ADB:Schmidt, Christoph Hermann

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Artikel „Schmidt, Christoph Hermann“ von Heinrich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 89–100, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schmidt,_Christoph_Hermann&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 17:50 Uhr UTC)
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Schmidt: Christoph Hermann Sch., geboren am 23. Februar 1832 zu Frickenhofen, OA. Gaildorf, † am 19. November 1893 zu Breslau.

Schmidt’s Vater, Johann Heinrich Sch., Sohn des gleichnamigen Pastors in Krummendeich, dann in Jork, beide im Rgbz. Stade gelegen, hatte in Tübingen Theologie studirt und dort seine spätere Frau Christiane Sibylle Härlin, Tochter des Pfarrers H. in Neubulach im Schwarzwald kennen gelernt. Er war zuerst Pastor in Alt-Luneberg, dann in Elmlohe, beide im Herzogthum Bremen gelegen, siedelte aber im J. 1824 in die Heimath seiner Frau über und übernahm das Pfarramt Frickenhofen. Dort wurde Sch. als dritter Sohn seiner Eltern geboren. Seine beiden älteren Brüder, der eine (ursprünglich Theologe, später Redacteur) 1817, der andere Fritz (zuletzt Dombaumeister in Wien) 1825 geboren, waren ihm an Alter weit überlegen, so daß sie keine rechten Spielkameraden für ihn wurden. Am meisten Einfluß übte auf ihn in seiner Kindheit die Mutter, die mit reicher Phantasie begabt den lebhaften Geist des Kindes durch ihre Erzählungen aus der Märchenwelt und aus der Geschichte seines Volkes anregte und befriedigte, ja schon in dem Kinde das Interesse für unsere classische Litteratur weckte. Früh zeigte sich bei ihm ein Drang zum Reden, und er erzählt selbst, wie er als 4- und 5jähriger Knabe vom Schemel aus seine ersten Redeübungen hielt. Der Einfluß des Vaters trat dagegen stark zurück. Denn schon im J. 1838 starb er noch nicht fünfzigjährig.

Wenn auch die Mutter noch ein Jahr lang im Pfarrhause wohnen durfte, [90] so mußte sie doch daran denken, einen neuen Wohnsitz zu suchen, den sie mit Rücksicht auf verwandtschaftliche Beziehungen und die Möglichkeit der Vorbildung der Söhne in Großbottwar, OA. Marbach, fand. Sch. selbst war freilich inzwischen in das staatliche Waisenhaus in Weingarten, OA. Ravensburg aufgenommen worden; doch konnte sich die Mutter in die Trennung nicht finden und behielt den Sohn trotz ihrer überaus kärglichen Verhältnisse bei sich. Die einclassige Lateinschule des Ortes genügte freilich nicht, um die Vorbereitung auf das sog. Landexamen, die Aufnahmeprüfung in eines der niederen Seminarien, zu sichern. Daher entschloß sich die Mutter gegen den einhelligen Rath der Verwandten, die den Knaben zum Kaufmann bestimmten, ihn nach Marbach zu geben, um ihn durch den Besuch der grade unter dem Präceptor Richter aufblühenden Lateinschule der Erfüllung seines ganz festen Wunsches, Theologe zu werden, näher zu bringen. Er wurde schon 1845, ein Jahr vor der vorschriftsmäßigen Zeit, zur Prüfung zugelassen. Doch erzielte er unter den 90 Prüflingen nur den Platz 27–31 und mußte daher als jüngster, da nur 30 Zöglinge aufgenommen wurden, zurückstehen. Die Wiederholung der Prüfung im folgenden Jahre ergab das gleiche Resultat, doch wurde ihm noch nachträglich eine Stelle als Staatshospes im Seminar zu Urach zugebilligt.

Dieser Mißerfolg war für den Jüngling tief beschämend. Um so mehr suchte er durch doppelten Fleiß die Niederlage wieder gut zu machen. Und es gelang ihm auch in stetem Aufrücken am Ende des 4jährigen Cursus als Erster der Promotion dazustehen, ein Platz, den er auch im Tübinger Stift behauptete. Ueberaus schmerzlich traf ihn der Verlust der Mutter, die nach langem, schwerem Leiden am 5. März 1847 heimging. Er hatte sie kurz vor ihrem Ende noch einmal besuchen dürfen, um von der Treusorgenden den letzten Abschied zu nehmen.

Hatte der in mancher Hinsicht frühreife Knabe schon in Marbach sich mit allerhand dichterischen Entwürfen getragen, so wandte er sich bald von diesen kindisch erscheinenden Beschäftigungen ernsteren Fragen zu. Seine Kameraden bemerkten bald an ihm ein besonders reges wissenschaftliches Interesse und schon in Urach studirte er Zeller’s Philosophie der Griechen. Besonders bewegt war die Zeit durch die Ereignisse des Jahres 1848, die auch hinter den stillen Klostermauern Urachs sich fühlbar machten. Der Ephorus Köstlin gab den freiheitlichen Wünschen der Zöglinge in weitem, manchmal zu weitem Umfange nach, und die politische Begeisterung und Spaltung, das gegenseitige Debattiren griff unter den Jünglingen um sich. Sch. war das Haupt der demokratischen Partei; des Wortes mächtiger als Andere, sprach er mit großem Pathos. Robert Blum war der Held der Partei, ihm zu Ehren veranstaltete er auch auf der Stube Teutonia eine Todtenfeier. Doch, wie gesagt, die politischen Aufregungen ließen die Arbeit nicht zu kurz kommen und 1850 wurde Sch. nebst zwei Anderen dazu auserkoren, bei der Abschiedsfeier zu reden. Er hatte sich selbst das Thema gewählt: Ueber den Einfluß der Vorstellung vom ϑεῖον ϕϑονερόν auf die Cultur der Griechen. Schon in dieser Wahl tritt das Streben hervor, das für seine spätere wissenschaftliche Arbeit charakteristisch ist, überall weite Perspectiven geben zu wollen. Zugleich zeigt sie, wie sich bei ihm ein Interesse religiöser Art mit dem für den Geist der Antike verband, was ja auch ganz der Vorbildung entsprach, die durchaus auf streng humanistischer Grundlage erfolgte.

