ausgenommen, von 9–10 mit den Lehrlingen zu üben, darauf zu achten, daß sie sich in den Manieren, die sie gelernt, üben und nicht anderswo singen“. Gern hatte man die Dresdener Musiker nicht ziehen lassen, 1646 schon reclamirte sie Johann Georg II.; so erhielten sie denn im April 1647 ihre Pässe nach Dresden zurück. Ohnehin wäre ihres Bleibens nicht viel länger gewesen, da Christian 1647 auf der Reise nach Karlsbad starb und seine Capelle aufgelöst wurde (Angul Hammerich, a. a. O. S. 97 f.). – Den Rückweg machte W. über Hamburg, wo er sich mehrere Wochen aufgehalten haben muß. Die Quelle für diese neue Thatsache ist ein nach mehreren Seiten hin beachtenswerthes Actenstück, Ms. KN. 206 in der Lüneburger Stadtbibliothek. Den Inhalt des Foliobandes, zum größten Theil von Weckmann’s Hand geschrieben, bilden zumeist Compositionen italienischer Meister, Monteverdi voran, A. Grandi, Tarq. Merula, Lor. Agnelli, Gio. Rovetta u. a.; unter den Deutschen sind H. Schütz, Christoph Werner, Joh. Stadlmeyer die namhaftesten. Der Band zeigt, wie eifrig W. bemüht war, für seine Capellsänger in Dresden und Nykjöbing Material herbeizuschaffen von Werken, die seit Jahren bekannt, aber wol nicht vorhanden waren, und von solchen, die eben erst auf den Markt gelangten. Mehrere Stücke verdankt er offenbar nur der Gunst intimer persönlicher Beziehungen zu den Componisten. Durch einige kurze kritische Apostrophen, die hier und da bei den Werken vermerkt sind, gewinnt die Handschrift für uns einen erhöhten persönlichen Werth. Am Schlusse des Bandes steht über dem Datum „Hamburgi 15 Junij Ao. 1647“ ein stark verschnörkeltes Monogramm, das in sich die Anfangsbuchstaben von Joh. Ad. Reincken, Heinr. Scheidemann und Matth. W. vereinigt. Mit der Ueberreichung seines Bandes besiegelte also W. die fröhliche Zusammenkunft mit seinen alten lieben Freunden (näheres über den Inhalt bei Junghans, Programm des Johanneums zu Lüneburg, 1870, S. 29, der freilich die Situation nicht erkannt hat). – Nach Dresden zurückgekehrt, übernahm W. sein früheres Amt in der kurprinzlichen Capelle als [382] Organist. Die Vorliebe des Kurprinzen für italienische Sänger hatte zugenommen; W. fand also wiederum „eine eben so reiche Aerndte für seine Wißbegierde, als wenn er sich selbst in Italien befunden hätte“. Schütz rieth nun W., Hebräisch zu lernen, um bei der Composition alttestamentlicher Texte die Tiefe des Empfindens erreichen zu können; W. befolgte den Rath mit Nutzen. Der als Judenbekehrer und Lehrer des Hebräischen bekannte Licentiat Esdras Edzardus aus Hamburg äußerte einmal über Weckmann’s Composition des 63. (53.?) Cap. des Propheten Jesaias: „Er habe im Sing-Basse den Messiam so deutlich, dem loco adiunctorum gemäß abgemahlet, als wenn er ihn mit Augen gesehen hätte“ (Mattheson, Vollk. Capellm. S. 130 f.). Die Composition ist uns leider nicht bekannt. Das umfangreichste Werk aus Weckmann’s Dresdener Thätigkeit müssen wir ebenfalls bis auf weiteres als verschollen bezeichnen: die Canzonen für zwei Violinen, ein Fagott und Generalbaß, 1651 in Freiberg i. S. gedruckt und wahrscheinlich für die Tafelmusik des Kurprinzen bestimmt. Noch ein Stück fällt nachweislich in diese Zeit, die Composition über Jesaias 54, 7: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen“; aber von dieser ist auch nur der