ADB:Reisach-Steinberg, Karl August Graf von

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Artikel „Reisach-Steinberg, Karl August Graf von“ von Karl Theodor von Heigel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 661–667, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reisach-Steinberg,_Karl_August_Graf_von&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 15:20 Uhr UTC)
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Reisach **): Karl August, Graf von R.-Steinberg, Verwaltungsbeamter, Publicist und Archivar, geboren am 15. October 1774 in Neuburg a. D., wo sein Vater Franz Christoph, seit 1790 in den Reichsgrafenstand erhoben, die Stelle eines Regierungsraths und Jagdamtscommissars bekleidete. Das Alter der Familie R. soll sich, wie Molitor, der Biograph eines Neffen unseres R., des Cardinals Karl August Grafen v. R. (s. Knöpfler’s Artikel in der A. D. B. XXVIII, 114) gefunden haben will, bis in die Zeit der salischen Kaiser verfolgen lassen. Auf der Descendenztafel in Joh. Götz’ Biographie des Cardinals (1901) wird der Stammbaum nur bis auf Albrecht Hans v. Reisach, † 1656 in Tirol, zurückgeführt. In Wieguläus Hundt’s Stammenbuch (III, 712) werden die Reisach ein jederzeit gut adeliges, ritter- und stiftsmäßiges Geschlecht genannt. Karl August Graf v. R. vergleicht einmal sein Geschick mit demjenigen eines Ahnherrn, des Kammergerichts-Beisitzers, [662] vorher Professor der Rechte in Ingolstadt, Theodorich Reisach, der 1512 in ungerechter Weise zum Verlust seines Amtes verurtheilt, später von Kaiser Maximilian I. wieder ehrenvoll zu Gnaden aufgenommen wurde.

Nachdem der junge R. mit dem Zeugniß „maximae diligentiae et eminentis profectus morumque decentissimorum“ die juristische Prüfung an der Ingolstädter Hochschule bestanden hatte, trat er in der Justizsenats-Kanzlei in Neuburg in Praxis. 1795 wurde ihm auf Grund eines weiteren Examens (über die Entstehung des Rechts, das Völkerrecht, den Begriff des Staates u. s. w.) gestattet, den Regierungsrathsposten seines Vaters zu übernehmen. 1797 wurde er durch einen weiteren Dienstwechsel zum Pflegecommissär von Heideck und Hilpoltstein mit dem Charakter eines wirklichen adeligen Regierungsrathes befördert. 1803 kehrte er als Director der Landesdirection nach Neuburg zurück, 1804 wurde er „in Betracht seiner ausgezeichneten Fähigkeit, Thätigkeit und Integrität“ zum Vicepräsidenten der Neuburgischen Landesdirection, im nämlichen Jahre zum Verordneten der Landschaft ernannt. Seiner Begabung und Ausbildung wird sogar in der leidenschaftlichen Anklageschrift eines Gegners Lob gespendet. „Ausgerüstet mit seltenen Talenten und mannichfaltigen Kenntnissen, gewandt und von der Pike auf geübt in allen Arten öffentlicher Geschäfte, rastlos und beharrlich, klug und entschlossen, der Schrift und der Rede gleich mächtig, ein vielseitiger gebildeter und lebendiger Geist in einem kleinen beweglichen Körper.“ 1802 gab er „Beiträge zur Kenntniß der neuen Einrichtungen in Baiern“ heraus; er vertheidigte darin die Reformen Montgelas’, den er später als „gewissenlosen Staatsmann und würdigen Zögling eines Despoten“ brandmarkte. Von 1803 an gab er im Verein mit seinen drei Brüdern Hans Adam, Landrichter zu Graisbach, Cajetan Maria, Domherr zu Regensburg und Stadtpfarrer zu Wemding, und Ludwig, Wasser- und Straßenbaudirector in Neuburg, „Pfalz-Neuburgische Provinzialblätter“ heraus, von denen drei Jahrgänge erschienen. 1808 wurde R. zum Generalcommissar des Lechkreises in Augsburg ernannt, 1809 in gleicher Stellung nach Kempten versetzt. Da ein Theil des Illerkreises am Tiroler Aufstand sich betheiligte, konnte die Uebertragung einer leitenden Stelle des gefährdeten Algäu als ehrenvoller Vertrauensbeweis des Landesherrn gelten, doch wurden diese Erwartungen getäuscht. Nicht bloß ging er gegen die Aufständischen nicht mit der nöthigen Strenge vor, weil er, wie er in späteren Vertheidigungsschriften sich ausdrückte, „nicht ein folgsamer Henkersknecht sein“ wollte, sondern er verhalf sogar einem in Haft gezogenen Vorarlberger „Patrioten“, dem Appellgerichtsrath Franz Schneider, zur Flucht. Auch die intimen Beziehungen, die er mit der verwittweten Kurfürstin Marie Leopoldine unterhielt, waren bei Hofe keine günstige Empfehlung. Am schlimmsten wurde aber sein Ruf durch verbrecherische Veruntreuungen geschädigt. „Viel hatte er geleistet“, heißt es in der oben angezogenen Schrift, „mehr noch ließ er erwarten, aber eine Tugend fehlte dem Günstling der Natur und des Glücks: die bescheidene Wirthschaftlichkeit! Die Begierde, Mittel des Genusses und des Glanzes zu erwerben und zu häufen, ließ ihn auf verbotenen und unwürdigen Erwerb sinnen, er wurde verstrickt in ein Gewebe von Wucher, Unredlichkeit und Untreue.“