Indessen war in dem Leben Schmidt’s ein großer Umschwung eingetreten. Die kindliche Frömmigkeit, die von der Mutter in ihm geweckt und gepflegt, ihn zu täglicher Gebetsübung getrieben hatte, war verschwunden. Die [91] Größe und Herrlichkeit der Menschheit, wie sie ihm in dem Denken der Antike und der Geschichte der Menschheit entgegentrat, verdrängte in ihm die demüthige, dankbare Hingabe an Gott, und trotz des hohen sittlichen Ernstes, der sein ganzes Wesen durchdrang und sich auch seinen Altersgenossen als besonderes Charakteristikum einprägte, war er von einer Sündenerkenntniß, wie sie die christliche Frömmigkeit voraussetzt, weit entfernt. So kam denn die Ordnung der Studien im Tübinger Stift, die ihn zunächst zum Studium der Philosophie verpflichtete, seinem inneren Zustand und Bedürfniß entgegen. Die Frage: was ist Wahrheit? bewegte ihn im Tiefsten, und er suchte sie sich gründlich zu beantworten. Die damals in Tübingen noch herrschende Hegel’sche Philosophie zog auch ihn in ihren Bannkreis und befestigte in ihm die Gewißheit, daß der Mensch aus eigener Kraft die Wahrheit finden könne und müsse. Es war natürlich, daß diese Geistesrichtung die ursprüngliche Begeisterung für das geistliche Amt verminderte. Fühlte er doch selbst nur zu tief den Widerspruch seiner Ueberzeugungen mit dem alten christlichen Glauben. Er war daher entschlossen, sich lieber dem Studium der Philologie zu widmen. Doch bald lebte die Abneigung gegen gründliche sprachliche Studien, die ihm schon beim Landexamen so folgenschwer mitgespielt hatte, von neuem und verstärkt in ihm auf und trieb ihn dazu, die bisher etwas vernachlässigte Theologie intensiver in Angriff zu nehmen. Die Neigung für Geschichte, die ihn seit jeher beseelt hatte und der er bis an sein Lebensende treu blieb – kannte er doch auch in seinen letzten Lebensjahren keine liebere Ferienerholung als das Studium von Geschichts- und Memoirenwerken – wurde das Band, das ihn zunächst enger an diese Wissenschaft fesselte. Es war besonders der Einfluß F. Chr. Baur’s, der diese Neigung unterstützte. Das Studium der Geschichte der christlichen Kirche und des christlichen Glaubens, dazu der Einfluß Schleiermacher’s ließen ihn erkennen, „daß im Christenthum doch Geheimnisse des Lebens verborgen liegen, über die ein flacher Verstand mit Unrecht leichthin aburtheilt“. So war er durch das Bild der Größe der Kirche für die Theologie auch innerlich wiedergewonnen. Doch galt er – und mit Recht – für einen entschiedenen Anhänger der kritischen Richtung und für einen Freigeist. Aber ebenso entschieden erkannten auch seine Studiengenossen den hohen sittlichen Ernst und das tiefe wissenschaftliche Streben, das ihn auszeichnete. Nicht nur war er in der studentischen Verbindung, der er angehörte (Nordland), ein eifriger Vorkämpfer für die Durchführung ernsterer und strengerer Grundsätze, freilich ohne mit seinen Vorschlägen und Anträgen durchzudringen, sondern er hielt es auch für eine Pflicht seiner Berufsvorbereitung, an den Redeübungen des Aesthetikers Fr. Vischer theilzunehmen. Ueberhaupt hörte er alle Vorlesungen Vischer’s und vertiefte sich besonders in seine Aesthetik. Lange Zeit hindurch besprach er mit einem gleichgestimmten Freunde wöchentlich alle neueren Erscheinungen der Litteratur, bis das immer mehr sich vertiefende theologische Interesse und das immer brennendere Wahrheitsuchen die ästhetischen Neigungen wieder mehr in den Hintergrund treten ließen. Immerhin zeigt es uns, wie ernst er es mit seinem damaligen Ideale nahm: „ein Muster zu sein eines allen Lebensinteressen aufgeschlossenen, an den jugendlichen Freuden theilnehmenden und doch sein festes Maß in sich selbst tragenden Menschen“. Es lag nahe, daß bei solchem Ernste und innerem Drange zu wissenschaftlichem Studium sein Auge sich vor allem auf das Ziel einer akademischen Laufbahn richtete. Daher war es ihm eine hohe Befriedigung, als der Erfolg seiner ersten Dienstprüfung (August 1854) ihm die Aussicht auf eine Stelle als Repetent in Tübingen eröffnete. Bis in den Anfang des Jahres 1855 hielten ihn seine wissenschaftlichen Interessen noch [92] in der Universitätsstadt fest; dann erst trat er ein Vicariat in Korb (Diöcese Waiblingen) an.

