ADB:Snethlage, Bernhard Moritz

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Artikel „Snethlage, Bernhard Moritz“ von Ferdinand Sander in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 516–522, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Snethlage,_Bernhard_Moritz&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 09:25 Uhr UTC)
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Snethlage: Bernhard Moritz (bis etwa 1800 schrieb er selbst: Mauritz) S., Pädagog und Theolog, zuletzt Director des Joachimsthal’schen Gymnasiums und Consistorialrath zu Berlin, geboren am 28. Mai 1753 in Tecklenburg, starb am 19. November 1840 in Berlin. Aus der um 1700 im Mannsstamm erloschenen westfälischen Adelsfamilie v. Snethlage hatte während der Reformation ein Zweig sich gelöst und war unter Darangabe des Adels zu einem fruchtbaren reformirten Pfarrgeschlechte geworden, dessen Glieder vorzugsweise in den Grafschaften Tecklenburg und Lingen, aber auch in den Niederlanden geistliche Aemter bekleideten und öfter auf Söhne und Enkel vererbten. Diesem Geschlechte gehörte Gerhard Bernhard S. an, der als zweiter Prediger zu Tecklenburg am 4. Februar 1763 starb, nach dem Berichte seines Sohnes Bernhard Moritz: „eben, als an einem Sonntage zur Kirche geläutet ward und ich mit meiner Mutter vor seinem Bette saß.“ Er hinterließ seine Wittwe mit acht Kindern, deren sechstes, unter drei Söhnen der jüngste, Bernhard Mauritz war. Es scheint, daß dieser die Vorbildung für die Universität in seinem Geburtsorte gefunden hat; wenigstens berichtet so der Bischof Eylert, einer seiner ältesten Schüler, in der königlichen Berlinischen Zeitung am 7. December 1840. Strenge evangelische Frömmigkeit und lebendiger preußischer Patriotismus – die Grafschaft Tecklenburg gehörte seit 1707 zu Preußen – bestimmten die geistige Luft, in der er aufwuchs. Gern erinnerte er sich später wie innig vereint beide Gesinnungen in seiner Umgebung bei den schweren Krisen des siebenjährigen Krieges sich äußerten. Etwa achtjährig erlebte er einen unvergeßlichen Tag, als Prinz Soubise das Städtchen Tecklenburg zur Strafe für feindselige Haltung einiger Bewohner gegen die Franzosen einzuäschern befohlen hatte. Wie S. im Joachimsthal’schen Programme von 1810 erzählt, schickten bereits alle Bewohner, darunter auch seine Eltern mit ihrer zahlreichen Kinderschar, sich zur Flucht an; Stroh und Pechkränze waren schon auf dem Markte gehäuft: als es der unerschrockenen, opfermuthigen Haltung des ersten Predigers Voßding gelang, den [517] leitenden französischen Officier und durch diesen den erzürnten Befehlshaber umzustimmen. S. bezog dann zunächst die Universität zu Duisburg, wo er in enge, anscheinend auch häusliche Gemeinschaft mit dem zu seiner Zeit berühmten, pietistischen Rector der dortigen lateinischen Schule Johann Gerhard Hasenkamp (1736–1777) und dessen beiden jüngeren Brüdern, Friedrich Arnold (1747 bis 1795), Johann Heinrich (1750–1814), trat. Noch 1826 schreibt er: „Was würde aus mir geworden sein, wenn Gott mich nicht damals mit diesen trefflichen Menschen in Verbindung gesetzt hätte! Ihnen allein habe ich die Richtung zu verdanken, die mein Geist von da ab genommen hat.