Aus den Acten des gegen ihn angestrengten Riesenprocesses läßt sich ersehen, in welch großem Maßstab die Dieberei betrieben wurde. Weder Staats-, noch Stiftungs- und Gemeindecassen blieben verschont; besonders gründlich wurde die Casse des Augsburger Leihhauses ausgeplündert; eine in den Acten befindliche Zusammenstellung berechnet den Verlust der beraubten Cassen auf 848 000 Gulden. Schon im Jahre 1809 beanstandeten einzelne Aufsichtsbehörden die Finanzgebarung des Generalcommissärs, doch die Verwirrung [663] der Kriegsläufte verhinderte eine genauere Untersuchung, und nach dem Kriege gelang es noch geraume Zeit, durch geschickte Urkundenfälschungen die Unterschleife zu bemänteln. Der preußische Hofrath Dorow, ein schwärmerischer Verehrer Reisach’s, betheuert in seinen Lebenserinnerungen, die ganze Anklage sei vom Ministerium Montgelas „heraufbeschworen“, um den „teutschen Patrioten“ unschädlich zu machen, doch die Behauptung wird durch eine lange Reihe unverdächtiger gerichtlicher Entscheidungen widerlegt. Er selbst gesteht in seiner Vertheidigungsschrift ein, daß öffentliche Gelder „uncorrecte“ Verwendung gefunden hätten, allein: „C’est la guerre!“

Von seiner ersten Gemahlin, einer geborenen Isselbach v. Bechtolsheim geschieden, trat er, um zu einer zweiten Ehe mit Maria Gräfin v. Sandizell schreiten zu können, zum Protestantismus über. Die Mitgift sollte dazu behülflich sein, die betrügerischen Finanzoperationen zu verdecken, doch die Erlaubniß zur Verehelichung wurde bis zur Entscheidung in dem seit 1811 anhängig gemachten Proceß vertagt. Auch die im Juli 1811 erbetene Erlaubniß zu einer Reise nach Frankreich wurde verweigert. Das Urtheil des Appellgerichts Memmingen vom 1. December 1812 erkannte nicht, wie R. und Dorow behaupten, auf „Freisprechung“, sondern sprach sich nur dahin aus, daß die Gründe, um den Angeklagten des Verbrechens rechtswidriger Veruntreuungen schuldig zu sprechen, nicht zureichend aufgedeckt seien. Darauf wurde vom König verfügt, daß gegen R. nicht mehr auf dem gerichtlichen, sondern auf dem Disciplinarweg vorgegangen werden sollte. Auf Grund erneuter Untersuchung wurde er „aus administrativen Erwägungen“ am 20. Februar 1813 des Amtes enthoben; Titel und Gehalt sollten ihm belassen bleiben. Offenbar aus Furcht, es möchte ihm doch noch die Freiheit entzogen werden, entschloß er sich zur Flucht. „In einem Lande“, so schreibt er selbst, „wo die Gesetze den Staatsbürger nicht mehr vor Unrecht und Verfolgung schützen, konnte ich keine Sicherheit für meine Person finden, … ich begab mich also unter den Schutz der großherzigen Monarchen von Rußland und Preußen, welche eben zu dieser Zeit alle Teutschen aufforderten, sich unter ihrem Panier zum Kampf für Teutschlands Befreiung zu sammeln.“ Ob er, wie Pertz in der Biographie Stein’s mittheilt, mit Erzherzog Johann, Hormayr und Schneider am Plane einer neuen Revolutionirung Tirols betheiligt war, ist nicht festzustellen; er selbst gab später einmal an, die Besorgniß, durch die Wegnahme der Hormayr’schen Papiere bloßgestellt zu werden, habe ihn zur Flucht bewogen.