Generalbaß gerettet (Ms. Bn. 21, 5. Bibliothek des Alterthumsvereins zu Freiberg). Ende 1649 besuchte Froberger den Dresdener Hof (Franz Beier, Sammlung musik. Vorträge, Nr. 59/60, S. 10 f. Breitkopf u. Härtel, Leipzig). Mattheson berichtet darüber an zwei Stellen, die in äußerlichen Einzelheiten von einander abweichen. Ihm deshalb Unwahrheit vorzuwerfen, ist übereilt. Aus seiner Erzählung von einem stattgehabten musikalischen Wettstreit zwischen Froberger und W. leuchtet klar hervor, daß beide Künstler sich dem Namen nach vorher schon gegenseitig hochschätzten. Reincken stand ja mit Wiener Musikern (wie z. B. Poglietti) in geistig anregendem Verkehr. Das Gleiche ist also von W. anzunehmen, da er uns in seiner Sammelhandschrift sogar ein ungedrucktes „Deus misereatur nostri“ von Kaiser Ferdinand III., Froberger’s hohem Gönner, überliefert hat (es fehlt in G. Adler’s Sammlung der mus. Werke der habsb. Kaiser, Wien, Artaria u. Co.). Daß Froberger und W. sich in Dresden persönlich kennen gelernt und ihre Freundschaft brieflich eifrig weiter gepflegt haben, ist somit nicht von der Hand zu weisen. – Zur vollen Entfaltung dessen, was W. künstlerisch wollte und konnte, gelangte er jedoch erst in der freien Hansastadt Hamburg. Ulrich Cernitz, Organist an St. Jacobi seit 1631, war 1654 gestorben. Von den Candidaten Albert Schope, Hoforganist in Güstrow, Wolfg. Wesnitzer und Jac. Lorentzen vom Hamburger Waisenhaus, mochte keiner den Kirchenvorstehern zusagen. Joh. Olffen, Organist an St. Petri und Nachfolger von Jac. Prätorius (Weckmann’s Lehrer), erhielt nun, da er auf W. die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, den Auftrag, W. zum Probespiel zu ersuchen. Nach Rücksprache mit Schütz und mit Erlaubniß des Kurprinzen erschien W. Kunstrichter für die zweite Probe waren außer dem Cantor Th. Selle und dem Violinisten Joh. Schope die drei Hauptorganisten: H. Scheidemann (St. Catharinen), Olffen (St. Petri), Joh. Prätorius (St. Nicolai). W. kam nach dem Spiel der früheren Candidaten an die Reihe. Es ist wahrlich beschämend für unsere Zeiten, wenn man liest, welche künstlerischen Aufgaben damals vor so gewiegten Künstlern gelöst werden mußten. Keine von den Anforderungen damaliger Kirchenmusik wurde W. erlassen. Nach einer Fuge über ein „verkehrtes Thema primi et tertii Toni zusammen“ mußte W. die Generalbaßstimmen einer Motette variirend auf zwei Clavieren behandeln und seine Fertigkeit im Generalbaßspielen durch die Begleitung eines Violinsolo beweisen. Zum Schlusse wurde ihm der Choral „An Wasserflüssen Babylon“ aufgegeben, dessen „ersten Vers er nach prätorianischer, ernsthafter Art, die andern aber fugenweise durch alle ganze und halbe Töne, mit vielerley Veränderungen durchführte“. [383] Von den besten Organisten unserer Tage dürfte man schwerlich ein so volles Maaß schulgerechter, künstlerischer Improvisation erwarten. Einstimmig wurde W. gewählt; der Kurprinz ertheilte dazu, wenn auch nur ungern, seine Einwilligung, Nachdem er sich persönlich in Dresden verabschiedet hatte, trat W. 1655 sein neues Amt an. Die musikalischen Verhältnisse, die W. vorfand, mußten im ganzen für ihn angenehme sein. Auf Cernitz’ Veranlassung hatte bereits 1635 die alte Jacobi-Orgel (deren Dispos. bei M. Prätorius, Synt. mus. II, S. 168) eine großartige Erweiterung