Damit stehen wir an dem inneren Wendepunkte im Leben Schmidt’s. „Mit Thränen“, so bekennt er selbst, „schied ich von Tübingen.“ Fühlte er sich doch selbst zu wissenschaftlicher Thätigkeit berufen, fühlte er doch innerlich zum geistlichen Amte noch keine Freudigkeit. Aber der Eintritt in die praktische Arbeit mit ihren ernsten Aufgaben, die Pflicht Anderen in ihrem religiösen Leben Beistand und Helfer zu sein, der Unterricht, den er dort an der Volksschule, aber auch Pensionären des Pfarrers zu ertheilen hatte, der Verkehr mit einfachen, aber aufrichtigen Christen trieb ihn zum Gebete. Und in diesem ernsten und tiefen Gebetsleben erfuhr er die Gnade Gottes an seinem inwendigen Menschen so, daß er Gott jetzt als den lebendigen erfaßte. Das Wunder der eigenen inneren Erneuerung half ihm zum Glauben an die Wunder Gottes in der Geschichte seines Reiches und lehrte ihn seine bisherige Wunderscheu überwinden. Zugleich lernte er es, immer tiefer in die Schrift hineinzugehen, und daraus erwuchs ihm ein inneres lebendiges Verhältniß zum Worte Gottes. In diesen inneren Erfahrungen haben wir den Quellpunkt für seine ganze spätere Stellungnahme in den theologischen Kämpfen, für den überzeugten, entschlossenen Supranaturalismus, den er bis an sein Lebensende vertrat. Angesichts solch tiefer Erlebnisse werden wir es verstehen, daß er auch von seinem Abschied von Korb berichten kann, er sei mit Thränen auch von dort geschieden.

Da er erst einige Jahre später hoffen durfte, nach Tübingen einberufen zu werden, die Ausführung einer wissenschaftlichen Studienreise bei dem Mangel an eigenen Mitteln trotz einer in Aussicht gestellten staatlichen Beihülfe sehr fraglich erschien, so nahm er das Anerbieten einer Stellung als Erzieher im Hause des späteren Commerzienraths Behrend in Danzig, damals Vicepräsidenten des preußischen Abgeordnetenhauses, in der Hoffnung an, durch einen längeren Aufenthalt in Berlin seinen Gesichtskreis zu erweitern. Es ist ebenso für die Selbständigkeit seines Denkens, wie für die Tiefe und Echtheit seiner inneren Erfahrungen in Korb bezeichnend, daß Sch. gerade durch den Verkehr in diesem geistig reichen und vornehmen Hause zur vollen Entschiedenheit des Gegensatzes zu der liberalen Richtung desselben in kirchlicher wie politischer Hinsicht gelangte. Die feste Ueberzeugung, daß ohne den neuschaffenden Einfluß des Christenthums eine Neugestaltung des Volkslebens nicht möglich sei, daß die Kirche, um diesen Einfluß üben zu können, selbständig sein und von der Vormundschaft ihr innerlich fremder Kreise der Gebildeten befreit werden müsse, daß die Zertrümmerung der geschichtlich gewordenen Formen unseres Volkslebens vom Uebel sei – diese Ueberzeugungen bildeten sich ihm schon damals. Die Erkenntniß des Werthes fester Organisationen für das gesammte Volksleben ließ ihn die Bedeutung der Kirche noch von einer neuen Seite her würdigen. Schon damals schloß er sich innerlich an die conservative Partei an, der er sein Leben lang treu geblieben ist; hier auch erwachte die Vorliebe für Preußen und die Erkenntniß seines Berufs zur Führerschaft in Deutschland, der er in der schwäbischen Heimath oft unwillkommenen Ausdruck gab. Das norddeutsche Blut, das er von väterlicher Seite her in seinen Adern rinnen fühlte, regte sich, und er kehrte mit einer gewissen Neigung zur Kritik der schwäbischen Art – obwohl er sie selbst in Vielem an sich trug und auch oft ausdrücklich an sich anerkannte – in die Heimath zurück.

Besonders stark fühlte er sich in Berlin von dem ehrwürdigen Propst Karl Immanuel Nitzsch angezogen, dessen Predigten er viel zu verdanken bekennt, [93] in dessen Hause er sonntäglicher Gast war und in dessen Verkehr er den großen kirchlichen Fragen der Zeit nahe gebracht wurde. Wie innig er dem Greise nahe getreten war, läßt die Schilderung erkennen, die er vor dem Abschiede in einem Briefe an seine ältere Schwester gibt. „An nichts“, schreibt er, „werde ich in meinem ganzen Berliner Leben so heilig denken, als an den Abschiedskuß des alten Nitzsch, den er mit den Worten begleitete: ich habe mich Ihrer Geistesgemeinschaft sehr gefreut!“

Als er nach einem größtentheils in Danzig verlebten Sommer 1858 nach der Heimath zurückkehrte, erreichte ihn noch unterwegs die Berufung zum Repetenten an das Tübinger Stift. Mit großer Begeisterung und ernstem Eifer unterzog er sich 21/2 Jahre lang (1858–61) der Aufgabe der Einführung der Studenten des Tübinger Stifts in die Wissenschaft. Zu einem nahen persönlichen Verhältnisse zu seinen Schülern kam es dabei nicht. Dazu lag in seinem ganzen Auftreten zu viel Selbstbewußtes und Ueberlegenes, oft auch Schroffes. So war er zwar um seiner Gelehrsamkeit willen namentlich von den Begabteren hochgeschätzt, doch nicht eigentlich beliebt. Daneben machte er eifrig von der Erlaubniß zum Halten von Vorlesungen an der Universität Gebrauch. Die Richtung seiner Studien ging, wie wir sahen, vor allem auf die geschichtliche Seite, und so las er denn besonders über Augustin’s Leben, Lehre und Bedeutung für die christliche Kirche, wie auch über Patristik. Ueberhaupt galten seine Studien in damaliger Zeit besonders Augustin, über dessen Lehre von der Kirche er in dem Jahrbuch für deutsche Theologie (VI, 197–255) seinen ersten vielfach beachteten Artikel veröffentlichte, dem 1862/3 zwei weitere über Origenes und Augustin als Apologeten (Jhrb. f. deutsche Theol. VII, 237–281, VIII, 261–325) folgten. Sie zeigen uns schon deutlich seine Eigenart, überall die Differenzen im einzelnen aus der Verschiedenheit der dahinter liegenden Prämissen zu erklären, die Neigung, die einzelnen Anschauungen in einen großen Zusammenhang zu stellen und das Wiederauftauchen derselben Richtungen in den verschiedenen Perioden der Kirchengeschichte zu verfolgen, d. h. das Typische für die verschiedenen Ausprägungen des Christenthums hervorzuheben. So bereitete er sich zur Laufbahn eines Kirchen- und Dogmenhistorikers vor, für die ihn auch die außerordentliche Treue und Präsenz seines Gedächtnisses besonders befähigte. Hatte er auch unter den Professoren besonders mit Oehler und Landerer verkehrt, so verehrte er doch in Baur seinen geistvollen Lehrer, von dem er sich nicht ohne Schmerz jetzt innerlich oft getrennt wußte. Als dieser schwer erkrankte, erhielt er den Auftrag, sein Colleg über Kirchengeschichte zu Ende zu lesen, ein Auftrag, in dem er das Vorzeichen eigner späterer akademischer Thätigkeit glaubte sehen zu dürfen. Doch seine Hoffnungen und nach Ansicht seiner Freunde berechtigten Erwartungen sollten nicht sobald in Erfüllung gehen. Viel länger als er annehmen konnte, über 18 Jahre, sollte er im praktischen Kirchendienst thätig sein. Es kam, wie er ahnend schon 1862 in einem Briefe schrieb: „Was ich gesucht, ist mir nie so ohne weiteres in den Schoß gefallen, sondern erst, wenn ich gewartet und resignirt hatte … So wird’s vielleicht am Ende mit der Professur gehen. Wenn ich den Gedanken daran einmal werde aufgegeben und mich im praktischen Amt ordentlich festgesetzt haben, dann kommt vielleicht ganz unerwartet das Ersehnte“.

