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Artikel „Tunder, Franz“ von Max Seiffert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 788–790, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tunder,_Franz&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 00:43 Uhr UTC)
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Tunder: Franz T. nimmt in der Geschichte der Musik des 17. Jahrhunderts durch seine Beziehungen zu Buxtehude und zu den ersten Anfängen der „Abendmusiken“ in Lübeck eine sehr bedeutsame Stellung ein, auf die freilich erst in jüngster Zeit durch glückliche Funde C. Stiehl’s ein helleres Licht gefallen ist. Aus den jetzt in genügender Anzahl vorhandenen biographischen Notizen und Compositionen tritt Tunder’s Persönlichkeit in voller Gestalt heraus. Tunder’s Familie hatte, wie es scheint, früher ihren Sitz im Lüneburgischen; ein Gosmann Tunder starb 1548 als erster Schulcollege in Bardowiek. Franz Tunder’s Geburtsjahr war, nach dem „Ehrengedächtniß“ im Protocollbuch der St. Marienkirche in Lübeck zu schließen, das Jahr 1614. Ob Lübeck auch der Geburtsort war, läßt sich nicht feststellen; die Acten der Marienkirche, des Staatsarchivs und des Ministeriums bieten keinen Anhalt. Den Abschluß seiner künstlerischen Bildung brachte eine Reise nach Italien, wo T. sich längere Zeit (um 1640) bei Girol. Frescobaldi in Rom aufhielt. Daß er aber vorher die Anregungen der von Sweelinck her mächtig angefachten Orgelkunst in sich aufgenommen hat, darf außer Zweifel sein; seine späteren Orgelcompositionen lassen deutlich erkennen, daß T. mit den Meistern der Sweelinck’schen Schule, Schildt, Scheidemann, Prätorius, mindestens in engem, geistigen Connex stand. Anfang Juni 1640 starb Petrus Hasse, der Organist an St. Marien in Lübeck seit 1616, ein Vorfahr des berühmten Operncomponisten Joh. Ad. Hasse. Als vorläufiger Vertreter des vacanten Postens fungirte Johann Schlete, der nach Tunder’s Antritt Organist an St. Jacobi wurde. Michaelis 1641 übernahm T. das Amt. Ganz kurze Zeit vorher war der alten, von Barthold Hering erbauten Marienorgel durch Friedr. Stellmagen eine Reparatur zu theil geworden (vgl. die Disposition aus Niedt’s „Musikalischer Handleitung“ bei Spitta, J. S. Bach, l S. 850). Kein Geringerer, als der berühmte H. Scheidemann in Hamburg war „auf der Herren Vorsteher begehren herubergekommen, die grosse örgell zu beschlagen“. Auch die äußeren Lebensbedingungen waren für T. günstig. Das Organistengehalt betrug seit 1635: 500 Mk. und 9 Mk. Accise. Schon 1643 erhielt T. „50 Mk. zur Verehrung“ und 1644 wieder „50 Mk. wegen des so ehr den Vorstehern deticeret“. Von 1646 an stieg das Gehalt auf 800 Mk.; dazu kamen von 1647 an noch 220 Mk. für die Dienste als „Werkmeister“ (Rechnungsführer); das macht in Summa 1020 Mk. außer freier Wohnung und sonstigen Accidentien. – von Tunder’s Orgelcompositionen sind 7 Choralbearbeitungen in K. N. 209 (Lüneburger Stadtbibliothetk) erhalten: 1. Jesus Christus, wahrer Gottes Sohn; 2. In Dich hab’ ich gehoffet, Herr; 3. Auf meinen lieben Gott; 4. Jesus Christus, unser Heiland; 5. Was kann uns kommen an für Noth; 6. Komm, heiliger Geist; 7. Herr Gott, Dich loben wir. In ihnen nähert sich T., ebenso wie Delphin Strunck, am meisten der Eigenart Melchior Schildt’s in Hannover; in ihnen reifen aber auch schon einzelne charakteristische Züge des Orgelmeisters Buxtehude zu schöner Frucht heran. Die freie, ungezwungene Colorirung der Choralmelodien, das leichte Spiel mit den wechselnden Manualen – sie liegen in der Richtung Schildt’s. Die machtvolle Ausgestaltung der Formen (ein Einfluß Frescobaldi’s), die sichere Beherrschung contrapunktischer Mittel, die Behandlung des Doppelpedals, das passagenartige Hineingleiten in den Anfang der Tonstücke, die reizvoll gefärbten Schlußcadenzen – sie weisen mit erstaunlicher Deutlichkeit den Weg zu Buxtehude hin. Eine gewisse Parallele findet T. in J. Adam Reincken. Jedoch wie Schildt und Scheidemann, so unterscheiden sich auch ihre jüngeren Nachfolger; Scheidemann und Reincken gehen zu sehr in die versandende Breite, während Schildt und T. in die kraftvolle Tiefe streben. Damit mag Tunder’s Stellung in der Orgelmusik Norddeutschlands angedeutet sein.