erhalten, deren Kosten die hohe Summe von 6325 Rthl. 14 β. erreichten. W. wünschte gleich in der ersten Zeit eine Verbesserung der Baßthürme, und er hatte die Freude, seinen Vorschlägen 1657 wirklich entsprochen zu sehen, obgleich der Kirche aus dieser Aenderung des Orgelwerks wiederum ein Aufwand von 1656 Rthl. erwuchs (Jul. Faulwasser, „Die St. Jacobi-Kirche“, Hamburg 1894, G. W. Seitz Nachf.). Director der Hamburgischen Kirchenmusik war seit 1637 der Cantor am Johanneum, Thomas Selle, der mit zwei Bässen, zwei Tenören, den Freischülern der Kirchenschule und des Johanneums den Singechor bestellte (vgl. Signale f. d. mus. Welt, Leipzig, B. Senff, 1870, S. 66 ff.). Das gute Einvernehmen Weckmann’s mit Selle findet in Selle’s Gevatterschaft bei Weckmann’s Tochter Eva Christine (20. Juli 1657) sichtbaren Ausdruck; bei der zweiten Tochter Sophie Elisabeth (20. September 1658) stand Joh. Olffen Pathe. An der Spitze der Rathsmusikanten befand sich der Violinist Johann Schope; neben ihm war auch Peter v. Sidon ein bedeutender Geiger. Mit solchen, freilich nicht übermäßig stattlichen Kräften ließ sich schon etwas erreichen. W. componirte nun viele Stücke, die Selle in der Kirche zur Aufführung brachte. W. schuf sich aber eine noch breitere Basis für seine Bestrebungen. Nicht erst 1668 (Mattheson), sondern bereits 1660 gründete er mit zwei vornehmen Musikliebhabern ein Concertunternehmen, dessen Garantie zunächst 50 Personen durch Unterschrift übernahmen. Die Aufführungen dieses Collegium musicum fanden im Refectorium des Doms statt. Das Institut blühte schnell auf. W. sorgte für die besten Musikalien aus Venedig, Rom, Wien, München, Dresden u. s. w., und bedeutende Componisten übersandten Compositionen und ließen ihre Namen in die Liste eintragen. Der Ruf dieser Concerte lockte manchen Künstler nach Hamburg, u. a. den Sänger Franz de Minde, den Capellmeister Casp. Förster, der selber ein vorzüglicher Sänger war. Manches Band enger persönlicher Beziehungen zwischen den Künstlern ist nachweislich hier geschlungen worden. Am 2. Juli 1663 starb Selle; kurz vorher war er mit W. uneins geworden, von dem er nun keine Note mehr in der Kirche aufführen wollte. In seiner Betrübniß componirte W. die Worte „Weine nicht, es hat überwunden“ (Off. Joh. 5, 5), die ihm beim Aufschlagen der Bibel in die Augen fielen. Um das Stück in der Kirche zu Gehör zu bringen, mußte eine kleine List helfen. Ein guter Freund copirte das Stück, schrieb Christ. Bernhard’s Namen darauf und gab es Selle, der es unter vielem Rühmen mehrmals aufführte. An Selle’s Stelle wurde durch Weckmann’s Fürsprache von sechs bedeutenden Candidaten Christopher Bernhard aus Dresden, ebenfalls ein Schüler Schützens, zum Cantor gewählt. Mattheson erzählt uns diese etwas fabulös klingende Geschichte mit allen drastischen Einzelheiten an zwei wiederum von einander abweichenden Stellen (Ehrenpf. s. „Bernhard“ und „Weckmann“), und doch müssen wir sie glauben. Der gute Freund und Vermittler war Gustav Düben, späterer Capellmeister in Stockholm. Drei Foliobände, in denen er einen ansehnlichen Vorrath neuester Musik (wie es scheint, den ganzen Programmbestand des Collegium musicum während der Jahre 1663–67) aus Hamburg mit sich führte, befinden sich noch heute in der Universitätsbibliothek Upsala (Mscr. 78, 79, 81). Der Band