Schon die Stellung als Stadtvicar in Stuttgart, in die er nach Ablauf seiner Thätigkeit eintrat, hat er länger als üblich verwalten müssen. Sie war ihm dadurch besonders unerquicklich, daß sie ihn an keine bestimmte Gemeinde band, sondern zur Aushülfe in der ganzen Stadt je nach Bedarf verpflichtete. Er ist vergeblich beim Consistorium vorstellig geworden, daß die [94] leicht zu bewerkstelligende Aenderung einer Vertheilung der Stadtvicare auf die einzelnen Gemeinden vorgenommen würde. Er knüpfte daran schon damals weiter gehende Gedanken über eine Theilung der Gemeinden in Seelsorgerbezirke, die er dann reiflich durchdacht im Anfang der 70er Jahre im Stuttgarter Gesammtgemeindekirchenrath als Antrag einbrachte und mit denen er zwar großes Aufsehen erregte, jedoch nicht durchdrang. Aehnliche Gedanken und Forderungen sind später von anderer Seite mit mehr Erfolg geltend gemacht worden. Bezeichnend bleibt für Sch., wie er muthig und ohne Rücksicht auf etwaige verstimmende Wirkungen für das von ihm als richtig Erkannte eintrat. Er hat sich den Beinamen des Tapferen, den ihm sein nächster Freund bei seiner Uebersiedlung nach Breslau gab, schon damals verdient. So trat er 1862 dem Aufsehen erregenden Artikel R. Rothe’s in Schenkel’s Allgem. Kirchl. Zeitschrift (1862 S. 34 ff., 97 ff.) „Zur Orientirung über die gegenwärtige Aufgabe der deutsch-evangelischen Kirche“, in dem dieser den Grundschaden der Kirche darin sah, daß sie die Unkirchlichen, die unbewußten Christen, wegen ihrer Ablehnung der modernen Bildung nicht heranziehen könne, mit einem offenen Briefe entgegen, indem er besonders das unbewußte Christenthum der Unkirchlichen bestritt und der durch seine Schärfe und seinen Freimuth vielfach Anstoß erregte.

Neben der unbefriedigenden, erst in der letzten Zeit durch die Uebernahme einer Vertretung an der Stifts-, dann an der Leonhardskirche befriedigender gestalteten Vicariatsthätigkeit ging die wissenschaftliche Arbeit weiter, von der die Vollendung der oben erwähnten Aufsätze über Origenes und Augustin, sowie zahlreiche Artikel für die 1. Auflage der Protestantischen Real-Encyklopädie Zeugnis ablegen. Sie betrafen namentlich das kirchen- und dogmengeschichtliche Gebiet. Erhellt wurde ihm diese Zeit durch die Verlobung mit der Tochter des Prälaten Sigel in Heilbronn, in der er die aufrichtig geliebte, selbstlos und aufopfernd liebende Gefährtin seines Lebens fand. Aber eben dies Glück war ein weiteres starkes Motiv, die feste Anstellung im geistlichen Amte um so schneller herbeizusehnen. Sie wurde ihm endlich zu Theil, als er im Sommer 1863 als Diakonus nach Calw berufen wurde. In dieser Gemeinde war gerade auch in den wohlhabenderen Kreisen ein Grundstock echter pietistischer Frömmigkeit vorhanden. Sie bildete einen Mittelpunkt des Interesses für äußere und noch mehr für innere Mission – geweckt und erweitert vor allem durch die Thätigkeit Dr. Barth’s – und die sechsjährige Thätigkeit in dieser Gemeinde sollte nicht ohne Rückwirkung auf Sch. bleiben. Hatte er schon früher sein Interesse für die Werke innerer Mission dadurch bethätigt, daß er in Korb als Vicar einen Verein zur Familienerziehung verwahrloster Kinder ins Leben gerufen hatte, so wurde es jetzt in viel größerem Umfange rege. Er gehörte von 1865 an zu den treuen Theilnehmern der Versammlungen, aus denen 1869 die Südwestdeutsche Conferenz für innere Mission hervorging, deren thatkräftiger Präsident er von ihrer Gründung bis zu seinem Weggange nach Breslau blieb.