In Begleitung einer Kammerzofe der Gräfin Stein reiste er mit dem Reisepaß eines Kaufmanns Reichart von Lindau am 24. Februar über Ulm und Würzburg nach Kalisch ins russisch-preußische Hauptquartier. Es scheint ihm gelungen zu sein, den Reichsfreiherrn vom Stein von seiner Unschuld zu überzeugen; wenigstens wurde dem „Märtyrer der guten Sache“ Schutz gegen die Verfolgung seiner Feinde zugesagt, während R. seine Feder zur Bekämpfung der Rheinbündelei zur Verfügung stellte. Die von ihm – er selbst bezeichnete sich gegenüber dem Grafen Stadion als Verfasser – veröffentlichte Schrift: „Baiern unter der Regierung des Ministers Montgelas; Teutschland, im Verlage der Kämpfer für teutsche Freiheit, 1813“ erschien zunächst als erstes Heft der „Gallerie teutscher Nationalverräther“; außerdem sollten Sonderabzüge beim Vorrücken der Verbündeten Heere in Süddeutschland in Massen verbreitet werden, um das Volk über die Politik der „feilen Tyrannenknechte“ aufzuklären, die, „erkauft von französischem Golde, teutsche Völker zur gallischen Sklaverey herabwürdigen“. Die Schrift Reisach’s ist ein Pamphlet von leidenschaftlichstem Charakter. Nicht bloß die äußere und die innere Politik der Montgelas, Cetto und Gravenreuth wird einer gehässigen Kritik unterzogen, auch aus dem Privatleben [664] des Ministers, „dem Teutschland ganz vorzüglich seinen Untergang zu danken hat“, werden alle erdenklichen Scandalosa aufgedeckt. Die Kampfschrift erregte um so größeres Aufsehen, als alle Welt trotz der Verschweigung des Namens auf dem Titelblatt wußte, daß der Verfasser bis vor kurzem als einer der höchsten Beamten Baierns den geschilderten Vorgängen selbst nahe gestanden hatte.

Um zu verstehen, wie Stein und Andere für einen Mann von so zweideutigem Leumund eintreten mochten, muß man sich vor Augen halten, welche furchtbare Erbitterung über Napoleon und seine offenen und verkappten Parteigänger in diesen Kreisen herrschte, mit welch alttestamentarischem Fanatismus das Rachewerk Deutschlands betrieben wurde, betrieben werden mußte: da war zu wirksamer Hülfe jeder Bundesgenosse willkommen! Im April 1813 wurde R. von Stein zum „Administrator“ der sächsischen Herzogthümer ernannt, hauptsächlich um dort die Landesbewaffnung durchzuführen und die Kriegsbeiträge einzutreiben. Nach der unglücklichen Schlacht bei Bautzen begab er sich wieder ins Hauptquartier der Verbündeten und blieb eine Zeit lang im Gefolge Stein’s; dann wurde er zum Generalcommissär der beiden Lausitzen ernannt, gerade in dem Augenblick, da alle Verbündeten Armeen dort standen, sodaß seiner Thätigkeit hohe Wichtigkeit beizumessen war. Auch in dieser amtlichen Stellung erwarb er sich Stein’s Zufriedenheit. „Der Graf R.“, schrieb Stein am 30. Juli 1813 an Hardenberg, „hat sich der Aufträge, welche ihm übertragen wurden, mit viel Eifer und Einsicht entledigt, er besitzt die nöthigen Kenntnisse und die für Verwaltungsstellen erforderliche Uebung und Erfahrung, man müßte sich seiner Zeit mit seiner restitutio in pristinum statum beschäftigen.“