“ Wirklich hat er den Grundzug des Wesens, den dieser Verkehr in ihm, wenn nicht weckte, so doch stärkte und festigte, lebenslang festgehalten: pietistisch geartete Frömmigkeit, etwa im Geiste Lavater’s, dem der älteste Hasenkamp auch persönlich nahe stand, und entschiedener Gegensatz wider die gepriesene Aufklärung seines Zeitalters. Wo er dennoch vom rationalistischen Hauche des Jahrhunderts sich angeweht zeigt, ist lediglich unbewußter Einfluß anzunehmen, dem in seiner derben, hausbackenen Art trotz aller erklärten Feindschaft verwandte Anlage entgegenkam. Von Duisburg siedelte S. 1772 nach Leiden und von da nach Utrecht über, wo er seine Studien unter manchen Schwierigkeiten und Entbehrungen fortsetzte. Der jüngste Hasenkamp war wenigstens zeitweise auch dort sein Studiengenoß. Im J. 1820 schreibt er über den Aufenthalt in Leiden an seinen Sohn: „In Leiden ist eine Gracht (Kanal), welche man die Rapenburg nennt. Wenn Du dahin kömmst, so denke daran, daß Dein Vater vor 45 Jahren da oft sehr schwermüthig spazieren ging und sehr dunkel in die Zukunft sah. Mein Schicksal war damals unentschieden, ob ich nach England und von da entweder nach Amerika oder nach Ostindien gehen würde.“ Der Privatunterricht, den er einigen russischen Studenten im Deutschen, Französischen wie in der Mathematik ertheilte, mußte ihm einen Theil seines Unterhaltes verschaffen. Es scheint, daß der junge Student trotz seiner ausgesprochen kirchlichen und theologischen Richtung vorzugsweise die Schulwissenschaften, Philologie, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, betrieben habe. Nach der Studienzeit war S. zwei Jahre (1776–78) Hauslehrer und Erzieher bei einem Baron van Heeckern-Enghuisen zu Arnheim und ein Jahr bei dem Banquier John Hope zu Amsterdam. Die Kürze des Aufenthaltes im Hause dieses trefflichen Mannes hat S. später bedauert; um so mehr, da er im lateinischen Unterrichte seinen acht- bis neunjährigen Zögling binnen acht Monaten zum fertigen und verständigen Lesen des Nepos und Eutropius gebracht und dadurch u. A. auch die Aufmerksamkeit der Harlemer Societät der Wissenschaften erweckt hatte. Von dort zu scheiden zwang ihn eine Krankheit, die nach Ausspruch der Aerzte in Holland nicht geheilt werden konnte und wirklich ihn nach der Heimkehr zu seiner Mutter in Tecklenburg noch ein ganzes Jahr quälte. Ueberdies aber hatte ihn Ende 1779 noch in Amsterdam der unerwartete Ruf getroffen, an dem eben in der Erneuerung begriffenen Gymnasium zu Hamm in Westfalen als Rector und Lehrer der Mathematik einzutreten.

In Hamm bestand seit 1657 ein sogenanntes Gymnasium illustre oder academicum, das aber 1768 durch Verzug der letzten drei Studiosen einging. Auf Anregen der Regierung zu Cleve, namentlich ihres damaligen Präsidenten v. Dankelmann, vereinigte nun der bekannte Minister Abraham v. Zedlitz die eingeschlafene akademische Anstalt mit der gleichfalls verkümmerten lateinischen Stadtschule zu einem Gymnasium, dem er am 1. December 1779 in königlichem Auftrage einen neuen Lehrplan vorschrieb. An die Spitze der Anstalt – zum Director – berief er den Rector Dr. Stange aus Köthen, ihm zur Seite S. als sogenannten Rector. Wegen einiger die Organisation aufhaltender Hemmnisse [518] erhielt dieser jedoch die förmliche Berufung erst Februar 1781 durch den Regierungspräsidenten, späteren Staatsminister Freiherrn v. d. Reck, worauf 25. April 1781 die neue Anstalt eröffnet ward. Von Snethlage’s Wirksamkeit an der alsbald frisch aufblühenden Schule berichtet Eylert, dessen