vom [384] Jahre 1664 (Mscr. 79, fol. 109) enthält die concertirende Motette „Weine nicht“ von „Chr. Bernhard“. All die kleinen Züge, die Mattheson von dem Stück erwähnt, passen genau auf diese Composition, als deren wahren Autor wir also W. anzuerkennen haben. W. pflegte übrigens mit seinem Studiengenossen Bernhard vertrauteste Freundschaft. Ihm überließ er, wie es scheint (Ehrenpf. S. 22), von 1664 an die Direction des Collegii musici; und während der Dauer des Hamburger Amtes entstanden wol Bernhard’s theoretische Schriften (Viertelj. f. Mus. 1891, S. 495 ff.), die in vielen tiefergehenden Zügen des Verfassers Vertrautsein mit Sweelinck’s Lehrbuch bekunden. In Bernhard’s Hause veranstaltete 1666 die Elite der Hamburger Künstler dem Kirchendichter Rist zu Ehren jenes berühmte Concert (s. dessen letztes „Monats-Gespräch“ und die „verschmähete Eitelkeit und Wollust der Welt“ Th. II); und 1667 fand hier ein anderes statt, in welchem Bernhard und Förster selber als Sänger mitwirkten (Mscr. 78 Upsala [1665–67] fol. 89 „Repletum est cor meum“ von Förster). Obwol es als sicher gelten darf, daß auch W. zu den Intimen des Rist’schen Kreises gehörte, so hat er doch keine Liedcompositionen für ihn geliefert. Zu diesem Genre wandte er sich erst später, als in seinem Familienleben ein neuer Frühling anhob. 1667 starb Weckmann’s Frau, die ihm sechs Kinder geboren hatte, vier Töchter und zwei Söhne, deren ältester, Jacob, wol schon in Dresden geboren wurde (nähere Daten in den Taufbüchern von St. Jacobi). Erbschaftsauseinandersetzungen veranlaßten W. vielleicht zunächst, nach Dresden zu reisen. Er verband damit einen Besuch am Hofe, wo ihn Kurfürst Johann Georg II. sehr gnädig empfing und ihm außer einem diamantbesetzten Porträt das freie Studium seiner beiden Söhne in Wittenberg gewährte. Beide starben aber jung: der älteste, Jacob, als stud. theol., der jüngere, Hermann (geboren am 12. August 1662, genannt „der galante W.“ [Mattheson, Ehrenpf. S. 255]), als Organist in Leipzig. Auch eine Schwester starb unverheirathet. W. verheirathete sich 1669 in Hamburg zum zweiten Male; am 14. Februar erfolgte seine Proclamation mit Catharina Rolandes, Tochter von Berthold Rolandes. Zwei Töchter aus dieser Ehe wurden am 13. Juli 1671 getauft. 1668 war nun W. zu Phil. v. Zesen, über dessen Charakter der inzwischen verstorbene Rist nicht eben die beste Meinung hegte, in engere Beziehung getreten. Weckmann’s Lieder für ihn, neun an der Zahl, wurden veröffentlicht in Zesen’s „Schöner Hamburgerin“ (1668), „Reinweisser Herzogin“ (1668), „Dichterischem Rosen- und Liljenthal“ (1670); nr. 91 im letzten Werk: „Lob- und Tugend-lied auf des edlen und weitberühmten Herrn D. B. Schuppens glimpflich schimpfende Schertzhafftigkeit, als derselbe sich zum zweiten mahle ehlich verknüpfte“, von W. componirt, deutet auf Weckmann’s gute Beziehungen zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten hin, dem vielgeliebten, aber auch vielgeschmähten Pastor an St. Jacobi, der doch ein empfängliches Ohr hatte für die Kunst der Hamburgischen Musiker (Mattheson, Ehrenpforte S. 304). Mit Weckmann’s Tode, der 1674 erfolgte, und mit Bernhard’s Rückkehr nach Dresden zerfiel das Collegium musicum. Einen Ersatz, allerdings nach anderer Richtung hin, schuf der befreundete Reincken mit Schott zusammen durch die Gründung der Hamburger Oper 1677. Doch erschwerten heftige Polemiken, in denen sich auch Schupp’s Amtsnachfolger Anton Reiser hervorthat, bedeutend die ersten Athemzüge des aufstrebenden Unternehmens.
