ADB:Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Wilhelm Fürst zu

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Artikel „Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Wilhelm Ludwig Georg Graf (Fürst) zu“ von Bruno Gebhardt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 626–629, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sayn-Wittgenstein-Hohenstein,_Wilhelm_F%C3%BCrst_zu&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 06:36 Uhr UTC)
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Wittgenstein: Wilhelm Ludwig Georg Graf (Fürst) zu Sayn-W.-Hohenstein, wurde als Sohn des Fürsten Johann Ludwig am 9. October 1770 geboren und starb unvermählt zu Berlin am 11. April 1851. Ueber seine Jugend ist nur wenig bekannt. Beziehungen seiner Familie zum Hause Oranien verschafften ihm als siebenjährigen Knaben ein Patent als Premierlieutenant titulaire beim Nassauischen Kreisbataillon. Als Jüngling von 16 Jahren finden wir ihn an der Marburger Universität immatriculirt. Nach Vollendung seiner Erziehung trat er in die Dienste Karl Theodor’s von Baiern, an dessen sittenlosem Hofe die Lehrzeit für den jungen Cavalier mehr interessant als nützlich gewesen sein mag. Als kurpfalz-bairischer wirklicher Geheimer Rath errichtete er 1791 ein Regiment für die emigrirten französischen Prinzen und führte neben seinen sonstigen hohen Titeln auch den eines Obristen in köngl. französischen Diensten. Während des Mainzer Fürstentages 1792 soll er wegen seinen französischen Verbindungen eine kurze Zeit in Haft gehalten worden sein. Seit 1794 steht er dem Berliner Hofe nahe, dem er nun mehr als 50 Jahre seine Thätigkeit widmete. Schon in diesem Jahre wurde er mit einer Mission nach Kassel betraut, um dem Erbprinzen den Schwarzen Adlerorden zu überbringen und eine Anleihe von einer [627] Million Thaler aufzunehmen. Hauptsächlich waren es finanzielle Geschäfte, die ihn in den ersten Zeiten in Anspruch nahmen; wurde doch in Kassel unter seinem Namen ein Bankgeschäft betrieben. Einige Male vermittelte er auch in den Zwistigkeiten zwischen dem Kurfürsten und dem Erbprinzen. Bis jetzt stand er noch nicht in den Diensten des preußischen Hofes: 1795 aber bewarb er sich beim Könige um den Posten eines Oberhofmeisters der Königin, wenn auch vorläufig ohne Gehalt, und begründete sein Gesuch damit, daß ihm für seine Dienste in Kassel die allerhöchste Zufriedenheit ausgesprochen war. Ehe aber die Ernennung vollzogen wurde, ging er auf Einladung der Gräfin Lichtenau im Februar 1796 zu ihr nach Rom und traf im Juni gemeinschaftlich mit ihr beim Könige in Pyrmont ein. Im folgenden Jahre wurde er Oberhofmeister der Königin und außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Kassel. Der Thronwechsel änderte an seiner Stellung nichts; im Gegentheil, er stand auch bei Friedrich Wilhelm III. und der Königin Luise in hohem Vertrauen. 1804 nahm er die Fürstenwürde an und wurde vom Könige sofort darin anerkannt und im folgenden Jahre auch bei Hessen-Darmstadt und Oranien-Nassau als Gesandter beglaubigt, während sein Posten als Oberhofmeister mit dem Tode der Königin-Mutter (1805) erloschen war. Seit 1806 ist seinerseits ein stärkeres Eingreifen in den Gang der politischen Dinge merkbar. Als Hardenberg damals seinen Abschied nehmen wollte, vermittelte W. und überbrachte dem Minister Aeußerungen des Königspaares, das sein Verbleiben im Amte wünschte. Nach der Katastrophe übernahm W. eine Mission nach England, um dort für Preußen eine Anleihe aufzunehmen, zugleich aber auch die Unterstützung des englischen Cabinets für eine beabsichtigte Insurrection in Norddeutschland zu gewinnen. Zu dem Zwecke begleitete ihn Dörnberg nach England, wo sie beide bis Anfang August 1807 weilten, ohne zum Ziele zu gelangen. Sogleich nach seiner Rückkehr wurde W. zu dem in Itzehoe weilenden Kurfürsten von Hessen geschickt, um eine Anleihe von 6–8 Millionen Thaler zu gewinnen. Der Kurfürst verlangte Preußens Versprechen, daß er beim zukünftigen Frieden sein Land zurückerhalten werde und die gleiche Zusicherung durch Preußens Vermittelung von Rußland; da diese bindend nicht zu erlangen war, scheiterte die ganze Angelegenheit. Indirect war W. auch in Stein’s Sturz verwickelt, da an ihn der Brief gerichtet war, der zur Aechtung des Ministers seitens Napoleon’s Veranlassung gab. Zwischen Stein und W. kam es darüber später zu einem gereizten Briefwechsel. W. wurde nämlich selbst in Hamburg von den Franzosen verhaftet, weil er auf Grund eines angeblichen Briefes der Gräfin Voß eines Complottes zur Vergiftung Napoleon’s beschuldigt wurde. Er wurde bald frei gelassen und schrieb zwei Briefe an Stein und den Gr. Goltz, die wol darauf berechnet waren, ihn in der Oeffentlichkeit zu entlasten, und auch im Moniteur erschienen; sie enthielten tadelnde Bemerkungen gegen Stein, deren Aufklärung und Zurücknahme dieser forderte, wobei W. gewundene Erklärungen gab. (Die jüngsten Mittheilungen über diese Angelegenheit von Alfred Stern in der Revue historique t. LX und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Bd. IX.) Es bedurfte übrigens dieses Vorkommnisses nicht, um zwischen den beiden so verschieden gearteteten Männern die hesigste Abneigung hervorzurufen, die Stein zu den wegwerfendsten Urtheilen über jenen veranlaßten. (Die Hauptstelle, die auch für W. biographisch wichtig ist, bei Pertz V, 762.)