Vater gleichfalls Lehrer der Anstalt war, im Nachrufe vom 7. December 1840, wie folgt: „Diejenigen, die noch (nicht?) in Quarta und Tertia saßen, verdoppelten ihren Fleiß, um nach Secunda zum Rector S. zu kommen; und im J. 1783 wurde auch mir, damals dreizehn Jahre alt, dies ersehnte Glück zu theil. Zum Schulmann war S. geboren; er wußte die schlummernden Fähigkeiten zu wecken und die frische jugendliche Brust mit Lust und Liebe für den Unterricht zu erfüllen. Seine Lehrmethode war nicht geformt nach allgemeinen, abstracten Regeln; sie war der Abdruck und Erguß seiner Individualität: klar, kurz, ernst, lebendig und kräftig. Er erfüllte uns mit Furcht, so lange wir ihm kein Genüge thaten, aber mit Vertrauen, Dank, Liebe und Anhänglichkeit, sobald er mit uns zufrieden sein konnte. In der festen Bestimmtheit und klaren Wahrhaftigkeit, in der ruhigen Consequenz, in der reinen Pietät seines Charakters lag eine stille, wunderbare Gewalt, deren wohlthätigem, weckendem Einflusse kein edles, jugendliches Gemüth widerstehen konnte, auch das widerspenstigste wußte er zu gewinnen. Sein donnernder Ernst erschütterte, und sein mit einem freundlichen Blick und Händedruck begleitetes Lob war unser höchstes Glück. Vorzüglich belebend war sein Vortrag der lateinischen Classiker, da er sie nicht nur grammatisch, sondern auch zugleich antiquarisch, geschichtlich, philosophisch und ästhetisch interpretirte und so im vollen Sinne die Humaniora als den edelsten Lebenskeim einimpfte; doch blieben Mathematik, Physik und Geographie seine Lieblingsfächer. Als im J. 1789 der Director Dr. Stange als Professor der Theologie nach Halle berufen wurde, trat er an dessen Stelle, und nun führte er das Directorium des immer frequenter werdenden Gymnasiums mit fester, gewandter und glücklicher Hand und erhob es zu einer Celebrität, welche die Aufmerksamkeit des damaligen geistlichen Ministers auf sich zog“ (der ihn infolge dessen in Schulsachen der Grafschaft Mark vielfach gebrauchte). – In die einundzwanzig Jahre der Wirksamkeit zu Hamm fiel auch die Heirath Snethlage’s (10. Juni 1783) mit Johanna Christina Louise Achenbach (geboren am 17. Juli 1762, † am 10. Januar 1855), einer Pfarrerstochter aus Flierich in der Grafschaft Mark. Der glücklichen Ehe entsprossen vier Söhne (Ludwig, vor dem Vater als Berggeschworener in Westfalen gestorben; Adolf, ebenfalls Bergmann, dann seit 1813 Ingenieurofficier, seit 1831 Hauptmann a. D., starb siebzigjährig 1856; Emil, Professor am Joachimsthal’schen Gymnasium, starb 1871 im Alter von 82 Jahren; Karl, Oberhofprediger, starb 1871 im 79. Jahre) und zwei Töchter (verheirathet an den Joachimsthal’schen Professor Schneider und an den Geheimen Justizrath Bergius zu Berlin). Allgemein wird Frau Louise Snethlage als eine echt deutsche Frau, anspruchslos, thätig, hülfreich, gütig, geschildert, die gegenüber Kindern und Kostgängern oft die Härte und Strenge des etwas unduldsamen, pedantischen Gatten zu mildern wußte. Ebenfalls gehören in diesen Lebensabschnitt die Anfänge der Schriftstellerei, die, soviel ich sehe, auf die Abfassung der wissenschaftlichen Beilagen zum Jahresberichte des Gymnasiums sich beschränkte. Als solche erschienen: „De magna utilitate linguae latinae in scholis litterariis probe docendae discendaeque“ (Hammoniae 1790, IV); „De necessitate linguae latinae in scholis litterariis