Von Weckmann’s Orgelcompositionen sind sechs durch handschriftliche Ueberlieferung erhalten (Ms. KN. 209, Stadtbibl. Lüneburg; Ms. P. 802, Kgl. Bibl. Berlin). Claviervariationen über das Lied „Lucidor einst hütt der Schaf“ befanden sich im verschollenen Ms. des Grafen Lynar (Sweelinck’s Werke, I, S. 2 f. des deutsch. Vorw.). Als Orgelmeister steht W. mit Delphin Strunck, [385] J. A. Reincken und Fr. Tunder auf einer Stufe der geschichtlichen Bedeutung. Seine ganze Art und Weise, mit den contrapunktischen Motiven umzugehen, die Formen seiner Choralbearbeitungen, sie sind typische Erkennungszeichen für den in Sweelinck’s Schule gebildeten Musiker – daran hat H. Schütz keinen Antheil. Man mag am deutlichsten diese musikalische Verwandtschaft ausgeprägt finden, wenn man Weckmann’s zweistimmige und dreistimmige Stücke, in welchen letzteren er den Choral durch kanonisch geführte Stimmen begleiten läßt, vergleicht mit analogen Compositionen in Scheidt’s Tabulatura Nova (Denkmäler deutscher Tonkunst, Band I). Die Männer der zweiten Periode norddeutscher Orgelkunst im 17. Jahrhundert kann man als Sweelinck’s indirecte Schüler bezeichnen. Eine Vermehrung der musikalischen Formen für die Behandlung des Chorals haben sie nicht erreicht, sondern nur eine Erweiterung der bereits bestehenden durch eine gesteigerte Heranziehung und virtuose Ausnutzung der specifischen Ausdrucksmittel der Orgel. Wo Prätorius und Scheidemann, sich selbst beschränkend, stehen geblieben, schreitet W. kühn weiter. Die einfachen, im Ausdruck strengen Choralbearbeitungen Prätoris’ dehnt W. zu pompösen Sätzen für die volle Orgel aus, wobei er durch fünf- bis sechsstimmigen Satz und durch Anwendung des Doppelpedals die Klangfülle der Orgel in prächtigem Glanze wirken läßt. Scheidemann’s noch einfache Chromatik, seine Gewandtheit im wechselnden Gebrauch der Manuale überbietet W. durch sein überaus mannichfaltiges und vielfarbiges Spiel mit wechselnden Manualen, deren Registrirung er fürsorglich genau vorschreibt, und durch die kühne Ausdehnung der Chromatik über ganze Tonleiterpassagen. Sweelinck’s große dreitheilige Fantasieform haben die norddeutschen Organisten der zweiten Periode nicht weiter gepflegt; sie bevorzugten, unter dem Einfluß Frescobaldi’s und der Wiener Organisten, wie Froberger und Kerl, die übersichtlichere Form der Canzona. Eine solche hat auch W. geschrieben; sie ist wol das abgerundetste und stimmungsvollste seiner erhaltenen Orgelstücke. Dieses Stück in D-moll trägt so ausgeprägt Buxtehudesche Züge – ausgeprägter als sie sich bei Tunder nachweisen lassen, daß kein Zweifel mehr darüber zu bestehen braucht, wo der größte norddeutsche Organist seine Ausbildung empfangen hat, auf der Hochschule des Orgelspiels in Hamburg. – Weckmann’s Lieder für Phil. v. Zesen sind Erscheinungen, wie wir sie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts überaus häufig zu Tage kommen sehen: übersichtlich gegliederte, kurze liedhafte Weisen für eine Singstimme mit Generalbaß. W. bewegt sich mit ihnen durchaus auf den Bahnen, die von den Componisten des Rist’schen Kreises, des Königsberger