Auch in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit kann man den Einfluß der neuen Umgebung spüren; betraf doch seine nächste größere Veröffentlichung „die eschatologischen Lehrstücke in ihrer Bedeutung für die gesammte Dogmatik und das kirchliche Leben“ (Jahrb. f. d. Theol. 13, 577–621; 15, 455–502). Die eschatologischen Fragen sind ihm ein hauptsächliches Kriterium für die dogmatische Stellung eines Einzelnen, einer Partei oder einer ganzen Zeit. Sie waren ihm durch die pietistischen Kreise, unter denen er wirkte, wohl besonders nahe gekommen und seine selbständige Natur macht sich in der Stellungnahme geltend, bei der er gerade eine kirchliche Eschatologie herauszustellen sich [95] bemühte gegenüber der Verflachung und Entleerung der christlichen Hoffnung, womit er namentlich auch gegen Schleiermacher sich wandte, wie gegenüber ihrer Ueberspannung im Chiliasmus, wie sie der württembergische Pietismus vielfach aufwies. Auch diese Abhandlungen enthalten eine Fülle dogmenhistorischer Ausblicke.

Das Jahr 1869 führte ihn nach Stuttgart, wohin er als 3. Geistlicher an der Leonhardskirche berufen wurde. Hatte schon das Jahr 1866 durch den Beweis der Ueberlegenheit Preußens ihn mit froher Hoffnung auf eine Einigung Deutschlands erfüllt, so bewegten ihn die Ereignisse des Jahres 1870 aufs tiefste. Konnte er auch nicht selbst mit hinausziehen, so suchte er doch in der Heimath für die Verwundeten zu sorgen und den Hinterbliebenen der Gefallenen Trost zu bringen. Seine Seelsorge in den Lazarethen, seine Kriegsbetstunden, seine Thätigkeit an den Gräbern werden von den Zeitgenossen als besonders segensreich und wirkungsvoll gerühmt. Ueberhaupt stellte die Seelsorge in der großen Gemeinde hohe Anforderungen an Sch., denen er mit vollster Hingabe und Gewissenhaftigkeit gerecht zu werden suchte. Dabei gab es für ihn keinen Unterschied zwischen Hoch und Gering, und gerade unter den Armen und Einfachen war er, der sonst bei einer gewissen Schwerfälligkeit im Verkehr mit Menschen nicht schnell beliebt wurde, doch durch seine Wahrhaftigkeit und tiefe Frömmigkeit gesucht und einflußreich.

Als Prediger hat er gleichfalls mit großer Treue gewirkt. Er hatte nicht nur eine große Neigung, ja ein Bedürfniß zu predigen, sondern auch eine große Gabe dazu. Gemäß dem Pathos seiner ganzen Veranlagung fehlte seiner Rede freilich die Leichtigkeit, dafür aber besaß sie eine oft gewaltige Wucht. Ebenso mangelte ihm die Fähigkeit, sich dem Verständniß eines minder gebildeten Auditoriums anzupassen. Dazu war er selbst zu sehr an durchdringendes Denken gewöhnt, dazu war auch seine eigene Vorbereitung auf jede Predigt zu eingehend. Er fühlte es selbst sehr wohl als Mangel, nicht im edeln Sinne populär sein zu können; aber es gelang ihm nicht, ihm abzuhelfen. Seine Gedankengänge, wie er sie in den Predigten entwickelte, waren zu original und schwierig, als daß es leicht gewesen wäre, ihnen zu folgen. Auch beeinträchtigte seine Neigung und Fähigkeit zu abstractem Denken oft die Anschaulichkeit. Darum aber fehlte seiner Predigt oft das Hinreißende. Sie verlangte angespannte Mitarbeit des Hörers und besaß auf ihren Höhepunkten ein oft überwältigendes Pathos. Viel mehr wirkte daher oft seine politische Rede, die in der Regel mit reichen geschichtlichen Erinnerungen durchsetzt, auf eine einzige praktische Frage abzielend, starken Eindruck auf die Massen hervorbrachte.

Daß er neben Seelsorge und Predigt auch der inneren Mission seine Theilnahme zuwandte, ist schon oben erwähnt. Er führte neben dem schon erwähnten Vorsitz in der südwestdeutschen Conferenz von 1873 an auch die Vorstandschaft des Magdalenenasyls in Leonberg. Sein letztes Werk dabei war die Einführung von Diakonissen in die Anstalt, wodurch diese besonders schwierige Arbeit erst recht erfolgreich wurde. Litterarische Beweise seines eingehenden Interesses sind ein zu Speyer gehaltener Vortrag: „Der deutsche Sonntag oder die sociale Bedeutung des Ruhetages gegenüber dem Materialismus unserer Zeit“ (4. Aufl. 1888) und vor allem „Die innere Mission in Württemberg“, die den zweiten Band des Schäfer’schen Sammelwerkes über die innere Mission in Deutschland bildete. Auch in diesem Werke zeigt sich schon in der Anordnung der geschichtliche Sinn des Verfassers, ferner sein fester kirchlicher Standpunkt und eine stark kritische Stimmung gegenüber den [96] schwäbischen Stammeseigenheiten trotz aller Anerkennung ihrer guten Seiten. Dies Werk fällt an das Ende seiner Stuttgarter Zeit (1879).