[789] Bis Tunder’s Antritt scheint die Kirchenmusik an St. Marien wesentlich unter der Leitung des Cantors gestanden zu haben, er bezog ein Gehalt von 30 Mk. jährlich; ihm waren 7 Raths-Instrumentisten unterstellt, die ein Gehalt von 25 Mk. erhielten. Im J. 1641 waren vertreten: 2 Cornette, 1 Violine, 1 Viola, 1 Violon, 1 Laute, 1 Posaune. Ferner bestand die Sitte, daß während der Communion der Rathsherren und Kirchenvorsteher „ein Violist und ein Lautenist auff der örgell auffzuwarten hatten“, die besonders honorirt wurden (eine ähnliche Sitte, wie in Danzig unter Paul Siefert; vgl. Vierteljahrsschr. f. M. 1891, S. 411 ff.). Die vorhandenen musikalischen Kräfte nach Möglichkeit zu erweitern und zur Geltung zu bringen, war Tunder’s Bestreben. Schon bald finden wir Mehrausgaben für Instrumentisten: 1642 für „zwei Fleuten“ 9 Mk., 1643 für „zwei Trompetten“ je 4 Thlr. und für „zwei Fleuten“ je 1 Thlr. Die 18 erhaltenen Vocalwerke Tunder’s (Universitätsbibliothek Upsala, Stimmen oder Partituren in Orgeltabulatur) ziehen freilich nur einen Instrumentalkörper von Violinen, Bratschen und Violon zur Mitwirkung heran, nur einmal (Hosianna dem Sohne David) tritt ein Fagott dazu. Dennoch darf man an der Zuverlässigkeit der Angaben der Protocollbücher nicht zweifeln. Die Compositionen, in denen jene Instrumente Verwendung fanden, stammten entweder von anderen Componisten, oder die betreffenden Werke Tunder’s sind bisher noch nicht gefunden. Zieht man die alten Katalognummern der einzelnen Hefte sowie die Zeitangaben in den Tabulaturen zu Rathe, so ergiebt sich folgende Chronologie von Tunder’s Vocalwerken: (1663) 1. Salve coelestis pater; 2. Salve mi Jesu; 3. Da mihi Domine; 4. Ach Herr, laß Dein lieben Engelein; 5. Sinfonia für ein Da pacem Domine, 6. O Jesu dulcissime; (1664) 7. Wachet auf, ruft uns die Stimme; 8. An Wasserflüssen Babylons; 9. Hosianna dem Sohne David; (1665) 10. Nisi Dominus aedificaverit (10stimmig); 11. Nisi Dominus aedificaverit (5stimmig); (1666) 12. Hilft mir Gottes Güte preisen; 13. Dominus illuminatio mea; 14. Wend’ ab Deinen Zorn; (1667) 15. Herr, nun lässest Du Deinen Diener; 16. Ein’ feste Burg; 17. Ein kleines Kindelein: 18. Streuet mit Palmen. Die Werke stammen also alle aus den letzten Lebensjahren Tunder’s. Endlich ist noch der Titel einer Composition „Herr Gott, Dich loben wir“ bekannt; der Lüneburger Cantor Fr. Em. Prätorius besaß sie einst (vgl. Junghans, Progr. des Lüneburger Johanneums, 1870, S. 29). Hinsichtlich der musikalischen Form vollzieht sich bei T. eine Vermischung der verschiedenartigsten Elemente; an dem fortschrittlichen Drängen des 17. Jahrhunderts nimmt er mit ganzer Seele theil. Die unbegleitete Motette ist hier nicht vertreten; die scharfe Luft der Carissimi’schen Oratorien hat auch hierher Keime herübergeweht, die fröhlich auf fremdem Boden aufsprießen. Tunder’s Instrumental-Motetten haben die durchgehende Generalbaß-Begleitung, das concerthafte Wesen der Begleitinstrumente, die stets beginnende Sinfonie, die lockere Leichtigkeit recitativischer Declamation, die der Deutsche freilich (als Vorgänger Bach’s) motivisch in die Instrumentalbegleitung hineinzwängt (Nr. 5, 9, 10, 11, 13). Wie anders geartet sind sie, als die auf venetianischem Nährboden gewachsenen Werke Schütz’ gleichen Genres! Noch viel unmittelbarer erkennt man den Einfluß der römischen Schule auf T. in seinen Solocantaten für eine oder mehrere Stimmen (Nr. 1, 2, 3, 6, 15). Die Instrumentalbegleitung senkt sich hier zwar viel schwerer auf die Solostimme und begleitet und unterbricht sie musikalisch bedeutsamer, als bei Carissimi, sie verdunkelt indessen doch nicht den Glanz der Zierrathe italienischer Gesangskunst. Die Arien (nicht da capo–Arien) für eine Singstimme mit