Nach der Rückkehr des Königspaares nach Berlin wurde der Hof neu geordnet und W. am 1. Januar 1810 zum ersten Oberkammernherrn ernannt. In die Ministerkrisis, die in den folgenden Monaten eintrat, griff W. bedeutsam und diesmal nützlich ein. Als Altenstein im März 1810 in der Verlegenheit weitere Mittel zur Bezahlung der französischen Contribution aufzutreiben, an die [628] Abtretung Schlesiens dachte und von dieser Absicht W. Mittheilung machte, meldete dieser es dem Könige, sprach sich scharf dagegen aus, machte selbst, allerdings undurchführbare Vorschläge zur Erlangung von Geldmitteln, wies aber vor allem auf Hardenberg hin als den Einzigen, der den Staat retten könne. Unter Wittgenstein’s thätiger Mitwirkung erhielt Hardenberg das Amt als Staatskanzler, das er zum Heile Preußens bis an sein Lebensende führte: König und Kanzler aber schenkten seitdem dem Fürsten W. ein unerschütterliches Vertrauen, das dieser Hardenberg gegenüber später nicht mit gleicher Münze vergalt. In der Krisis des Jahres 1811 stimmte W. durchaus für den Anschluß an Frankreich, und als dieser vollzogen war, übernahm er im April 1812 als Geheimer Staatsrath die Leitung der höheren Polizei: seine Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel, seine Neigung zur Intrigue machten ihn für dieses Amt geeignet und sein Lebensziel von jetzt an war die Unterdrückung jeder nationalen und freiheitlichen Regung. Schon damals stand er mit Metternich in Verbindung, verfolgte die Anhänger des Tugendbundes und hatte bei der Verhaftung Gruner’s seine Hand im Spiele. Als dann der Umschwung eintrat, das Kalischer Bündniß geschlossen war, und Alexander von Rußland in Breslau erschien, mußte W. die nicht unverdiente Zurücksetzung erfahren, daß der Zar ihn ignorirte, und er von Stein und den Patrioten mit Verachtung behandelt wurde. Auch W. äußerte sich in dieser und der folgenden Zeit bitter genug über Stein, wozu ihm die Angelegenheit des Grafen Reisach, in der Stein unvorsichtig gehandelt hatte, Gelegenheit bot.

Nach Abschluß des ersten Pariser Friedens wurden die Ministerien neu geordnet, und W. erhielt im Mai 1814 das Patent als Wirkl. Geheimer Staats- und Polizeiminister und entfaltete als solcher in der nun folgenden Reactionsperiode eine höchst verhängnißvolle Thätigkeit. Er war die Seele aller reactionären Maßregeln und Verfolgungen; er stand mit Metternich und Gentz in engster Verbindung; durch ihn wirkte jener auf den König ein. Ihm zur Seite standen Kamptz und Tzschoppe, in den zwanziger und dreißiger Jahren Nagler und Rochow und eine Anzahl unsauberer Agenten wie Witt-Dörring, Schlottmann, Klindworth, Amtsberg, Kombst. Bald kam der Zeitpunkt, da auch Hardenberg mit seinen Verfassungsplänen ihm zu liberal erschien, und er heimlich auf dessen Sturz hinarbeitete. Gelang ihm dies nicht, so verstand er doch mit außerordentlicher Schlauheit den Kanzler zu täuschen, dessen Pläne zu hintertreiben und die Zahl der Verfassungsgegner im Ministerium zu vermehren. Auf seinen Rath gelangten Bernstorff und Lottum (1818) ins Ministerium. An ihn richtete Metternich Briefe und Denkschriften über preußische Zustände, in denen er vor Reichsständen warnte und rückschrittliche Maßregeln empfahl, und die durch ihn dem Könige vorgelegt wurden. Ihn nennt denn auch Metternich (1819) den einzigen, welcher in der letzten Zeit kräftig handelte, wenn auch noch nicht ganz genügend. Nach Kotzebue’s Ermordung dachte W. sogar daran, die Hülfe des Zaren anzurufen, um den König zu scharfen Maßregeln zu drängen; es war nicht nöthig, da es ihm ohnedies gelang durch Entdeckung angeblicher Verschwörungen aus geöffneten Briefen, gehörig präparirten Zeitungen und Flugschriften am preußischen Hofe wie an andern deutschen Höfen, mit denen er in Verbindung stand, die Revolutionsfurcht zu steigern. Diese Thätigkeit hörte auch nicht auf, als er im