Inzwischen war in Baiern die Untersuchung gegen den „bairischen Verres“ fortgesetzt worden; sie brachte eine lange Reihe neuer Klagepunkte zu Tage. Im August wurde eine eigene Ministerialcommission unter Vorsitz des Geheimraths v. Zentner mit der Fortführung des Processes betraut. Auch ungemein zahlreiche Gläubiger meldeten Forderungen an. R. selbst gibt in einem späteren Verhör die Höhe seiner Schulden auf 1 Million Gulden an; er will das Geld auf große landwirthschaftliche und industrielle Unternehmungen verwendet haben, „die zweifellos prosperiert haben würden, wenn man ihm Zeit und Ruhe zu ihrer Ausbildung gegönnt hätte“. Vorerst mußte sich die bairische Regierung damit begnügen, dem „Malteserordensritter und Mitglied der k. gelehrten Societät“ einen Steckbrief nachzusenden. Erst nachdem Baiern im October 1813 auf Seite der Verbündeten getreten war, konnte die Auslieferung des Flüchtlings verlangt werden. Als aber der bairische Gesandte v. Berger im Hauptquartier dieses Ansinnen stellte, erklärte Stein, er habe, da sich R. mit einer k. bairischen Entlassungsurkunde bei ihm gemeldet, „bei seiner gänzlichen Unkunde von den in Baiern obwaltenden Verhältnissen keinen Anstand genommen, den Gesuchsteller in Geschäften zu gebrauchen und auch bei jeder Gelegenheit an demselben einen fähigen und thätigen Geschäftsmann gefunden; übrigens sei er bereit, der Forderung der bairischen Regierung Folge zu geben, wenn ein motivirter Antrag gestellt würde.“

Auf Andringen Stein’s sandte R. den preußischen Justizcommissär Bassange als Mandatar zur Ordnung seiner Dienst- und Privatangelegenheiten nach Memmingen; auch er selbst, so ließ R. erklären, wolle sich persönlich gegen die von bairischer Seite erhobenen Anschuldigungen vertheidigen, wenn der Streit vor ein unparteisches Gericht gebracht würde. Er veröffentlichte zu seiner Rechtfertigung die Schrift: „Der Graf Karl August v. R. an das teutsche Volk“, worauf von bairischer Seite mit heftigen Anklagen [665] geantwortet wurde –, eine litterarische Fehde, die in politischer und culturgeschichtlicher Beziehung Interesse bietet. Ziemlich sachlich und unbefangen ist das „Charaktergemälde“: „Karl August v. R., Graf v. Steinberg, Exgeneralcommissär Sr. Majestät des Königs von Baiern; geschrieben zu Mindelheim, Mai 1814.“ Vermuthlich aus der Feder Christoph v. Aretin’s stammt die Schrift: „Des Grafen K. A. v. R … Generalbeicht an das teutsche Volk; Teutschland, im ersten Jahre seines erwachten Gewissens, 1814“. Eine unter dem Pseudonym Otto Baier herausgegebene Schrift „Das bairische Volk an das teutsche Volk über den Exgeneralcommissär Grafen v. R.“ 1815, wendet sich mit scharfen Worten gegen den Mißbrauch, daß ein mit Schmach beladener Verbrecher von einem Volksstamm zu einem anderen überlaufen und dazu den bequemen Namen eines Teutschen sich aneignen dürfe. „Seit wann sind die Worte Teutscher und Landstreicher einerley geworden?“ Dagegen fand R. Anwälte im Allgemeinen Anzeiger der Teutschen, in der Allgemeinen Litteraturzeitung, in den Berlinischen Nachrichten u. s. w. Im December 1813 überreichte Berger im Hauptquartier eine amtliche Denkschrift, welche die Veruntreuungen Reisach’s auf 800 000 Gulden berechnete; die Untersuchung werde noch fortgesetzt; die preußische Regierung möge einem unwürdigen Gast nicht länger ihren Schutz angedeihen lassen. Stein erwiderte, dem Antrag auf Auslieferung könne erst Statt gegeben werden, wenn volle Aufklärung über die Delicte Reisach’s vorliege, doch ließ er im Gespräch mit Berger schon die Aeußerung fallen, er gedenke R. nicht mehr lange zu halten, da er auch von einem alten Bekannten, dem Geheimrath v. Wiebeking, gravirende Aufschlüsse über R. erhalten habe. Da auch über „Malversationen“ Reisach’s in der Verwaltung der Niederlausitz ärgerliche Gerüchte gingen, hielt Stein für rathsam, den Grafen von seinem Vertrauensposten zu entfernen, was er am 15. Januar 1814 der bairischen Regierung anzeigte. Dorow findet in diesem Vorgehen Stein’s gegen sein früheres Benehmen einen „schaudervollen Contrast“ und glaubt die Erklärung in politischen Gründen suchen zu müssen. „Herr v. Stein versöhnte sich mit Montgelas in Frankfurt a. M., und Graf Reisach’s Blut sollte der Einigungskitt für dieses Freundschaftsverhältniß werden. Es glückte aber nicht, dieses feine Plänchen; es scheiterte an des Fürsten v. Hardenberg’s Edelmuth und großartiger Gesinnung.“