Begleitung mehrerer Instrumente (Nr. 4, 17, 18) tragen mehr ein liedhaft melodisches Gepräge. An den Choralbearbeitungen (Nr. 7, 8, 12, 14, 16) kann man den großen Fortschritt abmessen, den das [790] damalige Jung-Norddeutschland: Bernhard, Weckmann, Casp. Förster u. a., über die älteren Meister der durch Sweelinck beherrschten Periode hinaus gemacht haben. Neben den älteren, im Gewande strengen Contrapunkts steckenden Formen der Choralbehandlung machen sich freiere, aus dem technischen Material des italienischen Oratoriums abgeleitete geltend. Daß sich T. zugleich mit Weckmann, Bernhard, Förster an diesem Werdeproceß schaffend betheiligte, macht ihn für die Geschichtsforschung so wichtig. Hier in Norddeutschland, gerade bei den bedeutendsten Vorgängern Bach’s, vollzieht sich eine eigenartige Ueberleitung des italienischen Oratoriums auf das kirchliche Gebiet zur Cantate hin. Es brauchte nur noch die da capo–Arie hinzuzutreten, und die Verknüpfung der Instrumental-Motette mit den verschiedenen Choralformen und den ariosen Recitativen ergab das musikalische Rüstzeug für Bach’s Cantaten. Leichter als das Aufführungsjahr lassen sich an der Hand der Texte die Tage der erfolgten Aufführung von Tunder’s Werken bestimmen; sie geschah an den Fest- und Sonntagen der Kirche, mehrere Texte aber könnten ganz gut zur Feier der Rathswahl componirt sein (Nr. 10, 11). Im J. 1664 scheint der junge Schwedenkönig Karl XI. an seinem Geburtstage in Lübeck anwesend gewesen zu sein; T. nahm ein fertiges Stück „Hosianna dem Sohne David“ und legte den lateinischen Text „Jubilate et exultate, vivat rex Carolus“ unter, um den Tag verherrlichen zu können.

Daß der „Kunstverständige und Weltbelobete Orgelmeister“ („Glaub- und Besähenswürdige Herrlichkeit der Stadt Lübeck“ 1666), „der Ehrenfeste und Wohlfürnehme, in seiner Kunst Höchsterfahrne und berühmte Organist“ (Protocollbuch von St. Marien) viele Schüler zog, ist anzunehmen, wenn deren auch nur wenige namhaft gemacht werden. Einer von ihnen, der spätere Rathsmusiker Peter Grecke, rühmte Tunder’s „sonderbahre Wissenschaft und application“ in der Orgelkunst (Monatshefte f. M. XX S. 111 ff.). Durchreisende Künstler, wie der schwedische Sänger Franciscus de Minde, rechneten es sich zur Ehre, Tunder’s Bekanntschaft zu machen (Mattheson’s Ehrenpforte, S. 227). Im J. 1667 befiel T. ein „hitziges Fieber“, das ihn 16 Wochen ans Krankenbett fesselte. Nachdem er viel auf den Barbier und Apotheker angewandt, besserte sich zwar sein Zustand, sodaß er zum Michaelisfeste die Orgel spielen konnte, „darnach er groß Verlangen getragen“. Ende September aber trat ein neuer Anfall ein; am 5. November, Abends 9½ Uhr entschlief er „sanfft und sehlich“ („Ehrengedächtniß“). Seine Beisetzung erfolgte im Erbbegräbniß hinter dem Chor an der Nordseite der Kirche. T. hinterließ einen Sohn, der als immatriculirter Notar 1724 in Lübeck starb, und zwei Töchter. Die jüngere Auguste Sophie heirathete den Cantor an St. Marien, Samuel Frank, die ältere Anna Margarethe Tunder’s Amtsnachfolger, Dietrich Buxtehude. Beide Männer verfolgten und erweiterten die künstlerischen Pläne Tunder’s; sie riefen die „Abendmusiken“ ins Leben, die weit und breit berühmt wurden. Der künftige Biograph Buxtehude’s und der „Abendmusiken“ wird es aber nicht versäumen dürfen, den grundlegenden Einfluß Tunder’s auf beide zur gehörigen Darstellung zu bringen.

Auf Quellenforschung basirende Litteratur verdanken wir allein C. Stiehl. – Vgl. besonders Monatshefte f. M. XVIII, S. 121. – Zur Geschichte der Instrumentalmusik in Lübeck. 1885. - Die Organisten an der St. Marienkirche und die Abendmusiken zu Lübeck. 1886. – Musikgeschichte der Stadt Lübeck. 1891. – Katalog der Musiksammlung auf der Stadtbibliothek zu Lübeck. 1893.