Dichterkreises, von Männern wie Hammerschmidt, Mich. Jacobi, Chr. Flor, H. Pape, H. Scheidemann, M. Coler, Joh. Schop, P. Meier, Jac. Kortkamp, Jac. Prätorius, S. G. Stade, Th. Selle, von H. Albert, Chr. Werner, Voigtländer u. a. betreten waren. Einen gewissen italienischen Beigeschmack erhalten Weckmann’s Lieder durch kleine, den Gesang zierende Figuren. – Weckmann’s Kirchenmusikwerke sind Zeugen des tiefgehenden Einflusses, den Schütz auf seinen künstlerischen Nachwuchs ausgeübt hat. Neun Stücke sind handschriftlich überliefert (Mscr. 79, 81 Upsala; Mscr. 22, 220 [aus des Cantors H. Bokemeyer’s Nachlaß], Kgl. Bibl. Berlin. Die Ueberschriften im Berliner Mscr. sind meist nachträglich zugefügt, bei zweien ist „Jacob W.“ als Autor angegeben; Bn. 21, 5, Alterthums-Verein, Freiberg i. S.). In einem alten, anscheinend leider verschollenen Catalog in Lüneburg (s. Junghans a. a. O. S. 29) waren 18 Stücke Weckmann’s dem Titel nach genau angegeben. Die erhaltenen Stücke Weckmann’s bewegen sich nicht auf dem Boden der altvenetianischen Chormotette, sondern sind Kinder der neuitalienischen Kunst, die durch die Errungenschaft des Sologesanges und des [386] Recitativs, durch die Heranziehung begleitender Instrumente, durch das Fundament des Generalbasses der Chormotette überraschende Ausblicke zu neuen und mannichfaltigen Formengebilden eröffnete. Eine Richtung führte zu den Solomotetten für eine Stimme mit oder ohne Begleitung einiger Instrumente, zu den Symphoniae sacrae Schützens (Werke, Band V). Ihr gehören von W. an: „Kommet her zu mir alle“ (vgl. Schütz [V, 25], Ign. v. Ghesel [Upsala, Ms. 79], und Hammerschmidt [3. Th. Musik. Andachten 1642]), „Rex virtutum“, „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen“. In der gleichen Richtung ergab sich die oratorienhafte Dialogform, W. vertritt sie in zwei Werken: „Gegrüßest seist du, Holdselige“ (vgl. Hammerschmidt [1. Th. der Dialogi, 1645 nr. 9] und Schütz [VI, 184]). – „Angelicus caeli chorus“. Eine Vereinigung aller Motettengebilde in glänzendstem Gewande stellt die auf venetianischem Grunde erblühte, concertirende Motette, das „Geistliche Concert“ Schützens dar. Viele verwandte Züge im Aufbau wie in der Tendenz dieser Form weisen in gerader Linie auf die spätere protestantische Kirchencantate hin. Weckmann’s Compositionen von dieser Gestalt sind auch seine gehaltvollsten und gereiftesten, die neben den Schütz’schen einen ehrenvollen Platz verdienen: „Weine nicht, es hat überwunden“; „Ein Tag in deinen Vorhöfen“; „Herr, warum trittest du so ferne“; „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“ (vgl. Schütz [I, 42], Hammerschmidt [4. Th. musik. Andachten 1646], Aug. Braun [Junghans, a. a. O. S. 35]); „Es erhub sich ein Streit im Himmel“ (vgl. Johann Siegfried [Walth. Lexik.], Jul. Weiland [Upsala, Ms. 81], Chr. Werner [Lüneburg, KN. 206], Hammerschmidt [2. Th. Geistl. Gespräche 1656]. Joh. Christoph Bach [Kgl. Bibl. Berlin], Seb. Bach [Werke II, nr. 19, X nr. 50]); „Wenn der Herr die Gefangenen zu Zion erlösen wird“ (vgl. H. Schütz [III, 133 und VIII, 44], Hammerschmidt [Motetten 1649 und 5. Th. musik. Andachten 1653]). Die in Klammern beigefügten Parallelen mögen den kunsthistorischen Zusammenhang andeuten, unter dem Weckmann’s Werke, um richtig gewürdigt zu werden, betrachtet werden müssen.