R. selbst machte, was er in seinen Publicationen freilich nicht erwähnt, nochmals einen Versuch, in Baiern begnadigt zu werden. In einem Immediatgesuch an den bisher schmählich verunglimpften König erbietet er sich zu persönlicher Widerlegung aller Anklagen; seine Berichtigung werde „Allerhöchstderoselben die Ueberzeugung verschaffen, daß meine Handlungen volle Rechtfertigung und Entschuldigung und ich selbst die Großmuth und Huld des angebetetsten Monarchen in der Allerhöchsten Person Eurer Königlichen Majestät verdienen“.

R. hatte sich nach seiner Entlassung von Bautzen nach Bremen begeben; auf Hardenberg’s Verwendung war ihm ein mäßiges Tagegeld angewiesen worden. Als die bairische Regierung neuerdings auf Auslieferung des Flüchtlings drang, eröffnete Stein dem Magistrat von Bremen, daß R. nicht mehr auf preußischen Schutz zu rechnen habe. Darauf erklärte sich der Magistrat zur Auslieferung bereit, schrieb aber nach München: „Da das Bremische Contingent aus dem Feldzuge gegen Frankreich noch nicht zurückgekehrt, würde es für uns sehr schwierig seyn, den Transport des Arrestanten bis an die baierische Gränze auf eine sichere Art zu bewirken.“ Die bairische Regierung mußte eine eigene Eskorte, bestehend aus Hauptmann Maillinger und zwei Gendarmen, nach Bremen senden. Die in Bremen eingeleitete [666] Untersuchung ging nur langsam vorwärts. Von allen bei der Verhaftung Reisach’s vorgefundenen Papieren mußte Abschrift genommen werden, so daß Maillinger immer wieder seinen Aufenthalt verlängern mußte. „Es ist unglaublich“, schrieb er am 5. August 1814 nach München, „wie dieser Mann die Leute für sich einzunehmen verstehet, da er alle seine begangenen Verbrechen unter den Deckmantel des deutschen Patriotismus und Vaterlandsliebe zu verbergen gewußt hat und sein ausgemergelter Körper Mitleiden einflößt.“ Als der Gefangene endlich abgeführt werden sollte, zeigte sich, daß er nächtlicher Weile aus dem Haftlocal entwichen war. Infolge einer Vorstellung des russischen Generalgouverneurs Fürsten Repnin waren die hannoverschen Wachen abgezogen, sodaß R. ungehindert mit allen seinen Effecten nach Minden abreisen konnte. Die Bremer Regierung schickte einen Steckbrief hinter ihm her, worin er geschildert wird, als ein Mann „von kleiner, magerer Statur, blassem, kränklichem Angesicht und wenigen blonden, gepuderten Haaren, mag zwischen 30 und 40 Jahre alt sein, hat eine schwache Stimme, den bairischen Dialekt und ein furchtsames Ansehen“.