Seine sonstigen größeren theologischen Veröffentlichungen dieser Jahre zeigen insofern eine gegen früher veränderte Richtung, als sie sich weniger als selbständige Studien auf dem Gebiet der Dogmengeschichte – man erwartete von ihm ein Werk über Augustin – darstellen, sondern mehr Stellung nehmen zu bedeutsamen theologischen Erscheinungen, besonders zu Keim’s Leben Jesu von Nazara in zwei Artikeln der Theol. Jahrb. f. deutsche Theol. (17, 412 ff.; 18, 87 ff.), in denen er die Schwächen der Erklärung Keim’s inbetreff der Auferstehung Jesu gegenüber dem Bericht der Evangelien aufzudecken und die dogmatischen Consequenzen seiner Anschauung zu verfolgen sich bemüht, und zu Ritschl’s Werk über die Rechtfertigung und Versöhnung, dessen Bedeutung er anerkannte, ohne indessen mit seinen Bedenken zurückzuhalten (Theol. Stud. u. Krit. 1872, S. 331–362; 1876, S. 317–369). Im Zusammenhang mit der ersteren Arbeit steht dann eine Abhandlung über die Grenzen der Aufgabe eines Lebens Jesu (Theol. Stud. u. Krit. 23, 393–457), mit der letzteren eine über die ethischen Gegensätze im Kampf der biblischen und modern-theologischen Weltanschauung (Theol. Stud. u. Krit. 21, S. 455 bis 520).

Doch war damit Schmidt’s Thätigkeit in Stuttgart noch nicht erschöpft. Er verfolgte mit regster Theilnahme alle kirchlichen und politischen Vorgänge und verfocht seine Ansichten im Freundeskreise mit großem Nachdruck, wenn auch vielfach alleinstehend. Besonders in seiner Beurtheilung des Culturkampfes, dessen schädliche Folgen er von vornherein voraussagte, stand er allein. Doch beschränkte er seine Meinungsäußerungen nicht auf den vertrauten Kreis, mit dem er persönlich oder brieflich verkehrte, er gab ihnen in der Luthardt’schen Kirchenzeitung in seinen Correspondenzen aus Württemberg Ausdruck. Sie fanden durch die Schärfe ihres Urtheils und die Sachkunde ihres Verfassers viele Aufmerksamkeit, führten aber, als Sch. als Verfasser bekannt geworden, dazu, daß er bei der Behörde in der Heimath auf keine Förderung mehr rechnen durfte. Besonders ist dies auf eine doppelte Serie von Artikeln zurückzuführen, in deren einer er das württembergische Consistorium, in der anderen die Tübinger Facultät in ungünstiger Weise beurtheilte (1879). Sein kampfesmuthiges Temperament und sein rücksichtsloser Freimuth hatten ihn dazu bewogen.

Es war unter diesen Umständen für ihn selbst erwünscht, als ihm zu Ostern 1881 die Professur für systematische und praktische Theologie und neutestamentliche Exegese in Breslau angeboten wurde. Trotzdem war ihm die Annahme nicht leicht. Denn einmal wurzelte er mit seiner Eigenart doch zu sehr in der schwäbischen Heimath, als daß ihm das Scheiden leicht gefallen wäre, andererseits war er trotz der eisernen Arbeitskraft, mit der er an der wissenschaftlichen Arbeit festzuhalten sich bemühte, doch naturgemäß etwas außer Connex mit der zünftigen Theologie gerathen. Von der Hallenser Facultät wegen seiner dogmatischen und dogmengeschichtlichen Abhandlungen zum Doctor creirt, trat er sein Amt mit einer – nur gedruckten – Vorlesung über das Verhältniß der christlichen Glaubenslehre zu den andern Aufgaben akademischer Wissenschaft an. Seine Vorlesungen betrafen außer Dogmatik, Ethik, Symbolik und praktischer Theologie Matthäus, Römer- und 1. Korintherbrief und Leben Jesu. Seine Zuhörerschar, die anfangs geringer war, da er gerade die Hauptfächer mit einem älteren Collegen, der Mitglied der Prüfungscommission war, theilen mußte, hob sich im Laufe der Zeit mehr und mehr. Besonders unter den Ernsteren und Begabteren gewann er eine ganze Reihe treuer und [97] anhänglicher Zuhörer. Er versuchte von Anfang an auch ein persönliches Band wenigstens mit einem Theil von ihnen zu knüpfen, indem er sie 14täglich zu einem Studentenabende bei sich vereinigte. Besonders für die praktische Theologie kam ihm seine eigene reiche Erfahrung zu gute, und er wußte auch durch den Besuch von Anstalten der inneren Mission das Interesse der Studirenoen für diese Seite kirchlicher Arbeit zu wecken. Daß er selbst an allen Arbeiten innerer und äußerer Mission sich eifrig betheiligte, ist nach dem früher Gesagten selbstverständlich. Dadurch gewann er bald das Vertrauen der kirchlichen Kreise Schlesiens und auch Posens, denen er als Facultätsdeputirter zur Provinzialsynode und zur Posener Prüfungscommission (seit 1886) nahe trat.

Auch auf der Kanzel wirkte er in Breslau bis an sein Ende, indem er als Universitätsprediger den akademischen Gottesdienst hielt. Er hat auch dieses Amtes mit unermüdlicher Treue gewaltet, obwohl nur eine kleine Schar von Zuhörern sich um ihn sammelte. Theils äußere Umstände, wie Ort und Stunde des Gottesdienstes, theils die Eigenart seiner Predigt versagten seinem treuen Bemühen den verdienten äußeren Erfolg.