non negligendae“ (1792, IV); „Frankreichs Revolution ist warnend und lehrreich für alle Nationen“ (2 Theile: 1794 und 96, VIII); „Uber den gegenwärtigen Zustand der niederen Schulen und ihre zweckmäßige Einrichtung nebst einigen Bemerkungen über Aufklärung in Rücksicht der Bestimmung derselben für niedere [519] Schulen“ (1798, VIII); „Ueber die Umschaffung der niederen lateinischen Schulen in den kleinen Städten in Realschulen“ (1800, VIII). Gegen Ende des Jahrhunderts bearbeitete S. die von der Harlemer Societät der Wissenschaften gestellte Preisfrage: „Ist das Studium der Naturgeschichte für die Jugend von solcher Nützlichkeit, daß sie als wesentlicher Theil einer wohlgeordneten Erziehung betrachtet zu werden verdient?“ Er erhielt zwar nicht den Preis, der dem Professor Bennet in Leiden zufiel, sondern das Accessit und die silberne Medaille. Seine Arbeit wurde aber der Uebersetzung ins Holländische und des Abdruckes in den Schriften der Gesellschaft für werth geachtet. In den pädagogischen Abhandlungen – auch die beiden Hefte über die französische Revolution sind ihrem Grundzuge nach dahin zu rechnen – beweist S. sich als einen Schulmann von trefflicher Erfahrung und lebhaftem Wohlwollen für die Jugend und ihre Lehrer. Alle Arten von Schulen faßt er ins Auge: neben den Gymnasien, denen er in den Oberclassen ein freieres, fast akademisches Gepräge wünscht, so daß nicht alle Schüler an allem Unterrichte theil zu nehmen brauchen, die lateinischen Stadtschulen, deren Umwandlung in Real- oder Bürgerschulen er bevorwortet; die Junkerschulen bei den Regimentern; die höheren Mädchenschulen, deren eine er in Hamm organisirte; die Volksschulen auf dem Lande, in der Stadt, in den Bergwerksgegenden; die Seminare. Als Sohn seiner Zeit empfiehlt er die sokratische Methode, jedoch zu maßvollem Gebrauche. Rechtschaffene Lehrergehälter, gesunde, geräumige Schulzimmer verlangt er. Im Religionsunterrichte beschränke sich die Schule auf die gemeinsamen Grundlagen, damit katholische, lutherische, reformirte Kinder zusammen unterrichtet werden können. Die Kirche wird in der Katechisation das Unterscheidende hinzufügen. Im ganzen aber ist S. ein unerbittlicher Strafprediger für seine Zeit. Alles Heil sieht er im Althergebrachten, Patriarchalischen; Aufklärung im Sinne des Zeitgeistes und Luxus, die Hand in Hand zu gehen pflegen, haßt er. Nicht nur Bahrdt, auch Basedow ist ihm zuwider. Von Kant läßt er sich den kategorischen Imperativ und das radicale Böse gefallen; aber, wie man aus diesem unter jenen gelange, darüber vermißt er bei ihm den sicheren Nachweis. Herder’s Humanitätsidee ist ihm viel zu nebelhaft und abstract. In der Verneinung ist er bei aller Einseitigkeit oft scharfsinnig. Aber er selbst bringt es zu keiner geschlossenen Ansicht. In leidenschaftlicher Declamation oder herbem Tadel der Gegenwart den Spiegel vorzuhalten, namentlich die Schreck- und Nachtbilder der französischen Revolution auszumalen und als Folge des Abfalles vom Glauben und von der biederen Einfalt der Väter darzustellen, ist seine Stärke. Aber dabei begegnet ihm das Wunderliche, seine eigenen politischen Ideale am besten in Heinrich IV. von Frankreich und – kaum glaublich – in der unvergleichlichen Verfassung Chinas verwirklicht zu finden. Für die positiven, edleren Kräfte der Gegenwart hat er keinen ungetrübten, empfänglichen Blick.