In Minden wurde R. von Gouverneur v. Vincke in ehrenvoller Weise aufgenommen. Er handle in vollem Einverständniß mit Hardenberg, erklärte Vincke, wenn er einem edlen deutschen Manne, der in kritischer Zeit Gelegenheit fand, der preußischen Armee größtem Bedürfnisse abzuhelfen, eine Freistatt gegen schmähliche Unterdrückung biete. Als Maillinger mit seinen Gendarmen in Minden eintraf, verweigerte der preußische Polizeicommissär die Festnahme Reisach’s, ja, die Eskorte selbst wurde angewiesen, binnen 24 Stunden den Regierungsbezirk zu verlassen. Die bairische Regierung mußte wieder den diplomatischen Weg betreten. Stein wollte von dem anrüchigen Clienten nichts mehr wissen, ja, er soll über Hardenberg „mit seinem sauberen Hecht, dem verlaufenen Baiern“, gespottet haben; Dorow beschwert sich bitter über das „unmenschliche Benehmen“ Stein’s, der auch später immer wieder feindliche Gesinnung gegen den ehemaligen Bundesgenossen an den Tag gelegt habe. Dagegen fuhr Hardenberg fort, den Verfolgten in Schutz zu nehmen. „Hat ihm Herr v. Stein“, so soll er geäußert haben, „den Auftrag gegeben, das bitterböse Buch gegen Montgelas zu schreiben, so sind wir alle verbunden, den Mann zu schützen, wenn Herr v. Stein ihn auch fallen lassen will.“ Die preußische Gesandtschaft schlug vor, R., der ja aufgehört habe, bairischer Unterthan zu sein, vor einen preußischen Gerichtshof zu stellen. Die bairische Regierung ging darauf natürlich nicht ein, sondern ließ das Verfahren in contumaciam fortführen. Endlich wurde R. durch Erkenntniß des Appellgerichts des Oberdonaukreises vom 25. Februar 1818 des Verbrechens wegen Staatsverraths zweiten Grades und der Unterschlagung öffentlicher Gelder zu zwölfjähriger Festungsstrafe zweiten Grades verurtheilt, sowie aus der Liste der königlichen Kämmerer und aus der bairischen Adelsmatrikel gestrichen. Durch Erkenntniß des Oberappellgerichts vom 8. März 1819 wurde das Urtheil bestätigt; der preußischen Gesandtschaft wurden Abschriften zugestellt.

Inzwischen hatte R., weil er sich nach dem Zeugniß Vincke’s „sehr qualificirt zur Ordnung von Archivalien“ zeigte, im Archiv zu Münster Anstellung gefunden. Es war ja bis vor etwa fünfzig Jahren in allen Staaten üblich, abgedankte Winkel- und Hintertreppenpolitiker im Archivdienst unterzubringen. 1829 wurde R. zum Archivrath in Coblenz ernannt. Wie Dorow behauptet, sei R. zu verdanken, daß „die alte, auf historischen und geographischen Basen begründete Ordnung des Coblenzer Archivs, wie dies den früher ergangenen Bestimmungen angemessen war, wiederhergestellt“ worden sei. Doch weiß man im Coblenzer Archiv selbst nichts Rühmliches über Reisach’s [667] Thätigkeit zu berichten, und sein Nachfolger Beyer erhob lebhaften Einspruch gegen Dorow’s Apologie (Friedemann, Zeitschrift für Archive, Jhrg. 1846, 1. Heft, 2). Als Minister vom Stein 1829 die Stadt Coblenz besuchte, kam es zu einer ärgerlichen Scene. Stein verhehlte nicht, wie unangenehm es ihn berühre, R. als preußischen Beamten zu sehen, obwohl er sich von den gegen ihn gerichteten Anklagen nicht habe reinigen können. Doch Oberpräsident v. Vincke ließ dem „verkannten Patrioten“ fortdauernd seinen Schutz angedeihen, sodaß ihm 1831 sogar die Leitung des Staatsarchivs übertragen wurde. Es gelang ihm aber, wie von Dorow selbst zugegeben wird, „in Coblenz nicht, sich in amtlicher und geselliger Beziehung so günstig zu stellen, wie dies in Westfalen gelungen war“. Mit Linde zusammen gab er das „Rheinische Archiv“ heraus. Die von Dorow in Aussicht gestellte Veröffentlichung von Memorien Reisach’s, „welche eine helle Fackel über die Verhältnisse der Centralverwaltung unter dem Minister v. Stein zu Deutschland und Deutschlands Fürsten anzünden werden“, ist nicht erfolgt. R. starb in Coblenz am 29. November 1846.

Verhandlungen über die Auslieferung des Grafen v. Reisach. Aus der Allemannia abgedruckt, 1815. – Dorow, Erlebtes aus den Jahren 1813–20, I, 41; II, 27 ff. – Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein III, 339 ff. – Urkunden im Adelsselekt des Münchner Reichsarchivs. – Umfangreiche Acten im Reichsarchiv und in den Kreisarchiven München und Neuburg.

[661] **) Zu S. 293.