Daneben ging die wissenschaftliche Production weiter. 1884 trat er mit einem für sein Denken besonders bezeichnenden Werke hervor: „Die Kirche, ihre biblische Idee und die Formen ihrer geschichtlichen Erscheinung in ihrem Unterschiede von Sekte und Häresie.“ Diese Schrift zeigt uns die verschiedenen in Schmidt’s Bildungsgange gegebenen Seiten vielleicht in der besten Vereinigung. Auf der einen Seite spüren wir das Erbe Hegel’schen Denkens in der Art, wie der geschichtliche Verlauf als die Darstellung und Entwicklung einer Idee der Kirche aufgefaßt wird, auf der andern macht sich der Dogmenhistoriker geltend, der die Wandlungen in der Ausprägung des Christenthums unter einheitlichen Gesichtspunkten aufzufassen sich bemüht. Es tritt uns hier ebenso der stark constructive und intuitive Zug in seinem Denken, dem die historische Kleinarbeit, wie sie die Grundlage der modernen geschichtlichen Richtung bildet, innerlich fremd geblieben ist, wie auch das praktische kirchliche Interesse entgegen, das ihn trieb, ebenso den Ehrennamen der Kirche der evangelischen Kirche gegenüber Rom zu sichern, als auch die Frage zu beantworten, ob die theologischen Gegensätze im Rahmen einer einheitlichen Gemeinschaft auf die Dauer zu ertragen seien. Er verneint diese Frage entsprechend dem Standpunkte, den er seit etwa dem Jahre 1878 eingenommen hatte. Er gehörte von da an besonders zu den Bekämpfern der Ritschl’schen Theologie, deren Schwächen er scharfsinnig aufzuspüren wußte. Er führte den Kampf gegen die „herrschende Schule“ trotz mancher persönlich verletzenden Angriffe der Gegenseite stets mit sachlichen Gründen und in würdevollem Tone. (Vgl. besonders die Artikel in der Zeitschr. f. kirchl. Wissensch. u. Leben 1884. 85. 87; Neue kirchl. Zeitschr. 1891. 93; Neue Jahrbb. f. deutsche Theologe 1892; mehrere Artikel in der Allg. ev.-luth. Kirchenzeitung und seine Recensionen in Luthardt’s Theol. Litt.-Blatt.) Daneben lieferte er für die Schäfer’sche Monatsschrift für innere Mission eine Reihe werthvoller Beiträge (Jahrg. 1882. 86. 88. 89), ebenso auch für die 2. Auflage der Protest. Real-Encyklopädie. Von größeren Schriften ließ er außer einer Sammlung von Aufsätzen „Zur Christologie“ (1892) nur ein „Handbuch der Symbolik“ (1890, 2. Titelausg. 1895) erscheinen, das sich durch den Versuch einer begrifflichen Bestimmung der Eigenart der einzelnen Kirchenbildungen und der Ableitung ihrer Lehrunterschiede aus diesem einheitlichen Begriff auszeichnet. Mag man über das Gelingen des Versuches verschieden urtheilen, der Versuch selbst [98] zeugt jedenfalls von großer Energie begrifflichen Denkens und hält das echt wissenschaftliche Ziel begrifflicher Bearbeitung und Verarbeitung des Stoffes fest. Zu einer Herausgabe seiner Glaubenslehre, zu deren ersten Theilen Entwürfe schon fertig lagen, ist es nicht mehr gekommen. Nur der christologische Abschnitt seiner Vorlesung über Glaubenslehre ist nach seinem Tode veröffentlicht worden (Neue Kirchl. Zeitschr. 1895, S. 972–1005).

Sieht man auf das Ganze seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, so muß man bekennen, daß es ihm nicht vergönnt war, durch große zusammenfassende Werke auf seine Zeit zu wirken. Vielmehr lag seine Bedeutung darin, daß er in den dogmatischen Bewegungen seiner Zeit von einem festen Standpunkt des entschiedenen Supranaturalismus aus mit großer kritischer Begabung und unbeugsamer Wahrhaftigkeit die schwachen Seiten der neuen Aufstellungen aufgedeckt hat. Die Entschiedenheit, mit der er auf Grund eigenen Erlebens ein wirkliches Eingreifen Gottes in die Welt, eine übernatürliche Offenbarung Gottes forderte, beweist die Tiefe seiner eigenen religiösen Erfahrung.