Snethlage’s tüchtige Wirksamkeit lenkte die Augen des Justiz- und Cultusministers v. Massow (seit 1798) auf ihn. Der Minister berief ihn, als Meierotto im September 1800 gestorben war, an das Joachimsthal’sche Gymnasium nach Berlin, wo S. am 7. April 1802 den Dienst antrat. Er hatte, in dem ungesuchten Rufe einen Wink Gottes verehrend, die Zulage, die unter des Oberpräsidenten Stein thätiger Mitwirkung die Stände der Grafschaft Mark als Preis des Dortbleibens boten, ausgeschlagen. Die berühmte Berliner Anstalt, deren Leitung S. nunmehr übernahm, befand sich gerade in einer Umgestaltung. Dem bürgerfreundlichen, volksthümlichen Sinne der damaligen preußischen Regierung gemäß war bald nach Meierotto’s Ableben bestimmt, daß die öffentlichen Schriften der Anstalt fortan deutsch und in handlichem Octav erschienen. Ebenso forderte der Minister v. Massow eine Revision des Lehrplanes, der in den unteren Classen diejenigen, [520] welche nicht studiren wollten und deren Anzahl bei weitem die größere Hälfte der Schüler ausmachte, nicht hinlänglich berückstchtigte und den Unterricht in den alten Sprachen über den für diese Zöglinge nützlicheren Unterricht in den ihrer künftigen Bestimmung angemesseneren Lehrgegenständen zu sehr vorwalten ließe. Mitten in dies Geschäft trat S. ein. Während der Jahresbericht 1802 den bisherigen Meierotto’schen Plan ausführlich mittheilt, bringt der von 1803 den neuen, der von jenem durch die Vermehrung der Classenstufen von fünf auf sechs, die strengere Unterscheidung der vorbereitenden von den oberen Classen (je drei) und eine maßvolle Reduction des lateinischen und griechischen Unterrichtes sich unterscheidet. Das System der „getrennten Lectionsclassen“, heute sagt man: das Hallische Fachsystem wird wegen seiner entschiedenen Vorzüge vor dem Systeme der sogenannten „feststehenden Classen“ und in Rücksicht auf die mannichfaltige Vorbildung der auswärtigen Schüler festgehalten. Nach diesem System und Plan ist fortan bis zu Snethlage’s Rücktritt unterrichtet worden. Er selbst übernahm 13 wöchentliche Stunden, in denen er Tacitus oder Cicero (2 St.), Mathematik (2), Naturlehre (2), Encyklopädie der Wissenschaften (1) mit den ersten Classen, Ernesti’s Initia doctrinae solidoris (4) mit einer Selecta und Cicero’s Buch De officiis (1) mit der zweiten Lateinclasse tractirte. Mit dem Jahre 1810 gab er den philologischen Unterricht auf und behielt nur vier Stunden Mathematik, zwei Stunden Physik, eine Stunde Encyklopädie. Seit 1815 ertheilte er nur noch vier Stunden Religion in den beiden sogenannten wissenschaftlichen Oberclassen. Seine bis in die höheren Jahre kräftige und strenge, im conservativen Sinne geübte Schulleitung erwarb ihm auch in Berlin bald Ansehen in den ersten Kreisen der Hauptstadt. S. hatte seine Anstalt durch schwere Zeiten zu steuern. Man kann leicht denken, wie tief sein preußisches Herz unter dem furchtbaren Geschicke des Staates in den Jahren 1806 und 1807 litt. Er war unter den Ersten, welche die Niederlage als göttliches Strafgericht über die entartete Zeit darstellten und Umkehr predigten. Aber er verlangte Umkehr im vollen Sinne des Wortes. Die Maßnahmen, welche uns gegenwärtig als wichtige Beiträge zur Wiedergeburt des preußischen Staates erscheinen – Gründung der Universität Berlin, Erneuerung des gesammten Schulwesens nach den Anregungen Fichte’s und Pestalozzi’s –, erweckten nur sein Mißtrauen und seinen