October 1819 das Polizeiministerium niederlegte und Minister des königlichen Hauses wurde. Je weniger er jetzt amtlich in politischer Beziehung hervorzutreten brauchte, desto mehr konnte er im Geheimen wirken, zumal er das unerschütterliche Vertrauen seines königlichen Herrn besaß. Er gehörte der Ministerialcommission an, die mit der obersten Leitung der gesammten Untersuchungen betraut war, und stimmte mit Schuckmann stets für Strenge; er war auch Mitglied aller der Finanz- und Verfassungscommissionen, die bis zu Hardenberg’s Tode immer [629] wieder zur Berathung der Pläne des Kanzlers eingesetzt wurden und sie meist zum Scheitern brachten. Mit Ancillon und Karl v. Mecklenburg, mit Knesebeck und Brockhausen gehörte er zur reactionären Opposition, die, wie er selbst ausführte, nur die zeitgemäße Wiederherstellung der älteren Verfassung in den verschiedenen Provinzen wollte, während Hardenberg eine reichsständige Verfassung erstrebte. Doch war W. nicht eigentlich altständisch, sondern nach Treitschke’s Ausdruck, altbureaukratisch gesinnt. Nach des Kanzlers Tode erklärte er sich gegen Humboldt’s und für Lottum’s Berufung an die Spitze, ebenso machte er 1824 nach Klewiz’ Abgang seinen Einfluß gegen Schön’s Ernennung zum Finanzminister geltend. Aeußerlich scheinbar bieder, treuherzig und liebenswürdig gegen Alle, immer unter dem Schein, daß die Politik nicht seines Amtes sei, wirkte er heimlich, da er das Ohr des Königs besaß, bei jeder Gelegenheit im rückschrittlichen Sinne und benutzte dazu die Mittheilungen seiner bezahlten Spione, vor deren Beobachtungen niemand sicher war, und die, um ihren Sünderlohn zu verdienen, auch vor Erfindungen nicht zurückscheuten. Nicht immer allerdings theilte W. die Ansichten der reactionären Hofpartei: im Gegensatz zu ihr zeigte er sich den Orleans geneigt und war durchaus für die mecklenburgische Heirath; die thurmhohe Freundschaft mit Rußland, die in den Festlichkeiten des Kalischer Lagers (1835) zum Ausdruck kam, mißbilligte er durchaus. Auch der Kölner Kirchenstreit war ihm zuwider, und, um es vorweg zu nehmen, den Gang nach Olmütz sah er als tiefe Demüthigung an. Nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm’s IV. trat er in den Hintergrund. Er selbst schrieb damals: „Ich bin von dem Gefühl durchdrungen, daß meine Amtsthätigkeit aufhören muß; mir fehlt jede geniale Phantasie; ich habe nur einen ganz untergeordneten praktischen Geist: dieser ist für die jetzigen Verhältnisse nicht passend und hinreichend.“ Er blieb zwar trotz seines hohen Alters auf des Königs Wunsch im Amte, und zu seiner Erleichterung wurde ihm Graf Anton Stolberg zur Seite gestellt, aber er tritt in dem Jahrzehnt bis zu seinem Tode nicht mehr hervor. Wieweit er dem königlichen Hause als Minister desselben gute Dienste geleistet hat, entzieht sich der Kenntniß. Stein urtheilte über ihn: „Fürst W. besaß alle Eigenschaften, um ohne Kenntnisse, inneren Gehalt und Tüchtigkeit, sich eine vortheilhafte Stellung im Leben zu verschaffen; schlau, kalt, berechnend, beharrlich, bis zur Kriecherei biegsam; auf ihn paßte die Maxime: qu’ un vrai courtisan doit être sans honneur et sans humeur, er strebte nach Geld und geheimem Garderoben-Einfluß.“ Sein Gesinnungsgenosse Rochow nannte ihn (1836) einen guten Schutzgeist des Vaterlandes und setzt hinzu: „Es wissen nicht alle, was dieser seltene Mann leistet“. Das Urtheil der Nachwelt lautet mehr der harten Aeußerung Stein’s entsprechend und bezeichnet die politische Thätigkeit Wittgenstein’s als schädlich und verderblich für den preußischen Staat.

Inhaltloser Nekrolog im Staatsanzeiger vom 13. April 1851; einiges aus den Acten des Geh. Staatsarchivs zu Berlin und des königl. Hausarchivs zu Charlottenburg; zahlreiche zerstreute Notizen in den zeitgenössischen Denkwürdigkeiten und Briefen und in den Darstellungen der Zeitgeschichte.