Ueberhaupt aber ist zu beachten, daß Schmidt’s polemische Ader, die sich in seiner schriftstellerischen Thätigkeit so stark geltend macht, auf einen wesentlichen Zug in seiner Persönlichkeit hinweist: den Drang nach Bethätigung, nach Gestaltung der Verhältnisse. Er besaß zwar nicht die Gabe, die Menschen im Dienste einer Sache anzustellen, sie zu gewinnen und an seine Person zu fesseln, diplomatisches Geschick und Anlage zur Popularität gingen ihm völlig ab. Aber sein klarer, stets auf das Wesentliche gerichteter Blick, die Sicherheit seines Urtheils, mit der er überall die entscheidenden Gesichtspunkte und die lebendig wirksamen Kräfte herauszufinden wußte, befähigten ihn ungemein, sich in Geschäfte der verschiedensten Art schnell hineinzufinden und ebenso die Grundzüge zu Organisationen zu entwerfen. Hatte er schon als Stadtvicar dem Consistorium – später durchgeführte – Vorschläge für die zweckmäßige Verwendung der Vicare gemacht, hatte er in Stuttgart die erwähnten Vorschläge über Gemeindeeintheilung gemacht, hatte er bezüglich des Verhältnisses der Werke innerer Mission zur Kirche Grundgedanken ausgesprochen, die heute zum Theil in die Praxis umgesetzt sind, so hat er auch später für die autonome Stellung der Kirche unbeschadet des landesherrlichen ius circa sacra Vorschläge gemacht, die er öffentlich in einer Broschüre voll scharfer Satire über das liberale Christenthum im Anschluß an die sog. „Hammerstein’schen Anträge“ (1886) betont. Ebenso galt auch seine letzte Veröffentlichung: „Die Nothwendigkeit und Möglichkeit einer praktischen Vorbildung der evangelischen Geistlichen“ (2. Aufl. 1893) einer solchen praktischen organisatorischen Frage, deren Lösung er von großen principiellen Gesichtspunkten aus versuchte. Er war auch nicht Parteimann in dem Sinne, daß er auf ein Parteiprogramm sich völlig verpflichtet hätte oder sich durch die Partei zu einer bestimmten Stellungnahme in jeder Frage hätte verpflichten lassen, auch nicht in dem Sinne, daß er alles Heil nur in der Partei, außerhalb nur Uebel gesehen hätte – er hielt es aber für eine sittliche Pflicht, sich offen zu den Grundsätzen einer bestimmten Partei zu bekennen; er war überzeugt, daß man nur innerhalb einer Organisation wirken könne, und daher hielt ihn auch nicht die sonst in akademischen Kreisen weitverbreitete Zurückhaltung vor extremer Stellungnahme von dem Bekenntniß seiner Ueberzeugungen zurück. So gehörte er auf den Posener Provinzialsynoden und der Generalsynode von 1891 zur confessionellen Partei, wahrte sich aber im Einzelnen volle Unabhängigkeit seiner Ueberzeugung. Dasselbe gilt für sein politisches Auftreten. Gehörte er auch schon seit 1876 der conservativen Partei an und war er auch in Breslau der geistige Führer des conservativen Vereins – „der Chef des Stabes“, [99] wie ihn der langjährige Vorsitzende bezeichnete -, so war er doch kein bequemes Mitglied, weil er sich überall sein eigenes Urtheil wahrte. Er hat in den Jahrsn 1882–1893 die reichliche Hälfte der Reden und Vorträge an den gewöhnlichen Versammlungen des Vereins bestritten. Unermüdlich bestrebte er sich in Wort und auch in einer Reihe von Artikeln in Zeitungen die Zeitfragen von großen Gesichtspunkten aus zu behandeln. Die Achtung vor dem geschichtlich Gewordenen, die Um- und Weiterbildung desselben ohne Bruch mit der Vergangenheit, der corporative Neuaufbau der Gesellschaft im Anschluß an geschichtlich gegebene Formen, die Hervorhebung der sittlichen Seite an der socialen Frage, die Freiheit der Kirche von den Einflüssen eines interconfessionellen Parlamentarismus, damit sie an der Lösung der großen sittlichen und religiösen Fragen besser mitwirken könne, die Begeisterung für die Macht und Ehre Deutschlands, die zugleich den Männern, die es groß gemacht, und den Institutionen, auf denen sie beruhte, sich zuwandte – das sind die Grundtöne, die in all den Reden und Aufsätzen wiederklingen und an reichem geschichtlichen Material verdeutlicht werden. Es galt auch von ihm, was er von Luther (11. November 1883) sagte: „er war freilich kein Politiker, der, um Einigkeit herzustellen, auch etwas von der Wahrheit nachzulassen bereit war“. Seine so stark an die Oeffentlichkeit tretende Stellungnahme wurde in manchen Kreisen seiner Collegen an der Universität nicht günstig angesehen und führte während seiner Amtsführung als Rector der Universität (1891/92) zu einem Conflicte, der ihm die Freude an dieser höchsten akademischen Ehrenstellung – und nicht ganz ohne seine Schuld – trübte.

Dürfen wir noch kurz einen Blick auf seine persönlichen Verhältnisse werfen, so müssen wir vor allem hervorheben, mit welcher Ergebung in Gottes Willen er die vielen schweren Schläge in seiner Familie ertrug, einer Ergebung, die ihm freilich nicht leicht fiel, sondern in schwerem, heißem Gebetskampfe immer neu errungen wurde. Er hatte den Tod seines ältesten Söhnchens, das ihm im Kindesalter plötzlich genommen wurde beim Weggang von Calw, eines Töchterchens beim Weggang von Stuttgart zu beklagen, aber schwerer und schmerzlicher noch war die unheilbare Krankheit, die die älteste blühende Tochter rettungslosem Siechthum anheimfallen ließ, und der Tod des zweiten Sohnes (1889) im blühendsten Jünglingsalter kurz vor Vollendung seiner Studien. Diesen letzten Schlag besonders hat er nicht mehr ganz überwunden. Er alterte von da an zusehends. Trotzdem kam der Ausbruch des Herzleidens, das ihn im Herbst 1893 ergriff, unerwartet. Mit Aufbietung aller Kräfte suchte er seines Amtes zu walten, obwohl sein Leben in den letzten Wochen eigentlich nur noch ein qualvolles Ringen nach Luft war, und noch zwei Tage vor seinem Tode hat er die Mitglieder seines Seminars um sich versammelt. In der Frühe eines Sonntagmorgens (19. Nov. 1893) wurde er von seinem Leiden erlöst.

Er war ein Mann von tiefem, reichem und zartem Gemüth, das freilich unter einer rauhen Hülle oft sich barg, aber die Freunde, die einmal ihm nahegetreten waren, hat er treu festgehalten. Er war ein tapferer Mann, der stets bereit war, als Erster in den Riß zu treten, und wo er vom Rechte seiner Sache überzeugt war, keine Folgen scheute, ja er war leidenschaftlich tapfer, im persönlichen Verkehr wohl auch aufbrausend, aber nie wollte er Jemand wissentlich wehe thun. Er war unbedingt wahrhaft und geradezu, gegen sich wie gegen Andere. Er war aufrichtig demüthig und fromm. Mit diesen Eigenschaften seines Gemüthes paarte sich ein scharfer, durchdringender Verstand, ein schnelles sicheres Urtheil, ein ungemein treues und umfassendes [100] Gedächtniß, eine rastlose Arbeitsfreude. Sein Sinn war von klein auf von allem kleinlichen Ehrgeize frei, doch des eigenen Werthes ohne falsche Bescheidenheit bewußt, dem Idealen zugewandt, von tiefstem sittlichen Ernste. So lebt sein Bild im Herzen derer, die ihm nahestanden.

Quellen: Briefe und schriftlicher Nachlaß, Mittheilungen v. Freunden, Nekrolog: Neue Kirchliche Zeitschrift 1894, S. 51–534 (G. Weitbrecht), Chronik der Kgl. Universität zu Breslau, Jahrg. 8 (1894), S. 119–122 (W. Schmidt), Prot. Realencyklopädie3 17, 651–657 (E. Schmidt).