Widerspruch als weitere Schritte auf dem verderblichen Wege des verirrten Zeitgeistes, der durch einseitige Aufklärung des Verstandes und durch regellose Freiheit dem Irrlicht einer mißverstandenen Humanität nachjagte. Auch der Minister v. Stein, den er früher so hoch verehrt hatte, war seit jener Zeit nicht mehr ganz sein Mann. Alle diese Bedenken traten zurück, als im J. 1813 Preußen gegen den verhaßten Unterdrücker auf den Ruf seines Königs aufstand. Drei Söhne Snethlage’s griffen damals zu den Waffen: Adolf bei dem Lützower Freicorps, Emil und Karl bei dem pommerschen Grenadierbataillon. Diese beiden standen bei Großbeeren im Feuer, während Mutter und Schwester in Berlin die Verwundeten pflegten. Der Vater S. ruft im Hinblick auf die Zeit: „Herrliches Schauspiel! So vereiniget die allgemeine Noth die Gemüther und erweckt die schlummernde Kraft zum Heldenmuth!“ Aber bald genug gingen die Ansichten über das, was dem Vaterlande frommte, wieder aus einander; und nach allem, was berichtet worden, steht im voraus fest, daß S. nicht auf Seiten des jungen, leidenschaftlich vorwärts drängenden Preußens und Deutschlands stehen konnte. Er hielt entschieden zu der Reaction und fand in seiner schwarzsichtigen Abneigung gegen den brausenden Zeitgeist, daß die Regierungen das in der Jugend gährende Gift eher zu harmlos, als zu argwöhnisch ansahen. Daneben tröstete ihn einigermaßen das fortschreitende Wiedererwachen des kirchlichen Sinnes, wie es u. a. in der Union [521] der protestantischen Bekenntnisse, in der steigenden Schätzung der symbolischen Bücher, in dem wachsenden Interesse an der Heidenmission und an christlichen Liebeswerken sich aussprach. Doch stand er auch auf diesem Gebiete der neueren Theologie Schleiermacher’s und seines Kreises mit ihrem vertieften Glaubensbegriffe und ihren Zugeständnissen an die biblische Kritik ablehnend gegenüber und sah das Heil wesentlich in der Beugung der stolzen, selbstgerechten Gegenwart unter das göttliche Ansehen der Bibel, deren Lehren man, wie ihm schien, nur als Ganzes entweder demüthig gläubig annehmen oder eigenwillig verwerfen kann. Die Verschiedenheit des Standpunktes hinderte jedoch die Berliner Facultät nicht, zum Reformationsjubiläum 1817 S. Ehren halber die Würde des theologischen Doctors zu verleihen. Seine politischen Ideale waren die heilige Alliance und die patriarchalisch-unbeschränkte Monarchie. Kein Wunder, daß ein solcher Mann Aufmerksamkeit und Vertrauen bei Friedrich Wilhelm III. erweckte. Dieser verlieh ihm 1816 die III. Classe des Rothen Adlerordens und ernannte ihn in demselben Jahre zum Rath im Berliner Consistorium. Auch hat der König, nach Eylert’s Zeugniß, oft und durch eine lange Reihe von Jahren Snethlage’s Gutachten über wichtige pädagogische Gegenstände und Einrichtungen verlangt. Gegen Ende 1820 wurde S., der im letzten Schulprogramme besonders scharf über den schlimmen Geist der Jugend losgezogen war, sammt Eylert, Beckedorff und dem Staatsrathe Schultz zur Abgabe eines Gutachtens über den gegenwärtigen Zustand des Schul- und Erziehungswesens in Preußen und über die zweckmäßigsten und sichersten Maßregeln zu dessen Verbesserung berufen. Der Bericht – seinem Inhalte nach von Varrentrapp im Leben Johannes Schulze’s (S. 329) wiedergegeben – ist zwar vom Staatsrathe Schultz verfaßt, darf aber in allen Hauptsachen als treuer Abdruck auch der Ansicht Snethlage’s angesehen werden.

Inzwischen machte das Alter über den eisenfesten Mann doch seine Rechte geltend. „Freiwillig und aus reinem Pflichtgefühl in Rücksicht auf die neuen Maßregeln, die zur Entlastung der überfüllten Anstalt nöthig waren und auf sein Alter“ suchte er 1826 seinen Abschied nach, der in huldvollster Form zum 1. Juli d. J. bewilligt ward. Der König gewährte ihm ein Ruhegeld von 2000 Thalern und beließ ihn als Mitglied im Consistorium. Im Joachimsthale löste ihn A. Meineke ab. Erst nach einem reichlichen Jahrzehnt mußte S. auch die behördlichen Geschäfte allmählich zunehmender Schwäche wegen abgeben. Sein Haus war bis zuletzt ein gastfreies und geselliges. Mit den zahlreichen Kindern und Enkeln gingen westfälische Verwandte und Landsleute, die in Berlin studirten oder in Amt und Dienste standen, sowie gleichgesinnte Collegen, die Bischöfe Eylert und Roß, der Oberhofprediger Strauß, der Oberconsistorialrath Theremin, auch der bekannte fromme und mildthätige Baron v. Kottwitz, die Minister v. Bodelschwingh, die Generäle v. Quadt, v. Diest u. a. aus und ein. Als Patriarch verehrt, selbst den längst erwachsenen Kindern gegenüber noch immer von starkem Bewußtsein des väterlichen Ansehens erfüllt, waltete der alte Herr in diesem Kreise. Nach und nach zog er sich mehr aus dem Getriebe zurück und lebte stiller Betrachtung seines eigenen Lebenslaufes und des Stückes Geschichte, das er mit erlebt hatte. Die Zeit ward ihm oft zu kurz dazu; daher fielen ihm lange und häufige Besuche, selbst der eigenen Kinder, lästig. Der Welt war er abgestorben; die Zeitung ließ er sich nur vorlesen, um einigermaßen daraus zu ersehen, „was es darin gab, und wie das Reich Gottes hier und da angebahnt oder gestört ward“. So lebte der Greis „ruhig, heiter, zufrieden, bis es Gott gefiele, ihn in die ewige Herrlichkeit aufzunehmen.“ Fast 87jährig, starb er mit klarem Bewußtsein ohne Kampf und Schmerz am 19. November 1840.

[522] Als Schriftsteller trat auch während der Berliner Zeit S. nur in den Jahresberichten seiner Anstalt auf. Seine regelmäßigen Beigaben zu diesen enthalten außer dem erwähnten Lehrplane (1803) „Bemerkungen über Pestalozzi’s Lehrmethode“ (1804, worüber er in eine Fehde mit dem Pestalozzianer Plamann gerieth, die in mehreren späteren Abhandlungen, namentlich 1811 und 1813, wieder anklingt); „Ueber einige Hindernisse, die den Erfolg der Erziehung und die Wohlfahrt der Staaten aufhalten“ (17 Stücke, 1805–1822); „Kurze Nachricht von der II. Säcularfeier des königl. Joachimsthal’schen Gymnasiums“ (1808); „Die Jubelfeier der 25jährigen Regierung Sr. Majestät des Königs im Joachimsthal’schen Gymnasium“ (1823); „Kurze Übersicht des königl. Joachimsthal’schen Gymnasiums“ (1824). Auch in diesen späteren Programmaufsätzen spricht sich Snethlage’s Charakter deutlich aus: ein bitterer, doch gegen die einzelne Person gerechter und vorsichtiger, Kritiker seiner Zeit ohne sympathisches Verständniß für deren treibende Ideale; ein fester, treuer Patriot, dem nur freierer politischer Blick fehlte; ein ernster, frommer Christ von mehr theologischer und philosophischer Gelehrsamkeit als wissenschaftlicher Tiefe; ein aufrichtiger väterlicher Freund der Jugend ohne jede Schwäche für geniale Anwandlungen, immer aber ein ganzer Mann, der die früh von ihm angeeignete Forderung Seneca’s redlich erfüllt hat: ut ipsa inter se vita unius sine actionum dissensione coloris sit!

Außer dem Eylert’schen Nekrologe (s. o.) und dem Artikel S. im „Gelehrten Berlin vom Jahre 1825“ (Berl. 1826), die Schriften Snethlage’s, dessen ungedruckte Briefe und handschriftliche Mittheilungen der Familie.